Mord in Verona
Todessüße
von
Máire Brüning
Dramatis Personae
Konrad (genannt Konradin 1252 - † 1268 , Ur-Urenkel von Barbarossa,
Meinhard II. von Görz-Tirol, * um 1239; † um 30. Oktober 1295, Konradins Stiefvater
Yon Moreno, Gefolgsmann des Grafen von Tirol, kommt in Konradins Heer nach Verona
Micheletto, Yons Leibwächter
Otto von Füssen, Hausritter und Quartiermacher im Gefolge des Herzogs Konradin von Staufen
Christan Buzamer, trinkfreudiger Ritter Herzog Konradins
Die Mönche der Benediktiner-Abtei San Zeno
Abt Eusebius
Prior Mattea
Bruder Andrea, Laienbruder
Bruder Tommaso, Hospitalarius
Malatesta, seine schwarze Katze
Ada Contarini, Ärztin ohne Zulassung, Pflegetochter von Renier Contarini
Imre Talarico, Adas Leibwächter
Ella, Adas Magd
Beppa, Ellas Gehilfin
Mastino I. della Scala, † 26. Oktober1277, Stadtherr von Verona
Lorenzo Neri, Unterbeamter der Stadt Verona
Der Wachhund, Lorenzos Leibwächter
Ser Apollon, Kanzler für diplomatische Korrespondenz
Pietro Aldegondo, Wirt der Locanda Aldegondo
Cesario Bodini, Kaufmann aus Cremona
Achille Carcelli, Geldhändler aus Siena
Claudia, Besitzerin der Casa delle Farfalle
Esther, geheimnisvolle Frau, gehört zur Gesandtschaft aus Sizilien
Giorgio, ihr Diener
Kapitel 1
Benediktinerabtei San Zeno zu Verona, Oktober 1267
Im sterbenden Licht des Tages sah die Landschaft geradezu trostlos aus. Als wäre alles mit Schwarz und Weiß übermalt worden, die leuchtenden Farben des Herbstes zu Grautönen gedämpft. Von den Dächern tropfte die Nässe, rann über zerfurchtes Gemäuer und rissige Fassaden, schmatzte und gurgelte in den Gräben und versickerte in ungepflasterten Gassen.
Inmitten von Obstwiesen und Weiden erhob sich die Benediktinerabtei San Zeno. Yon Moreno spähte zu der klobigen Stirnseite der Abteikirche hinüber. Der Platz vor der Kirche war verwaist, die Stände der Händler und Bauern abgebaut, die Reliquienhändler, Beutelschneider, Krüppel und Bettler verschwunden. Vielleicht hatten die Brüder den Leuten nahegelegt, sich einen anderen Ort zu suchen, vielleicht waren sie aus eigenem Antrieb weitergezogen. Ein Heer frierender, gelangweilter Soldaten war nicht die beste Nachbarschaft, und es gab wohl kaum jemanden, der das besser wusste als die Landbevölkerung.
Mastino della Scala schien ebenfalls nicht sonderlich angetan von der bevorstehen Ankunft der schwäbischen Ritter. Der Capitano von Verona hatte zwar die höfliche Zusage überbringen lassen, den Herzog und seine engsten Berater mit Freuden empfangen zu wollen, doch gleichzeitig hatte er sich ausbedungen, dass Konradins Soldaten der Stadt fernblieben. Eine kluge Maßnahme des Stadtherrn, befand Yon. Und eine gute Ausrede, die Unterbringung und Verpflegung des herzoglichen Heeres Abt Eusebius und den Brüdern von San Zeno aufzubürden. Die angesichts dieser kostspieligen Ehre gewiss wehklagend die Hände rangen.
Fröstelnd zog Yon seinen Soldatenmantel enger um den Lederharnisch. Nach dem Regen, der drei Tage lang ununterbrochen auf Konradin und sein Gefolge niedergeprasselt war, gab es kein Ausrüstungs- oder Kleidungsstück mehr, das nicht vor Nässe triefte.
Yon hätte nichts gegen eine warme Mahlzeit und einen Becher Würzwein einzuwenden gehabt. Doch das musste warten. Der wichtigere Teil seiner Aufgabe war noch nicht beendet und zuvor durfte er nicht an Müßiggang denken.
Yon ließ seinem Pferd die Zügel lang, damit es grasen konnte, und streifte seine beiden Begleiter mit einem schnellen Blick. Otto von Füssen, Hausritter und Quartiermacher im Gefolge des Herzogs Konradin von Staufen, schien die Kälte nicht zu stören. Er taxierte die Wiese hinter der Benediktinerabtei mit fachkundigem Interesse, murmelte vor sich hin und nickte schließlich.
»Und?«, fragte Yon. »Hab’ ich zu viel versprochen?«
»Nein, keineswegs. Das ist ein guter Lagerplatz«, stimmte Otto zu. »Herzog Konradin wird zufrieden sein.«
»Mir wäre die Stadt lieber gewesen«, bemerkte Christan Buzamer missfällig. »Wein, Weib und Gesang ... Für Beten und Fasten habe ich nichts übrig.« Zur Bekräftigung holte er einen Weinschlauch unter seinem Mantel hervor, zog den Stöpsel heraus, trank einen kräftigen Schluck und rülpste ungeniert.
»Hauptsache ein Dach über dem Kopf«, murmelte Otto. »Ich bin es leid, dass mir tagaus tagein das Wasser in den Stiefeln schwappt.«
Yon zog spöttisch die Augenbrauen hoch, enthielt sich aber jeder Bemerkung.
Die Männer ritten an der hohen Mauer entlang, die das Kloster umgab, stiegen ab und führten ihre Pferde zum Tor. Yon zog heftig am Glockenseil, der Bruder Pförtner erschien und geleitete sie über einen gepflasterten Pfad zu einem Stallknecht, der ihnen die Rösser abnahm und sie wegbrachte.
Ein Laienbruder führte sie weiter durch den regennassen, von Bogengängen umgebenen Garten zu Prior Mattea, der sie in seinem großen, ockerfarben gestrichenen Gemach empfing.
»Ein scheußliches Wetter, nicht wahr?«, sagte der Prior, schnippte mit den Fingern und flüsterte dem Laienbruder ein paar Anweisungen ins Ohr. »Setzt Euch doch«, murmelte er dann. Er griff nach einer kleinen Glocke und läutete. »Ihr müsst durstig sein.«
Christan strahlte. Yon, der sich in klerikalen Gemächern, die ihn an vergangene Sünden erinnerten, immer unbehaglich fühlte, nickte geistesabwesend.
Ein Diener erschien mit einem großen Krug Wein und vier Bechern. Kaum hatte er Prior Mattea, Yon und Otto eingeschenkt, als Christan seinen Becher schon geleert hatte und ihn anstieß, damit er ihn wieder füllte.
»Nicht so schüchtern«, sagte Christan. »Gieß nur voll bis zum Rand und dann stell den Krug gleich hier neben mir auf den Boden.«
Der unglückliche Diener warf einen Blick auf den Prior und als dieser kaum merklich nickte, zog er sich eilig zurück.
»Schmeckt Euch der Wein, Messere?«, erkundigte sich Prior Mattea. »Es wäre uns eine Ehre, ein Fässchen für die Tafel des Herzogs zur Verfügung zu stellen.«
»Ausgezeichnet«, murmelte Christan undeutlich. Yon funkelte ihn an. Jeden Augenblick konnte der ehrenwerte Ritter Christan Buzamer anfangen, zu schmatzen und zu rülpsen. Hoffentlich würde er nicht auch noch unflätige Gesänge anstimmen; so angesäuselt wie Christan war, wusste man nie, welche Albernheiten ihm in den Sinn kamen.
»Pater Prior«, sagte Yon rasch, »die Angelegenheit mit den Quartieren für Herzog Konradin und sein engstes Gefolge – ist alles geregelt und unseren Wünschen entsprechend vorbereitet?«
»Gewiss«, antwortete Prior Mattea langsam. »Ich nehme an, Ihr wollt Euch selbst überzeugen?«
»In der Tat.« Yon beugte sich zu Otto hinüber und übersetzte ihm, was gesprochen worden war. Der junge Ritter verstand kein Italienisch und sein Latein war im Ansatz verkümmert. Otto war im Begriff, eine Frage zu stellen, als es an der Tür klopfte und der Laienbruder hereinkam.
»Pater Prior, die Gästekammern sind fertig.«
Prior Mattea neigte den Kopf, um anzudeuten, dass die Unterhaltung zum Ende gekommen war. Er überantwortete die Boten des Herzogs dem Laienbruder, der sie aus dem Hauptgebäude hinaus und an der Kirche vorbei zum Gästehaus mit Blick auf den Fischteich führte. Im Erdgeschoss verfügte es über eine eigene Küche samt Speisesaal. In den geräumigen Kammern darüber gab es jeweils zwei Betten, Truhen, einen Betstuhl, einen Tisch am verglasten Fenster und an den Wänden etliche Haken für die Kleider. Zwei der Kammern waren mit Kohlenbecken ausgestattet, die eine behagliche Wärme ausstrahlten. Die Zimmer waren sauber und gut gefegt, auf dem Boden lag ein Teppich aus reiner Wolle.
»Ich bringe Euch gleich etwas zu Essen aus dem Refektorium herüber«, versprach der Laienbruder. »In der Speisekammer unten findet Ihr Krüge mit Wein und Becher.« Der Bursche wollte sich abwenden, doch Yon hielt ihn zurück. »Wie heißt du?«, fragte er.
»Mein Name ist Andrea. Ich bin mit der Versorgung der Gäste betraut und stehe Euch zu Diensten.«
»Schön, Bruder Andrea. Sorge dafür, dass die Satteltaschen meiner Begleiter heraufgebracht werden. Und dann lass ein frisches Pferd für mich satteln. Ich muss noch einmal ausreiten.«
Andrea eilte davon. Yon übersetzte für Otto, wobei er geflissentlich ausließ, dass er den Abend und vielleicht auch die Nacht nicht in San Zeno zu verbringen gedachte.
Während die Mönche sich zur Vesper in der Kirche versammelten, verließ Yon das Kloster und trabte mit seinem geliehenen Ross am Ufer der Adige entlang Richtung Verona. Die Sonne brach noch einmal durch die graue Wolkendecke und tauchte die Silhouette der Stadt und die Berge dahinter in gleißende Bahnen aus Licht und Schatten. Yon zügelte sein Pferd und beobachtete den ständig wechselnden Schimmer, der den Hügeln um Verona mehr Schattierungen der Farben Ocker und Grün entlockte, als sich selbst die Hofmaler des Herzogs hätten vorstellen können. Es war ein Moment des Innehaltens, den Yon sich selten gönnte und nur, wenn er sicher war, dass niemand ihm zusah. Solche trivialen Freuden vertrugen sich nicht mit seinem Ruf als gestählter Krieger.
Als er die Zügel wieder aufnehmen wollte, fiel sein Blick auf den goldenen Armreif an seinem Handgelenk, der durch die Bewegung unter dem Handschuh hervorgeglitten war. Die beiden Löwenköpfe brüllten mit aufgerissenen Mäulern.
Einem abergläubischen Impuls folgend, streifte er Handschuh und Reif ab und las noch einmal die in Spanisch verfasste Inschrift. Ich komme nach Verona nicht für Reichtümer und Ehre, sondern, um meine Seele zu retten.
Diese Aussicht war noch genauso unsicher wie zuvor und doch schenkte ihm der Spruch Trost. Yon legte den Armreif wieder an und zog den Handschuh über. Er trieb sein Pferd an und bewegte sich in gleichmäßigem Trab vorwärts. Sein Ziel war die Locanda Aldegondo, auf halber Strecke zwischen dem Kloster und der Stadt gelegen. Ein großer Torbogen führte in den Hof vor der Locanda. Das Gasthaus war langgestreckt und geräumig, zwei Stockwerke hoch, mit einer Fassade aus hellem Tuffstein. Im oberen Geschoss unterbrach eine Reihe rundbogiger Arkadenfenster die glatte Front. Dahinter befanden sich vermutlich die Zimmer für Reisende und Pilger.
Im Hof herrschte ein Treiben wie in einem Bienenkorb. Pferdeknechte und Stallburschen führten Pferde ein und aus, und ein schweißbedeckter Hufschmied hämmerte an seinem Amboss. Gänse und Hühner drängten sich in den Stalltüren und balgten sich um Körner. Ein Hund kläffte, und fette, dickbäuchige Schweine schnüffelten grunzend am Fuß eines hohen, mit ockerfarbener Erde durchsetzten Misthaufens herum.
Yon übergab sein Pferd an einen Stallknecht und betrat den Flur der Schenke.
Die Steinplatten des Fußbodens waren sauber geschrubbt und die Luft duftete nach süßen Kräutern und würzigem Kochdunst. Der Schankraum war groß und luftig, an der Decke zwischen den dunklen Balken hingen geräucherte Schinken und Würste, und am anderen Ende boten breite Fenster einen Blick hinaus in einen Garten und auf den Fluss.
Ein paar Gäste saßen an den Tischen, hauptsächlich Reisende oder Flussschiffer. Unter einem der Fenster waren Tische und Bänke zu einer längeren Tafel zusammengeschoben worden und dort residierte Cesario Bodini, der Mann, für den Yon sich interessierte. Der Kaufherr schien eine ausgezeichnete Mahlzeit genossen zu haben, denn er schob seinen leeren Zinnteller von sich, rülpste leise und strahlte seine Begleiter an, die zu beiden Seiten mit ihm am Tisch saßen.
»Merkt Euch meine Worte«, sagte er vollmundig und tätschelte seinen ausladenden, in pelzverbrämte Wolle gekleideten Bauch. »Der junge Konradin wird siegreich sein: Er hat deutsche Ritter in seinem Gefolge und Graf Meinhard von Tirol und Herzog Ludwig sind fähige Anführer. Dem Anjou wird es schwerfallen, das zu behalten, was er sich unberechtigterweise angeeignet hat.«
Seine blauen, wässrigen Augen blickten in die Runde, aber seine Tischgenossen waren zu müde oder zu betrunken, um sich darum zu kümmern.
Yon setzte sich an einen Tisch, der ihm einen guten Blick auf Bodini erlaubte und streifte seinen Mantel ab.
Der Wirt, ein hochgewachsener, kräftiger Mann in einer erstaunlich sauberen Schürze, kam auf ihn zu. »Und was habt Ihr für einen Wunsch, mein Herr?«, fragte er.
Yon schnupperte. »Was duftet da so aus Eurer Küche?«
»Kapaun, geschmort mit Pilzen und Zwiebeln.«
»Gut, dann bringt mir eine Portion davon und einen Becher Wein.«
Der Wirt entfernte sich und Yon richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Kaufmann. Cesario Bodini saß im Rat der Stadt Cremona und spielte eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen, die Konradin anstrebte. Der junge Herzog litt an notorisch leeren Geldtruhen und ohne die Unterstützung der staufertreuen Kommunen drohte sein Feldzug zu scheitern, bevor er auch nur einen Fußbreit Boden seines Erbes zurückerobert hatte. Yons Brotherr, Graf Meinhard von Tirol, hegte jedoch gewisse Zweifel an der uneingeschränkten Aufrichtigkeit Bodinis. Das war der Grund, warum Yon jetzt in diesem Gasthaus am Ufer der Adige saß und einen Kaufherrn beobachtete, der nichts anderes im Sinn zu haben schien als sich zu betrinken. Yon schüttelte bei sich den Kopf. Immerhin sprang eine heiße, frisch gekochte Mahlzeit für ihn dabei heraus.
Erwartungsvoll sah Yon dem Schankknecht entgegen, der ihm einen Zinnteller mit knusprigen Kapaunstreifen, bedeckt von einer schweren Soße und einen Becher Wein auftischte. Er zog seinen Hornlöffel hervor und machte sich mit Genuss über sein Essen her.
Bodini redete noch immer auf seine Tischgenossen ein, die jedoch eindeutig nicht länger an seinen Ausführungen interessiert waren. Dem Ersten war der Kopf auf die Tischplatte gesunken und er schnarchte selig.
Draußen hatte der Regen wieder eingesetzt. Eine Gruppe schimpfender Reisender drängte in das Gasthaus. Einen Moment herrschte heilloses Durcheinander, bis der Wirt die tropfende Gesellschaft in einen Nebenraum geführt hatte, wo sie ihre nassen Mäntel vor dem Kamin trocknen konnten.
Bodini musterte die Neuankömmlinge ungehalten. Er nahm seinen Becher in die Hand, schwenkte nachdenklich den Weintrub und leerte ihn in einem Schluck. Er setzte sich nach vorne und starrte umher. »Ich will mehr Wein! Bei allen Teufeln der Hölle! Wo ist der Schankknecht?«
Ein Diener, dessen Schürze mit Essensresten befleckt war, eilte herbei, sein langes, ungekämmtes Haar verdeckte sein Gesicht. »Du bist nicht der Kerl, der mich das letzte Mal bedient hat«, brüllte der Kaufherr. »Bei den Zähnen des Gehörnten! Bring mir mehr Wein!«
Der Diener nickte, nahm den Becher und eilte davon. Wenige Augenblicke später kehrte er mit dem randvollen Pokal zurück und setzte ihn vorsichtig vor dem Kaufherrn ab. Bodinis Tischnachbar bewegte sich unruhig. Anscheinend hatte der Kaufherr nicht vor, sich spendabel zu zeigen.
Bodini nippte an dem Wein, ließ ihn genüsslich im Mund hin und her rollen, schluckte, trank erneut. Er stieß den ihm zunächst sitzenden Mann an, um ihn aus seinem weinseligen Schlummer zu wecken, doch dieser grunzte nur, drehte den Kopf auf die andere Seite und schnarchte weiter. Ungehalten sah sich Bodini nach einem neuen Zuhörer für seine Tiraden um. Plötzlich verzog er das Gesicht, als sei ihm unwohl, er rieb sich den Bauch, sein Atem kam in kurzen Stößen. Er stand auf, zerrte an seinem Kragen.
Yon ließ den Löffel fallen und sprang auf.
Bodinis Tischnachbarn starrten mit offenem Mund entsetzt auf den Kaufherrn, der mit hervorquellenden Augen und hochrotem Gesicht keuchte, würgte und um sein Leben kämpfte, bevor er auf der Stelle tot umfiel.
Kapitel 2
»Ihr habt schon wieder einen dieser Briefe bekommen.«
»Das habe ich nicht.« Ada Contarini sah von ihrem Mörser auf und blickte in das zerfurchte, braune Gesicht ihres Leibwächters Imre Talarico. »Wie kommst du darauf?«
Imre legte sein Schnitzmesser auf den Arbeitstisch der Kräuterkammer, begutachtete den halb fertigen Löffel und wischte mit einem Finger ein paar feine Späne vom Griff. »Ich kenne Euch, Madonna. Wenn Euch etwas bedrückt, fangt Ihr immer an, die Kräutertöpfe zu ordnen.«
Ada sah verstohlen zum Regal hinüber und verzog das Gesicht. Imre hatte recht. Die Gefäße mit den fest schließenden Deckeln standen wie an einer Schnur aufgereiht auf den Brettern, das beschriftete Etikett nach vorne gedreht, jeder Abstand genau gleich. Sie seufzte. Imre entging einfach nichts. Für gewöhnlich war sie dankbar für den Scharfblick des alten Soldaten, den Renier Contarini als Begleitschutz für sie eingestellt hatte. Doch in diesem Fall war es ihr gar nicht recht, dass er sie so leicht durchschaute.
»Kommt, zeigt es mir«, bat Imre sanft. »Es ist wichtig.«
Ada legte ihren Stößel ab, tastete in ihrer Gürteltasche und holte das gelbe Stück Pergament heraus, das sie an diesem Morgen zwischen ihren Einkäufen gefunden hatte. Auf dem Gemüsemarkt hatte ein ziemliches Gedränge geherrscht und ihr war nicht aufgefallen, wann oder wie es in ihren Korb gelangt war. Zum Glück hatte sie ihrer Magd geholfen, die Vorräte in die Speisekammer zu räumen und die Botschaft entdeckt, bevor sie der schwatzhaften Ella in die Finger gefallen war. Sie studierte die hingekritzelte Nachricht.
‚Wo ist der Nachlass Eures Vaters? Wo ist il libro segreto? Verrat ist ein Verbrechen und Verräter hängen. Stellt zum Zeichen Eurer Einsicht und Kooperation um Mitternacht eine Lampe ins Fenster Eurer Kammer‘
Sie warf das Pergament auf den Tisch und schob es zu Imre hinüber, der es in die Hand nahm und aufmerksam betrachtete. »Der gleiche Wortlaut, wie bei den letzten beiden Briefen«, bemerkte er schließlich. »Das ist gut.«
»Gut nennst du das? Warum?«
»Wer immer diese Botschaften verfasst, ist sich nicht sicher, ob sich der Nachlass Eures Vaters tatsächlich in Eurem Besitz befindet. Wäre es anders, hätte sich der Ton längst verschärft.«
»Oh.« Ada stützte die Handflächen auf ihr Schneidbrett und überlegte, was sie antworten sollte. Schließlich sagte sie: »Ich habe nicht die geringste Vorstellung, von welchem Nachlass der Briefschreiber spricht.«
»Denkt nach, Madonna. Ruft Euch alles in Erinnerung, was ihr von Eurem Vater wisst.«
Ada richtete sich mit einem Ruck auf und starrte Imre an. »Ich weiß ja nicht einmal, um welchen meiner drei Väter es geht«, stieß sie aufgebracht hervor. »Um den, der mich gezeugt hat, oder denjenigen, den ich sieben Jahre meines Lebens für meinen Vater gehalten habe? Oder vielleicht doch um Renier Contarini, der mir der beste Vater ist, den ich mir nur wünschen kann?«
Imre ließ sich von ihrem Ausbruch nicht aus der Ruhe bringen. »Habt Ihr mit Messèr Contarini über die Briefe gesprochen?«
»Natürlich nicht. Er hätte sich nur Sorgen gemacht.«
»Zu Recht. In Zukunft werde ich Euch begleiten, wann immer ihr ausgeht. Hört Ihr? Keine Alleingänge mehr, nicht einmal zum Markt.«
Ada nickte, nahm ihren Stößel wieder auf und fuhr mit dem Zerstoßen ihrer Kräutermischung fort. Als sie fertig war, füllte sie das Pulver in ein Leinensäckchen, band es zu und stellte es in einen Tragekorb, in dem sich schon weitere Behältnisse befanden.
»Für wen ist das?«, erkundigte sich Imre.
»Für Bruder Tommaso, den neuen Hospitalarius von San Zeno. Wir müssen ihm die Sachen möglichst bald bringen.«
Imre setzte zu einer Erwiderung an, doch er wurde von einem donnernden Klopfen am Tor unterbrochen.
»Ich gehe schon«, rief Ella aus der Küche.
Ada deckte den Korb ab, räumte Schüsseln, Schneidebrett und Mörser zurück an ihren Platz und warf einen prüfenden Blick auf die Schatullen mit den Kräutern und Tränken. Alle waren ordentlich verschlossen und mit Vorhängeschlössern gesichert. Kein Arzt, der etwas auf sich hielt, konnte es sich leisten, dass jemand in sein Haus einbrach und eine der Mixturen stahl, die in unerfahrenen Händen großen Schaden anrichten konnten.
Ada tastete nach ihrem Haar, schob die goldroten Strähnen zurück unter ihren Leinenschleier und richtete das Band, das ihn an Ort und Stelle hielt. »Gehen wir.«
Imre nahm den Korb und verließ die Kammer. Ada zog die Tür hinter sich zu, drehte den Schlüssel im Schloss und ließ ihn in ihre Gürteltasche gleiten.
Sie eilten den mit Steinplatten gepflasterten Gang entlang, der Kräuterkammer, Reniers Behandlungsraum und die Küche miteinander verband, und traten auf den Hof hinaus.
Am Tor standen zwei prächtig aufgezäumte Rösser, von einem Diener gehalten. Ella führte die Besucher zum Haus. Ada erkannte Lorenzo Neri, einen städtischen Beamten, der mit seinem Heer von Sbirren für die Einhaltung der öffentlichen Ordnung in Verona verantwortlich war. Zumindest, wenn man der offiziellen Version Glauben schenkte. Hinter vorgehaltener Hand erzählten die Leute sich ganz andere Dinge über Lorenzo Neris Aufgaben. Messèr Neri ließ ihren Vater gelegentlich rufen, wenn es darum ging, aufgefundene Leichen zu untersuchen und die Todesursache festzustellen. Der zweite Mann war ein schwer bewaffneter Raufbold, der als Neris Leibwächter fungierte. Die Lederreitstiefel beider Männer waren schlammbespritzt, die Säume ihrer Mäntel feucht.
»Messèr Neri«, sagte Ada. »Seid mir willkommen.«
Das Gesicht des jungen Beamten verzog sich zu einem aufrichtigen Lächeln.
»Seid so gut und führt mich zu Eurem Vater«, bat er. »Seine Dienste werden benötigt.«
»Mein Vater hält sich im Augenblick nicht in der Stadt auf«, sagte Ada. »Braucht Ihr einen Heiltrank? Eine Kräutermischung? Damit kann ich Euch dienen.«
Neri schüttelte bedauernd den Kopf. »Es geht um einen Todesfall, in der Locanda Aldegondo. Wann erwartet Ihr Euren Vater denn zurück?«
»Nächsten Monat.«
»Wie bitte? Nächsten Monat, sagt Ihr? Und wer soll mir bis dahin bei meinen Ermittlungen helfen?«
»Es gibt noch andere Ärzte in Verona, Messèr Neri.«
»Scharlatane allesamt, wenn Ihr mich fragt«, warf Neris Wachhund ein. »Mastino della Scala hat uns aufgetragen, den besten Arzt von Verona zu konsultieren.«
»Tja, dann habt Ihr jetzt wohl ein Problem«, murmelte Ada.
Neri betrachtete sie lange, die Augen verengt, die Hände in die Hüften gestemmt.
Ada ahnte, dass sie sich in Schwierigkeiten gebracht hatte, und wünschte, sie hätte einfach den Mund gehalten. In ihrer Lage war es immer das gesündeste, nicht aufzufallen.
Doch dann ließ der Beamte die Hände sinken und strahlte sie an. »Dann müsst eben Ihr mitkommen. Man sagt Euch nach, eine beinahe ebenso gute Ärztin zu sein, wie Euer Vater.«
»Ich habe keine Zulassung Messèr Neri, das wisst Ihr doch. Meine Ansichten sind nicht von Gewicht. Ich kann Euch nicht einmal eine Bescheinigung der Todesursache ausstellen ...«
Neri machte eine wegwerfende Handbewegung. »Für Unterschrift und Beglaubigung finden wir schon einen Eurer männlichen Kollegen. Holt Eure Sachen. Und du, Talarico, mach die Pferde bereit.«
»Ich muss mich umziehen«, sagte Ada. »Und ein paar Dinge einpacken, die ich brauchen werde. Ella wird Euch derweil eine Erfrischung reichen.«
»Also schön. Aber beeilt Euch. Die Zeit drängt.«
Kapitel 3
Ada eilte die Treppe hinauf in ihre Kammer, packte drei ihrer Duftäpfel in durchlöcherten Holzdosen und ihr Schreibzeug in eine Umhängetasche. Sie tauschte ihre Sandalen gegen Reitstiefel aus Korduanleder und strich den Rock ihres grünen Kleides glatt. Unter dem Kleid trug sie Wollstrümpfe und Beinlinge, die sie auf dem Ritt warmhalten würden. Sie nahm ihren Mantel vom Haken, schwang sich den Riemen der Tasche über die Schulter und ging nach unten.
Lorenzo Neri saß in der Küche am Tisch und nippte an einem Becher Wein. Als Ada eintrat, entblößte er lachend seine weißen Zähne und wirkte sichtlich erfreut, dass sie so schnell fertig war. Er erhob sich und legte ihr den Mantel um die Schultern, als sein Wachhund zu ihnen trat, der mit seinem Handschuh gereizt gegen seinen Oberschenkel schlug. »Wir sollten langsam aufbrechen«, nörgelte er.
Ella erschien, um Neris Becher abzuräumen. Ada erteilte ihr noch einige Anweisungen und folgte den Männern dann auf den Hof hinaus. Ein Stallknecht hielt die Pferde am Zügel. Imre trat an ihre Seite und half ihr in den Sattel. Er trug jetzt Handschuhe und Lederrüstung. Sein Soldatenmantel war über die Schulter zurückgeschlagen, um ihm jederzeit freien Zugriff auf Schwert und Dolch in seinem Gürtel zu gewähren.
Ada runzelte die Stirn. Zu Anfang hatten sie beide die seltsamen Drohbriefe als geschmacklosen Scherz abgetan. Doch nach dem dritten Brief wäre es schlicht fahrlässig gewesen, die Sache nicht ernstzunehmen. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht resigniert zu seufzen. Sie hatte ihren leiblichen Vater nie kennengelernt, geschweige denn etwas von ihm erhalten. Als sie zum ersten Mal von seiner Existenz erfahren hatte, war er schon nicht mehr am Leben gewesen und sie besaß nichts von ihm, außer fremden Erinnerungen und Beschreibungen aus zweiter Hand. Was hatte es mit diesem angeblichen Nachlass auf sich? Was mit dem libro segreto, dem geheimen Buch? Sie wusste gar nichts.
Sie näherten sich der römischen Arena und Ada riss die Augen auf. Über Nacht war rund um das altehrwürdige Bauwerk ein brodelnder Jahrmarkt aus dem Boden gewachsen. Männer aller Formen und Größen drängelten sich miteinander, während Käufer und Verkäufer ihre Waren den Pilgern, Juden und sogar dem einen oder anderen heidnischen Mohren anpriesen.
Die feinsten Peitschen und Gerten!
Mit den Pferden war kein Durchkommen und sie mussten absitzen und die Tiere am Zügel führen. Ada sah Müller, Fischhändler, Barbiere und Schmiede, die alle ihre Waren von zeltartigen Ständen aus anpriesen. Liebestränke! Gib dem Mann, den du hast, den Laufpass und hol dir den, den du verdienst!
Es gab viele kleine Nischen, aber Ada hatte nicht die Zeit, auch nur einen Blick in eine davon zu werfen, bevor Imre sie energisch weiterschob. Fisch! Die Frucht des Meeres, die Lieblingsspeise des Capitano!
Affen hüpften in Käfigen herum, Falken schrien, Hunde bellten, alles untermalt von Lauten, Flöten, Gamben, Rebecs und den Stimmen der Troubadoure. Es war ein heilloses Getöse. Ein Verkäufer von Mörsern wurde sofort von einem Anbieter süßer Pasteten abgelöst, der seine verlockend duftenden Proben in die Luft hielt. Dazwischen probten Jongleure ihre Kunst, ein Prediger auf einem Fass fuchtelte wild mit den Armen und warf mit Ankündigungen des jüngsten Gerichts um sich, die jedoch niemanden interessierten.
Die Rundbögen der Arena waren mit goldenen Tüchern und seidenen Bannern geschmückt. Dazwischen hetzten Arbeiter hin und her, um letzte Hand anzulegen, für den Empfang des Herzogs.
Neri navigierte mühelos durch die Stände und Aufbauten, indem er Abkürzungen durch die Gassen nahm oder die Menschen mit der Autorität seines Amtes zum Ausweichen zwang. Hinter ihnen verwischte sich das Stimmengewirr zu einer unzusammenhängenden Melodie. Jeder Reisende sprach seine Muttersprache, sodass die Luft von einem Krieg aus Französisch, Englisch, Flämisch, Griechisch und mehr erfüllt war, in den sich die harten, scharfen Töne des Deutschen mischten.
Über den Lärm hinweg fragte Ada: »Ist dieser Herzog tatsächlich so ein wichtiger Mann?«
»Nun, er ist ein Staufer«, erwiderte Neri. »Der Letzte seines Geschlechts. Wir werden sehen, ob er in der Lage ist, dem Anjou die Stirn zu bieten.«
»Was hat Verona davon?«
Neri zuckte die Schultern. »Wer weiß das schon, außer unserem verehrten Capitano.«
Du wahrscheinlich, dachte Ada. Laut sagte sie: »Was wisst Ihr über den Toten in der Locanda Aldegondo?«
Neri drehte sich zu ihr um. »Ein Tuchhändler aus Cremona«, sagte er. »Er speiste gestern Abend in der Locanda, stand vom Tisch auf, fiel um und hauchte sein Leben aus.«
»Hatte er ein schwaches Herz?«
»Das müsst Ihr mir sagen, Madonna.« Er drehte den Kopf, sah hierhin und dahin. »Ich denke, wir können jetzt wieder aufsitzen.«
Wenig später passierte die Gesellschaft das Stadttor und trabte am Ufer der Adige entlang. Eine dichte Wolkendecke hing über dem Fluss. Mähnen und Schweife der Pferde wehten im beißenden Wind. Erste Regentropfen fielen, als sie in den Hof der Locanda Aldegondo einritten. Knechte eilten herbei, um ihnen die Pferde abzunehmen.
Neri stürmte ohne Umschweife in den Schankraum. Ada sah sich um. Der Gastraum war eine angenehme Überraschung. Die Binsen auf dem Boden knisterten frisch, und wenn sie ihren Stiefel niederdrückte, roch sie den Duft von Rosmarin, der dort hineingestreut war. Die Tische waren aus Eichenholz und genau gearbeitet. Es gab Schemel, richtige Bänke und sogar ein paar Stühle mit hohen Lehnen. Becher und Zinnteller standen auf Borden an der Wand. Alles war sauber.
Ein dunkelhaariger, hochgewachsener Mann löste sich von dem Fass, an dem er gelehnt hatte, und kam auf Neri zu. »Ihr wünscht, mein Herr?«
»Wir haben ein Wörtchen mit dem Wirt zu reden.«
»Der steht vor Euch, Messere. Mein Name ist Pietro Aldegondo.«
»Ich bin Lorenzo Neri, Beamter im Dienst unseres verehrten Capitano del Popolo, und das ist Madonna Contarini. Sie ist Ärztin. Wir sind wegen des Toten hier, den du gemeldet hast.«
Der Wirt verbeugte sich ehrerbietig. »Ich stehe Euch zu Diensten, Ser Neri, Madonna Contarini.«
Ada musterte den Mann. Wenn er die Anwesenheit einer Ärztin seltsam fand, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken.
»Gut«, bemerkte Neri. »Wo ist der Tote?«
»Wir haben ihn nach oben in seine Kammer gebracht.«
»Bodini hat bei dir gewohnt? Seit wann?«
»Messèr Bodini kam am vergangenen Sonntag und wollte bis zum nächsten Sonntag bleiben. Er sagte, er sei in Geschäften hier.« Der Wirt machte eine einladende Geste zu einem Tisch unter dem Fenster. »Wollt Ihr nicht Platz nehmen, mein Herr? Ein Becher heißer Würzwein wird Euch die Kälte aus den Gliedern vertreiben an diesem regnerischen Tag.«
Ada war die Verzögerung nicht recht, aber Neri ließ sich nur zu gern zu der angebotenen Erfrischung überreden. Ein Schankknecht brachte dampfende Becher und eine Platte mit in Knoblauchbutter getränktem Brot.
»Setzt dich zu uns, Wirt. Und dann berichte, was sich gestern zugetragen hat.«
Aldegondo begann mit einer Beschreibung des vorherigen Abends und Bodinis letztem Mahl.
Ada war abgelenkt. Im Schankraum saßen nur wenige Gäste, die Neri wohl erkannt hatten und es vorzogen, ihn nicht weiter zu beachten. Ein Mann jedoch beobachtete sie, davon war Ada überzeugt. Er saß in einem Alkoven, hatte einen Becher und einen Teller mit Brot und Schinken vor sich und aß mit sichtlichem Genuss. Die Mahlzeit schien seine ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen, doch Ada war sich sicher, dass er sie nicht einen Augenblick lang aus den Augen ließ. Er hatte ein kraftvolles, arrogantes Gesicht, braun gebrannt von der Sonne, und einen dichten Schopf schwarzer Haare, dunkle Augen und eine scharf geschnittene, gerade Nase. Das Gesicht mit dem bärtigen Kinn strahlte eine gewisse Düsterkeit aus, die sie auch bei Imre gelegentlich wahrnahm. Ein verschlossener, schweigsamer Mann, dachte Ada. Einer, dem sie nicht in einer einsamen Gasse begegnen wollte. Sie stieß mit ihrem Fuß unter dem Tisch zweimal gegen Imres Bein, zum Zeichen, dass sie etwas beunruhigte. Imre nickte knapp. Scheinbar gedankenverloren strich er mit dem Zeigefinger über den Rand seines Bechers, um anzudeuten, dass er den Mann im Blick hatte.
Der Wirt hatte seinen Bericht beendet und Neri erhob sich. »Zeig uns jetzt die Leiche«, forderte er Aldegondo auf. Der Wirt führte sie in den Hof und über eine Außentreppe zur Galerie im ersten Stock hinauf. Vor einer Tür beinahe am Ende der Galerie blieb er stehen, löste den Schlüsselring von seinem Gürtel, suchte nach dem richtigen Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Er öffnete die Tür und ließ sie eintreten. Neri gab seinem Wachhund ein Zeichen, vor der Tür Wache zu halten.
Im Raum war es düster. Ada zitterte und die Haare in ihrem Nacken kräuselten sich. Der Raum roch säuerlich. Es war lange her, dass sie im Angesicht des Todes ein derartiges Grauen verspürt hatte.
Imre entzündete eine Kerze auf dem Tisch und ging zum Fenster, um die Läden zu öffnen. Kalte Luft strömte in den Raum und brachte den Geruch nach Regen mit. Neri hüstelte hinter vorgehaltener Hand. Trotz der frischen Luft sah er ein wenig grün aus um die Nase. Ada hatte Mitleid mit ihm und gab ihm einen ihrer Duftäpfel.
Der Raum war einfach eingerichtet. Auf dem Holzboden lagen saubere, trockene Binsen. Es gab einen Tisch neben dem Fenster und am Fuße des Vier-Pfosten-Bettes stand eine Truhe. Bodinis Satteltaschen mit einem Teil seiner Habseligkeiten lagen daneben.
»Lasst ihn uns ansehen«, knurrte Neri.
Cesario Bodini lag von einem Tuch bedeckt auf dem Bett. Ada zog es langsam zurück und sah auf den toten Kaufmann herunter. »Wer hat ihn entkleidet?«, fragte sie scharf. »Hat man dir nicht gesagt, dass du nichts verändern sollst?«
»Ein Pater aus San Zeno war da und hat ihn gesegnet und gesalbt«, gab der Wirt zurück. »Er hat mir aufgetragen, ihn für die Bestattung vorbereiten zu lassen.«
Ada schüttelte missbilligend den Kopf und wandte sich wieder der Leiche zu.
Bodini war ein kräftiger Mann mit dichtem, gekräuseltem Brusthaar. Seine Haut war jetzt fahl und trocken. Trotz aller Bemühungen derer, die sich um ihn gekümmert hatten, war sein Gesicht verzerrt. Die Augen waren halb geschlossen. Nur das Weiße war zu sehen. Seine Muskeln waren hart und kalt, seine Finger gekrümmt wie Klauen. Ada roch an seinem Mund. Ganz schwach glaubte sie, einen bestimmten Geruch wahrzunehmen, aber der Eindruck war zu flüchtig. Sie setzte ihre Untersuchung fort, prüfte akribisch, wie Renier Contarini es ihr beigebracht hatte. Schließlich zog sie das Tuch wieder hoch und bedeckte die Leiche.
»Und?«, fragte Neri. »Was könnt Ihr mir sagen?«
»Nichts, womit Ihr etwas anfangen könntet«, erwiderte sie bedauernd. »Der Mann könnte an einem Anfall gestorben sein, aber genauso gut an einer Vergiftung. Leider lässt sich das nicht so genau feststellen.«
»Was denkt Ihr, welches Gift wäre möglich?«
»Ein starker Aufguss eines subtilen Giftes wie Fingerhut, der das Herz zum Stillstand bringt und zum plötzlichen Tod führt.« Ada drehte sich zu dem Wirt herum. »Was hat Messèr Bodini gestern Abend getrunken?«
»Er wollte, dass ich ein Fass von meinem rheinischen Wein ansteche«, sagte Aldegondo. »Ausschließlich zu seinem persönlichen Gebrauch.«
»Gewiss hast du dir dieses Privileg teuer bezahlen lassen«, murmelte Neri.
»Das ist interessant«, sagte Ada. »Bodini war demnach der Einzige, der diesen speziellen Wein trank?«
»Mit seinen Tischgenossen hat er jedenfalls nicht geteilt.«
Ada legte nachdenklich einen Zeigefinger an ihren Mundwinkel. »Rheinischer Wein ist weiß und klar. Sein scharfer Geschmack hätte den Geruch des Giftes überdeckt. Fingerhut liegt in Form eines zerkleinerten weißen Pulvers vor. In minimalen Dosen kann es ein schwaches Herz stärken. Ein wenig zu viel und es wirkt tödlich. Im Wein hätte es sich in nur wenigen Augenblicken aufgelöst.«
»Und bevor Bodini zu Tode kam, ist nichts Ungewöhnliches passiert?«, fragte Neri ungeduldig.
»Nein.« Der Wirt schüttelte den Kopf. »Wegen des Wetters hat sich überhaupt sehr wenig ereignet. Die Gesellschaft hat gegessen und dann haben sie am Tisch gehockt und nur noch getrunken, bis die Ersten vor Erschöpfung umfielen.«
»Wir müssen Bodinis Tischgenossen befragen«, sagte Ada.
Neri nickte. »Du hast Madonna Ada gehört, Wirt. Sag den Leuten, sie sollen sich in der Schankstube versammeln.«
»Äh … das wird nicht gehen, Messère. Die Leute sind nicht mehr da.«
Neri wandte sich dem Wirt zu und betrachtete ihn mit ausdrucksloser Miene. »Wie bitte? Sie sind nicht mehr da? Wie konntest du sie einfach gehen lassen, Wirt? Dazu hattest du nicht die Befugnis!«
Aldegondo machte ein unbehagliches Gesicht. »Sie sagten, sie müssten zu ihren Geschäften zurückkehren und könnten nicht warten. Was kann ich dagegen einwenden, Messère?«
»Nun, ohne Zeugen wird es kaum möglich sein, Bodinis Tod aufzuklären«, sagte Ada. »Ihr müsst versuchen, wenigstens einen Teil der Leute ausfindig zu machen.«
»Ihr werdet sie nicht brauchen«, erklang eine Stimme von der Tür her.
Kapitel 4
Ada drehte sich um. Auf der Schwelle zu Bodinis Kammer stand der Mann aus dem Schankraum.
»Wer seid Ihr?«, blaffte Neri. »Was habt Ihr hier zu suchen?«
»Mein Name ist Yon Moreno. Ich kann Euch den Beweis liefern, dass Bodini vergiftet wurde.«
Überrascht sah Ada ihn an. »Ihr seht mich höchst gespannt, wie Ihr das bewerkstelligen wollt.«
»Ich habe seinen Todeskampf beobachtet.«
»Erzählt mir davon.«
Moreno nickte mit dem Kinn Richtung Galerie. »Nicht hier. Begleitet mich in meine Kammer. Dort habe ich etwas, was Euch interessieren dürfte.«
»Das kommt nicht infrage«, knurrte Neri.
Moreno zuckte die Schultern. »Dann erfahrt Ihr eben nichts.«
»Das werden wir ja sehen.« Neri gab seinem Wachhund ein Zeichen, der sich feixend zwischen Yon und dem Ausgang positionierte.
»Zur Hölle«, murmelte Imre und baute sich schützend vor Ada auf.
»Nehmt ihn fest«, befahl Neri.
Moreno bewegte sich blitzschnell. Sein linker Ellenbogen fuhr nach hinten und brach Neris Wachhund die Nase. Ein Schlag mit der Rechten gegen Imres Brustkorb folgte. Adas Leibwächter ging zu Boden wie ein gefällter Baum und rang nach Luft, unfähig ein Glied zu rühren. In Morenos Hand funkelte ein Dolch, aber Ada erkannte, dass er nur mit dem Griff zugestoßen hatte. Sie schaute Moreno an, der eine Geste machte, die fast bedauernd wirkte und die Waffe zurück in seinen Gürtel steckte.
Neri sah zu seinem Wachhund hin, der sich stöhnend die Nase hielt, während ein dünnes Rinnsal Blut zwischen seinen Fingern hervor sickerte. Schäumend vor Wut wollte er sich auf Moreno stürzen, doch Ada trat energisch dazwischen.
»Aufhören!«, befahl sie in einem Ton, der Neri wie vom Donner gerührt innehalten ließ. »Schluss mit dem überflüssigen Gehabe! Helft Eurem Mann auf die Beine, Messer Neri, ich möchte mir seine Nase ansehen.«
Der Beamte wollte aufbegehren, doch Ada bedachte ihn mit einem Blick, der die Sonne zu Eis erstarren lassen konnte, wie Imre ihr versichert hatte, und Neri ging wortlos zu seinem Wachhund. Ada beugte sich zu ihrem Leibwächter hinunter, sah, dass er wieder gleichmäßiger atmete, und half ihm, sich aufzusetzen.
Sie wandte sich an den Wirt, der sich in eine Zimmerecke zurückgezogen hatte. »Hast du Eis im Keller?«
Aldegondo nickte.
»Dann hol mir welches. Zerkleinere es und schlag es in ein Tuch ein. Beeil dich.«
Der Wirt eilte davon.
»Und Ihr setzt Euch auf diese Truhe«, befahl sie Neris Wachhund.
Imre räusperte sich. Ada warf ihm einen besorgten Blick zu, doch es schien ihm schon wieder besser zu gehen. Er hockte mit untergeschlagenen Beinen, einen Arm auf dem linken Knie ruhend und gebeugt, auf dem Boden und sah finster zu Moreno auf. Der streckte ihm versöhnlich die Hand entgegen. Grummelnd griff Imre zu und ließ sich auf die Füße helfen.
»Nichts für ungut«, sagte Moreno und Imre nickte. Ada seufzte erleichtert.
Auf einem Schemel fand sie einen Krug mit Rosenwasser und eine Schüssel. Ein kleines Handtuch hing daneben. Sie wusch sich die Hände, trocknete sie gründlich mit dem Tuch ab und trat zu ihrem Patienten. »Ich muss Eure Nase abtasten«, teilte sie ihm mit. »Seid so gut und haltet einen Moment still.«
Der Wachhund sah sie an und in seinem arroganten Blick lag ein Hauch von Angst und Misstrauen. Ada schob ihm ohne Umschweife einen Finger in sein Nasenloch, legte ihm die Hände an die Nase, und rückte sie zurecht, bevor der Wachhund begriff, was sie tat. Kaum war sie fertig, sprang er, eine Reihe unflätiger Schimpfworte ausstoßend, auf.
»Halts Maul«, sagte Imre, »oder ich breche dir die Nase gleich noch einmal. In Gegenwart von Madonna Ada wird nicht geflucht.« Er nahm Ada das Tuch ab, das sie mit dem Rosenwasser angefeuchtet hatte, und drückte es dem Wachhund in die Hand. »Hier, wischt Euch das Blut ab. Und wenn der Wirt mit dem Eis kommt, kühlt Euch die Nase, damit sie nicht anschwillt wie ein Kürbis. In ein paar Tagen seid Ihr wieder auf dem Damm, nicht wahr, Madonna?«
»Vorausgesetzt, Ihr meidet in den nächsten Tagen Schlägereien und andere Händel«, fügte Ada hinzu.
Der Wirt kam mit dem Eis und der Wachhund nahm den Beutel dankbar entgegen. Neri drückte ihm eine Münze in die Hand. »Setzt Euch in die Schankstube und wartet da auf mich«, sagte er. »Und du verschwindest auch besser«, fuhr er den Wirt an. »Du hast uns genug Unannehmlichkeiten verursacht.«
Ada schlang sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter. »Ich würde jetzt gerne erfahren, welche Beobachtungen Messèr Moreno gemacht hat«, sagte sie. »Gehen wir?«
Neri nickte mit giftigem Blick.
Moreno führte sie zu seinem Zimmer, das nur wenige Türen von Bodinis Kammer entfernt lag. Er schloss auf und ließ Ada den Vortritt. Das Zimmer verfügte über die gleiche Ausstattung wie Bodinis. Moreno überließ Ada den einzigen Stuhl am Tisch, den sie dankbar annahm. Imre postierte sich neben der Tür und Neri lehnte sich mit verschränkten Armen an einen Bettpfosten. Moreno begann seinen Bericht. Mit präzisen Worten beschrieb er jede Regung Bodinis, die seinem Tod vorausgegangen war. »Ich habe schon Anfälle gesehen«, schloss er. »Aber so einen noch nicht. Der Tod kam zu plötzlich. Und da war noch etwas Auffälliges.«
Er ging zu seinen Satteltaschen, nahm eine abgegriffene Pergamentrolle heraus und reichte sie Ada. Sie rollte das Blatt auf dem Tisch aus und betrachtete es verblüfft. Es zeigte die Zeichnung eines Männerkopfes, mit strähnigem Haar, welches das Gesicht halb verbarg.
»Wenn Ihr den Wirt nach diesem Mann fragt, wird er Euch sagen, dass er ihn noch nie gesehen hat«, erklärte Moreno. »Das ist vermutlich nicht einmal gelogen. Und doch war das hier der Schankknecht, der Bodini den verhängnisvollen Becher Wein gebracht hat.«
Lorenzo Neri trat näher und sah über Adas Schulter auf die Zeichnung. »Wer hat sie angefertigt?«, wollte er wissen.
»Ich«, erwiderte Moreno knapp.
Ada sah zu ihm auf und traf auf einen Blick, der vollkommen ausdruckslos war.
»Ihr seid ein Mann mit vielen Talenten«, sagte Ada und meinte ihre Worte durchaus positiv. Doch er sah regelrecht störrisch aus, als ob ihm die ganze Sache nicht passte. Sie drehte sich zu Neri um, der schweigend gelauscht hatte. »Nun müssen wir nur noch Bodinis Becher finden, der hoffentlich noch etwas von seinem Wein enthält, um auch vor einem Gericht beweisen zu können, dass er ermordet wurde.«
Neri schnaubte. »Gewiss hat dieser Ochse von einem Wirt den Becher schon abgeräumt und gespült.«
»Hat er nicht«, gab Moreno zurück. Er öffnete den Deckel der Truhe am Fußende des Bettes und entnahm ihr einen Becher, den er vor Ada auf den Tisch stellte. Er glich den Bechern, die Ada im Schankraum gesehen hatte und enthielt einen Rest Wein. Sie roch daran und schwenkte den Wein im Becher herum, um den Bodensatz aufzurühren. »Ich denke, wir haben es tatsächlich mit Fingerhut zu tun«, stellte sie fest. »Es gibt Möglichkeiten, dergleichen zu prüfen – vielleicht indem man Brot mit dem Wein tränkt und es als Rattenköder auslegt.«
»Gebt mir den Becher. Ich werde das veranlassen«, sagte Neri.
»Messèr Neri«, fuhr Ada fort. »Ihr habt mein Urteil: Bodini wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit vergiftet. Benötigt Ihr nun noch weiter meine Hilfe?«
»Nein, Madonna«, erwiderte Neri mürrisch. »Schickt Eure Rechnung an meinen Schreiber. Er wird sich darum kümmern.«
»Arroganter Pfau«, murmelte Ada, kaum dass Neri mit dem Becher in der Hand hinausgeeilt war.
Moreno lächelte und sein Gesicht wirkte mit einem Mal jung und höchst attraktiv.
»Ihr nehmt kein Blatt vor den Mund, nicht wahr, Madonna? Bringt Euch das nicht in Schwierigkeiten?«
»Zuweilen«, erwiderte Ada ernsthaft. »Aber daran bin ich gewöhnt.«
Imre berührte Ada leicht am Arm, zum Zeichen, dass sie ihm das Reden überlassen sollte. »Was hat Euch in die Locanda geführt, Moreno?«, fragte er.
Moreno zuckte die Schultern. »Was wohl alle hierherführt. Der Wunsch nach Essen und einem Bett.«
Imre schnaubte.
»Und Euer Interesse an Bodini?«, warf Ada ein. »Woher rührt das?«
Moreno schwieg. Sie sah zu ihm auf und erhaschte einen Blick, der ihr nicht gefiel, kalt und berechnend, als wäre sie eine Sache, von deren Nutzen er sich erst noch überzeugen musste.
»Ich gehöre zum Gefolge Herzog Konradins«, sagte er schließlich. »Bodini zählte zu dem Kreis der Abgesandten, die Konradin zu treffen wünscht. Ich wurde vorausgeschickt, um ihn nach San Zeno zu geleiten.«
»Abgesandte?«, spöttelte Imre. »Geldgeber wolltet Ihr wohl sagen. Man spricht davon, dass Euer viel gerühmter Herzog ohne das Geld der Kaufleute nicht einmal über das Herrschaftsgebiet von Verona hinauskäme.«
Moreno zuckte gleichgültig die Schultern. »Darüber weiß ich nichts.«
Ada war sicher, dass er sehr wohl etwas wusste, aber das war kein Thema, das sie mit ihm zu erörtern gedachte. »Reitet Ihr nach San Zeno zurück?«, fragte sie.
»Ja. Der Herzog dürfte inzwischen eingetroffen sein. Ich muss ihm Bericht erstatten.«
»Dann ist es Euch gewiss recht, wenn wir uns anschließen? Ich muss den neuen Hospitalarius aufsuchen. Ich habe eine Lieferung für ihn.«
»Darüber lässt sich reden, Madonna. Unter einer Bedingung.«
»Ich höre.«
»Sagt mir Euren Namen.«
»Oh. Nun ja, das scheint mir nur höflich. Ich bin Ada Contarini, doctrix medicinae. Und das ist Imre Talarico, mein Leibwächter.«
Moreno stand mehrere Herzschläge reglos da, als lausche er einem fernen Klang nach. Dann sagte er barsch: »Macht Euch bereit. Wir treffen uns im Hof.«
Kapitel 5
Yon stand in der Tür und sah Ada nach, die, gefolgt von Imre, die Galerie entlangeilte. Jedes Nervenende in seinem Körper schien zu prickeln. Eine Contarini. Er hatte gehofft, in Verona früher oder später auf diesen Namen zu stoßen, aber dass er ihm in Form dieser unbedarften jungen Frau quasi in den Schoß fiel, war ein Glücksfall. Er durfte sie nicht aus den Augen verlieren. Yon griff nach seinen Satteltaschen und zog die Tür hinter sich zu. Den Wirt hatte er zuvor schon bezahlt und so ging er direkt zum Stall, um sein Pferd zu holen. Imre hatte Ada gerade ihren Zelter übergeben, als er in den Hof kam. Ada legte sich die Zügel zurecht, stellte einen Fuß in den Steigbügel und saß mit der Leichtigkeit einer geübten Reiterin auf.
Sie hat keine Ähnlichkeit mit dem Mann, den ich suche, fuhr es Yon durch den Kopf. Ihre Haltung war königlich und stand in völligem Gegensatz zu der eher nachlässigen Art, die der Medicus an den Tag gelegt hatte. Alles an ihr, von ihren Reitstiefeln, über den Mantel von bester Qualität, bis zu der glatten Haut ihres Gesichts, deutete auf eine noble Herkunft hin. Sie hatte grüne Augen und wenn die rotbraune Tönung ihrer Wimpern ein Hinweis auf ihre Haarfarbe war, so musste es ein wahrhaft aufsehenerregender Anblick sein. Er wünschte sich, sie zeichnen zu können.
»Was starrt Ihr mich so an? Sind mir plötzlich Hörner gewachsen?«, fragte sie.
Er hob in einer entschuldigenden Geste die Hände. »Verzeiht. Ich dachte, dass Ihr mich an jemanden erinnert.«
Ada schüttelte den Kopf. »An wen sollte ich Euch denn erinnern? Wart Ihr schon jemals zuvor in Verona?«
»Nein«, log er. »Noch nie. Habt Ihr Geschwister? Einen älteren Bruder vielleicht?«
Seine Frage rief eine unmerkliche Veränderung in Ada hervor. Sie musterte ihn misstrauisch und mit einer gewissen Reserviertheit. »Ich habe keine Geschwister«, beschied sie ihm knapp.
Yon schalt sich selbst einen Narren. Er ging viel zu schnell vor in seinem Drang, Antworten zu finden. Er musste sich besser im Zaum halten. »Vergebt mir«, sagte er. »Ich muss mich geirrt haben, Madonna.«
Sie tat seine Entschuldigung mit einer Handbewegung ab und trieb ihr Pferd an. Imre folgte und Yon blieb nichts anders übrig, als sich anzuschließen. Sie verließen die Locanda und bogen auf die ungepflasterte Straße entlang des Flusses ein. Die Diesigkeit des Morgens war gewichen, doch die Frische zeigte an, dass der Herbst schon weiter fortgeschritten war.
Ada hatte die Führung übernommen. Imre ritt hinter ihr und behielt die Umgebung aufmerksam im Auge.
»Erwartet Ihr Schwierigkeiten?«, fragte Yon.
»In Verona weiß man nie«, gab Imre bissig zurück. »Eine Gefahr kommt hier leicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«
Yon warf dem grimmigen Krieger einen Seitenblick zu. »Neri hat eindeutig seine Befugnisse überschritten. Ich konnte ihn unmöglich die Oberhand gewinnen lassen.«
»Ihr hättet mich umbringen können.«
»Ihr wart nicht einen Herzschlag lang in Gefahr, Talarico. Ich weiß, was ich tue.«
»Wer’s glaubt.«
Yon seufzte. »Ich wünschte, Ihr würdet diese Lappalie nicht persönlich nehmen.«
Ada drehte sich im Sattel um. »Ihr haltet es also für eine Bagatelle, zwei erfahrene Kämpfer auszuschalten, indem Ihr höchst unfeine Methoden verwendet?«
»Nicht unfein, Madonna. Wirkungsvoll.«
Ada schüttelte den Kopf. »Hier geht es um ein Prinzip.«
»Falsch. Hier geht es darum, dass ich Euren Leibwächter auf eine Weise überwunden habe, die Ihr nicht billigt, und das passt Euch nicht.«
»Also wirklich, Messèr Moreno …«
Er schnitt ihr mit einer fast sanften Geste das Wort ab. »Der Vorfall war nicht von so großer Bedeutung. Die Überraschung war auf meiner Seite. Ich bin sicher, ein zweites Mal würde es mir nicht gelingen.«
»Bei Euch muss man auf alles gefasst sein«, sagte Ada. »Ihr seid wie ein bockiges Pferd. Ein Ende beißt, das andere tritt.«
Imre warf den Kopf zurück und brüllte vor Lachen über Yons schockierten Blick.
Yon starrte Adas geraden Rücken an und schüttelte den Kopf. »Tja, wenn Ihr das glaubt, muss es wohl so sein«, murmelte er.
Der Rest des Rittes verlief schweigend.
Die Wiese hinter der Abtei hatte sich während Yons Abwesenheit in ein riesiges Zeltlager verwandelt. Farbenprächtige Banner flatterten im Wind. Knappen eilten zwischen den Zelten der Ritter umher, führten die Pferde ihres Herrn zur Tränke oder schleppten Ausrüstung herbei. Verführerische Essensdüfte zogen von
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Máire Brüning
Bildmaterialien: Bildquelle: Depositphoto
Cover: Umschlaggestaltung: Giusy Ame /Magicalcover.de
Lektorat: Sabrina Mesters-Wöll
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2021
ISBN: 978-3-7554-2199-3
Alle Rechte vorbehalten