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Die Siegel Trilogie

 

 

 

 

Die Siegel Trilogie

Drei Romane in einem E- Book

 

Máire Brünig

 

 

 

Impressum

 

© 2021 Máire Brüning – alle Rechte vorbehalten.

 

Máire Brüning

 

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung folgender Illustrationen:

Stone Gothic fantasy medieval background, ©Konstanttin/Shutterstock.com

1900s wax seal ©velora/Shutterstock.com

 

 

 

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Die Autorin

Die Autorin

 

Máire Brüning, geboren 1966 wuchs in einer Region auf, die reich an Zeugnissen staufischer Baukunst ist. Dadurch begeisterte sie sich schon als Kind für alte Ruinen, Sagen und Ritterrüstungen; ihre Leidenschaft für Geschichte und das Mittelalter führte sie schließlich zum historischen Roman. Nach einigen Wanderjahren als Floristin quer durch Deutschland lebt und arbeitet Máire Brüning in der Nähe von Frankfurt. Eine gelungene Verbindung zwischen Beruf und Leidenschaft gipfelte 2003 im Gewinn des Cadeaux-Wettbewerbs.

Von Máire Brüning sind bereits erschienen:

Vetitum Teil 1
Roana
Tage der Trauer (Sequel 1 zu Roana)
Wie ein Siegel auf dein Herz Teil 1
Wie ein Siegel auf dein Herz Teil 2
Die Braut des Medicus
Der Schatz des Venezianers

 

Über dieses Buch

Erstmals alle Romane der Siegel Trilogie von Máire Brüning in einem Band.

 

Wie ein Siegel auf dein Herz Teil 1

 

Als der Medicus Nael erfährt, dass sich seine große Liebe Roana mit einem anderen Mann vermählt hat, verliert sein Leben für ihn jeden Sinn. Absichtlich bringt er sich in tödliche Gefahr. Im letzten Moment wird er von einer geheimnisvollen Fremden gerettet, die ihm fortan nicht mehr aus dem Kopf geht. Auch Ravena entwickelt bald schon tiefe Gefühle für den Medicus. Doch Nael ist nicht, was er zu sein scheint. Die Schatten seiner Vergangenheit drohen jeden zu vernichten, der sich mit ihm einlässt…

 

Wie ein Siegel auf dein Herz Teil 2

 

Venedig 1254
Als ihr stummer Ziehsohn Tarun entführt wird, folgt die junge Burgherrin Ravena einer Spur, die nach Venedig führt. Zur Seite steht ihr der Medicus Nael, der mehr über Taruns Verschwinden zu wissen scheint, als er preisgeben will. Bald häufen sich Hinweise, die in Ravena einen erschreckenden Verdacht erwachsen lassen: Besteht eine Verbindung zwischen der Entführung des Jungen und Naels dunkler Vergangenheit? Ravena und Nael werden in ein skrupelloses Ränkespiel verstrickt und müssen sich eines Feindes erwehren, der vor nichts zurückschreckt. Dabei kann Ravena sich nur einer einzigen Sache sicher sein: Sie wird nicht aufgeben, bis sie ihren Sohn gefunden hat.

 

Die Braut des Medicus

 

Dezember 1254. Nach den tragischen Ereignissen in Venedig kehrt Ravena nach Rocca d´Aquila zurück. Allein, voller Trauer und Zweifel, denn der überstürzte Abschied von ihrem Geliebten, dem Medicus Nael, überschattet ihr Glück. Doch Nael beweist ihr seine Liebe. Er erscheint vor den Toren ihrer Burg und hält um ihre Hand an. Eifrig stürzt sich die junge Burgherrin in die Vorbereitungen zum Empfang der Hochzeitsgäste. Doch nicht alle Besucher kommen, um dem Brautpaar Glück zu wünschen. Schon bald muss Ravena sich gefährlicher Feinde erwehren, die ihre Familie bedrohen ...

 

 

 

Stammbaum

Stammbaum

 

Dramatis Personae

Dramatis Personae

 

 

Nael

 

Nach einer Reihe von Tiefschlägen und einer verlorenen Liebe sieht der Medicus die Zukunft als dunkle Tragödie.

 

Ravena von Rocca d´Aquila

 

Verwitwete Burgherrin. Sie hat gelernt, wie man allen Widrigkeiten ein Schnippchen schlägt, aber Schwierigkeiten haben die Tendenz größer zu werden statt geringer.

 

Rafael von Rodéna

 

Ravenas lange verschollen geglaubter Bruder, der genau zur richtigen Zeit auftaucht, womit er Ravenas Leben jedoch gehörig durcheinanderbringt.

 

Roana von Morra

 

Rafaels Gemahlin, die sich keineswegs sicher ist, ob sie den richtigen Mann geheiratet hat und sich nun mit den Folgen ihrer Unentschlossenheit konfrontiert sieht. Ein Ungemach, das sie überhaupt nicht gebrauchen kann, denn sie muss ihren verschollenen Oheim finden. Und die Zeit läuft ihr davon.

 

Peire

 

Sänger, Rafaels Diener, Freund, und wandelndes Gewissen, womit er Rafael zuweilen in den Wahnsinn treibt, ihn aber immer wieder auf den rechten Pfad zurückführt.

 

Madda

 

Ravenas Kammerfrau, findet Männer im Allgemeinen recht lästig, wobei Peire aufgrund seiner Verletzung ein wenig Narrenfreiheit genießt - die er weidlich auszunutzen versteht.

 

Tarun

 

Der Älteste von Ravenas Findelkindern. Er spricht nicht und kann sich nicht an seine Vergangenheit oder seinen richtigen Namen erinnern.

 

 

 

Alessa

 

Ravenas ungefähr vierjährige Findeltochter, die zu Pferd sitzt, wie ein mongolischer Steppenreiter und die sich ausgerechnet den düsteren Nael als ihren Ersatzvater auserkoren hat.

 

Desideria

 

Genannt Desi, ebenfalls ein Findelkind, das Ravena aufgenommen hat. Ein ruhiges und liebes Mädchen, das dennoch weiß, wann es sich zu kämpfen lohnt.

 

Alaric von Staleberc, Ritter

 

Liebt es, zu ernten, was er nicht gesät hat

 

Ash´ abah, der Geist

 

Ein geheimnisvoller Mann, dessen Absichten niemand kennt. Vielleicht nicht einmal er selber.

 

Arel, Medicus

 

Ravenas Mentor, der es ganz besonders auf Nael abgesehen hat

 

Rollo, sein Diener

 

Dinêl, Falknergehilfe

 

Cesare, Diener

 

Jelscha, Köchin auf Ravenas Burg

 

 

 

Kapitel 1

Kapitel 1

 

Er verlor langsam den Verstand. Ja, so musste es sein. Wie sonst ließ sich erklären, dass er ständig dieses quälende was - wäre - wenn im Kopf hatte. Das ertrug er nicht länger. Wie so oft in den letzten Wochen wünschte er sich, ihr nie begegnet zu sein. Allein der Duft ihrer Haut schoss ihm wie ein Aphrodisiakum ins Hirn und wenn er gar den Fehler beging, an den Kuss zu denken, verschlug es ihm im wahrsten Sinne des Wortes den Atem …

Wobei dieser Kuss schon vier Wochen zurücklag. Vier endlose Wochen, in denen er das Gefühl gehabt hatte, über loses Geröll zu laufen, das ihn unaufhaltsam auf einen Abgrund zu trug. Sie wollte ihn nicht.

Nicht das Nael normalerweise Schwierigkeiten mit Frauen hatte. Im Gegenteil. Frauen mochten ihn. Wo immer er auftauchte, mangelte es ihm nicht an weiblicher Gesellschaft. Aber er musste sich ausgerechnet in Roana von Morra verlieben, die einzige Frau, die absolut nichts von ihm wissen wollte. Zu einer anderen Zeit hätte er vielleicht über die absurde Situation lachen können – aber im Augenblick fühlte er sich einfach nur miserabel.

Aus zusammengekniffenen Augen spähte er in seinen Weinkrug. Beinahe leer. Na wunderbar. Selbst sein Körper betrog ihn. Bei der Menge an Wein, die er an diesem Abend schon getrunken hatte, hätte er längst in einem Stadium seliger Bewusstlosigkeit sein müssen. Wie die meisten seiner Versuche, Roana aus seinem Gedächtnis zu löschen, war auch dieser gescheitert.

Aber unbelehrbarer Dummkopf, der er war, würde er trotzdem nicht aufhören, den Wein des Herrn von Segeste in sich hineinzuschütten. Vielleicht gelang es ja schierer Erschöpfung, ihn für eine Weile Vergessen finden zu lassen.

Nael hob den Weinkrug, um sich seinen Becher zu füllen, aber nach einem Blick auf den mageren Rest befand er, dass sich der Aufwand nicht lohnte. Stattdessen setzte er den Krug an und nahm einen tiefen Schluck.

Er saß auf einer Steinmauer, hoch oben auf dem Wehrgang der Burg Segeste. Mit dem Rücken lehnte er gegen die raue Wand des Turmes, den rechten Fuß auf die gegenüberliegende Zinne gestützt, während sein linkes Bein über die Brüstung hing und von der Nacht verschluckt zu werden schien. Er ließ seinen Blick über die mondbeschienene Landschaft schweifen, die Felder und Weinberge, welche die Burg Segeste umgaben. Wie lange saß er jetzt schon hier?

Wie üblich hatte sein Versuch zu vergessen kurz nach Sonnenuntergang begonnen. Bier, Wein – jedes Gift war ihm recht, wenn es nur dazu geeignet war, sein Denkvermögen auszuschalten. Kämpfen war ebenfalls nützlich, falls jemand dumm genug war, ihm in die Quere zu kommen. Ihn störten die Verletzungen nicht besonders, die er sich dabei einhandelte, aber sein Halbbruder Rafael geriet jedes Mal ziemlich aus der Fassung, wenn er zerschlagen und blutig in sein Quartier zurückkehrte.

Mit einem gleichgültigen Blick musterte Nael seine Hände, die sich kreuzenden roten Linien auf seinen Handrücken. Erinnerungen an eine wüste Schlägerei, in die er vor zwei Tagen verwickelt worden war. Einige der Striemen begannen zu verschorfen, andere dagegen waren noch so roh, dass sie bei der geringsten Bewegung erneut anfingen, zu bluten. Messer, Scherben eines zerbrochenen Bechers - er wusste nicht einmal, was genau die Schnitte verursacht hatte. Er spürte weder Bedauern noch das Bedürfnis, die Wunden zu versorgen – all dies hätte Nael der Arzt fühlen sollen - aber Nael den Mann ließen die Verletzungen völlig kalt.

Und er war darüber nicht einmal sehr erschrocken. Alles, was er spürte, war eine tiefe Niedergeschlagenheit, eine mit Hilflosigkeit gepaarte Wut, die durch die mitleidigen Blicke seines Bruders noch geschürt wurde. Das Trinken, das Kämpfen - Rafael hatte es als das erkannt, was es war: ein billiger Trick, um ihn von dem großen schwarzen Loch in seinem Herzen abzulenken. Nael stieß ein grimmiges Schnauben aus. Unglücklicherweise hatte das Loch die Form von Roana und nichts anderes als Roana passte dort hinein. Er war sich so sicher gewesen, dass sie ihn, Nael, seinem wilden und gefährlichen Halbbruder Rafael vorziehen würde. Himmel, größer hätte sein Irrtum gar nicht sein können!

Für Roana hatte er sich selbst Daumenschrauben angelegt, war zurückhaltend gewesen und geduldig, während er sie mit allem Respekt umworben hatte, der einer Edeldame zustand.

Vielleicht hätte er ihr besser erzählen sollen, dass auf seinen Kopf ein Preis ausgesetzt war. Dass er eine schwangere Frau getötet hatte. Eine Frau, die er niemals hätte anrühren dürfen, weil er für Fälle wie den ihren gar nicht ausgebildet war. Aber er war jung gewesen und von sich selbst eingenommen, stolz auf sein an der Universität von Salerno erworbenes Wissen.

Bevor er die Lektion des Scheiterns gelernt hatte.

Er sah immer noch den entsetzten Blick der Frau, als sie begriff, dass es mit ihr zu Ende ging. Er sah es an jedem neuen Morgen, in welchem Bett und in welchem Zustand er auch erwachte. Und jedes Mal hatte er das Gefühl, ein wenig schneller Richtung Abgrund zu rutschen, wenn er über die bisher größte Dummheit seines Lebens nachdachte. Die eine, die ihn als Person definierte.

Wie ein Spinnennetz klebte seine Vergangenheit an ihm und je mehr er sich wehrte, umso tiefer verstrickte er sich in dem zähen Gespinst aus Reue, Selbstzweifeln, Scham und Resignation.

Wenn er wenigstens in der Lage gewesen wäre, seinen Bruder zu hassen … Seinen Bruder Rafael, dem es scheinbar mühelos gelungen war, seine Vergangenheit abzustreifen, wie eine zu eng gewordene Haut. Aber er hatte ja auch Roana. Ihre Liebe.

Er dagegen … Wer wollte sich schon mit einem Niemand einlassen, einem namenlosen Medicus, dem alles durch die Finger geronnen war, was er jemals besessen hatte?

Er glitt in gefährlichem Tempo auf den Abgrund zu. Und wenn er erst einmal am Rand angekommen war, würde er fallen und fallen, unaufhaltsam wie ein Stein, den ganzen Weg in die Tiefe, ohne jede Hoffnung jemals wieder nach oben zu kommen.

Er hob den Krug an den Mund und nahm erneut einen tiefen Schluck. Wann zum Teufel würde sein Körper endlich nachgeben?

Beim Abstellen stieß er gegen den Becher, der umkippte und über den Rand der Brüstung rollte. Nael beugte sich mit dem Oberkörper über die Zinnen hinaus und sah dem fallenden Gefäß hinterher. Und schon waren sie wieder in seinem Kopf, diese dunklen Gedanken, die von Mal zu Mal verführerischer wirkten. Es wäre so leicht, einfach die Brüstung loszulassen, sich in die dunkle, lockende Tiefe zu stürzen. Drei, vier Herzschläge nur und alles wäre vorbei - Neid, Schmerz, Leere, für immer vorbei …

»Nael? Allmächtiger! Was machst du da?«

Langsam richtete er sich auf und wandte den Kopf zu der Sprecherin um. Roana. Ausgerechnet sie. Ausgerechnet jetzt. Aber wer sonst käme auf den Gedanken, ihn in seiner selbst gewählten Einsamkeit zu stören?

»Sieht so aus, als ob ich hier säße.«

»Bist du noch bei Trost?«, fragte Roana ungehalten. »Einen gefährlicheren Platz konntest du wohl nicht finden, um dich zu betrinken, wie? Du musst doch wissen, dass du spätestens um Mitternacht nicht mehr Herr deiner Sinne bist! Was, wenn du in deiner Trunkenheit den Halt verlierst?«

Nael schwieg.

»Oh. Ich verstehe. Du legst es bewusst darauf an, nicht wahr?«

»Vielleicht.« War er wirklich bereit gewesen, sich in die Tiefe zu stürzen? Er dachte einen kurzen Moment nach, bevor er die Frage unbeantwortet beiseiteschob.

Sie zog scharf den Atem ein. »Ich hasse es, wenn du das tust.«

Ihr Ton rüttelte Nael aus seiner Versunkenheit auf. »Wie bitte? Was tue ich denn?«

»Du schacherst mit dem Teufel um deine Seele«, sagte Roana mit schwerer Betonung. »Bitte, bitte, tu das nicht. Es macht mich wirklich nervös.«

Ein angespanntes Schweigen folgte. Schließlich war es Roana, die einen leisen Seufzer ausstieß. »Warum sitzt du allein hier oben?«

»Weil es ziemlich schwierig ist, sich in einer Halle voller Menschen in Ruhe zu betrinken.«

Roana runzelte die Stirn. »Sag mir Nael, weiß Rafael eigentlich, wie viel du trinkst?«

»Keiner weiß das. Noch nicht einmal ich.«

Er griff erneut nach dem Weinkrug und nahm einen Schluck.

Zu seiner Überraschung kam sie näher und streckte ihm die Hand entgegen. »Bitte komm von der Mauer weg, Nael. Tu mir wenigstens diesen Gefallen. Ich würde mich besser fühlen, wenn ich wüsste, dass du nicht gerade neben einem Abgrund sitzt, um dich zu betrinken.«

Nael musterte ihren in ein einfaches Gewand gehüllten Körper. Das Licht aus dem Turmgemach hinter ihr ließ ihre Rundungen deutlich hervortreten, und das kurze, blonde Haar ringelte sich in sanften Wellen um ihr Gesicht. Sie sah wie eine Göttin aus, wie sie dort stand. Ein atemberaubender Engel, der erschienen war, seine verlorene Seele zu retten.

Und er wollte sie verschlingen wie ein halb verhungerter Wolf. Sie in seine Arme schließen und das quälende Brennen in seinem Körper lindern. Aber das konnte er nicht.

Reiß dich zusammen. Behalte deine Gefühle unter Kontrolle. Jede Dummheit hat Konsequenzen.

Sie kam noch näher und wollte nach seinem Arm greifen, doch Nael stieß ihre Hand weg. »Lass das …«, murmelte er.

Nein, er durfte sie nicht berühren. Nicht einmal ihre Hand. Sonst tat er am Ende noch etwas so Unpassendes wie sie an sich zu reißen und zu küssen.

»Hast du dir extra die Mühe gemacht auf den Turm zu steigen, nur um mir einen Vortrag zu halten?«, fragte er unfreundlich.

»Nein«, erwiderte sie zögernd und ließ ihre Hand sinken. »Tatsächlich bin ich aus einem ganz anderen Grund gekommen. Ich habe dir etwas zu sagen. Ich dachte, es sei besser … wenn du es von mir selbst hörst.«

»Verschwinde. Lass mich.« Er drehte den Kopf zur Seite.

Roana verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich denke nicht daran, mich vertreiben zu lassen, bevor ich gesagt habe, was zu sagen ist.«

Naels Kopf schwang zurück, seine Augen funkelten Roana böse an. »Verschwinde Herrin, geh hinunter in die Halle, dort gibt es besseren Zeitvertreib für eine Dame wie dich!«

Roana sah ihn wortlos an. In den Weinbergen raschelten die Blätter im nächtlichen Wind.

»Rafael und ich haben in Morra geheiratet.«

Nael saß auf der Mauer, wie versteinert. Mit hängenden Mundwinkeln. Zu keinem Gedanken fähig.

»Nael?« Roanas Stimme klang vorsichtig. »Du verschüttest deinen Wein.«

Nael zuckte erschrocken zusammen und richtete den Krug auf. Er konnte nicht atmen. Er versuchte, zu schlucken. Seine Kehle war ausgetrocknet wie Wüstensand.

Roana. Hatte. Rafael. Geheiratet. Das war das Ende all seiner Hoffnungen.

Abrupt sprang er auf und drängte sich an ihr vorbei. Er hastete die Treppe hinunter, durchquerte den Hof und betrat den Stall. Warf seinem Pferd die Zügel über den Kopf und den Sattel auf den Rücken. Obwohl er wusste, dass es riskant war, ließ er sich ein Seitentor öffnen, schwang sich auf seinen Hengst und preschte davon. Er brauchte das Tempo und er brauchte die Nacht. Vielleicht brauchte er ja auch das Risiko. Er hatte sich nie viele Gedanken um Frauen gemacht, hatte nie die Notwendigkeit gesehen, sich an eine Einzige zu binden. Ein Heim, Familie, Kinder. Einen Ort, wo er wirklich hingehörte. Er hatte geglaubt, dass es sich auch gut ohne diese Dinge leben ließ.

Bis er Roana begegnet war, der Frau mit den Mondscheinaugen und dem geheimnisvollen Lächeln. Die Frau seines Lebens. Die Einzige. Die nun Rafael gehörte.

Er ließ seinen Hengst über Mauern springen und über Felder galoppieren, wo die Nachtluft süß und kühl war. Das Mondlicht tauchte die Burg Segeste in einen silbernen Schimmer und in einigen Fenstern glühten Kerzen. Vielleicht war eines dieser Fenster das von Rafael und Roana. Vielleicht teilten sie sich einen späten Imbiss und gingen dann zu Bett, um sich stundenlang zu lieben. Bei diesem Gedanken wuchs ein Druck in ihm heran, der ihn zu zerreißen drohte.

Roana …

Einst hatte er seine Träume zu ihren Füßen ausgebreitet. Sie war darüber hinweggeschritten, als seien es nur lästige Kiesel und nun lagen seine Träume in Scherben.

Mit einem wilden Knurren spornte er seinen Hengst an und ließ ihn galoppieren, weg von der Burg, weg von Roana und der steten Versuchung, die sie darstellte.

 

 

Gegen Morgen hielt Nael an einem von Berghängen umgebenen See, nur wenige Minuten von Segeste entfernt, und ließ seinen müden Hengst trinken. Ein feiner Nieselregen fiel. Während das Tier sein Maul in den See tauchte, starrte er auf das Wasser hinaus. Wie ein großer grauer Teppich lag es vor ihm, mit unzähligen kleinen Wellen, die sich ihm entgegen kräuselten, eine nach der anderen. Der Duft vermodernder Pflanzen hing in der Luft. Er sog den Geruch tief in seine Lungen, bis er seinen ganzen Körper ausfüllte und nichts mehr existierte außer dem süßlichen Hauch des Todes.

Und die Wellen flüsterten, leise, verlockend, beharrlich, komm … tanz mit uns ...

Schon mehrmals während der Nacht hatte er sich allen Ernstes gefragt, ob es in ihm noch irgendetwas gab, was im Inferno seines Schmerzes nicht verbrannt war. Ein Teil seiner Seele war zu hartem, gefühllosem Narbengewebe geworden und er wusste noch nicht, wie groß dieser Teil war und ob er sich jemals wieder regenerieren würde.

Er ging einen Schritt näher an das Wasser heran. Es rollte ans Ufer und hinterließ eine feucht schimmernde Oberfläche, die einladend vor ihm lag.

Du willst mich aufnehmen, dachte er. Du willst mich und meinen Schmerz aufnehmen. Meinen Schmerz, die Trauer, mein Leben, willst du begraben in deinen dunklen Tiefen. So sei es.

Ein feiner Schweißfilm bedeckte seinen Oberkörper und biss auf seiner Haut, wie ein ganzes Volk wilder Ameisen, aber er zwang sich, es zu ignorieren. Während die warme Brise mit seinen Haaren spielte, machte er einen Schritt nach vorne und die nasse feuchte Erde saugte schmatzend an seinen Stiefeln.

Die Wellen kamen angetanzt, sanft schmeichelnd und begruben seine Füße bis zu den Knöcheln unter sich. Er sah ihnen zu, sah, wie sie einander abwechselten, wie sie sich daran machten seine Beine zu erobern. Seine Füße waren im Uferschlick versunken, verschwunden, wie auch er bald ganz und gar verschwunden sein würde, für immer.

Sein Hengst hatte begonnen, die spärlichen Grashalme am Ufer auszurupfen, und einen Moment lang bedauerte er das Tier zurücklassen zu müssen. Der Rappe würde irgendwann nach Segeste zurücklaufen und vielleicht würde sich sein Bruder fragen, was ihm wohl zugestoßen war. Vielleicht würde ihn aber auch niemand vermissen. Er horchte in sich hinein und versuchte zu ergründen, ob ihm das etwas ausmachte. Das tat es nicht. Solche Dinge hatten längst keine Bedeutung mehr für ihn.

Die Kühle des Wassers stieg seine Beine hinauf, umfing ihn wie tröstende Hände. Er riss den Blick von seinem Pferd los und schritt den Wellen entgegen.

Wasser schenke mir deinen Frieden.

Es leckte an seinen Beinen. Er schauderte ein wenig unter der kalten Berührung, gleichzeitig hätte ihn nichts auf der Welt bewegen können, die Kühle zu verlassen. Sie legte sich wie ein Nebel auf sein Gemüt und dämpfte die Gedanken.

Ein sanfter Wind raschelte im Schilf, wisperte ein Lebewohl – sieh her, wie einfach es ist! Hab keine Angst!

Das erste blassrosa-farbene Licht des neuen Morgens erschien am Horizont, legte sich auf das Wasser, überzog es mit kristallenem Glanz. Doch gleich darauf zogen dämmergraue Wolken heran und nahmen dem Morgen, dem Himmel, dem Wasser die Farbe. Er machte noch ein paar Schritte vorwärts. Das Wasser schmeichelte die Schenkel entlang, kitzelte ihn spielerisch, während alles, was unter der Wasseroberfläche verschwunden war, nicht mehr zu ihm zu gehören schien. Das Wasser lockte ihn, zog ihn tiefer und tiefer in den See, ergriff von ihm Besitz, forderte eine letzte und endgültige Entscheidung, die er tief in seinem Herzen längst getroffen hatte. Vielleicht spürte er deshalb die Kälte nicht, die schon an seinem Bauch angekommen war und seine Djelaba vom Saum bis zum Halsausschnitt durchdrungen hatte. Wellen zupften, stupsten, leckten von vorne, von hinten, von den Seiten, tippten ihn an die Brust, gegen den Rücken, und trugen seine Arme über das Wasser, wie zwei Korken, so sehr der Stoff auch zog.

 

 

Leiser Regen rieselte aus dem blassgrauen Himmel, als Ravena von Rocca d’Aquila bei Tagesanbruch mit dem Falken auf der Faust am westlichen Ufer des Sees von Segeste entlangritt. Der Falke war der frisch abgetragene Beizvogel ihrer Freundin und Ravena hatte versprochen, während ihres Besuches mit dem unerfahrenen Tier zu arbeiten. Der See war reich an Niederwild und Ravena hatte die Hoffnung einige Enten aufzustöbern, an denen ihr Vogel seine Fähigkeiten erproben konnte. Der geliehene Stöberhund tänzelte um ihr Pferd, griff dann aber mit langen Sprüngen aus und verschwand im Schilf. Aber statt der erhofften Enten erhob sich ein Reiher aus dem Rohrwald des Ufers.

Ravena zögerte einen Moment. Ein Reiher war eine ungleich anspruchsvollere Aufgabe für den jungen Falken, als die vorgesehene Ente. Unruhig trat der Falke auf ihrem Arm hin und her, er hatte die Beute erspäht. Ravena nahm durch den Handschuh das Beben der Fänge wahr, löste rasch die Fessel vom kleinen Finger und warf mit kühnem Ruck den Vogel in die Luft. Aufmerksam folgte sie mit den Augen dem rasch steigenden Falken und seinem Gegner.

Inzwischen hatte es aufgehört zu nieseln und hinter den Regenwolken zeigte sich ein Streifen blasses Rosa am Horizont. Höher und höher klommen die Vögel in den Himmel hinauf, wurden zu kaum mehr erkennbaren dunklen Punkten vor dem Grau der Wolken. Endlich war der Reiher überflogen und der Falke setzte zum ersten Stoß an. Beinahe wäre er ihm allerdings zum Verhängnis geworden, denn der Reiher streckte den spitzen Schnabel in die Luft und wies mit dieser Waffe auch noch zwei weitere Angriffe ab. Aber dann gelang es dem Falken, seine Fänge in den Rücken des Reihers zu schlagen und die Vögel wirbelten zu Boden.

»Jesus Maria!«, entfuhr es Ravena.

Ein Milan hatte inzwischen ihren Vogel angegriffen und versuchte ihm die Beute abzujagen. Die Raubvögel schossen Richtung See davon und stürzten dort im Kampf wie Steine zu Boden.

Sofort trieb Ravena ihr Pferd an. Der Reiher war vergessen. Ihr Herz klopfte so heftig, dass es ihr in den Ohren rauschte. Die wilden Flügelschläge der beiden Vögel waren schon von Weitem zu hören. Sie galoppierte am Ufer des Sees entlang, um eine Biegung – und riss so heftig an den Zügeln, dass ihr Pferd schlitternd und rutschend zum Stehen kam.

Im Wasser, schon ein gutes Stück vom Ufer entfernt, erblickte sie einen Mann, der sich unablässig auf die tiefste Stelle des Sees zu bewegte. Heilige Jungfrau Maria, warum tat er das? Wusste er nicht, wie gefährlich das war? Der Seeboden senkte sich zur Mitte hin abrupt zu unergründlicher Tiefe ab. Nachdem einige Unfälle passiert waren, hatten die Dorfbewohner am Ufer einen Pfahl eingeschlagen, um den Beginn des gefährlichen Bereiches zu markieren. In der ewigen Dämmerung unter Wasser hausten Seeungeheuer, die ihre Opfer unbarmherzig in die Tiefe zogen. Keines ihrer Opfer war jemals wieder aufgetaucht.

So zumindest hatte es ihr die Freundin erzählt. Ravena glaubte zwar nicht an die Seeungeheuer, aber vielleicht gab es Strudel, die ja kaum weniger gefährlich waren. Ravena winkte und schrie dem Mann eine Warnung zu, ohne jedoch eine Reaktion hervorzurufen. Süßer Jesus, war er vielleicht irrsinnig oder von Schwermut befallen?

Offensichtlich, denn während sie wie gebannt zu dem Mann blickte, bewegte er sich unbeirrt weiter. Inzwischen ging ihm das Wasser schon beinahe bis zur Brust.

Von bösen Vorahnungen geplagt, trieb Ravena ihr Pferd an und ritt zu einer Stelle am Ufer, die frei von Schilf und anderem Bewuchs war. Von da hatte sie zum ersten Mal einen klaren Blick auf die Gesichtszüge des Mannes. Das schwarze Haar fiel ihm bis auf den Rücken. Er hatte ein schmales, ovales Gesicht, das in seiner Jugend fast mädchenhaft hübsch gewesen sein musste und dem die Zeit und die Reife eine herbe maskuline Schönheit verliehen hatten, die durch die kühn geschwungenen Augenbrauen und den sinnlichen Mund noch betont wurde.

Ihr ganzer Körper spannte sich an, wie eine Bogensehne vor dem Schuss und sie konnte sich nicht bewegen. Konnte nicht atmen. Konnte nicht denken.

Der Mann mochte ungefähr fünfundzwanzig Jahre zählen. Schlank und dennoch kräftig und muskulös gebaut besaß er eine solche Ähnlichkeit mit ihrem Stiefvater Lucca, dass sie in diesem einen Moment vollkommen davon überzeugt war, ihren als Kind verschollenen Halbbruder Rafael vor sich zu haben.

Und dann kam der Zorn über dass, was er tat, eine eiskalte Wut, die das wild lodernde Gefühl der Panik in ihr betäubte.

Zorn machte es ihr möglich zu atmen, sich zu bewegen, zu denken. Sie schlug ihrem Pferd die Fersen in die Flanken und jagte es in den See.

»Bleib stehen, Rafael! Nicht weiter!«

Sie trieb ihr Pferd unbarmherzig an. Um sie herum schäumte das Wasser. Der Körper des Pferdes schlug Wellen, die ringförmig davon strebten.

»Zurück, um Himmels willen! Zurück!«

Der Mann reagierte nicht. Er bewegte sich zwar langsamer, aber nicht, weil er stehen bleiben wollte. Seine Gewänder waren inzwischen nur einfach zu schwer, der Widerstand des Wassers zu groß, um schneller voranzukommen.

Ravenas Wallach strauchelte und ihr Bein schrammte an einem unter Wasser liegenden Felsen entlang, ohne dass sie den Schmerz fühlte. Ihr ganzes Sein war auf die Entfernung zwischen ihr und dem Mann konzentriert, den sie für ihren Bruder hielt. Irgendwo in ihrem Kopf zählte sie die Schritte bis zum Abgrund, zählte, wie viele davon Rafael noch vor sich hatte, zählte, wie viele ihrem Pferd noch blieben, bevor es selbst den Boden unter den Hufen verlor.

Zu große Entfernung.

Zu wenig Zeit.

Ravena schrie nicht noch einmal, selbst als sie sah, dass der Mann vor ihr ins Straucheln geriet. Sie trieb ihren Wallach härter an, als sie es je bei einem Pferd getan hatte, und das Tier arbeitete sich tapfer durch das Wasser.

 

 

Es dauerte verdammt lange. Mit den Gedanken bei Roana und seinen Erinnerungen versuchte Nael hinüberzugleiten, in eine andere Welt, wo der Tod schon darauf wartete, eine kalte, dunkle Decke über ihn zu werfen. Sanft lockte er: Komm näher, komm an meine Brust und wärme dich.

Aus halb offenen Augen sah er ihn in den blaugrünen Tiefen den Willkommensreigen tanzen und er fühlte, dass ein Teil seines Körpers schon nicht mehr ihm gehörte.

Im nächsten Moment jedoch schoss ein Wassergeist auf dem Rücken eines Seeungeheuers aus den Fluten empor, es spritzte und platschte um ihn herum, sein Gesicht wurde nass, Wasser rann ihm in den Mund, er spuckte, schlickiges Wasser auf der Zunge, am Gaumen. Halb benommen schüttelte er sich die Haare aus dem Gesicht und sah genauer hin.

Der Wassergeist war eine Frau. Sie saß im Sattel eines Pferdes, das wie eine Festung vor ihm aufragte und ihm den Weg ins tiefere Wasser versperrte. Die Reiterin lenkte ihr Tier geschickt vorwärts, zwang ihn, rückwärtszugehen, und als er einmal in Bewegung war, trieb sie ihn in schnellem Tempo auf das Ufer zu. Seine Füße fanden keinen Halt auf dem rutschigen Untergrund, er stolperte und schlug der Länge nach hin, schluckte Wasser und Schlick. Im nächsten Moment wurde sein Kopf an den Haaren aus dem Wasser gerissen und ein scharfer Schmerz durchzuckte seinen Nacken. Keuchend und prustend rang er nach Luft. Die Frau zerrte unbarmherzig an seinen Haaren und deutete mit ihrer freien Hand zum Ufer, während aus ihrem Mund Fetzen einer singenden Sprache kamen, Bruchstücke von Drohungen, Verwünschungen, was auch immer, er verstand kein Wort. Er rappelte sich mühsam hoch, taumelte vorwärts. Ein paar Schritte noch über den nassen Boden, weg vom Wasser, weit weg, dann knickten ihm die Beine ein und er sank auf die Knie, keuchend vor Anstrengung.

»Was soll-«

Das war alles, was Nael herausbrachte, weil das Wasser ihm die Atemluft abschnitt. Sein Körper wurde von einem heftigen Husten geschüttelt, er würgte und spuckte Wasser. Die ganze Welt schien sich vor seinen Augen zu drehen, er musste erneut würgen, sein ganzer Leib schmerzte, doch war es nichts als grüne Galle, was er ins Gras speien konnte. Wilde Flüche murmelnd, wischte er sich über das Gesicht -, mischte Blut mit Wasser – und stutzte.

Die Frau, die ihn aus dem Wasser getrieben hatte, stand neben ihrem Pferd und schaute unverwandt in seine Richtung, klare, blaugrüne Augen, die bis in seine Seele zu blicken schienen. Wassertropfen hingen an ihren dunklen Wimpern und glänzten wie Kristalle im Morgenlicht. Strähnen ihres ebenholzfarbenen Haares hatten sich aus ihrer Haube befreit und klebten feucht an ihren Wangen.

Wieder fuhr er sich über das Gesicht. Er versuchte, sich aufzurichten, aber durch die schnelle Bewegung rutschte der Boden unter ihm weg und er fiel seitwärts ins Gras. Langsam rollte er herum auf den Rücken, starrte verwirrt zu ihr auf. Ihre Augen waren halb geöffnet und sie sah auf beinahe unheimliche Weise durch ihn hindurch. Ein Sukkubus?

Aber er träumte doch nicht, oder?

Auf jeden Fall hatte sie ein Gespür für dramatische Auftritte. Absicht oder nicht, es war äußerst wirkungsvoll, wie sie da stand mit der aufgehenden Sonne im Rücken, umgeben von einer Aureole aus Feuer und Gold. Der nasse Rock ihres schlichten Gewandes formte ihre schlanke Taille und die fraulich geschwungenen Hüften nach und klebte an ihren langen Beinen.

Reiß dich zusammen. Behalte deine verdammten Triebe unter Kontrolle. Jede Dummheit hat Konsequenzen.

Die endlosen strengen Vorträge seiner Lehrer, all die Regeln, die sie ihm eingebläut hatten, wirbelten durch seinen Kopf und füllten sein Gehirn mit einem chaotischen Durcheinander murmelnder Stimmen.

Er vor allen anderen wusste doch, was es hieß, mit den Folgen einer Dummheit zu leben.

Aber für die Selbstkontrolle eines Mannes gab es einfach Grenzen. Ein Blick aus diesen großen, blaugrünen Augen - und er verwandelte sich in einen unzivilisierten Wilden, der die Frau über seine Schulter werfen und in eine Höhle verschleppen wollte.

Roana war eine Schönheit. Diese Frau jedoch war umwerfend, auf eine besondere, ihr allein eigene Art. Sie besaß eine Ausstrahlung, die königlich war. Stolz. Würdevoll. Sie ließ sich nichts vormachen. Und schon gar nicht wie ein Besitz behandeln.

»Nour«, murmelte er. »Malekah.«

Aber dann schloss er die Augen. Sein Leben war ein Scherbenhaufen. Durch und durch. Egal wie sehr er sich auch etwas vormachte, das Wissen umkreiste ihn wie ein Geier, der nur auf die Gelegenheit wartete, ihm die Augen auszupicken und sich an seinem Fleisch gütlich zu tun.

Und so fing es an. Das schleifende, knirschende Geräusch mit dem Naels Füße begannen, haltlos über das Geröll Richtung Abgrund zu gleiten. Nur noch kurze Zeit, um das Licht zu sehen, – na und?

»Mach die Augen auf!«

Nur undeutlich drang die Stimme zu ihm vor. Doch um keinen Preis wollte er die Lider heben, irgendetwas an diesem Körper verändern, der auf dem schmalen Grat zwischen Tod und Leben schwebte ...

»Bei der Jungfrau Maria, du bist ja betrunken!«

Zwei Hände packten seine Schultern und schüttelten ihn erbarmungslos. Nael blinzelte. Ein flammend roter Himmel wankte über ihm und stürzte mit der nächsten brutalen Bewegung auf ihn zu. Winselnd kniff er die Augen zusammen.

»Mann, hörst du mich?« Leichte Schläge trafen seine Wangen.

Mit einer Bewegung, für die ihn sein Kopf prompt mit Schmerzen strafte, versuchte er, sich auf die Seite zu drehen, weg, lass mich in Frieden-.

»Du Holzkopf. Mach sofort die Augen auf!« Diesmal schlug sie härter zu, dass ihm die Wangen brannten. Gequält öffnete er die Augen, blickte in das verärgerte Gesicht der Frau.

»Du bist wirklich betrunken.« Fassungslos beugte sie sich über ihm. »Und ich dachte ...«

»Was?«, knurrte er. »Was dachtest du?«

»Nicht wichtig«, murmelte sie. »Nicht mehr wichtig.«

 

 

Ravena hockte stocksteif da, einen dicken Kloß im Hals. Der Mann war nicht Rafael.

Wieder einmal habe ich mir Hoffnung gemacht, wo es keine Hoffnung mehr gibt, dachte sie, ohne etwas dabei zu empfinden. Die Zeit hatte jede Spur von dem Jungen, an den sie sich erinnerte verwischt. Es gab ihn nicht mehr. Aus. Vorbei. Die langen Wochen ihrer Gefangenschaft, Angst, Schmerz und was immer sie füreinander gewesen waren – Einbildung. Wunschdenken.

Hier hast du nun die Strafe für deine Tagträumerei, Ravena. Du musst dich mit einem betrunkenen Fremden herumschlagen und der Falke deiner Freundin ist vermutlich inzwischen tot.

Sie war von der Taille an abwärts nass bis auf die Haut. Selbst in ihren Stiefeln stand das Wasser, hatte sich in den Schuhspitzen gesammelt und lief vorne wieder heraus. Und der Fremde funkelte sie an wie ein Wolf, der nur auf den Augenblick wartete, in dem seine Beute in ihrer Aufmerksamkeit nachließ, um sich auf sie zu stürzen.

Ravena ließ sich davon jedoch nicht beirren. Sie zog sich den schweren Falknerhandschuh von der Hand, legte ihn neben sich ins Gras und beugte sich über ihn. Über dem linken Auge hatte er einen mit Erde verschmierten Riss, der noch immer leicht blutete.

»Halt still«, befahl sie streng. »Ich will mir deine Wunde ansehen.«

Er versuchte den Kopf wegzudrehen, aber mit zwei Fingern ihrer Linken packte sie sein Kinn und zwang ihn, ihr ins Gesicht zu schauen. Ravena war sich hinsichtlich seiner Augenfarbe so sicher gewesen, dass sie jetzt, da sie ihn so nahe vor sich hatte, überrascht zusammenzuckte.

Seine Augen waren nicht schwarz, wie sie gedacht hatte, sondern dunkelbraun. Doch dann fiel ein Sonnenstrahl auf sein Gesicht und sie erkannte, dass diese Augen keinesfalls dunkel waren, sondern ihr Braun so hell und warm leuchtete wie goldener Honig. Obwohl sie wusste, dass sie diese Enthüllung lediglich einem Lichtspiel verdankte, kam er ihr vor wie ein Hexenmeister, der einfache Erde in kostbare Edelsteine verwandeln konnte.

Ungeduldig befreite er sich aus ihrem Griff. »Verschwinde, Weib.«

»Oh, nein. Die Wunde ist voller Schmutz. Sie muss gesäubert werden, damit sie besser heilt. Und deine Hände bluten ebenfalls.«

»Ich sage dir, lass mich in Ruhe.«

»Nicht bevor deine Wunden versorgt sind.«

Schneller als sie es ihm zugetraut hatte, rollte er sich herum, stützte sich auf Hände und Knie, dann auf Zehen und Ballen. Bevor er sich jedoch aufrichten konnte, gab Ravena ihm einen kräftigen Stoß und er landete erneut im Gras.

Wie eine Natter fuhr er herum und sprang auf. Seine Augen waren fast schwarz vor Wut und Ravena hatte das Gefühl, von zwei Dolchen aufgespießt zu werden.

»Mach das nicht noch einmal, Weib«, sagte er mit gefährlich ruhiger Stimme. »Ich bin keiner von den zahmen Rittern, die sich nach Belieben an die Kandare nehmen lassen. Diesen Irrglauben haben schon ganz andere Leute teuer bezahlt.« Verächtlich spuckte er auf den Boden. »Hochmut ist eine tadelnswerte Eigenschaft, Madonna, aber du neigst offensichtlich noch obendrein dazu, dich in Angelegenheiten einzumischen, die dich nichts angehen. Du hast meine Pläne empfindlich gestört. Dafür schuldest du mir einen angemessenen Ausgleich.«

Ravena blieb der Mund offen stehen. Das war die gemeinste Rede, die sie je gehört hatte! Schockiert starrte sie ihn an. Sie hatte seine Pläne gestört? Das konnte er doch nicht ernst meinen? Sie hatte ihn davor bewahrt, im See zu ertrinken, daran gab es keinen Zweifel. Vielleicht war er sich der Gefahr nicht bewusst gewesen, der See verbarg seine Geheimnisse unter einer trügerisch ruhigen Oberfläche – aber für gewöhnlich ging man nicht voll bekleidet ins Wasser, nur um zu baden oder zu schwimmen. Nein, hinter all dem steckte mehr, als er zugeben wollte. Ravena konnte sich des Verdachtes nicht erwehren, dass er versucht hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen, und sie gerade noch rechtzeitig gekommen war, um das zu verhindern. Sie schauderte. Sobald sie ins Haus ihrer Freundin zurückgekehrt war, würde sie die Kirche aufsuchen und um Gottes Beistand für seine Seele bitten. Immerhin war der Mann im Begriff gewesen, eine schwere Sünde zu begehen …

»Ich schulde dir nichts«, sagte sie kopfschüttelnd, »eher umgekehrt, würde ich sagen ...«

»So, würdest du das?«

Ravena bemühte sich, kühl und gelassen weiterzusprechen. »Du bist fremd hier. Sicher weißt du nicht, dass es in dem See gefährliche Strudel gibt und du nahe daran warst, in die Tiefe gezogen zu werden. Ich an deiner Stelle würde Gott auf Knien für meine Rettung danken …«

Der Blick aus seinen Augen ließ sie bis ins Mark erschaudern. »Du solltest besser den Mund halten, wenn es um Dinge geht, von denen du nichts verstehst, Frau. Durch deine Einmischung hast du mich zur schlimmsten aller möglichen Strafen verdammt. Und dafür wirst du bezahlen.«

Ehe Ravena überhaupt bemerkte, dass er sich bewegte, hatte er sie schon bei den Armen gepackt und an sich gezogen. Seine Augen funkelten wütend. Dann küsste er sie mitten auf den Mund, langsam und genüsslich, forderte sie geradezu heraus, sich zu wehren.

Verblüfft spürte Ravena, dass eine Vielzahl verschiedener Empfindungen sie überschwemmte. Sie sog seinen Geruch ein, einen prickelnden männlichen Duft, der untrennbar mit dem Aroma eines sommerlichen Regenschauers verbunden zu sein schien, und fühlte seinen harten Griff, den Druck seines Oberkörpers gegen ihre Brüste und die heiße, lockende Berührung seiner Lippen. Das Schlimmste war jedoch, dass es ihr auf einmal so vorkam, als würden sie sich nackt in den Armen liegen, so als ob sich Leder, Seide und Leinen bei seiner Berührung in Luft aufgelöst hätten. Eine sengende Hitze breitete sich in ihr aus, bis sie meinte, ihr ganzer Körper würde in Flammen stehen. Ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, und sie öffnete unwillkürlich leicht die Lippen. Nicht gewillt, diesen Betrug ihres eigenen Körpers zu dulden, zwang sich Ravena mit aller Kraft, das lodernde Verlangen zu unterdrücken und sich in seinen Armen stocksteif zu machen. Genauso gut hätte er nun eine Statue aus Eis in den Armen halten können. Ihre Kälte schien seine Glut zu löschen, denn er gab sie plötzlich frei, trat einen Schritt zurück und sah sie mit seinen dunklen Augen einen Moment durchdringend an. In seinem Gesicht zeigte sich ein seltsamer Schmerz, der gemischt war mit Sehnsucht. Dann bedachte er sie mit einem derart verächtlichen Lächeln, dass sie dem Drang, ihm in sein Gesicht zu schlagen, kaum widerstehen konnte. Dass es sich dabei um eine typisch weibliche Trotzreaktion handelte, steigerte ihre Wut nur noch. Ihn wieder in den See zu stoßen wäre eine weit effektivere Maßnahme, dachte sie böse.

Offenbar standen ihr dieser Wunsch und die überschäumende Wut im Gesicht geschrieben, denn sein hässliches Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Dann beachtete er sie nicht mehr, sondern pfiff nach seinem Rappen, der bereitwillig angetrabt kam.

Ravena nahm sich mit aller Kraft zusammen. So demütigend es auch sein mochte, letztendlich war es doch nicht mehr als ein Kuss gewesen. Trotzdem hatte noch nie zuvor ein Kuss sie je so aufgewühlt wie dieser. Bei der Erinnerung daran erschauerte sie. Plötzlich schienen ihre Lippen, ihre Brüste, jeder Teil ihres Körpers, den er berührt hatte, Hitze auszustrahlen. Der Aufruhr in ihrem Inneren verstärkte ihren Ärger noch, und ein neuerlicher Schauer überlief sie. »Feigling«, zischte sie ihm hinterher, fühlte sich aber trotzdem nicht besser.

Er hatte sie gehört und drehte sich um. Sein Blick gab ihr zu verstehen, dass sie, sollte, sie ihm noch einmal begegnen, nicht nur mit einem Kuss davonkommen würde. Sie blickte hochmütig zurück und verließ sich dabei ganz auf die eisige Kraft ihres Willens. Der Mann zuckte fast gleichgültig die Achseln, obwohl das Feuer in seinen Augen unvermindert heiß loderte. Dann drehte er sich mit einer raschen Bewegung um, zog sich auf den Rücken seines Pferdes und im nächsten Moment war er mit den Schatten des umliegenden Waldes verschmolzen.

Ravena blickte ihm ungläubig nach, völlig verdutzt, wie schnell er verschwunden war. Nicht ein einziges gutes Wort hatte er für sie übrig gehabt. Nun, dann war es eben so. Warum sollte sie sich wegen eines undankbaren Fremden grämen?

Aber noch während sie nach dem Hund pfiff und ihr Pferd bestieg, wurde ihr klar, dass sich die Erinnerung an seinem Kuss nicht so leicht aus ihrem Gedächtnis vertreiben lassen würde.

Kapitel 2

 

Kapitel 2

 

Utinam scires ut semper tui memor sum

 

»Ihr beide macht heute aber wirklich einen schrecklichen Lärm«, sagte Madlaina, während sie einen Faden um ein weiteres sorgfältig zurechtgestutztes Thymiansträußchen schlang und verknotete. Ravena griff nach einem Korb und half ihrer Kammerfrau, die fertig gebündelten, würzig duftenden Sträußchen hineinzupacken.

Tarun, der Älteste von Ravenas Findelkindern saß bei ihnen und zupfte Scharpie. Jetzt jedoch blickte er von seiner Arbeit auf und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Warum beschwert sie sich, schien sein Blick zu sagen. Wir haben doch gar nichts miteinander gesprochen.

Ravena lächelte flüchtig. »Genau das stört unsere gute Madlaina ja so sehr. Wir beide sind ihr zu schweigsam. Sie unterhält sich eben gerne bei der Arbeit.«

Für dieses Ansinnen hatte Tarun nur ein Achselzucken übrig. Mit seinen Händen malte er eine kurze Folge von Zeichen in die Luft, Worte ändern nichts, bevor seine braunen Finger fortfuhren, mit schnellen Bewegungen Scharpie zu zupften und zu akkuraten kleinen Knäueln zusammenzurollen.

Wie schwarzer Siegellack schimmerte sein Haar im schwachen Sonnenlicht. Sein fein geschnittenes Gesicht lag im Schatten, doch Ravena sah, wie er die Lippen bewegte, während er sich nach einer lautlosen Melodie wiegte. Wenn es mir nur gelingen würde, herauszufinden, warum er nicht spricht, dachte sie mit einem Anflug von Wehmut. Ich weiß doch, dass er es kann.

Als sie ihn vor beinahe einem Jahr verletzt in den Bergen gefunden hatte, war er von hohem Fieber geschüttelt worden. Drei Tage und drei Nächte hatte sie erbittert gegen das Fieber gekämpft, hatte Stunde um Stunde an seinem Lager gewacht, seinen Körper mit Lavendelwasser abgerieben, während er in seinem Delirium ständig unverständliche Dinge vor sich hin gemurmelt hatte. Daher wusste sie, dass er nicht stumm war. Aber so sehr sie ihn auch ermunterte und lockte – seit er genesen war, drang nicht ein einziger Laut über seine Lippen.

Die beiden Frauen und der Junge saßen in der Kräuterkammer der Burg Rocca d’Aquila, einem hellen Turmzimmer, das von den Burgleuten ehrfürchtig nur die Apotheke der Baronin genannt wurde, und bereiteten die Kräuterernte des Morgens zum Trocknen vor.

Der Raum – trocken, gut belüftet und ausgestattet mit Läden, die genau passten – enthielt ein hohes Regal an der Wand, das fast überquoll vor Töpfen und tönernen Amphoren, Keramiktiegeln und Beutelchen mit Kräutern und orientalischen Heilmitteln, Pergamentröllchen.

Von dem betäubenden Duft wurde den meisten Besuchern schwindelig, deshalb brachte Ravena außer Madlaina und Tarun auch selten jemand mit hierher. Neben dem Regal stapelten sich in einer geöffneten Truhe Bücher und Folianten, Ravenas mühsam zusammengetragenes Arsenal des Wissens. In der Ecke stand ein Lesepult, auf dem ein dicker Foliant aufgeschlagen lag. Es gab außerdem zwei Arbeitstische, Mörser und Stößel, Kohlepfannen und Trockengestelle. Der Zimmermann von Rocca d´Aquila hatte weitere Gestelle angefertigt, die von der Decke hingen sowie einen kleinen Schemel, damit sie sie erreichen konnte. Kräuter und Blumen hingen in Büscheln herab. Wenn Ravena nicht mit den Falken oder ihrer ständig wachsenden Schar von Waisenkindern beschäftigt war, verbrachte sie sehr viel Zeit hier oben, um Heiltränke und Salben herzustellen.

Ravena liebte ihre Kräuterkammer. Ein spezielles Regal in der Ecke des Raumes war mit einem schweren Vorhang versehen, damit die empfindlichen Pflanzen vor dem schwachen Sonnenlicht geschützt waren, das durch die Fenster drang. Sie ging zu dem Lesepult in der Ecke und trug die neu gesammelten Kräuter in ihre Bestandsliste ein, bevor sie sie mit Madlainas Hilfe zu den anderen an die Gestelle hängte.

»Das sollte eine Weile reichen«, meinte sie zufrieden. »Morgen beginnen wir mit der Herstellung der Salbe gegen raue Hände. Stell dir nur vor, Madlaina, allein Jaccopo hat zehn Tiegel für den Markt in Trento bestellt. Mit dem Erlös daraus können wir endlich die Schafe ersetzen, die wir an die Wölfe verloren haben. Isabeau braucht schon lange neue Schuhe, die Köchin möchte eine neue Pfanne und Pfeffer haben wir auch nicht mehr viel in der Vorratskammer …«

Madlaina schüttelte den Kopf. »Sag mir eins, Ravena. Wann hast du zum letzten Mal etwas Hübsches für dich gekauft? Vor einem Jahrhundert? Oder ist es gar noch länger her?«

»Ich habe alles, was ich mir wünsche.«

Grimmig wanderte Madlainas Blick über Ravenas Gesicht. »Warum nehme ich dir das jetzt nicht ab, meine Liebe?«

Ravena hielt in ihrer Arbeit inne. »Ja, warum eigentlich nicht?«

»Seit du von diesem Besuch bei deiner Freundin zurück bist, bedrückt dich etwas. Das kann ich sehen. Du stehst stundenlang am Fenster und träumst vor dich hin, wenn du denkst, dass keiner es sieht. Schweigsam bist du geworden. Man möchte fast glauben, dass du mit dem Jungen darum wetteiferst, wer am längsten ohne Worte auskommt. Sag mir also nicht, dass du glücklich bist.«

Tarun hob erneut den Blick und sah erst Madlaina und dann seine Pflegemutter an. Ravena lächelte ihm zu. Darauf legte er die Hand an sein Herz und neigte nur ernst den Kopf.

»Siehst du«, sagte Madlaina, »selbst der Junge teilt meine Meinung.«

Mit zitternden Beinen stieg Ravena von ihrem Schemel und ließ sich darauf sinken. Nach fünf Tagen Einerlei auf der Burg erschien ihr der Morgen am See inzwischen seltsam unwirklich. Nur, dass sie vor diesem Tag ein Leben geführt hatte, in dem ihr nicht zwei goldbraune Augen den Schlaf raubten oder der Gedanke an einen Kuss Schauder über ihren Rücken jagen ließ.

Sie hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber Madlaina kannte sie einfach zu gut. Verlegen biss Ravena sich auf die Lippen. »Ich fürchte, ich habe mich ziemlich dumm benommen, Madda. Aber ich habe noch nie einen Mann getroffen, der Rafael so ähnlichsah, wie dieser Fremde, dem ich in Segeste begegnet bin. Ich war so sicher, er wäre es, deshalb habe ich … ach verwünscht!«

»Ich glaube, du erzählst mir besser die ganze Geschichte.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, erwiderte Ravena und berichtete in knappen Worten, was sich am See zugetragen hatte.

Unwillig schüttelte Madlaina den Kopf. »Vierzehn Jahre, Ravena! Wie kannst du da noch Hoffnung haben, deinen Bruder zu finden? Selbst wenn er noch lebt - du könntest auf der Straße an ihm vorbeigehen, ohne ihn zu erkennen.«

»Oh, bitte Madlaina, sag so etwas nicht! Ich würde es doch fühlen, wenn Rafael nicht mehr am Leben wäre, ich …«

Vor Aufregung verschluckte sie sich, hustete, krächzte: »Bitte, sag es nicht, bitte …«, und spürte Taruns Finger, die sich tröstend über ihre Hand legten.

Madlaina sah sie von der Seite an. »Trotzdem – in diesen See zu reiten war dumm und gefährlich. Was soll den aus den Kindern werden, wenn dir etwas zustößt?«

»Mir ist aber nichts zugestoßen«, erwiderte Ravena unwirsch. »Ich konnte die Ähnlichkeit dieses Mannes mit Lucca unmöglich ignorieren. Mein ganzes restliches Leben lang hätte ich mir Vorwürfe gemacht, wenn ich es nicht versucht hätte … ich …«

»Ähnlichkeit mit Lucca?«, unterbrach Madlaina entrüstet. »Mit diesem Bastard, der sich nicht gescheut hat, seine eigenen Kinder in die Sklaverei zu verkaufen?«

Ravena kämpfte tapfer gegen den dicken Kloß, der plötzlich in ihrem Hals saß. »Lass es gut sein, Madda. Bitte. Rafaels äußerliche Ähnlichkeit mit seinem Erzeuger ist der einzige Anhaltspunkt, den ich habe. Verstehst du? Und dieser Mann sah Lucca so unglaublich ähnlich, dass ich wirklich dachte, er …« Ihre Stimme wurde immer leiser und selbst für ihre Ohren zitterte sie ganz eigenartig. »Als ich dann seine Augen sah … sie waren braun und nicht silbergrau … da wusste ich, dass wieder einmal alles umsonst gewesen war. Aber die Enttäuschung schmerzt jedes Mal mehr …«

»Du solltest daran denken, dich wieder zu verheiraten.« Madlaina wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und sah ihre Freundin eindringlich an. »Du brauchst einen Mann, der dein Bett warmhält. Dann würdest du nicht so oft an deinen Bruder denken. Das kommt nur daher, weil du einsam bist.«

»Das bin ich nicht!«, platzte Ravena heraus und hieb mit der Faust auf die Arbeitsplatte. Wie konnte Madlaina nur immer von einer neuen Heirat reden, wo sie doch genau wusste, dass es weit und breit keinen Mann gab, der ihr die gleichen Freiheiten einräumen würde, wie der verstorbene Baron Bruno?

Da glitt Tarun von seinem Sitz, kniete vor ihrem Schemel nieder, nahm ihre Hand und drückte einen Kuss darauf. In seinen Augen standen Tränen.

»Wie kann ich einsam sein, wenn ich einen Jungen wie Tarun habe?«, flüsterte Ravena erstickt. »Ich muss aufhören mit diesen Fantastereien. Aber ich hatte nach meiner Flucht aus dem Kloster ein gutes Leben. Messer Antonio hat mich aufgenommen und behandelt wie eine eigene Tochter. Der Haushalt eines Gewürzhändlers war der beste Ort, den ich mir wünschen konnte, um dort aufzuwachsen. Stell dir nur vor, ohne Messer Antonio hätte ich einen Medico wie Meister Arel nie kennengelernt …« Sie hielt inne. »Im Kloster hat Rafael mich beschützt. Er hat oftmals die doppelte Bestrafung ertragen, damit Lucca mich in Ruhe lässt, hat mich getröstet, wenn ich vor Furcht nicht schlafen konnte, sein Brot mit mir geteilt, obwohl es dann für ihn selber kaum genug war. Fast schäme ich mich, so viel Glück gehabt zu haben. Weißt du Madda, die Trennung wäre so viel leichter zu ertragen, wenn ich nur sicher sein könnte, dass sich jemand seiner angenommen hat, so wie es Messer Antonio und Bruno bei mir getan haben.«

Versonnen starrte sie vor sich hin und strich über Taruns schwarzen Schopf. »Ich vermiss ihn wirklich sehr«, sagte sie dann und seufzte. »Aber mit jedem Monat, der vergeht, schwindet die Wahrscheinlichkeit dahin, dass ich etwas über ihn herausfinde. Das weiß ich. Trotzdem kann ich nicht aufhören zu hoffen.« Sie ergriff Taruns Hände und half ihm beim Aufstehen. »Wo bleibt eigentlich Dinêl?«, fragte sie plötzlich.

Im gleichen Moment schlugen die Jagdhunde in ihrem Zwinger an. Leute liefen über den Hof, das Tor wurde aufgezogen. Ravena eilte zu der Fensteröffnung und stieß den Laden auf.

»Madda – Tarun, schaut, Dinêl kommt zurück! Jeden Moment muss er in den Hof reiten. Lasst uns hinuntergehen und hören, welche Nachrichten er mitbringt!«

Madlaina ließ ihr Kräuterbündel sinken, klopfte sich ein paar Blätter aus der Schürze und eilte hinter Tarun und der Burgherrin die ausgetretenen Holzstufen in den Hof hinunter.

Vor dem Tor erklang Hufgetrappel. Falknergehilfe Dinêl war endlich zurück. Er lenkte sein stämmiges Gebirgspony bis in die Mitte des Hofes und stieg steifbeinig aus dem Sattel.

Ravena war auf der Treppe stehen geblieben mit Tarun zu ihrer Rechten und Madda auf ihrer linken Seite. Dinêl kam auf sie zu und verneigte sich vor seiner Herrin. »Sei gegrüßt, Herrin! Ich bringe schlechte Nachrichten von der Straße nach Trento. Das Donnergrollen, das wir vernommen haben, war eine Mure, welche die Hauptstraße unpassierbar gemacht hat. Die Verwüstungen sind schlimm. Es kann Wochen dauern, bis alles wieder frei ist.«

»Bist du sicher?«, unterbrach ihn Ravena. In ihrem Bauch begann es zu kribbeln. Eine versperrte Hauptstraße hieß, dass mehr Reisende als gewöhnlich den Weg durch ihr Tal nehmen würden. Reisende unterschiedlicher Herkunft und Gesinnung, die auf der Burg verköstigt und beherbergt werden mussten und denen, während ihres Aufenthaltes, Dinge zu Ohren kommen konnten, die sich besser nicht herumsprachen. Jeder Ritter ohne Land, jeder habgierige Baron, der erfuhr, dass eine unverheiratete Frau über Grundbesitz verfügte, würde sofort versuchen ihre Burg einzunehmen, und sie selbst zur Ehe zu zwingen. Was wiederum viele Menschen das Leben kosten und dem Land einen enormen Schaden zufügen würde.

Ravena stieß einen Seufzer aus, bevor sie sich zusammenriss und Dinêl in die Küche schickte, um sich bei Jelscha der Köchin, seine wohlverdiente Mahlzeit abzuholen. Zwar war Rocca d´Aquila aufgrund seiner Lage auf einem leicht nach Süden abfallenden Plateau hoch über der Straße schwer einzunehmen. Wer die Burg angriff, musste ständig nach oben kämpfen. Ihr Nachteil war jedoch die geringe Größe der Burganlage; sie konnte nicht genug Bewaffnete beherbergen, um einer ernsthaften Belagerung dauerhaft standzuhalten.

Tarun warf seiner Pflegemutter einen besorgten Blick zu. Was sollen wir tun?, fragten seine Hände.

»Niemand darf erfahren, dass Rocca d´Aquila ohne männlichen Schutz ist«, sagte Madlaina unvermittelt. »Das würde sämtliche Glücksritter und Taugenichtse der Gegend auf den Plan rufen. Mag auch die Jahreszeit für eine Belagerung nicht die Richtige sein –wir könnten doch niemand davon abhalten, im Frühjahr mit einem Heer wiederzukommen. Vielleicht solltest du Ruppert fragen, ob er noch einmal bereit wäre den Burgherrn zu mimen –, zumindest wenn wir Gäste haben.«

»Ich … ich weiß nicht recht«, sagte Ravena. »Beim letzten Mal habe ich schon Blut und Wasser geschwitzt, dass der Schwindel nicht auffliegt. Ich glaube, so eine Angst möchte ich nicht noch einmal aushalten müssen.«

Madlaina sah sie nachdenklich an, bevor sie sich wegdrehte. Ravena spürte, wie sie nach Worten suchte.

Doch Ravenna kam ihr zuvor. »Wie auch immer ich es drehe und wende – es läuft darauf hinaus, dass ich wieder heiraten muss, um uns alle zu schützen. Das ist es doch, was du denkst, nicht wahr?«

»Ravena – du entscheidest.«

Ganz still stand Ravena da, starrte weiter auf ihre verschränkten Finger. Krieg. Belagerung, Feuer, schreiende Menschen, weinende Kinder, einsamer Tod auf den Mauern einer eroberten Burg. Ein neuer Ehemann oder Krieg.

»Ich werde an Meister Arel schreiben und ihn fragen, ob er bereit ist, für eine Weile die Stellung eines Barons einzunehmen.«

»Wie du meinst. Er sollte sich aber schnell entscheiden. Bevor die ersten Reisenden hier auftauchen.«

Madlainas Stimme klang hart. »Wenn erst einmal Gerüchte über unseren Mangel an männlichem Schutz im Umlauf sind, kann auch dein Meister Arel nichts mehr ausrichten.«

»Da hast du wohl recht. Ich werde den Brief gleich schreiben. Tarun, sei so nett und sieh nach Alessa und Desi. Ihr Schreibunterricht fällt heute aus.«

Damit machte Ravena auf dem Absatz kehrt und eilte in den Turm zurück.

 

 

Im Lager roch es nach Rauch und gebratenem Speck, doch die verlockenden Düfte weckten kein Hungergefühl in Nael. Langsam schlenderte er vom Feuer zu den Pferden, dankbar, dass Rafaels Freund und Diener Peire nicht auf ihn achtete, sondern seine ganze Aufmerksamkeit der Zubereitung ihres Abendessens widmete.

Sie waren allein im Lager. Rafael und Roana waren vor einer Weile gemeinsam zwischen den Fichten verschwunden und Nael war sich sicher, dass sie nicht so bald wieder auftauchen würden.

Obwohl es ihm gelungen war, den Neid, der beständig mit scharfen Zähnen an ihm nagte, erfolgreich zu verbergen, war es doch eine Erleichterung, einmal nicht den misstrauischen Blicken seines Bruders ausgesetzt zu sein. Doppelt misstrauisch, seit er nach dem unglückseligen Zwischenfall am See nass bis auf die Haut nach Segeste zurückgekehrt und noch im Hof seinem Bruder in die Arme gelaufen war. Und Rafaels Argwohn schien auch auf Roana überzugreifen. Sie sah ihn oft an, als rechne sie jeden Moment damit, er könne aus dem Mund schäumend und mit zuckenden Gliedern dem Wahnsinn verfallen. Sie vermied es sorgfältig, mit ihm allein zu sein. Als ob er es wagen würde, sich ihr in unlautererer Absicht zu nähern!

Nie könnte er …

Nael schüttelte den Kopf. Was war er doch für ein armseliger Lügner. Gerade einmal vier Wochen war es her, dass er Roana mit einem Kuss völlig überrumpelt hatte, kaum dass Rafael einmal nicht in Reichweite gewesen war. Sie hatte sich nicht gewehrt, aber das war wohl mehr ihrer Überraschung zuzuschreiben, als dem tatsächlichen Wunsch ihn zu küssen.

Halt suchend lehnte er sich an sein Pferd. In seinem Kopf begann es zu rauschen. Er hatte es doch gewusst, die ganze Zeit hatte er es gewusst. Roana war nicht für ihn bestimmt. Ihre Wege mussten sich trennen. Der Himmel helfe ihm, beinahe verfluchte er den Tag, an dem er beschlossen hatte, sie bei der Suche nach ihrem verschwundenen Oheim zu unterstützen. Von Sizilien aus war er ihr bis zu diesem unglückseligen Ort irgendwo in den Alpen gefolgt, ohne etwas zu erreichen. Im Gegenteil. Roana hatte unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, für wen ihr Herz schlug, indem sie sich mit Rafael vermählt hatte. Anstand und Ehre geboten, dass er seine Niederlage akzeptierte und ruhig seiner Wege ging.

Nael stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. Wohin sollte einer wie er schon gehen? Er war ein Geächteter. Ein ruheloser Flüchtling, für den es keinen Platz gab, keinen Ort, an dem er sich niederlassen konnte. Und seltsamerweise gefiel ihm auch der Gedanke nicht, sich von seinem Bruder trennen zu müssen. Irgendwie hatte er sich an Rafaels Gegenwart gewöhnt. Auch wenn er die meiste Zeit das dringende Bedürfnis verspürte, ihm den Hals umzudrehen.

Nael griff in seine Satteltasche und förderte einen Weinschlauch zutage, der, wie er am Gewicht feststellte, noch fast voll war, und verließ damit das Lager. Unter den hohen Bäumen herrschte Halbdunkel. Es war so still, dass Nael für das knirschende Geräusch seiner eigenen Schritte dankbar war. Nur das Rauschen eines wilden Gebirgsbaches von irgendwo links drang zu ihm.

Eine Weile wanderte er einfach umher und hoffte, dass sich die magische Wirkung einstellen würde, die der Wald für gewöhnlich auf ihn ausübte. Aber er war zu sehr in seiner rastlosen Unzufriedenheit gefangen, um sich dem ruhigen Rhythmus der Natur hinzugeben. Eine Viertelmeile vom Lager entfernt ließ er sich unter einer Fichte nieder. Er lehnte sich gegen ihren Stamm, trank einen Schluck aus dem Schlauch und hustete. Der Herr von Segeste mochte ja ein reicher Mann sein, aber sein Wein war dünn und sauer wie Essig. Trotzdem nahm er noch einen Schluck und blickte hoch in die Baumkronen, die kaum Licht bis auf den Boden durchließen. Es gab Zeiten, da konnte er sich, wenn ihn Sorgen oder Probleme plagten, vollkommen der leisen Musik im Wind raschelnder Zweige hingeben. Heute blieb ihm diese Fluchtmöglichkeit verwehrt. Er holte tief Atem, nahm den würzigen Duft der Erde, der Farnblätter und der wild wachsenden Blumen in sich auf, deren süßes Aroma sich mit der kühlen, reinigenden Luft mischte, die von den Schneebergen herüberwehte. Erinnerungen wie diese hatten ihn verfolgt, als er sich in quälender Einsamkeit auf der Ruderbank einer Triere abgemüht hatte; ein Verfolgter unter ehrbaren Bürgern, die sich freiwillig dazu verdingt hatten, für die Serenissima zu rudern, während es für ihn die letzte Fluchtmöglichkeit vor den Folgen seines schrecklichen Fehlers gewesen war.

Als erfolgreicher Absolvent der Universität von Salerno hatte er sich am Ziel seiner Wünsche geglaubt. Sein Können und seine Erfolge als Arzt brachten ihm sowohl Ruhm als auch Münzen ein. Frauen, Wein, kostbare Gewänder – nun konnte er sich endlich leisten, wonach auch immer ihm der Sinn stand. Die Welt gehörte ihm. Er lebte wie im Rausch, hatte bald das Gefühl, unbesiegbar zu sein.

Er genoss es, sich mit seinen Freunden dem Müßiggang hinzugeben und besonders der erfahrene Lucca war äußerst geschickt darin, sie mit immer neuen Abenteuern zu unterhalten. Der exotische Reiz verbotener Früchte schlug ihn in seinen Bann. Unter Luccas Anleitung erforschte er jedes nur denkbare Laster, verbrachte seine Nächte mit den verführerischen Schönheiten aus Luccas geheimem Harem, die ihn immer neue Spielarten der Liebe lehrten. Er hatte keinerlei moralische Bedenken sich mit diesen Frauen einzulassen, ja er fragte nicht einmal danach, wo die immer neuen Mädchen herkamen. Doch mit jeder verstreichenden Stunde spürte er, wie die Bedeutungslosigkeit und Leere seines Lebens ihn innerlich mehr und mehr aushöhlte. Zuerst verloren der Wein und die Nächte voller Leidenschaft ihren Reiz und wurden zu bedeutungslosen, sich ständig wiederholenden Ritualen. Und als die Leere ihn mit der Zeit fast völlig aufgefressen hatte, begann er die Haschischpfeifen zu lieben, die ihm für eine Zeit lang Vergessen schenkten. In seinen klaren Momenten wusste er, dass er irgendwann für alles würde bezahlen müssen, aber es wollte ihm nicht gelingen, auch nur einer der angebotenen Verlockungen zu widerstehen. Er lernte seine Abhängigkeit gleichermaßen zu fürchten und zu genießen und das war der Moment, in dem Lucca anfing, kleine Gefälligkeiten von ihm zu fordern. Eine Salbe hier, ein Medikament da, die Behandlung eines „Freundes“, nach dessen Namen er besser nicht fragte, und dergleichen Dinge mehr. Nach und nach jedoch wurden die Gefälligkeiten immer größer und Nael ging zum ersten Mal auf, in welchen Teufelskreis er geraten war.

Aber da hatte Lucca schon die Frau in sein Haus gebracht. Nael war von dem Gast nicht begeistert, aber Lucca erzählte ihm eine rührselige Geschichte von einem rachsüchtigen Oheim, der gedroht hatte, die Frau zu töten, weil sie ohne Ehemann schwanger geworden war. Die einzige Möglichkeit zur Rettung sei die Tötung des Ungeborenen. Nael weigerte sich zuerst, aber Lucca wusste genau, wo seine Achillesferse lag und nutzte sein Wissen aus, indem er seine Kompetenz als Arzt infrage stellte. Diese Behauptung konnte Nael unmöglich auf sich sitzen lassen. Er erklärte sich bereit, den Eingriff durchzuführen, obwohl er nur eine vage Vorstellung davon hatte, was zu tun war. Sein Studium hatte ihn nicht auf die Behandlung von schwangeren Frauen vorbereitet. Schon gar nicht auf irgendwelche Komplikationen.

Und natürlich hatte es Komplikationen gegeben. Die Frau war ihm unter den Händen verblutet, ohne dass ihm auch nur die geringste Möglichkeit geblieben war, etwas dagegen zu unternehmen.

Die Lektion des Scheiterns.

Aber es war noch schlimmer gekommen. Nur einen Tag später erfuhr er, dass Lucca ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Die Frau war sehr wohl verheiratet gewesen, mit einem reichen und einflussreichen Edelmann, der keinerlei Entschuldigungen gelten lassen würde, was die Entführung und den Tod seiner Gemahlin betraf. Lucca bot an, die Sache zu regeln, aber Nael war klar geworden, in welcher Lage er sich befand und dass er unverzüglich fliehen musste. Mit der Hilfe seines Stiefvaters gelang es ihm, als Ruderer auf einer venezianischen Triere unterzukommen und so seinem Verfolger zu entgehen.

Damit hatte er zwar sein Leben gerettet - aber gleichzeitig alles verloren, was ihm lieb und teuer gewesen war. Um seine Familie nicht zu gefährden, durfte er weder den Namen seiner Mutter noch den seines geliebten Stiefvaters benutzen. Er wurde zu Nael, dem Mann ohne Herkunft. Und diese Wunde schmerzte, mehr als er es jemals für möglich gehalten hatte.

In der Hoffnung, die unliebsamen Erinnerungen verscheuchen zu können, nahm Nael noch einen tiefen Schluck Wein. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich an den Baumstamm, als er plötzlich hörte, dass sich Schritte näherten. Der langsame Gang verriet ihm, dass es sich nicht um einen Notfall handeln konnte, und selbst wenn er den leisen Tritt nicht sofort erkannt hätte – nur einer würde von sich aus kommen, um nach ihm zu sehen, obwohl er offensichtlich allein sein wollte.

Sein Halbbruder Rafael war nicht nur der Einzige, der sich das Recht herausnahm, ihn zu stören, sondern er war auch derjenige, der sich immer wieder um einen Ausgleich zwischen ihnen bemühte. In den vergangenen Tagen war Nael ihm bewusst aus dem Weg gegangen. Deshalb würde, so vermutete er, Rafael ihm heute Abend einiges zu sagen haben.

Er öffnete die Augen und sah seinen Bruder, der sich ihm gegenüber niederließ, vorwurfsvoll an, dann griff er nach dem Weinschlauch, nahm noch einen Schluck, und gab den Schlauch an Rafael weiter. Rafael roch nur einmal an dem Wein, verzog das Gesicht und legte den Schlauch beiseite.

»Seit wann begnügst du dich mit solchem Essig? Versuchst du dich, neben deiner Trinkerei jetzt obendrein noch selbst zu bestrafen?«

Nael grinste. »Würde dir das nicht gefallen?«

»Mir würde gefallen, wenn du dich soweit zurückhalten könntest, dass du wenigstens halbwegs vernünftig bleibst.«

»Nur halbwegs?«

»Schütte noch mehr von diesem Zeug in dich hinein, und du weißt spätestens um Mitternacht nicht mehr, was du tust. Ich bin es leid, mich ständig fragen zu müssen, wohin du verschwindest.«

»Dann tu´s einfach nicht. Es geht dich ohnehin nichts an.«

»Da irrst du dich, mein lieber Bruder. Es geht mich durchaus etwas an. Vor allem, da deine Ausflüge keineswegs so harmlos sind, wie du mich glauben machen willst. Dieses Mal will ich vorsorgen.«

»Du weißt also schon im Voraus, was ich tun werde? Interessant. Bist du neuerdings unter die Wahrsager gegangen?«

»Dazu muss man kein Wahrsager sein, Nael. Trink nur genug von diesem Gift, dann bist du nicht mehr zu halten. Weiß der Himmel, was für einen Unfug du dir dann in den Kopf setzt.«

»Du übertreibst.«

»So? Dann verrate mir doch, wohin du in Segeste verschwunden bist. Du kommst zurück, nass bis auf die Haut und mit einem Ausdruck im Gesicht, als hättest du eine Erscheinung gehabt. Würdest du mir freundlicherweise dafür eine Erklärung liefern?«

Nael spürte plötzlich ein Prickeln auf der Haut. »Machst du dir wegen meiner nassen Kleider oder wegen meines Gesichtsausdruckes Sorgen?«

»Wegen beidem, schätze ich«, sagte Rafael.

Nael zuckte mit gespielter Gleichgültigkeit die Achseln, doch seine Augen wichen dem nachdenklichen Blick seines Bruders aus. »Es hat an dem Morgen geregnet.«

»Herrgott noch mal, Nael. Wenn du – wenn du schon glaubst, mich anlügen zu müssen – dann überlege dir wenigstens vorher, was du sagen willst. Ich weiß nicht, was du tatsächlich getan hast - Himmel, ich will es auch gar nicht wissen – aber es treibt mich zur Weißglut, dass du glaubst, mich mit derart offensichtlichen Lügen abspeisen zu können – und behaupte nicht, es wären keine!«

Nael starrte seinen Bruder an, erschrocken über diesen Ausbruch und die Wut in seiner Stimme. Und dann nahm Rafael sein Handgelenk und umschloss es mit allen Fingern.

»Sag mir eines Nael – sag mir ins Gesicht, dass du dich nicht selbst in Gefahr gebracht hast.«

Ungläubig starrte Nael seinen Bruder an und entriss ihm seine Hand. »Was redest du da, Rafael? Verschwinde, lass mich in Ruhe!«

Rafael packte seine Arme und hielt sie fest. »Hör mich an! Du lebst jetzt, und du hast nur dieses eine Leben - es liegt in deiner Hand, was du damit anfängst. Wirf es nicht leichtfertig weg, für einen Traum, der niemals wahr werden kann! Sei ein einziges Mal ehrlich zu dir selbst – dann wirst du erkennen, dass es gar nicht Roana ist, nach der du dich sehnst, sondern eine ganz andere Frau …«

Eine andere Frau … Nael war es, als würde sich das Blut in seinen Adern auf einmal in flüssiges Feuer verwandeln. Mit einem Seufzer entzog er Rafael seine Arme, lehnte sich zurück und schloss wieder die Augen. Ungebeten drängte sich das Bild der Frau vom See in seine Gedanken.

Er wusste, dass ihre mit Wut vermischte Verachtung ihn ebenso angezogen hatte wie ihre Schönheit. Einen Moment lang schien sie ihm alles zu sein was er je verloren, alles, was man ihm genommen hatte. Er hatte sich all das zurückholen wollen, hatte das unstillbare Verlangen verspürt, die kühle Abwehr, die in ihren Augen stand, zu brechen und sie zu berühren, ihre Seele durch ihren Körper zu erobern. Er erinnerte sich nur zu gut an das Gefühl, ihres hart gegen den seinen gepressten Leibes, spürte erneut die seidige Beschaffenheit ihrer Lippen, die sich unter dem Druck seines Mundes öffneten. Es war zwar nur der Anflug einer Reaktion gewesen, aber er hätte schwören können, dass sein Kuss sie nicht kalt gelassen hatte.

Aber was für eine Rolle spielte das schon? Er musste aufhören mit diesen Tagträumen. Er konnte einer Frau kein ehrbares Leben bieten, keinen guten Namen für die Kinder, die Gott ihr vielleicht schenken würde. Er war ein Flüchtling, dem man alles genommen hatte, den Namen, die Ehre, der nichts mehr hatte außer dem nackten Leben. Und das war nicht viel wert.

Rafael bewegte sich und Nael schlug die Augen auf.

Nur zu gern hätte er den Wein wiedergehabt, aber der Teufel sollte ihn holen, wenn er danach griff, solange sein Bruder ihn beobachtete. Stattdessen lächelte er verzerrt.

Er erinnerte sich mit quälender Deutlichkeit an den Tag, an dem er als Flüchtling ins Haus seine Eltern geschlichen war. Sein Stiefvater hatte ihn immer gerecht behandelt. Nie hatte er seine eigenen Söhne vorgezogen, nie ihnen etwas gewährt, was er nicht auch seinem Stiefsohn gewährt hätte. Aber bei der Geschichte, die Nael ihm beichtete, musste er sich schwer zurückhalten, um seinem Schmerz und seiner Wut nicht freien Lauf zu lassen, obwohl er kein einziges Wort des Vorwurfs äußerte. Aber Nael verstand auch so. Dieses Mal würde er noch Hilfe erhalten – danach war er auf sich allein gestellt. Für seine Familie würde er aufhören zu existieren.

»Peire wird das Essen fertig haben. Gehen wir«, sagte Rafael und holte ihn mit seinen Worten in die Gegenwart zurück.

Nael verspürte immer noch keinen Appetit, wusste aber, dass er etwas essen musste. Widerwillig stand er auf und folgte Rafael durch den Wald zu der Lichtung.

Aber noch, bevor sie am Feuer ankamen, wurde klar, dass etwas nicht stimmte. Peire saß mit schmerzverzerrtem Gesicht an eine Fichte gelehnt da, während Roana sich über seine Füße beugte.

Rafael eilte an die Seite seines Freundes. »Kaum lässt man dich einen Moment aus den Augen, machst du Unfug«, sagte er. »Was ist geschehen?«

»Mein Fuß … bin in ein verdammtes Loch getreten.«

Vorsichtig entfernte Rafael Peires Schuh und Beinling. Der Sänger stöhnte durch zusammengebissene Zähne.

»Nael, komm her«, sagte Rafael in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Nael schloss die Augen, ballte die Hand zur Faust und zwang sich, an nichts zu denken. Die unliebsamen Erinnerungen verschwanden aus seinem Kopf, und als er die Augen wieder öffnete, fühlte er sich einigermaßen wieder wie Nael, der Medicus. Er hockte sich neben Peire auf den Boden und begann mit der Untersuchung. Obwohl er behutsam vorging, funkelte Peire ihn böse an und stieß eine Reihe von Flüchen aus.

»Ich muss das Gelenk einrichten«, erklärte er schließlich. »Ich fürchte, das wird ziemlich schmerzhaft werden.«

Peire antwortete nicht, aber sein Blick schien eine sehr beredte Sprache zu sprechen, den Nael seufzte tief, fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar und machte eine müde Geste auf das Lagerfeuer. »Schaffen wir ihn erst einmal hinüber. Sonst verkühlt er sich noch zusätzlich sein knochiges Hinterteil.«

»Ich hole deinen Medizinkasten«, sagte Roana und eilte davon. Nael und Rafael hoben Peire vom Boden auf und schleppten ihn zum Feuer. Roana hatte Peires Bettzeug ausgebreitet und die Männer legten den Sänger darauf.

»Willst du etwas gegen die Schmerzen?«, fragte Nael.

»Nein, verdammt«, knurrte Peire. »Tu einfach, was du tun musst.«

»Halte ihn fest, Rafael«, befahl der Medicus. »Wenn er zuckt, oder anfängt sich zu bewegen, kann ich nicht vernünftig arbeiten.«

Rafael kniete sich hinter den Freund und schob ihm die Hände unter Nacken und Hinterkopf, wie um ihm zu einer bequemeren Lage zu verhelfen. Im nächsten Moment jedoch sank Peire leblos in sich zusammen.

Nael riss den Kopf hoch. »Herrgott noch mal, Rafael! Bist du wahnsinnig?«

Rafael verzog das Gesicht. »Peire ist manchmal einfach zu stur, um zu wissen, was gut für ihn ist. Ich wollte nicht, dass er unnötige Schmerzen aushalten muss.«

Für einen Moment verlor Nael den Kontakt zu dem Teil seines Selbst, der des Sprechens mächtig war. Alles schien unendlich weit weg. Verdammt er musste sich konzentrieren!

Er beugte sich über Peires Körper und tastete nach einem Puls. Erleichterung durchflutete ihn, als er das sanfte Pochen unter seinen Fingerspitzen spürte. »Den Göttern sei Dank! Er ist nur bewusstlos. Für einen Moment dachte ich …«

»Ja?« Rafaels Blick haftete scharf und durchdringend auf seinem Gesicht. »Was hast du gedacht?«

Nael verschränkte die Arme vor der Brust und starrte seinen Bruder an. Er konnte spüren, wie der Zorn purpurrote Flecken in sein Gesicht brannte.

Rafael schüttelte sanft den Kopf. »Nael, Nael. Wofür hältst du mich? Hast du tatsächlich geglaubt, ich könnte meinen besten Freund umbringen?«

»Wofür ich dich halte? Für einen Bastard des Teufels! Kein sterblicher Mensch würde es wagen solche lebensgefährlichen Methoden anzuwenden! Eine Winzigkeit zu viel Druck hätte genügt, um ihn zu töten!«

»Du scheinst ziemlich gut Bescheid zu wissen, großer Bruder«, erwiderte Rafael sanft. »Was für ein Unterschied besteht da zwischen dir und mir?«

»Ich bin ausgebildeter Medicus.« Seine Stimme bebte vor Zorn, ohne dass er es verhindern konnte. »Du bist keiner.«

»Stimmt«, gab Rafael mit eiserner Gelassenheit zurück. »Ich bin nur ein ausgebildeter Mörder. Anscheinend gibt es da einige Gemeinsamkeiten im Lehrplan.«

Naels Gesicht fiel in sich zusammen. Seine Arme hingen wie Stöcke an seinen Seiten. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Grundgütiger, Rafael! Sei froh, dass deine Gemahlin das jetzt nicht gehört hat.«

»Was nicht gehört hat?«, fragte Roana und stellte die Medizinkiste neben Peires Lager ab.

In diesem Moment schlug Peire die Augen auf und versuchte sich aufzurichten.

»Liegenbleiben!«, befahl Rafael.

»Was … was war den los?«, murmelte der Sänger. »War ich tatsächlich – bewusstlos? Warum?«

»Ich habe nachgeholfen«, sagte Rafael und drückte ihn sanft auf seine Decke zurück.

Nael warf seinem Bruder einen kurzen giftigen Blick zu, bevor er sich Peire zuwandte. »Willst du jetzt etwas gegen die Schmerzen?«

»Würde es dich zufriedenstellen, wenn ich ja sage?«, gab Peire zurück.

»Ich bin kein Anhänger der These, dass Schmerz eine Strafe Gottes ist, die jeder Mensch gefälligst klaglos zu ertragen hat.« Nael füllte einen Becher mit Wein, fügte ein braunes Kügelchen aus seinem Medizinkasten hinzu und rührte sorgfältig um. Schließlich reichte er Peire den Becher. Der Sänger leerte ihn kommentarlos und schlief bald danach ein.

Roana verteilte Brot und Speck. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie zögernd.

Nael musterte sie aufmerksam. Sie war blass um die Nase und knabberte an ihrem Brot herum wie eine Maus. Sie war guter Hoffnung und Nael wusste, dass sie oft von heftiger Übelkeit geplagt wurde, auch wenn sie nie ein Wort darüber verlor. Ein paar Tage Ruhe auf einer Burg würden auch ihr nur guttun.

»Wir müssen so bald als möglich eine Unterkunft finden«, sagte Nael. »Peire darf den Fuß auf keinen Fall belasten. Normalerweise verordne ich Patienten mit solchen Verletzungen strenge Bettruhe.«

»Na wunderbar«, murmelte Roana. »Und wie soll das gehen?«

»Wir werden eine Unterkunft finden«, sagte Rafael. »Lasst uns jetzt aufbrechen.«

Roana löschte das Feuer und verstaute das Gepäck, während die Männer Peire in Roanas Reisesänfte betteten.

 

 

Der dunkel gekleidete Mann starrte konzentrier zwischen den Stämmen der Bäume hindurch. Kopf und Gesicht waren hinter einem Tuch verborgen, das nur die Augen freiließ. Alles, was er sah, war in Dämmerlicht getaucht: die Reisesänfte, die Pferde – ja selbst die drei Männer und die Frau.

Der Dunkle beobachtete den Medicus, der sich am Fuß seines gestürzten Reisegefährten zu schaffen machte. Auch der zweite Mann beugte sich über den Gestürzten und redete auf den Medicus ein. Der Klang trug weit in der Stille, ohne dass die einzelnen Worte zu verstehen waren. Aber das war nicht von Bedeutung. Worte waren nicht wichtig.

Der Dunkle hielt einen Bogen in der Hand, doch die Pfeilspitze zeigte zu Boden, die Sehne war nur locker gespannt. Die Frau bewegte sich hektisch hin und her und geriet immer wieder in seine Schussbahn. Normalerweise hätte ihn das nicht aufgehalten. Doch sein Auftrag war sehr präzise formuliert. Abweichungen wurden nicht geduldet.

Er wartete.

Irgendwo hinter ihm, in den Tiefen des Waldes, war das Geschrei eines Vogels zu hören, gefolgt von heftigem Geflatter. Der Dunkle hielt nach Anzeichen dafür Ausschau, dass die Männer etwas gehört hatten, doch sie widmeten sich weiter ihrer Beschäftigung, während die Frau hin und her eilte, um herbeizubringen, was einer der Männer mit einer Geste oder einem knappen Wort verlangte.

Er bewegte sich leicht und vollkommen geräuschlos, um sich in eine bessere Schussposition zu bringen. Plötzlich hob der zweite Mann den Kopf und starrte mit durchdringendem Blick genau in seine Richtung, als wisse er um die im Unterholz verborgene Gefahr.

Der Dunkle verzog die Lippen zu einem grausigen Lächeln. Das war nicht möglich. Er war ein Schatten, ein Dämon, den niemand bemerkte, bevor es zu spät war. Doch da er den Ruf des Mannes kannte, der zu ihm herüberstarrte, beschloss er, sich zurückzuziehen. Sein Zeitplan ließ ihm genug Raum, den perfekten Moment abzuwarten. Und dieser Moment würde kommen.

Bald.

 

 

Der Platz, an dem sich Peires Unfall zugetragen hatte, blieb rasch hinter ihnen zurück, als ein schmaler Waldgürtel sie aufnahm. Auf ihrer Reise waren sie durch zahlreiche Wälder wie diesen gekommen, und viele davon waren größer und dunkler gewesen, als diese Ansammlung von Tannen, dennoch konnte Nael das seltsame Unbehagen nicht abschütteln, das dieser Ort in ihm auslöste. Da war etwas an diesem Wald, das ihn irritierte, ohne dass er genau sagen konnte, was. Er fühlte sich wie ein Wild im Visier des Jägers. Doch sobald er sich umsah, war da – nichts. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass jemand - oder etwas ihnen folgte.

Sie waren vielleicht eine Meile weit gekommen, als der Wald zurückwich und sich zu einem weiten Tal öffnete. Inmitten blumenübersäter Wiesen lag ein stiller See, in dem sich die Wolken spiegelten. Die Luft war ungemein klar und die Sonne brannte heiß herunter.

Nael zügelte seinen Hengst, stieg aus dem Sattel und bedeutete Rafael durch Gesten, weiterzureiten. »Ich will mir nur rasch diese heilkräftigen Pflanzen hier ansehen«, sagte er. »Es wird nicht lange dauern.«

Roana wollte Einwände erheben, doch Rafael unterbrach sie mit einem angedeuteten Kopfschütteln. Lass ihn machen.

Roana widersprach nicht, sondern sah den Medicus nur einen Moment lang ärgerlich an, bevor sie ihr Pferd antrieb und ihrem Gemahl folgte.

Nael wandte sich dem Wegesrand zu, ging in die Hocke und begann, die Pflanzen zu untersuchen, doch es gelang ihm nicht, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Ungewollt folgte sein Blick der Gestalt Roanas, deren kränkliches Aussehen ihm gar nicht gefiel. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sie in Rafaels Beisein zu fragen, ob sie erneut unter Bauchkrämpfen litt. Sie würde es leugnen, aber ihm war nicht entgangen, wie oft sie die Zähne in ihre Unterlippe grub, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Nael nahm sich fest vor, ihr bei der nächsten Gelegenheit ernsthaft ins Gewissen zu reden.

 

 

Der Schatten folgte den Reitern mühelos in sicherem Abstand durch das Tal, da die Spuren, die die Pferdehufe im Gras hinterließen, sich als gut sichtbarer dunkler Strich abzeichneten. Ein weniger geduldiger Mann hätte vielleicht versucht, in dem weiten, offenen Tal an den Medicus heranzukommen. Doch das tat er nicht. Er war Ash´abah, der Geist, und er hatte gelernt, einen Gegner niemals zu unterschätzen. Seine Ausbildung glich jener, die auch der jüngere der beiden Männer durchlaufen hatte. Er kannte die Geschichten, die über Malik al Maut, den Engel des Todes kursierten. Auch wenn ihm einiges davon übertrieben erschien, würde er sich nicht zu einer übereilten Tat verleiten lassen.

Um ganz sicher zu gehen, hielt er ausreichenden Abstand, damit neugierige Augen ihn vor dem Hintergrund des blauen Himmels nicht entdecken konnten. Er hatte Zeit. Und er besaß Geduld und die nötige Disziplin, um dem Medicus so lange zu folgen, bis Zeit und Umstände genau dem entsprachen, was sein Auftraggeber verlangte.

 

 

Sobald Rafael und Roana aus seinem Sichtfeld verschwunden waren, ließ Nael die Blätter der Heilpflanzen fahren und starrte konzentriert in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ohne einen Grund nennen zu können, spürte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war ein Gefühl, etwas, das mit Worten nicht zu erklären, aber von einer fast greifbaren Intensität war.

Nüchtern betrachtet waren seine Ahnungen unmöglich. Bei der klaren Luft und der ungehinderten Sicht über das Tal hätten sie jeden Verfolger schon vor Stunden sehen müssen. Doch so sehr er sich auch bemühte etwas zu entdecken - das Tal hinter ihm blieb leer.

Ist es das?, dachte er. Der Wahnsinn? Werde ich verrückt?

Aber eine eindringliche Stimme in seinem Inneren sagte ihm, dass er nicht verrückt war. Dass es die Bedrohung wirklich gab und er besser daran tat, Rafael von seinem Verdacht zu erzählen.

Doch dann schüttelte er über sich selbst den Kopf. Sein Bruder würde ihn bestenfalls belächeln, wenn er mit nichts Anderem als vagen Vermutungen aufzuwarten vermochte. Und mehr hatte er ja nicht. Ahnungen, Gefühle – Hirngespinste? Vielleicht hatte Rafael recht und er war tatsächlich schon so weit gesunken, dass sein Verstand ihm Dinge vorgaukelte, die gar nicht da waren.

Schwerfällig stieg er in den Sattel und drängte sein Pferd mit sanftem Schenkeldruck herum. Der Hengst schnaubte, warf nervös den Kopf in den Nacken und scharrte mit den Vorderhufen im Gras. Nael blickte unwillkürlich über die Schulter, aber der Weg hinter ihm war noch immer leer.

So abgelenkt war er von seinen Befürchtungen, dass er zunächst gar nicht bemerkte, dass der Wind sich gelegt und einer vollkommenen Stille Platz gemacht hatte. Sein Hengst jedoch sog erregt die Luft durch die Nüstern und drängte gegen die Zügel. Nael sah sich um und bemerkte überrascht, dass sich seine Begleiter deutlich weiter entfernt hatten, als er erwartet hätte. Er würde sich beeilen müssen, um sie einzuholen, bevor sie vollständig aus seinem Blickfeld verschwanden. Sein Hengst schien den gleichen Wunsch zu verspüren, denn er fiel beinahe von selbst in einen schnellen Galopp.
Den ersten konkreten Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmte, entdeckte er, nachdem sein Rappe vielleicht zwanzig Pferdelängen zurückgelegt hatte. Seine Begleiter hatten angehalten – oder vielmehr anhalten müssen, denn die ganze Gruppe steckte inmitten einer Herde Ziegen fest. Rafael schien sich mit dem Hirten ob dieser Tatsache heftig zu streiten, denn beide Männer gestikulierten eifrig und deuteten immer wieder in unterschiedliche Richtungen. Der Anblick war einfach lächerlich.

Trotzdem gelang es Nael nicht, ein Schaudern zu unterdrücken, während er über die Wiese preschte. Die Ziegen mochten harmlos sein – oder eine geschickt gestellte Falle.

»Da bist du ja endlich«, begrüßte ihn Roana ungehalten, als er seinen Hengst neben ihr zügelte. »Rafael wollte schon losreiten, um dich zu holen.«

»Was ist hier los?«, fragte Nael barsch. »Über was diskutieren die beiden?«

»Rafael sagt, dass ein Unwetter kommt.«

»Jetzt? Hier? Es steht nicht eine einzige Wolke am Himmel.«

»Das sehe ich selbst«, knurrte Roana.

Rafael hatte sein Gespräch beendet und reichte dem Hirten eine Münze, bevor er sich wieder seinen Begleitern zuwandte.  »Dieser Mann sagt es auch: Es wird ein Unwetter geben. Wir müssen so schnell reiten, wie wir können. Ungefähr eine Wegstunde von hier gibt es eine Burg, wo wir unterkommen können, bis das Schlimmste vorüber ist.«

»Und die Sänfte?«, fragte Roana.

»Die lassen wir hier zurück.«

Nael starrte seinen Bruder an. Von einem Herzschlag auf den anderen fühlte er sich leer und erschlagen, und absurderweise erfüllte ihn die Tatsache, dass es keine Gefahr gab, nicht mit Erleichterung, sondern mit einem Gefühl dumpfer, schleichender Verzweiflung.

»Komm, hilf mir. Wir müssen Peire auf ein Pferd setzen«, forderte Rafael ihn auf. Gemeinsam hoben die Männer den Sänger in den Sattel, spannten die Tragtiere aus und stellten die Sänfte am Wegesrand ab.

Roana sah ihnen dabei zu. Oder besser: Sie starrte Rafael an und verschlang ihn mit Blicken, wie eine hungrige Wölfin. Sein Bruder dagegen starrte in den Himmel hinauf und nahm die sehnsüchtigen Blicke seiner Gemahlin nicht einmal wahr.

Plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen, stieg eine kaum zu beherrschende, irrationale Wut in Nael auf. Er machte einen Schritt auf Rafael zu, hielt mitten in der Bewegung inne, wandte sich brüsk um und umrundete sein Pferd. Dort blieb er an den Sattel gelehnt stehen, ballte die Fäuste und zwang sich, so lange reglos stehen zu bleiben, bis sie aufgehört hatten, zu zittern. Es hatte keinen Sinn, wenn er Rafael für sein gleichgültiges Verhalten zur Rede stellte. Sein Zorn entsprang seiner Erschöpfung und der Verzweiflung, die sich wie eine schleichende Krankheit in ihm breitgemacht hatte. Es war sinnlos, wenn er die Reste seiner Selbstbeherrschung in einer Auseinandersetzung verpulverte, die ohnehin zu nichts führen konnte.

»Vorwärts!«, sagte Rafael. »Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen.«

Nael presste die Kiefer zusammen und schwang sich wortlos in den Sattel.

Nach einer weiteren Stunde war der Himmel über ihnen fast schwarz. Nael hatte angenommen, dass ihnen Zeit genug bleiben würde, um die Burg trockenen Fußes zu erreichen, doch nun wurde er schnell eines Besseren belehrt. Mit einem fürchterlichen Donnerschlag brach die Hölle los. Wände von Regen verhüllten augenblicklich jede Sicht und machten die Reiter blind, die Tiere blieben stehen, stiegen und schrien angstvoll. Rafael befahl abzusitzen und sie ihrem Schicksal zu überlassen.

Nael bedeutete Peire, auf seinen Rücken zu steigen. Rafael packte ihn am Gewand und griff mit der anderen Hand nach Roana, um sie in dem Inferno nicht zu verlieren.

Im schwefeligen Geruch der rechts und links neben ihnen niederzuckenden Blitze tappten sie dahin, erreichten stolpernd und keuchend die Mannpforte der Burg. Ein Wachsoldat stemmte sich gegen den Sturm und hielt die schwere Tür für sie auf. Nass bis auf die Knochen traten sie in die Wachstube und drängten sich um ein Kohlebecken, zitternde Leiber und wassertriefende Sachen, während draußen das Unwetter tobte.

Im Burghof begann es zu prasseln, als werfe man Erbsen auf ein Blech. Nussgroße Hagelkörner stürzen dampfend herab, eisige Kälte wehte mit ihnen durch den offenen Eingang herein. Nael Zähne klapperten, ohne das er etwas dagegen tun konnte.

»Können wir nicht zum Wohntrakt hinüber laufen?«, fragte Roana. »Wir sind doch schon nass.«

»Wir können jetzt nicht hinausgehen«, sagte Rafael. »Die Blitze würden uns erschlagen.«

»Der Herr spricht die Wahrheit«, sagte der Soldat. »Prüfe es besser nicht nach, Herrin!«

Er ließ ein Gebräu aus Enzianwurzeln herumgehen, das wie Höllenfeuer die Kehle hinabrann. Nach dem ersten Schock nahm Nael gleich noch einen zweiten Schluck. Das Gebräu brannte in seinem Magen, wärmte seine Glieder. Begierig wartete er darauf, bis die Reihe wieder an ihn kam. So nahe bei Roana zu stehen, ohne sie berühren zu dürfen, war die reinste Folter. Er wollte ihr die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht streichen, ihr die Hände um die Wangen legen und die Wassertropfen von ihrer Nasenspitze küssen. Er malte sich aus, wie es sein würde, sie beide aus ihren triefenden Sachen zu schälen und sie mit seinem Körper zu wärmen. Sanft wie Schmetterlingsflügel würden seine Finger über ihren Körper gleiten, über ihre Brüste, ihren Bauch, bis zu dem lockenden Dreieck zwischen ihren Beinen. Ob sie zu den Frauen gehörte, die diese kleinen gutturalen Laute von sich gaben, wenn sie erregt waren? Er würde sie mit seinen Fingern fast bis zum Gipfel streicheln, bevor er in sie eindrang, um sich mit ihr gemeinsam im freien Fall zu Tal zu stürzen und …

Himmel, diese Vorstellung war mehr, als er aushalten konnte. Zumindest solange er bei klarem Verstand war. Er betete, dass die Flasche noch genügend von dem Enziangebräu enthielt, um ihm die Flucht zu erlauben. Er wusste, dass er sich wie ein verdammter Feigling benahm, aber sein Körper ließ ihm keine andere Wahl. Roana selbst reichte ihm die Flasche und er nahm schnell einen tiefen Schluck. Langsam breitete sich die ersehnte wohlige Benommenheit in seinem Körper aus. Oh ja, dachte er, so war es schon viel besser.

Die Zeit dehnte sich endlos, bis das Toben des Unwetters nachließ, wenn auch Wind und Regen noch anhielten.

Der Wachsoldat schickte nach zwei kräftigen Dienern, die Peire über den Hof trugen. Rafael machte sich mit zwei Knechten auf, um die Pferde zu suchen, während Nael und Roana den Dienern zum Wohntrakt der Burg folgten. Die Hagelkörner bildeten auf dem Hof eine knöchelhohe, knirschende Eismasse, von Matsch und Wasser durchsetzt, die nur ein mühsames Vorankommen zuließ. Roana, mit ihren ledernen Bundschuhen kam gefährlich ins Rutschen und Nael gelang es mit knapper Not, sie vor einem Sturz zu bewahren.

Während er einen Arm um Roanas Taille schlang, wurde die Tür zum Turm geöffnet, und eine schlanke Frauengestalt erschien im Eingang. »Schnell Cesare, Dinêl, schnell hierher! Unsere Gäste müssen ins Trockene kommen!« Neugierig reckte sie den Hals. »Ja wer …«

Der Frau schien plötzlich die Stimme zu versagen.

Nael erstarrte. Seine Hand rutschte von Roanas Taille. Der Regen prasselte auf ihn nieder, aber selbst wenn er es gewollt hätte, wäre er nicht fähig gewesen, ein Glied zu rühren. Vor ihm stand die Frau von See. Oder träumte er das nur? War es jetzt schon so weit mit ihm, dass er Dinge sah, die gar nicht da waren?

Die Frau trat aus der Tür. Ohne die Nässe zu beachten, kam sie näher, die Schritte wurden eiliger, sie stapfte vorwärts, kleine Schmutzfontänen spritzten auf ihre Röcke, und der freundliche Ausdruck ihres Gesichtes verwandelte sich zunehmend in eine Miene grimmiger Empörung. »Oh! Du!«

Mit einem Aufschrei stürzte sie sich auf ihn und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.

Nael schnappte nach Luft. Sie war echt. Die Frau vom See, um Himmels willen. Seine Hände zitterten.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte zum Turm zurück. »Cesare! Dinêl! Beeilt euch ein bisschen mit dem Verletzen! Bringt ihn in die Krankenstube!«

Einen unartikulierten Laut ausstoßend schlitterte Nael durch die Eispfützen, als er hinter der Frau über den Hof stürmte. Es gelang ihm gerade noch, ins Gebäude zu schlüpfen, bevor sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen konnte. Er blieb stehen und atmete keuchend aus. Ihr Blick musterte ihn auf eine Art, die ihm das Gefühl gab, auf einer Stufe zu stehen mit etwas, das die Hunde ins Haus geschleppt hatten. Einer nassen Ratte zum Beispiel.

»Es scheint, man begegnet sich immer zweimal im Leben. Obwohl ich auf deine Anwesenheit wirklich verzichten könnte, mein Herr.« Der Zorn ließ ihre Stimme schneidend klingen. »Wie konntest du es wagen, hierherzukommen?«

»Das Unwetter …«, setzte er an. »Wir mussten dringend eine Unterkunft …«

Freudlose Belustigung flammte in ihren Augen auf. »Gottes Wege sind unergründlich, hm? Da verschlägt es dich ausgerechnet hierher, zu der einzigen Person, die deine Verfehlung bezeugen kann. Was für ein schreckliches Pech, nicht wahr?«
Nael stand wie versteinert da. Ein seltsames Gefühl überkam ihn, als strichen geisterhafte Finger über seinen Rücken und hinterließen ein kaltes, prickelndes Frösteln. Seine Verfehlung? Herrgott! Konnte sie etwas von der Frau wissen, die er umgebracht hatte?

Bleib ruhig. Denk nach. Sie kann es nicht wissen.

»Nun? Kein Widerspruch, mein Herr? Und dabei war ich wirklich neugierig, welche Ausreden du zu deiner Rechtfertigung vorbringen würdest. Du enttäuschst mich.«

Er sank mit dem Rücken gegen das harte Holz der Tür und starrte sie an. Sein Kopf war wie leer gefegt, seine Hände zitterten, sein Magen rebellierte.

»Oder wäre deine Gemahlin vielleicht gar nicht überrascht, von dem, was ich zu erzählen hätte? Wie dem auch sei- lass dir versichern, mein Herr, dass ich ein derart unschickliches Benehmen in meinem Haus nicht dulde.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Tatsächlich nicht? Dann denk nach!« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und rauschte davon.

»Herrgott noch mal!« Fluchend eilte Nael hinter ihr her, den von Kinnspänen spärlich erhellten Flur entlang. »Gib acht, was du redest, Weib, sonst lege ich dich gleich hier übers Knie!«

Sie blieb so abrupt stehen, dass er gegen sie prallte. Sie stieß gegen die Wand und er schlang rasch seine Arme um sie, um zu verhindern, dass sie zu Boden ging. Ihr Körper wurde eng an den seinen gepresst.

Sie machte keine Anstalten sich zu befreien, was ihm mehr als recht war. Gott, sie war atemberaubend. Ihre von zartem Rosa überhauchte Haut. Die perfekt geformten, vollen Brüste, die sich unter dem feuchten Stoff deutlich abzeichneten. Sie trug keine Kopfbedeckung und ihre ebenholzschwarzen Locken ringelten sich wild um ihren Hals und die Schultern. Und da war dieser hochmütige Blick unter halb gesenkten Wimpern hervor, der allein schon genügte, um ihn in einen grunzenden Barbaren zu verwandeln.

Was für eine Frau. Er musterte sie begehrlich, von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Unter seinem Blick stellten sich ihre Brustwarzen auf und er spürte, dass es ihr unangenehm war, dass er es durch ihr nasses Gewand sehen konnte. Doch seine Augen verharrten auf ihr wie gebannt und ein tiefes Grollen entrang sich seiner Kehle.

»Das muss eine echte Befriedigung für dich sein«, bemerkte sie kalt.

Nael blinzelte. »Äh – was bitte?«

»Dich so respektlos benehmen zu dürfen, nur weil der Burgherrin kein Burgherr zur Seite steht.«

Nael ließ die Arme sinken und trat hastig einen Schritt zurück. »Ich habe dich nicht respektlos-«.

»Kümmere dich um deine Gemahlin«, fuhr sie ihn an und ließ ihn stehen. Eine feuchte Spur auf dem Steinboden hinterlassend, eilte sie auf eine Tür am Ende des Ganges zu. Nael ließ sich jedoch nicht abschütteln. »Ist es neuerdings ein Vergehen, einer Frau zur Hilfe zu eilen? Und was soll dieses Gerede von einer Gemahlin? Ich bin nicht verheiratet, verdammt noch mal!«

»Noch schlimmer.«

Nael straffte die Schultern. Dieses arrogante Weibsstück. Sie wagte es, sich aufs hohe Ross zu schwingen und ihm das Gefühl zu geben, im Unrecht zu sein? »Behandelt man so seine Gäste?«, schnauzte er.

Sie fuhr zu ihm herum. »Oh, ich nehme durchaus Rücksicht darauf, dass du mein Gast bist, sei versichert«, stieß sie hervor. »Auch wenn du vergessen hast, wie sich ein Gast benimmt. Ich bin eine freie Frau, und du hast mich nicht nur ohne meine Erlaubnis berührt, sondern sogar geküsst. Ich könnte dich allein dafür hinauswerfen lassen, und wenn ich das Vorkommnis meinem Gemahl zu Gehör brächte, würdest du noch schlimmeren Strafen entgegensehen. Aber ich werde weder das eine noch das andere tun. Sei weiterhin mein Gast, bis sich das Unwetter verzogen hat. Aber dann reist du auf der Stelle ab!«

Mit zwei großen Schritten war sie an der Tür, riss sie auf und stürmte in den Raum. Nael, der ihr auf den Fersen folgte, sah sich unerwartet Peire und einer erbosten Dienerin gegenüber.

»Herrin, warum hast du dein Gewand noch nicht gewechselt«, fragte die Dienerin. »Du wirst dir den Tod holen in dem nassen Zeug!«

»Oh! Seinetwegen!«, sagte die Frau atemlos und deutete auf Nael. »Madda, du errätst nie, wer das ist!«

»Jajaja, gib mir nur Rätsel auf. Damit lenkst du mich nicht ab. Trockene Kleider, Ravena. Und das rasch!«

»Aber Madda, das ist der Mann aus dem See. Und er hat eine Ehefrau!«

»Habe ich nicht«, knurrte Nael. »Würdest du mir nur für einen Moment zuhören, Herrin, könnte ich …«
»Ha! Spar dir deine Ausflüchte, du erbärmlicher Wurm! Du gehörst ganz eindeutig zu dieser Art von Taugenichtsen, die es nicht nötig haben ihren Ehefrauen Respekt zu erweisen, indem sie …«

Peire holte tief Luft und füllte den Raum mit einem Ton, der die Streithähne erschrocken verstummen ließ.

»Aufhören, sonst platzt mein Kopf«, murmelte Nael und presste sich die Handballen auf die Ohren.

Peire sagte etwas zu der Dienerin, das Nael nicht verstand, doch kaum, dass er die Hände herunternahm, traf ihn Peires Frage wie ein Peitschenhieb. »Wo ist Madonna Roana?«

»Ich … ich dachte, sie sei bei dir«, sagte Nael und wurde blass.

»Siehst du sie etwa hier? Ich nicht.«

»Sie wird mit einem Diener gegangen sein, um ihre Kleider zu wechseln.«

»Das ist sie ganz sicher nicht. Davon wüsste ich«, sagte Ravena. Sie stülpte ihre Unterlippe nach vorne, zupfte daran herum, nickte schließlich und sah Nael an. »Sie muss noch irgendwo draußen sein. Ist sie närrisch? Sie kann sich den Tod holen in dem eisigen Wind.«

»Herrgott noch mal!«, fauchte Peire. »Worauf wartest du noch, Nael? Mach dich auf und such sie!«

Nael zuckte zusammen. Roana … er hatte Roana vergessen …

Er konnte kein Wort hervorbringen, der Druck in seinem Inneren war zu groß. Er beugte sich nach vorn und presste die Hände auf den gähnenden Krater in seinen Eingeweiden.

»Süßer Jesus. Ist alles in Ordnung mit dir?« Ravena fasste nach seiner Schulter. »Hast du Schmerzen?«

Wenn er nicht aufpasste, würde er jeden Moment das Enziangebräu in die Binsen auf den Boden spucken. Herr im Himmel, was für eine grandiose Art und Weise, sich zu blamieren.

Panik erfasste ihn und nach einem schnellen Blick auf Ravena, stürmte er aus dem Raum.

»Was für ein ungehobelter Klotz«, bemerkte Madlaina. »Vergisst die eigene Frau in der Kälte.«

»Madonna Roana ist nicht seine Gemahlin«, sagte Peire düster. »Sie ist die Frau meines Herrn. Wenn Rafael mit den Pferden zurückkommt und erfährt, dass der Dame seines Herzens etwas zugestoßen ist, gibt es ein Blutbad. Dann zerreißt er Nael in Stücke.«

»Dein Herr heißt Rafael?«, fragte Ravena. »Wie seltsam … Madda, glaubst du an Zeichen?«

»Ich glaube an dass, was ich sehen, hören oder fühlen kann«, sagte die Kammerfrau. »Du dagegen hast ja immerzu den Kopf in den Wolken, wenn es um deinen vermissten Bruder geht. Eine Namensgleichheit hat nichts zu bedeuten. Was glaubst du wohl, wie viele Menschen es gibt, die den Namen Rafael tragen?«

»Ich weiß, Madda, ich weiß. Aber es ist trotzdem …«

Drei dumpfe Schläge ertönten und im nächsten Moment krachte die Tür des Krankenzimmers gegen die Wand. Tarun stand auf der Schwelle und gestikulierte aufgeregt mit den Händen.

»Herrgott, Junge, hast du mich erschreckt!«, sagte Ravena. »Sprich langsam, sonst kann ich dich nicht verstehen.«

Aber Tarun hielt sich nicht damit auf, seine Gesten zu wiederholen, sondern ergriff Ravenas Hand und zog sie energisch mit sich fort. Tarun führte Ravena durch eine Seitentür auf den Hof hinaus und deutete aufgeregt auf die leblos am Boden liegende Gestalt.

»Der Herr sei uns gnädig!«, murmelte Ravena. »Schnell kommt her, hierher, schnell!«

Sie sank neben Roana auf die Knie, schob vorsichtig den Arm unter ihren Kopf und hob sie an. »Allmächtige Muttergottes – du blutest ja, Frau!«

Nael eilte herbei, beugte sich über Roana und unterzog sie einer hastigen Untersuchung. »Das Kind … ich glaube, sie verliert ihr Kind.« Seine Stimme zitterte und er hasste sich dafür. Seine professionelle Gelassenheit ließ ihn zu einem verteufelt schlechten Zeitpunkt im Stich. Gewöhnlich verfiel er in einen Zustand völliger Ruhe, sobald er sich über einen Kranken beugte. Aber das hier war etwas ganz anderes. Gott, hier ging es um Roana.

»Bist du dir sicher, dass sie guter Hoffnung ist?«, fragte Ravena. »Das Blut könnte auch andere Ursachen haben. Es-«

»Ich bin mir sicher«, erwiderte er barsch.

»Bist du der Vater?«

»Nein«, knurrte Nael und fügte leise hinzu: »Aber ich wollte, ich wäre es.«
Tarun brachte eine Decke. Nael wickelte Roana behutsam hinein und hob sie auf seine Arme. »Zeig mir, wo ich sie hinbringen kann.«

Ravena erhob sich. »Trag sie ins Wohnhaus, hinauf in den ersten Stock, schnell.« Sie eilte Nael voraus. »Cesare, hol Wasser, einen großen Kessel, die Köchin soll es über dem Feuer kochen. Und sage Madda, dass sie ein blutstillendes Pflaster vorbereiten soll. Tarun, meine Kräuterkiste.«

Sie scheuchte Nael die hölzerne Treppe zum Eingang hinauf und führte ihn zu einer Kammer, die regelmäßig als Krankenzimmer zu dienen schien. Es gab zwei Betten und einen Behandlungstisch, auf dem sauber nebeneinander Messer und Nadeln aufgereiht lagen. Auf einem Tablett lagen Kräutersäckchen und verbreiteten medizinischen Duft.

Eine Dienerin war dabei, eines der Betten mit frischem Stroh einzudecken und Nael sah, dass sie Johanniskraut, Ziest und Waldmeister unter die Halme mischte. Ravena schüttelte ein Laken aus und breitete es über das Stroh. Nael ließ Roana vorsichtig auf das Lager sinken.

Ravena dirigierte ihre Helfer wie eine Fürstin. »Zuerst die Schuhe von den Füßen und die nassen Kleider vom Leib! Mehr Johanniskraut auf die Räucherschale! Bringt mir dickere Tücher, diese hier nehmen nicht genug Wasser auf.« Sie beugte sich über die Kranke.

Roanas Lider flatterten. Sie öffnete die Augen und starrte mit glasigem Blick um sich.

»Roana.« Fast verschluckte Nael sich an ihrem Namen. Alles, was er hatte sagen wollen, löste sich auf, alle Reden verstummten, Worte gingen verloren.

»Rafael«, krächzte sie und versuchte sich aufzurichten. »Wo ist Rafael?«

Ravena drückte sie sanft auf das Bett zurück. »Still. Deinem Rafael geht es gut. Jetzt müssen wir uns erst einmal um dich kümmern.«

»Was willst du gegen die Blutung geben?«, fragte Nael, und schob ihre Hände fort, die sich an Roanas durchweichten Schuhen zu schaffen gemacht hatten.

»Beifuß, Salbei und ein Pflaster mit Persicaria«, beschied ihm Ravena knapp. »Aber das kommt später. Im Moment haben wir ganz andere Sorgen mit ihr.«

Tarun kam mit der Kräuterkiste. Ravena suchte die benötigten Zutaten zusammen und übergab sie der Dienerin. »Bring das zu Madlaina in die Küche. Sie weiß, was zu tun ist.«

Die Dienerin packte Tarun am Gewand und zog ihn mit sich fort aus dem Raum.

Ravena warf Nael einen abschätzenden Blick zu. »Warum bist du noch hier? Sie ist nicht deine Gemahlin, also verschwinde! Was nun kommt, ist kein Anblick für einen Mann.«

»Ich bin Medicus, ich kann helfen.«

Sie nahm ihm Roanas nasse Beinlinge aus der Hand und drängte ihn zur Tür. »Schön. Dann mach dich nützlich! Wir brauchen Eis, damit ihre Hände und Füße von der Kälte nicht absterben.«

Ihr Ton war barsch und Nael gehorchte ohne Widerspruch. Er stieg in den Hof hinunter und brachte eine Satte Eismatsch herein, die er neben Roanas Lager abstellte.

»Gut«, sagte Ravena. »Jetzt pack dich. Ich kann keinen gelehrten Medicus gebrauchen. Hier ist praktische Erfahrung gefragt.« Ohne Umschweife schob sie Nael auf den Gang hinaus und schloss die Tür.

Nael ließ sie gewähren. Warum sollte er auch kämpfen? Kämpfen machte so müde. Ohnehin trug Roana ja bereits das Zeichen des Todes im Gesicht, sie würde sterben, wie die andere Frau.

Lange stand er wie gelähmt da und starrte auf die Tür des Krankenzimmers. Stärker denn je spürte er, dass er trotz all seiner gesammelten Kenntnisse machtlos war. Und so würde es immer bleiben. Nael ließ sich auf den Treppenabsatz sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.

Kapitel 3

 

Kapitel 3

Barbarus hic ergo sum, quia non intellegor ulli.

 

In der Kammer rieben Madlaina und Ravena Roanas Körper zuerst mit Eis und danach mit Heu ab, bis ihre Haut gerötet war und beinahe dampfte. Roana stöhnte und wehrte sich, aber die beiden Frauen ließen sich davon nicht beirren. Mit Hilfe der Dienerin streiften sie der Kranken ein einfaches Leinengewand über und hüllten sie in warme Decken.

Ravena schüttete einen Scheffel Labdanum und Angelikawurzel in die Räucherschale und wedelte mit einem Fächer den reinigenden Rauch über das Bett.

»Bring mir zuerst warmen Wein mit Kumin«, befahl sie einer Dienerin. »Dann nimm Gerstenmehl, mische es mit dem Weißen vom Ei und gib Beifuß, Salbei und Poleiminze dazu, aber nicht die ganzen Blätter, sondern nur den Saft. Daraus bäckst du kleine Fladen und gibst sie der Frau mehrmals täglich zu essen.« Sie blickte auf die Kranke. »Und nimm eine Handvoll Persicaria zusätzlich«, fügte sie hinzu. Die Dienerin lief eilig los.

Ravena ließ sich neben dem Lager auf einem Schemel nieder. Roanas Augen waren geschlossen, düstere Schatten umspielten sie. Ihr Atem ging schwer, ihre Lippen waren trocken.

Ravena kühlte ihr die schweißfeuchte Stirn mit einem feuchten Tuch. Als die Dienerin mit dem Becher kam, kniff die Kranke die Lippen zusammen und schüttelte mit gequältem Gesichtsausdruck den Kopf.

»Madda komm, hilf mir«, sagte Ravena und beugte sich über Roana. Sanft strich sie ihr über das kurze Haar. Dabei summte sie eine beruhigende Melodie, die sie oft benutzte, um die Kinder in den Schlaf zu singen.

Madda schob ihren Arm unter Roanas Nacken und hob ihren Kopf an. Und als Ravena den Becher mit dem Sud an ihre Lippen setzte, trank die Kranke tatsächlich, langsam und Schluck für Schluck. Ravenna gönnte ihr immer wieder Pausen, damit sie sich erholen konnte. Mit leiser Stimme wies sie die Dienerin an, ein Kügelchen Labdanum auf die Räucherschale zu legen. Sie hoffte, das kostbare Harz würde den Geist ihrer Patientin beruhigen, ihre Lebensgeister wieder aufrichten. Sie spürte deutlich, dass Roana nicht nur aus Trauer um das verlorene Leben nach innen flüchtete. Ob ihre Stimmung mit dem Medicus zusammenhing?

Ein seltsamer Mann war das, mit sich selbst nicht im Reinen. Sie musste einen Moment überlegen, bis ihr der Name einfiel, mit dem der verletzte Sänger ihn angesprochen hatte. Nael.

Sie vermochte sich nicht vorzustellen, was genau in ihm vorging. Unten im Flur hatte er die barbarische Wildheit eines Mannes ausgestrahlt, der nach Gewalt lechzte. Seine harte, düstere Miene war eine eindeutige Warnung gewesen, ihn nicht weiter zu provozieren.

Wovon sie sich für gewöhnlich nicht einschüchtern ließ. Sie hatte gelernt, sich Männern gegenüber zu behaupten. Aber mit ihm war plötzlich alles anders gewesen. Mit brennenden Wangen und wild pochendem Herzen hatte sie die Augen gesenkt, während seine Arme fest um sie geschlungen waren, sein Körper sich gegen sie presste. Binnen eines Herzschlags war sie in eine andere Welt katapultiert worden. Der Himmel brach über ihr zusammen. Die Zeit lief rückwärts. Schweine konnten fliegen. Er sah ihr ins Gesicht und aus der Nähe erschienen ihr seine Augen viel verletzlicher, als sie erwartet hatte. In ihnen las sie Unmut, Reue, Belustigung, Neugier – eine Fülle von Gefühlen, die die durch den Zorn hervorgerufene Kälte durchdrangen.

Ravena hatte reglos und mit offenem Mund dagestanden. Bebend, während Augenblick um Augenblick verstrich. Sein Verhalten verdiente eine scharfe Zurechtweisung, aber die passenden Worte hatten ihr nicht einfallen wollen.

Bei der Heiligen Jungfrau! So etwas passierte ihr doch normalerweise nicht! Aber dieser Mann hatte irgendetwas an sich. Sein Blick belegte sie mit einem Zauber. Sie wollte ihm verfallen. Mit Leib und Seele. Sie war verloren.

Ravena fuhr sich mit einer unwirschen Handbewegung über die Augen und stemmte sich vom Bett hoch. Ihre Patientin war in einen ruhigen Schlummer der Erschöpfung gefallen. Sie bat Madda, die Wache am Bett der Kranken zu übernehmen und verließ den Raum. Es gab ja noch einen zweiten Patienten, um den sie sich kümmern musste. Madda hatte ihr in groben Zügen berichtet, was dem Sänger zugestoßen war. Sicher hatte er Schmerzen und sie kramte in ihrem Gedächtnis nach dem passenden Rezept, um seine Beschwerden zu lindern. Vor allem benötigte sein Fuß Ruhe, eine Diagnose, die Madda sicherlich gefallen würde. Hieß es doch, dass der Sänger auf unbestimmte Zeit an ein Bett gefesselt war und nicht weiterreisen konnte. Ravena kannte ihre Zofe lange genug, um zu ahnen, wie gut ihr der unerwartete Gast gefiel.

Sie fand Tarun und den Sänger in eine angeregte Unterhaltung vertieft vor. Was bedeutete, dass Peire sprach, während Tarun aufmerksam lauschte und ab und zu eine Geste beisteuerte. Ravena blieb unbemerkt in der offenen Tür stehen und betrachtete die Szene. Peire erzählte von einer Grafenhochzeit und all den Wundern, die er dort gesehen hatte. Tarun saß zu seinen Füßen und sah gespannt zu ihm auf. In seinen Augen lag ein Glanz, den Ravena noch nie an ihm bemerkt hatte.

Sie trat vollends ein. Die Türangeln ächzten und die Stimmung im Raum schlug um. Peire verstummte abrupt und wandte das Gesicht der Tür zu.

Das ist Madonna Ravena, meine Mutter, gestikulierte Tarun. Sie ist eine Heilerin.

»Ich bin gekommen, um zu sehen, was ich für deinen Fuß tun kann«, ergänzte Ravena.

»Die kleine Zerrung heilt schon von selbst«, erwiderte Peire ungeduldig. »Was mich im Moment mehr interessiert, ist Madonna Roana. Wie geht es ihr? Wird sie sich erholen?«

»Ich denke schon«, antwortete Ravena. »Sie ist jung und stark. Und sie hat Glück gehabt, dass wir sie so schnell gefunden haben. Im Moment ruht sie. Deshalb lass uns die Zeit nutzen. Zeig mir deinen Fuß.«

»Darum hat Nael sich schon gekümmert.«

»So? Hat er das? Nun, Gelenke zu bandagieren gehört nicht zu den üblichen Aufgaben eines Medicus«, sagte Ravena. »Du erlaubst, dass ich mir selbst ein Bild mache?«

Peire nickte. Ravena hockte sich dicht vor ihn und machte sich routiniert an seinem Fußgelenk zu schaffen. Doch schon nach wenigen Handgriffen musste sie anerkennen, dass es für sie tatsächlich nichts mehr zu tun gab. Der Verband saß präzise, ohne den Blutfluss zu behindern. Der Medicus schien sich nicht nur auf sein eigenes Fach, sondern obendrein auf das Handwerk eines Chirurgen zu verstehen.

Was für ein rätselhafter Mann, dachte sie, während sie den Raum verließ. Nael wirkte abweisend und unnahbar, aber Ravena beschlich der Verdacht, dass dies nur eine Rüstung war, hinter der er sich verschanzte. Verbarg sich hinter der harten Schale eine Verletzlichkeit, von der die Welt nichts wissen sollte?

Ganz offensichtlich hegte er Gefühle für Roana, die sehr stark waren. Ihr Anblick im Hof hatte ihn mit der Wucht eines Armbrustbolzens getroffen und seine Rüstung mühelos durchschlagen. Sie hatte das Entsetzen in seinen Augen gesehen, die Gewissheit, zu spät gekommen zu sein. Was sie, wie sie sich eingestehen musste, selbst jetzt noch mit Zorn erfüllte. Süßer Jesus, er war ein Medicus! Wie konnte er da resignieren, noch bevor er einen Behandlungsversuch unternommen hatte?

Doch dann schüttelte sie entschieden den Kopf. Sie war nicht unvoreingenommen. Sie war zornig und suchte ein Opfer, gegen das sich ihr Zorn richten konnte. Und sie grollte Nael, weil er sie geküsst hatte.

Entschlossen machte sie sich auf den Weg zur Küche, holte sich einen Korb und trat wieder auf den Hof hinaus. Sie würde ihren Kräutergarten kontrollieren, um zu sehen, welchen Schaden der Hagel an ihren kostbaren Pflanzen angerichtet hatte. Vermutlich würde sie einen Gutteil der Pflanzen wegwerfen müssen, was sie genauso gut auch später erledigen konnte. In Wahrheit, so gestand sie sich ein, wollte sie einfach nur ein paar ungestörte Minuten für sich haben, in denen sich Nael nicht ungebeten in ihre Gedanken schlich.

 

 

Nael saß in der Burgküche am Gesindetisch und schaufelte lustlos den würzigen Eintopf in sich hinein, den Jelscha ihm vorgesetzt hatte. Nachdem Peires Fuß versorgt war, hatte Tarun sich seiner erbarmt, und ihm den Weg zur Küche gewiesen. Die Köchin hatte ihm trockene Gewänder aus dem Besitz des verstorbenen Burgherrn beschafft, sodass er sich inzwischen beinahe wieder wie ein Mensch fühlte. Wenn er jetzt noch etwas von dem Enziangebräu des Wachsoldaten gehabt hätte …

Aber darauf durfte er vermutlich nicht hoffen. Nael seufzte und spähte angewidert in seinen Becher, der frische Ziegenmilch enthielt. Jelscha schien für betäubende Getränke nichts übrig zu haben.

Vor sich hin summend rumorte sie in der Küche herum, ohne dass Nael sehen konnte, was sie tat. Irgendwann entfernten sich ihre Schritte und eine Tür knarzte. Nael war allein. Er legte den Löffel weg und saß eine Weile reglos da.

Lastende Stille senkte sich über die Küche. Rafael beherrschte es meisterlich, diese Art von Stille zu ertragen. Nael konnte das in der Regel nicht. Er bevorzugte Bewegung, Schwung, Geräusche. Aber heute fühlte er sich erschöpft genug, um blicklos in den Raum zu starren.

Es war ein leises Rascheln und Scharren, das schließlich die Stille durchbrach. Etwas strich unter dem Tisch über seine Stiefel. Nael schüttelte unwirsch den Fuß, aber das Rascheln und Scharren blieb. Ungeduldig beugte er sich vor, um unter den Tisch zu sehen- und blickte in die strahlend blauen Augen eines Engels mit rotblonden Locken.

»Na, was haben wir den da?«, frage er überrascht. »Wer bist du denn?«

»Alessa.« Der kleine Engel lächelte schüchtern. »Pinzessin Alessa.«

Nael hatte plötzlich das Gefühl, seine Kehle sei zu eng. Er hatte sich sehr bemüht nicht mehr an seine Familie, seine jüngeren Geschwister zu denken, aber mit dem Lächeln des Kindes überfluteten ihn die Erinnerungen wie ein Sturzbach. Er musste sich kräftig räuspern, um zu verhindern, dass seine Stimme bei der nächsten Frage zitterte.

»Warum sitzt du unter dem Küchentisch Prinzessin Alessa?«

»Kein Tisch«, beschied ihm die Kleine. »Höhle. Komm gucken. Böser Drache hat Alessa gefangen. Komm, gucken!«

Nael ließ sich von seinem Schemel auf den Boden gleiten und spähte unter den Tisch. »Ich sehe hier keinen Drachen, Prinzessin.«

»Doch Drache. Da«, sagte Alessa ernsthaft und deutete mit dem Finger auf ihn. »Du großer böser Drache. Drache will Pinzessin Alessa fressen.«

»Oh nein, das will ich nicht. Ich habe heute keinen Appetit auf kleine Mädchen.«

Alessa zog einen Schmollmund. »Dann musst du König sein«, bestimmte sie. »König muss kommen und Pinzessin Alessa retten.«

»Nein«, sagte Nael streng. »Ich kann auch kein König sein. Ich habe keine Zeit, um mit dir zu spielen.«

»Warum nicht?«

»Erwachsene Männer spielen nicht«, gab Nael brummig zurück.

Zögernd rutschte Alessa näher. »Warum nicht?«

»Darum. Fragst du immer so viel?«

Riesengroße Kinderaugen sahen zu ihm auf. »Bist du jetzt böse?«

Ärgerlich auf sich selbst streckte er die Hand nach ihr aus, worauf sie ihn mit fragendem Blick ansah. »Ich bin nicht auf dich böse, kleine Prinzessin.«

»Wirklich?«

Er nickte. »Weißt du, was ein Medicus ist? Das ist ein Mann, der kranke Menschen wieder gesund macht. Ein Medicus muss ständig über viele Dinge nachdenken und deshalb hat er keine Zeit zum Spielen.«

»Mama spielt aber. Meine Mama ist auch ein Medi… Medi…«

»Eine Medica?«

Alessa nickte eifrig.

Ausgerechnet, dachte Nael und richtete sich auf. Die Kleine war die Tochter der Burgherrin Ravena von Rocca d´Aquila. Das hatte ihm noch gefehlt. Mit Madonna Ravena wollte er nichts zu tun haben. Sie lenkte seine Gedanken nur von Roana ab. Von Roana, die wider Erwarten nicht gestorben war. Die laut Jelscha friedlich ihrer Genesung entgegen schlief. Wenn er ehrlich war, wusste er nicht so genau, wie er mit dieser Tatsache umgehen sollte. Seine Gefühle waren in Aufruhr. Einerseits war er unsagbar erleichtert über Roanas Rettung. Andererseits erfüllte ihn bohrende, nagende Wut, bei dem Gedanken, dass Ravena scheinbar mühelos eine Heilung gelang, bei der er kläglich gescheitert war.

Versager, höhnte Luccas Stimme in seinem Kopf. Nael presste sich die Handballen auf die Ohren, aber so leicht ließ sich sein Vater nicht zum Schweigen bringen. Mit einem frustrierten Stöhnen ließ Nael sich auf seinen Schemel fallen und hämmerte die Stirn auf das glatt gescheuerte Holz der Tischplatte. Versager, Versager …

Er hörte die Worte so deutlich, dass es ihm vorkam, als müsse er nur den Kopf drehen, um Lucca an seiner Seite stehen zu sehen.

»Du bist tot!«, knurrte Nael. »Ist es zu viel verlangt, dass du endlich mit diesen Spielchen aufhörst und mich in Ruhe lässt? Geh zurück in die Hölle, oder wohin Bastarde deiner Art verdammt noch mal gehen sollen. Verschwinde endlich!«

Ich will doch nur helfen, meinte Lucca nachsichtig. Du neigst dazu, zu vergessen, was du bist, mein Sohn. Jemand muss dich von Zeit zu Zeit daran erinnern.

»Du kannst mir nicht helfen!«, zischte Nael. »Du bist tot! Mich weiter zu foltern bringt nichts! Es hilft mir nicht! Das hat es noch nie!«

Lucca zeigte sich unbeeindruckt. Hör auf, dich wie ein aufsässiges Kind zu benehmen. Seine Geisterstimme nahm diesen irritierenden Tonfall an, in dem er immer mit Nael sprach. Es war dumm von dir, nicht auf mich zu hören …

»Du Lügner! Hör auf, mich zu quälen! Lass mich allein!«

Etwas zupfte an seiner Tunika und brachte ihn abrupt wieder in die Gegenwart zurück. Er hob den Kopf und sah sich Alessa gegenüber, die ihn still musterte. Ihre Augen waren so traurig, dass es ihm wehtat. Solche Traurigkeit hatte in Kinderaugen nichts verloren.

»Magst du mein Freund sein?«, fragte sie zögernd. »Mama sagt, Freunde sind gut, wenn man traurig ist. Freunde machen, dass man keine Angst mehr haben muss. Magst du?«

Nael verschlug es die Sprache. Die Worte des Mädchens trafen ihn wie ein Faustschlag in dem Magen. Aber beinahe noch mehr erschütterte ihn, aus ihrem Mund plötzlich den Dialekt seines geliebten Stiefvaters zu hören.

»Du … du sprichst Veneziano?«, stotterte er.

Alessa sah ihn einen Herzschlag lang beinahe erschrocken an, dann breitete sich ein solch glückseliges Strahlen über ihr Gesicht, dass sein Herz einen Satz in seiner Brust machte. Die Kleine klatschte begeistert in die Hände und dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Nael hörte ihr überrascht zu und mit jedem ihrer Worte wuchs die grausam ausgedörrte Enge in seiner Kehle, die sich anfühlte, als ob jemand einen Knoten fester zuzöge.

Das Mädchen war ein Waisenkind, das Ravena einer Gruppe umherziehender Gaukler abgehandelt hatte. Sie beherrschte drei Sprachen, die auf Rocca d´Aquila jedoch niemand verstand. Alessa wiederum konnte weder Latein noch den regionalen Dialekt. Trotz Ravenas liebevoller Fürsorge hatte das intelligente Mädchen sich schrecklich verlassen gefühlt, weil es erst mühsam erlernen musste, sich verständlich zu machen.

Jetzt tanzte sie um seinen Schemel herum und ihr fröhliches Lachen bewirkte, dass sich ihm der Magen umdrehte. Wie sehr er seine jüngeren Halbgeschwister vermisste!

Mit einem schnellen Griff fing er Alessa ein und hob sie auf seinem Schoß. Das Mädchen kuschelte sich sofort vertrauensvoll an ihn. Nael vergrub die Nase in ihren nach Sonne und Blumen duftenden Locken und schloss die Augen. Seine Kehle fühlte sich schon wieder eng und geschwollen an. Himmel! Er würde jetzt nicht anfangen zu weinen. Nein, er war vollkommen ruhig und gelassen. Als er die Augen öffnete, stellte er fest, dass Tarun in der geöffneten Küchentür stand und ihn mit misstrauischem Blick ansah. Seine Mundwinkel zuckten. Seine reglose, starre Haltung drückte den gleichen Unmut aus. Mit den Händen malte er Worte, die Alessa mühelos zu verstehen schien.

»Mama sucht mich«, verkündete sie und sah Nael mit großen, traurigen Augen an. »Aber ich mag lieber bei dir bleiben.«

»Ein anderes Mal«, sagte Nael, hob die Kleine von seinem Schoß und stellte sie auf die Füße. »Seiner Mutter darf man keinen Kummer machen. Und wenn sie dich sucht, musst du zu ihr gehen, hörst du?«

Alessa maulte noch ein wenig, aber dann hüpfte sie auf Tarun zu und ließ sich von ihm an die Hand nehmen. Tarun warf ihm noch einen eindeutig warnenden Blick zu, bevor er das Mädchen aus der Küche führte.

Nael hätte

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Umschlaggestaltung unter Verwendung folgender Illustrationen: Stone Gothic fantasy medieval background, ©Konstanttin/Shutterstock.com 1900s wax seal ©velora/Shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2021
ISBN: 978-3-7487-7136-4

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