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Vetitum

 

 

 

 

 

 

Vetitum

 

Band I

Die Braut

 

von Máire Brüning

 

 

 

 

© 2019 Máire Brüning – alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

Umschlaggestaltung

Bildquelle: Masson/Shutterstock.com

 

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Dramatis Personae

Dramatis Personae

(Reale Personen sind mit einem * gekennzeichnet)

 

Gandar, Graf von Rodéna, Herzog von Rodi
Gareth von Cashel, sein Freund und Gefolgsmann
Ahmad ibn Asher Halewi, sein Waffenbruder und Freund
Lauris von Segeste, Gefolgsmann
Manfred, Gandars Knappe
Sayed, Sarazene, Soldat
Francesco, Märchenerzähler
Grazian, Herzog von Rodi, Gandars Ziehvater
Iolanthe, Herzogin von Rodi, Gandars Ziehmutter

Gwenfrewi von Brenneberg
Gunther von Brenneberg, ihr Vater
Berta, Gwenfrewis alte Kinderfrau
Wolfram von Milanes
Gianmaria Valo, römischer Kardinal

Judith von Morra
Léon Carl, Graf von Morra
Roana von Morra, ihre Tochter

Richard von Glouburg
Johannes von Eichziel, Waffenmeister der Glouburg
Ortwin, junger Ritter aus Richards Gefolge
Heinrich, Burgvogt der Glouburg
Irmengard, Gemahlin des Burgvogts
Claus, Richards Kammerherr
Kaplan der Glouburg

 
*Konrad IV von Staufen
*Gottfried von Hohenlohe
*Philipp I. von Falkenstein, Konrads Truchsess
*Propst Konrad von Konradsdorf
*Gerlach von Büdingen
*Friedrich II von Staufen, Konrads Vater
*Siegfried von Eppstein, Erzbischof von Mainz
*(Enzio) Chiaramonte
*(Carlo) Filangieri
* Philipp von Ferrara, päpstlicher Legat
* Hartmann II. von Grüningen und Ulrich I. von Württemberg
* Jacopo di Breganz, Bischof von Verona

 

 

 

I

I

 

Nachdem er die anonyme Botschaft erhalten hatte, öffnete er sein Schreibpult, entnahm einen Bogen Pergament, Schreibgerät, Siegelwachs und Siegel, entzündete eine neue Kerze und setzte sein Testament auf. Wie sich später anhand der Datumsangabe feststellen ließ, geschah dies am Abend des 28. März 1254.

Bevor er aus seiner sizilianischen Villa verschwand – auch dies ließ sich später mit Hilfe von Zeugen rekonstruieren – vergingen jedoch noch weitere fünf Tage, die er nutzte, um eine Reihe von Täuschungsmanövern in Gang zu setzen.

Methodisch verwischte er jede Spur, die über sein Ziel hätte Aufschluss geben können. Er durfte nicht riskieren, dass jemand von seinen Plänen erfuhr und ihn aufzuhalten versuchte.

Trotz sorgfältiger Planung unterlief Gandar von Rodéna, Herzog von Rodi jedoch ein Fehler. Eine Unaufmerksamkeit, die das Misstrauen zweier Männer und einer Frau erregte und sie veranlasste, sich auf die Suche nach ihm zu machen.

Was jedoch viel zu spät war, um die Ereignisse noch aufzuhalten.

Man schrieb Mitte Juli, als Gandar zum ersten Mal das Gefühl hatte, verfolgt zu werden. Er hatte gelernt, seinen Instinkten zu trauen, doch nachdem er beinahe vier Monate unbehelligt geblieben war, erschien es ihm unwahrscheinlich, so kurz vor dem Ziel noch Schwierigkeiten zu bekommen.

Umso größer war sein Schock, als er erkannte, dass sein Freund Ahmad ibn Asher Halewi ihn trotz aller Vorsicht ausfindig gemacht hatte. Die Anwesenheit des Sarazenen war wie etwas Dunkles, das sich zwischen ihn und das Licht am Ende seines Weges schob. Er wollte niemand in die Sache hineinziehen. Schon gar nicht den Mann, den er wie einen Bruder liebte. Und so versuchte er auf dem letzten Abschnitt der Reise jede Finte, die ihm einfiel, doch Ahmad ließ sich nicht abschütteln.

Wie kann er nur so anhänglich sein, dachte Gandar. Anhänglich? Zum Wächter ist er mir geworden. Seine Blicke – o Gott! Bei ihm könnte ich mir alles von der Seele reden. Ich möchte mir alles von der Seele reden. Es drängt mich, ihm meine Gründe zu erklären, damit er mir, dem treulosen Bruder, vielleicht eines Tages vergibt …

Gandar saß im Sattel seines Pferdes und schüttelte den dunklen Schopf. Vergebung zu erlangen, war unmöglich, das wusste er. Ahmad in seine Pläne einzuweihen ebenso. Der Sarazene konnte ihm das, was er zu tun hatte, sehr schwer machen. Deshalb musste er klug vorgehen, musste Ahmad in Sicherheit wiegen, bis …

Ahmads braune Stute schnaubte und riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Gandar warf seinem Freund einen schnellen Seitenblick zu, den der Sarazene mit fragender Miene erwiderte.

Was für eine elende Zwickmühle, schoss es Gandar durch den Kopf und er biss sich nachdenklich auf die Unterlippe, während er überlegte, was er sagen sollte.

»Ahmad – «, setzte er an.

»Ja?«, fragte Ahmad. »Ja, Gandar?«

Aber Gandar konnte nicht weitersprechen. Was er ausdrücken wollte, ließ sich nicht so leicht in Worte fassen, wie er gedacht hatte. Alles, was er vorbringen konnte, klang irgendwie – falsch. Lächerlich. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob es vernünftig war, an seinem Entschluss festzuhalten. Vielleicht ritt er geradewegs in eine Falle. Vielleicht lockte man ihn hierher, nur um ihm zu sagen, dass sie tot war. Doch was immer die Gründe waren – er brauchte Gewissheit.

Gandar griff seiner Stute in die Zügel, bis sie langsamer wurde. Seite an Seite lenkten die Männer ihre Rösser einen Hang hinab, bis sie sich nicht mehr als Silhouetten gegen den Himmel abzeichneten und blieben dann stehen.

Vom Pferderücken aus hatten sie einen weiten Blick über die östliche Wetterau. Umgeben von brachliegenden Feldern schliefen zwei, drei einsame Weiler im Schutz schweigend zusammengesunkener Eichen. Es war die Zeit des Sonnenaufgangs, aber noch zeigte sich nichts, noch lagen Himmel und Erde nah aneinander gerückt in der Dämmerung.

Ahmad stieß hörbar die Luft aus, drehte den Kopf hierhin und dahin und sah sich um.

»Es ist an der Zeit. Wenn du erlaubst, möchte ich hier mein Morgengebet sprechen.«

»Niemand folgt uns«, sagte Gandar. »Demnach sollte es sicher sein, hier zu beten.« Ahmad glitt aus dem Sattel, breitete seine Decke aus, kniete nieder und sprach die vorgeschriebenen Worte.

Gandar blieb im Sattel und ließ den Blick wachsam über die Landschaft schweifen. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken: Ahmad redet wie immer. Ahnt er tatsächlich nicht, wohin wir reiten? Oder ahnt er es doch? Vielleicht weiß er es schon längst und dies hier stellt eine Probe, eine Prüfung dar? Ahmad ist klug. Bestimmt hat er diesen Ort wiedererkannt. Oder doch nicht? Immerhin waren wir seit beinahe sechs Jahren nicht mehr hier … Eine Ewigkeit ohne Gwenfrewi. Ein halbes Leben ohne Nachrichten von ihr …

Ahmad beendete sein Gebet, verstaute seine Decke, bestieg wortlos sein Pferd und lenkte es auf eine Weggabelung zu, die vom nächsten Dorf wegführte.

»Wo willst du hin, Ahmad?«, fragte Gandar. »Ich kann mich nicht erinnern, erwähnt zu haben, dass ich diesen Weg nehmen möchte.«

»Oh weiser Gott! Warum muss ich ertragen, dass du mich behandelst wie ein unmündiges Kind, mein Bruder? Ich habe Augen im Kopf! Glaubst du, ich wüsste nicht, dass wir zu jener verfluchten Burg des Todes unterwegs sind?«

»Ahmad ...«

»Schön. Du willst nicht darüber sprechen. Nur ändert das nichts an der Tatsache, dass du besser daran tätest, dich auf der Glouburg nicht sehen zu lassen.«

Gandar schloss kurz die müden Augen. Er lebte seit Wochen in einem Zustand abgrundtiefer Verzweiflung, doch es gab auch noch kurze, jähe Momente des Aufbegehrens. Eben jetzt durchzuckte ihn wieder Hoffnung. Und wenn ich zu schwarz sehe? Wenn dieser Brief, den ich erhalten habe, doch genau die wohlmeinende Warnung ist, die er vorgibt, zu sein? Dann würde, dann könnte es mir am Ende doch noch gelingen, das Unheil abzuwenden …

»Was willst du auf der Glouburg?«, fragte Ahmad.

»Auf diese Frage habe ich noch keine Antwort gefunden«, musste Gandar einräumen.

»Du enttäuschst mich, Bruder. Du warst immer ein Mann, dessen Wort etwas galt. Doch jetzt bist du bereit, deinen heiligen Eid zu brechen, und kannst mir nicht einmal einen Grund dafür nennen. Das begreife ich nicht. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ehrenhaft du bist.«

»Das war nach außen hin.«

»Nein, Gandar. Das kam von ganz tief innen.«

Mit einem leisen Seufzen schüttelte Gandar den Kopf. Ahmad ahnt nichts vom Inhalt des Briefes. Ahnt er wirklich nichts?

»Du und ich waren immer eng miteinander verbunden«, sagte Ahmad. »Wie Brüder. Mehr noch. Enger als die meisten Brüder es je sind. Da weiß man solche Dinge.«

Gandar öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber dann schloss er ihn wieder, ohne etwas zu sagen.

»Auf einmal bist du so – fern«, fuhr Ahmad fort. »Unnahbar. Verschlossen wie eine Auster. Du tust Dinge, die mich mit Schrecken erfüllen. Du lügst und betrügst, du lässt dein Land und deine Bauern im Stich, ohne ein Wort der Erklärung. Ich möchte den Grund begreifen – aber ich finde ihn nicht. Wofür bist du bereit, so tief zu sinken, Bruder Löwe?«

Für Gwenfrewi, dachte Gandar. Er fühlte sein Herz klopfen im schnellen Rhythmus des Hoffens entgegen jeder Logik, jeder Tatsache. Vielleicht würde er sie wiedersehen. Nur einen Herzschlag lang in ihr geliebtes Antlitz blicken, wissen, dass es ihr gut ging. Das war alles, was er sich wünschte.

»Antworte mir, Gandar.«

»Jetzt nicht, Ahmad – bitte. Ich … will jetzt nicht denken.« Jählings war wieder die Verzweiflung da, die grauenvolle Verzweiflung der letzten Zeit. Vorbei der wilde Herzschlag der Hoffnung. Es ist zu spät, dachte Gandar. Am Ende meines Lebens werde ich auch diesen Freund belogen und getäuscht haben. Es gibt keinen Ausweg.

Aber für ein paar Augenblicke wenigstens wollte er so tun, als hätte sich an dem bedingungslosen Vertrauen zwischen ihnen nichts geändert.

»Ich muss es wissen, Bruder«, beharrte Ahmad. »Mein Herz will schier zerspringen vor Kummer, weil du keine Pläne für die Heimkehr machst.«

Gandar antwortete nicht darauf. Sie führten diese Unterhaltung in der einen oder anderen Form seit Wochen, seit Ahmad ihn in Bolzano aufgespürt hatte. Alle Argumente waren längst gesagt und unzählige Male wiederholt worden, ohne dadurch besser oder schlechter zu werden. Er zuckte mit den Achseln und wich Ahmads Blick aus. »Ich kann die Zukunft nicht voraussagen. Ich weiß nicht, was morgen oder übermorgen sein wird.«

Ahmad starrte ihn an, und Gandar spürte nur zu deutlich, dass er ihm nicht glaubte. Er weiß es. Oh ja, dachte Gandar bitter, Ahmad weiß, warum es nicht nötig ist, Pläne für eine Rückkehr nach Sizilien zu machen. Darum wird er bis zum letzten Augenblick nicht von meiner Seite weichen …

Ahmad schnalzte und die Stuten fielen in einen flotten Trab. Der Atem der Tiere hinterließ weiße Wolken in der klaren Luft.

Hohes, von Reif gebeugtes Gras wischte an den Beinen der Pferde entlang. Dort, wo die Bäume bis an den Rand der Wiese standen, hielt sich in ihrem Schatten noch der Schnee, Überbleibsel des ersten Wintersturmes dieses Jahres. Gandar lenkte sein Pferd auf den Waldrand zu.

Hintereinander drangen sie zwischen die Bäume vor. Ein schwacher Geruch nach Erde und verrottenden Blättern, nach Moos und Feuchtigkeit empfing Gandar. Die Luft kam ihm noch kälter vor, als draußen auf dem freien Feld. Er vergrub die Hände im dichten Fell seiner Stute, aber er wusste, dass es genauso wenig helfen würde wie die pelzgefütterten Handschuhe, die er trug. Wie der Schmerz kam auch die Kälte tief aus seinem Inneren. Aus seiner Seele. Für einen kurzen, gramerfüllten Moment gestattete er sich, an Gwenfrewi zu denken.

Mein Engel. Der einzig wahrhaft unverdorbene, makellos reine Mensch, der mir je begegnet ist. Sie kennt keinen Hass. Sie hasst nicht einmal mich, der ich…

Abrupt zügelte Ahmad sein Pferd und hob warnend die Hand. Er lauschte. Irgendwo jenseits des Waldes ertönte das dünne Gebimmel einer Glocke.

»Hörst du das?«, fragte der Sarazene überrascht. »Das muss die Kapelle der Glouburg sein.«

»Unmöglich«, murmelte Gandar. »Die Entfernung stimmt nicht … die Glouburger Glocke müsste lauter zu hören sein.«

»Du bist also tatsächlich fest entschlossen, zur Burg zu reiten? Was tun wir, wenn man uns nicht einlassen will?«

»Es gibt – einen Geheimgang, durch den ich ungesehen in die Burg gelangen kann. Allein.«

»Ein Bruder verlässt seinen Bruder nicht.«

Gandar seufzte. »Ich habe befürchtet, dass du das sagst. Aber dieses letzte Stück des Weges muss ich allein gehen. Es nutzt keinem, wenn du dich opferst.«

Ahmad schüttelte nur schweigend den Kopf.

»Glaub mir Freund, deine Worte bedeuten mir viel, andererseits … vermag ich sie kaum zu ertragen«, fuhr Gandar fort. »Ich würde mich wohler fühlen, wenn du nach Sizilien zurückkehrst und in Rodéna nach dem Rechten siehst.«

»Bin ich denn so verachtenswert geworden«, flüsterte der Sarazene, »dass du mich davonjagst wie einen Hund?«

»Bitte«, sagte Gandar. »Ich möchte, nein, ich befehle dir, dass du ...«

»Genug«, unterbrach Ahmad. »Ich weiß, was du sagen willst. Aber ich will es nicht hören. Es schmerzt, dass du versuchst, mich fortzuschicken. Ich hoffe, du hast einen wirklich triftigen Grund, überhaupt hier zu sein.«

»Den habe ich«, sagte Gandar.

 

 

II

 

Gandar griff in seine Gürteltasche und zog ein zerknittertes Stück Pergament hervor. Ahmad sah erschrocken, wie sich sein Gesicht dabei veränderte; sein Mund wurde hart, seine Augen eisig grün; die Knöchel am Handrücken zeichneten sich deutlich unter den Handschuhen ab. Mit einer abgehackten Bewegung streckte er ihm das Pergament entgegen. »Lies selbst.«

Ahmad nahm das Pergament und entfaltete es.

 

Wenn du Dame Gwenfrewi schlimmes Ungemach ersparen willst, so komm an Simon Judae zur Glouburg.
Ein Freund

 

»Bismillah!«, murmelte er. »Wann ist das gekommen?«

»Vor drei Monaten, zwei Wochen und nunmehr vier Tagen.«

»Du weißt nicht, wer dir diesen Unsinn geschickt hat, oder?«

Gandar warf dem Sarazenen einen kurzen Seitenblick zu. »Es ist kein Unsinn, sei versichert. Es gibt nur wenige Menschen, die von meiner Verbindung zu Madonna Gwenfrewi wissen. Keiner von ihnen würde sich einen derart geschmacklosen Scherz erlauben.«

Ahmad dachte einen Moment darüber nach und nickte schließlich. Auch wenn ihm Gandars Argumente nicht gefielen, waren sie doch schwer zu entkräften. Er faltete das Pergament wieder zusammen und gab es zurück. Dann nahm er die Zügel seiner Stute auf und trieb sie an.

Langsam wich das Unterholz zurück und die Bäume standen weiter auseinander. Gandars Stute schlug mit dem Kopf und drängte vorwärts. Bald erreichten sie den Waldrand. Vor ihren Augen erstreckte sich ein sanft abfallendes Tal, welches wiederum in einen von Wallanlagen geschützten Hügel überging. Ahmad sah sich erstaunt um. Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, hätte man von Osten her, über der Ebene, die Türme und Zinnen der Glouburg erkennen müssen. Nichts davon zeigte sich. Alles wirkte mit einem Mal milchig – es gab keine Wolken und keinen Himmel, auch keinen Nebel und keine Sicht.

Und keine Geräusche. Nicht ein einziger Laut drang zu ihnen herüber, keine Hammerschläge von Zimmerleuten, kein Klimpern und Klingeln von Blechschmieden und kein Geschrei spielender Kinder. Sämtliche Kochfeuer schienen gelöscht zu sein, denn es hing auch kein Rauchgeruch in der Luft.

Gandar war erschreckend blass geworden. »Das gefällt mir nicht«, sagte er und stieg aus dem Sattel. »Wir haben die Glocke gehört, aber plötzlich ist es totenstill? Da stimmt etwas nicht.« Er warf Ahmad die Zügel seines Pferdes zu. »Warte hier.«

Geschickt jede Deckung nutzend eilte er davon.

Ahmad blickte ihm unschlüssig nach, bis ein schmaler Gürtel aus Buschwerk ihn seinen Blicken entzog. Um sich zu beschäftigen, prüfte er die Hufe der Stuten, jede Schnalle, jeden Riemen des Zaumzeuges. Immer wieder hob er lauschend den Kopf, versuchte, die Geräusche von Gandars Schritten auszumachen. Schließlich bekam Ahmad es mit der Angst zu tun.

Er nahm die Zügel der Pferde und folgte dem Pfad, der sich am Waldrand entlang in dürrem Gestrüpp und spärlichem Gras dahin schlängelte. Vor seinen Schuhen rollten die trockenen Kotkügelchen von Kaninchen auseinander, deren Menge verriet, dass die Tiere hier schon seit längerer Zeit nicht mehr gejagt wurden.

Und dann sah er Gandar.

Sein Freund stand mitten auf der Wiese, die Augen auf einen Punkt in der Ferne gerichtet, und presste den Handrücken gegen die Lippen. So reglos verharrte er, als sei er das Werk eines Bildhauers, ein großer schlanker Mann, das dunkle Haar verwirrt, das Gesicht von Sonne und Wind gegerbt. Er trug einen wollenen Mantel, darunter ein Kettenhemd, Beinlinge, denen man die langen Wochen im Sattel ansah und fellverbrämte, wadenhohe Stiefel.

So stand er, bis Ahmad ihm die Hand auf den Arm legte. »Bruder? Beim allmächtigen Gott, was ist geschehen?«

Gandar versuchte zu sprechen. Seine Lippen bewegten sich, formten Worte. Doch kein Laut drang hervor. Ahmad starrte ihn einen Herzschlag lang an, bevor er Gandar grob an der Schulter packte und ihn schüttelte.

Gandar schreckte auf, als erwache er aus einem Traum. »Da ...«, flüsterte er. »Schau hin … schau genau  hin ... siehst du es?«

»Nein«, sagte Ahmad. »Ich sehe nichts.«

»Das«, erwiderte Gandar mit ausdrucksloser Stimme, »ist es ja gerade. Du siehst nichts. Weil da nichts mehr ist. Aber es müsste etwas dort sein. Nämlich die Mauern der Glouburg. Man konnte sie immer von hier aus sehen ...«

Und dann begriff auch Ahmad, was Gandar meinte. Auf der Kuppe des Hügels über ihnen erhob sich eine Ruine, ein Haufen geborstener Steine, aus dem noch die Reste des Wachturms, die schlanken Säulen halb eingestürzter Fensterarkaden, die Trümmer des Wehrganges herausragten, als seien sie der Faust des Riesen, der hier gewütet hatte, entgangen.

Der krächzende Schrei eines im blassen Himmel kreisenden Raben riss Ahmad aus der Betäubung, in die ihn der Anblick der zerstörten Burg versetzt hatte. Er sah Gandar wie einen Schlafwandler den Hügel hinauf eilen. Hastig bestieg er sein Pferd, nahm Gandars Stute am Zügel und galoppierte hinter ihm her.

 

 

III

Gandar rannte. Er stolperte über Unebenheiten, riss sich die Hände an Brombeerranken blutig, kletterte über Mauerreste und Treppenstufen, die vom Raureif gefährlich glatt waren. All das bemerkte er nicht, weder die Rußspuren am Mauerwerk, noch die zum Himmel starrenden verkohlten Balken.

Mit einem rauen Klagelaut sank Gandar schließlich zu Boden. Eine solche Vielzahl von Empfindungen stürzte auf ihn ein, dass es ihm im wahrsten Sinne des Wortes den Atem verschlug. Er versuchte, Luft zu holen, aber es vergingen ein paar Augenblicke, ehe es gelang. Seine Hände wurden feucht, seine Gesichtshaut schien sich zusammenzuziehen, und seine Eingeweide verkrampften sich. Er wusste nicht, wie er all der Bilder und Erinnerungen Herr werden sollte, die auf ihn einstürzten: Richard, sein toter Zwillingsbruder. Gwenfrewi und verstohlene Berührungen im Mondschein …

Fortuna war wankelmütig und voller Tücke, das wusste er. Hatte sie ihm die Aussicht auf ein Wiedersehen mit der geliebten Frau vielleicht nur beschert, damit sein Schmerz umso größer war, wenn sie ihm am Ende jede Hoffnung nahm?

Bei dem Ausmaß der Zerstörung waren vermutlich alle, die er einmal gekannt hatte, nicht mehr am Leben.

Nur ich bin übrig, dachte er – nur ich.

Für eine kleine Weile.

Als Gandar seine Umgebung wieder bewusst wahrzunehmen begann, sah er, dass er in der ehemaligen Kapelle vor dem Altar niedergesunken war. Schwerfällig hob er den Kopf und warf einen Blick nach oben. Das Dach war verschwunden und durch die leeren Fensteröffnungen drängte Gestrüpp herein.

Er richtete sich auf, bis er kniete und versuchte, ein Gebet zu sprechen. Aber er konnte es nicht. Dies alles hier ließ keinen Raum für Gebete.

Ahmad räusperte sich und Gandar schreckte auf. Erstaunt blinzelnd sah er sich um. Nur wenige Herzschläge waren vergangen, seit er die Kapelle betreten hatte. Nur wenige Minuten hatte er sich der Vergangenheit erinnert, während er sich umsah und doch nichts sah, weil seine Gedanken und Blicke gewandert waren, durch das unendliche Meer der Zeit, die hinter ihm lag.

»Gandar, hört mir zu. Du musst eine Entscheidung treffen.«

Gandar erhob sich abrupt. Seine Knie fühlten sich butterweich an und er wankte beinah, als er an eines der halben Fenster trat. Er stützte die Hände auf die eiskalten Steine und starrte blicklos auf das reifverkrustete Gestrüpp.

Unerwartet fiel ein eisiger Wind über die Burg her, heulte angriffslustig durch die Ruine, hob Laub und Zweige vom Boden auf und jagte sie in einem wilden Tanz vor sich her. Die Bö zerrte an seinen Haaren, doch Gandar merkte es kaum. Tiefer und tiefer versinke ich in Erinnerungen, dachte er. Ein heißer Sommertag fiel ihm wieder ein – der Johannistag des Jahres 1246 ...

 

 

 

Die Freunde

Die Freunde

 

Von dort, wo die drei Ritter mit ihren Pferden hielten, hatten sie einen freien Blick auf die Burg. Die Sonne stand schräg über dem Bergfried und ließ die Steine des Turmes graugelb aufleuchten. Kernburg und Mauern dagegen waren in tiefe Schatten gehüllt, als gelte es, die Burg vor allzu neugierigen Augen zu verbergen.

Gandar von Rodéna ließ seinen Blick rundum wandern, während er versuchte, so viele Einzelheiten wie möglich in sich aufzunehmen.

»Das ist sie also«, sagte er nüchtern. »Die Burg des Verräters.«

»Ich hoffe, du hast recht und wir finden endlich die Beweise, die wir suchen.« Gareth von Cashel hob sein rotes Haar an und tupfte sich umständlich den Schweiß von Gesicht und Hals. »Ich möchte Konrad von Staufen ungern mit leeren Händen gegenübertreten.«

Gandar hob eine Braue. »Du, Gareth? Und dabei dachte ich, ich sei derjenige, der im Falle eines Misserfolgs die Schelte kassiert.« Er hätte es gern mit einem unbekümmerten Grinsen gesagt, aber er brachte keines zustande. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.

»Tja, besser du als ich«, gab Gareth zurück. »Du bist kein Kronvasall. Dir kann es gleichgültig sein, ob du Konrads Missfallen erregst oder nicht. Du hast nichts zu befürchten.«

»Das mag sein«, warf der dritte Reiter, der Sarazene Ahmad ibn Asher Halewi ein. »Aber du kennst den König. An Misserfolgen sind immer die Fremden schuld. Ohnehin glaubt er, wir seien von seinem Vater gesandt, um ihn zu beaufsichtigen.«

»Er kann uns nichts anhaben«, sagte Gareth. »Wir stehen unter dem Schutz Kaiser Federicos.«

»Das ist wahr«, erwiderte Ahmad. »Aber er kann uns mehr Steine in den Weg legen, als gut für uns wäre. Hast du daran gedacht?«

Gareth setzte zu einer Antwort an, aber Gandar schüttelte in wortloser Ablehnung den Kopf und wandte seinen Blick erneut der Burg zu, die wie verlassen in der Mittagshitze lag. Über den Weinbergen flimmerte die Luft. Das an- und abschwellende Summen der Fliegen und das Zischen der Luft, wenn der Schlag eines Pferdeschweifes sie teilte, waren die einzigen Laute im Schweigen dieser Mittagsstunde. Unterhalb der Burg schnitt der Rhein wie ein glitzerndes, in willkürlichen Schleifen und Kehren hingeworfenes Band durch die smaragdgrünen Weinberge.

»Reiten wir zum Fluss hinunter«, sagte Gandar. »Den Pferden wird ein Schluck Wasser guttun.« Er griff nach den Zügeln, wendete seinen Hengst und lenkte ihn auf den staubigen Pfad zurück. Gareth und Ahmad folgten.

Der Graf von Rodéna war ein großer Mann von schlanker, geschmeidiger Gestalt mit festen Muskeln. Er saß ganz entspannt auf dem Pferd, doch hinter der lässigen Haltung lag gespannte Wachsamkeit. Die Haube seines Panzerhemdes war zurückgeschlagen; zerzaustes, graues Haar fiel auf seine breiten Schultern und bildete einen auffälligen Kontrast zu dem dunklen Bart, der sein Kinn bedeckte.

Stunden in der Sonne hatten Falten in seine bronzefarbene Haut gegraben, die von den Augen ausstrahlten. Staub überzog als braunrote Schicht seine Sporen und die sorgfältig verarbeiteten Stiefel. Das Metall der Schienen, die seine muskulösen Beine schützten, war im Laufe der Zeit stumpf geworden. Schmutz und Staub langer Tage im Sattel bedeckte auch die Beinlinge und den verblichenen Wappenrock mit dem Hengstkopf von Rodéna. Das bis zu seinen Knien reichende Kettenhemd dagegen glänzte und zeigte nicht den geringsten Anflug von Rost, ein Umstand, der die Schäbigkeit seiner Bewaffnung umso deutlicher hervorhob. Die Schwertscheide an seiner Seite wirkte abgenutzt und brüchig, als sei sie schon zu lange im Gebrauch. Parierstange und Griff seiner Waffe waren mit schweißfleckigem Band umwickelt. Nur wenige Menschen wussten, was sich unter der unansehnlichen Hülle verbarg: Eine Damaszener Klinge der kostbaren Art, wie sie nur als Geschenk oder Erbstück den Besitzer wechselt.

Der Weg führte jetzt steil bergab. Stampfende Pferdehufe ließen Wolken von Staub aufwirbeln. Vor den Sätteln wippten die Wasserschläuche, an den Gürteln der Männer gluckerten verstöpselte Kürbisse. Immer weiter schlängelte sich die Straße ins Tal hinab, vorbei an Wiesen und Hecken, über eine Brücke und unter einer römischen Wasserleitung hindurch.

Nach einer Wegbiegung glitzerte ihnen die breite Wasserfläche des Rheins entgegen und Gandar lenkte sein Pferd auf das Ufer zu. Bedächtig stieg er aus dem Sattel und ließ die Enden der Zügel zu Boden gleiten, was Atair als Zeichen kannte, am Ort zu bleiben. Er nahm den Schild von der Schulter und lehnte ihn an einen Baumstamm. Während Gareth ihre Kürbisflaschen ausspülte, führte Ahmad die Pferde nacheinander in den Fluss, um sie vor dem Aufstieg zur Burg trinken zu lassen.

Gareth warf einen abschätzenden Seitenblick in Gandars Richtung. »Wieso habe ich das Gefühl, dass du uns seit Längerem etwas verschweigst, Gandar?«, fragte er plötzlich.

Gandar drehte sich mit einer abrupten Bewegung herum und schaute Gareth an, der ihn mit jenem nachdenklichen, halb besorgten Ausdruck musterte, den er in den letzten Tagen oft an ihm beobachtet hatte.

»Du bist so verdammt schweigsam, dass es schon an Unhöflichkeit grenzt. Warum erzählst du uns nicht, was dir Sorgen macht? Es hilft.«

Gandar erwiderte nichts. Er wusste nicht, worauf Gareth hinaus wollte, aber er hatte das Gefühl, dass es mehr war als ein belangloses Gespräch, das nur geführt wurde, um die Eintönigkeit zu vertreiben.

»Ich wollte dich schon lange fragen«, fuhr Gareth fort. »Aber ich habe noch keine Gelegenheit gefunden.«

»Wir haben nicht die Zeit für lange Gespräche.«

»Ich weiß, dass es der schlechteste Moment ist, um darüber zu reden, aber ...«

»Warum tust du es dann?«

»Weil es vielleicht der letzte mögliche Moment ist, Gandar. Ich fürchte, wir reiten hier geradewegs in eine Falle. Du weißt, dass ich dir folge, wohin auch immer du uns führst. Aber ich wüsste schon gerne, warum man gerade uns ausgewählt hat, um ... nach dem Verräter zu suchen.«

Gandar warf seinem Freund einen schnellen Blick zu. »Das wolltest du zuerst nicht sagen.«

»Ich… ach, nichts.«

»Was für eine erbärmliche Antwort.«

Gareth stieß hörbar die Luft aus und wandte den Kopf ab.

»Sei so gut und beantworte meine Frage, Gareth.«

»Na schön, meinetwegen«, willigte Gareth ein. »Weißt du, ich habe mich gefragt, was dich bewogen hat, dieses undankbare Kommando anzunehmen. Der König braucht dich. Wenn Vertrauen heißt, dass man dem anderen glaubt, was er sagt, dann traut er dir sogar. Du hättest ablehnen können. Ich bin sicher, Konrad hätte deinem Wunsch entsprochen.«

»Mein Verhältnis zum König ist kompliziert, Gareth. In erster Linie bin ich ihm unbequem.«

Gareth ballte die Faust, wie um sich damit auf den Schenkel zu schlagen, und ließ die Hand dann mit einem Kopfschütteln wieder sinken. »Himmel Gandar, wir ziehen seit Wochen durch dieses barbarische Land, auf der Suche nach einem Verräter, von dem wir nicht einmal wissen, ob er tatsächlich existiert.«

»Er existiert, glaub mir.«

»Mag sein. Doch was nützt es uns, ihn zu finden? Wir haben in diesem Land keinerlei Befugnisse und der König hat es versäumt, uns damit auszustatten. Warum hast du nicht auf Geleitbriefen bestanden?« Sein Blick haftete bei diesen Worten unverwandt auf Gandars Gesicht.

Gandar zog die Brauen in die Höhe. »Warum sollte ich?«

Gareth lachte grimmig. »Wir sind die Fremden. Wir sind entbehrlich.«

»Stellst du meine Entscheidung infrage, Gareth?«, fragte Gandar. »Du kannst gehen, wenn du willst. Ich halte dich nicht zurück.«

»Nicht streiten, Brüder«, warf Ahmad auf Arabisch ein. »Das ist eurer nicht würdig.«

Gareth schaute erst zu Gandar, dann zu Ahmad. »Ich hasse es, wenn ihr das tut«, sagte er missfällig.

Ahmad runzelte in gespieltem Nichtverstehen die Stirn. »Wovon sprichst du?«

»Stell dich nicht absichtlich dumm, Ahmad. Diese stummen Blicke, die ihr hinter meinem Rücken tauscht. Wie zwei verschworene Brüder, die ihre Geheimnisse nicht mit mir teilen wollen.«

Ahmad wischte seine Beschwerde mit einer ungeduldigen Geste beiseite. »Ich weiß, was du jetzt denkst – aber du irrst dich.«Er reichte Gandar die Zügel seines Pferdes und dieser schwang sich in den Sattel. Anstatt sich jedoch wieder an die Spitze der Gruppe zu setzen, lenkte er seinen Hengst an Gareths Seite. »Du fragst dich, warum ich uns diese scheinbar aussichtslose Suche aufgebürdet habe – gut, ich will es dir sagen. Unsere eigentliche Aufgabe ist es, nach dem geheimnisvollen Dokument zu forschen, das Kaiser Federico unbedingt in seinen Besitz bringen möchte.«

Gareth pfiff durch die Zähne. »So ist das also ...«

»Ja«, sagte Gandar. »Unser Auftrag erfordert strengste Geheimhaltung, wie du sehr wohl weißt. Folglich musste ich mir einen Plan einfallen lassen, der es uns ermöglicht umherzureisen, ohne dass es verdächtig wirkt. Aber da ist noch etwas.«

»Und das wäre?«

»Man hat Kardinal Valo zum päpstlichen Legaten berufen und ihn über die Alpen geschickt, obwohl es mit Philipp von Ferrara schon einen Legaten für das Deutsche Reich gibt«, erwiderte Gandar. »Ich fürchte, dass Valo ebenfalls auf der Suche nach dem Dokument ist. Dieses Schriftstück im Besitz des Kaisers könnte die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern. Das kann der Papst nicht riskieren. Valo ist skrupellos und verschwiegen und damit genau der richtige Mann für heikle Angelegenheiten. Unter dem Deckmantel des Legaten reist er im Land umher und sammelt Informationen. Er darf uns auf keinen Fall zuvorkommen. Genauso wenig, wie er erfahren darf, dass Richard von Glouburg mein Zwillingsbruder ist.«

Gareth riss die Augen auf. »Dein Zwillingsbruder? Grundgütiger! Inzwischen sollte ich wirklich wissen, dass bei dir nichts so einfach ist, wie es oberflächlich betrachtet scheint«, bemerkte er, während sie ihre Rösser auf den schmalen Weg lenkten, der den einzigen Zugang zur Burg gewährte. »Jetzt begreife ich, warum du darauf bestehst, in Verkleidung zu reisen. Nicht auszudenken, welch abergläubischen Schrecken es unter der Landbevölkerung hervorrufen würde, käme dieses Geheimnis ans Licht.«

»So ist es«, bestätigte Gandar. »Obendrein ist mir Kardinal Valo nicht freundlich gesonnen. Er hätte keine Skrupel, Richard als Druckmittel zu benutzen, käme es zu einem Wettlauf um den Besitz des Dokumentes.«

»Weiß der König, dass der angebliche Verräter in seinen Reihen nur eine Erfindung von dir ist?«

»Oh, aber das ist er nicht. Der Verräter existiert. Leider.«

Gareth seufzte. »Nun, dann lasst uns zusehen, dass wir die Burg erreichen.«

Das Bild, das sich den Männern bot, hatte kaum mehr etwas mit dem verschlafenen Eindruck gemein, den die Burg aus der Ferne gemacht hatte. Das Fallgatter vor dem Eingang war heruntergelassen und teilte den Blick auf das Burgtor in Dutzende holz- und nietengesäumter Quadrate. Wachen gingen auf der Befestigungsmauer in Stellung. Helme glitzerten in der Sonne.

Gandar hob die Hand. Ahmad und Gareth zügelten ihre Pferde. Von oben herab ertönte die knappe Frage nach ihrem Begehr. Gandar nickte unmerklich und Gareth trieb sein Pferd an und ritt vor das Tor.

»Bote der kaiserlichen Majestät Fridericus, an den Herrn von Brenneberg!«

Der Wachtmeister verbeugte sich und verschwand.

Die Männer warteten. Gareth sah immer wieder ungeduldig zum Wehrturm hinauf, und gestikulierte auffordernd mit der Hand, doch die Wachen mit ihren Helmen starrten lediglich auf sie herunter, unbeweglich wie Statuen.

Gandar wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sein Pferd, das seine Ungeduld spürte, scharrte mit den Hufen. Hinter sich konnte er Ahmad im Sattel herumrutschen hören.

Endlich begann über ihren Köpfen ein Rumpeln und Quietschen; das Fallgatter erbebte und ruckelte nach oben. Von einem der mächtigen Torflügel wurde die untere Hälfte geöffnet und gab den Blick in ein düsteres, nur von einer rußenden Fackel erhelltes Torhaus frei.

Gandar wartete, bis das Fallgatter knapp die Oberkante des offenen Torflügels erreicht hatte, dann beugte er sich tief über den Hals seines Pferdes und ritt unter den Eisendornen hindurch, ohne die verdutzen Gesichter der Torwachen zu beachten.

Er kam jedoch nicht sehr weit, denn die versperrten Torflügel des Eingangsportals wurden von zwei weiteren Wachposten flankiert, die drohend ihre Spieße kreuzten.

Gandars Herz schien einen schmerzhaften Sprung zu machen. Für den Bruchteil eines Augenblicks stieg Panik in ihm auf, eine unbezwingbare Furcht, die jeden Ansatz klaren Denkens hinwegspülte. Seine Hände schlossen sich um die Zügel, ballten sich zu harten Fäusten. Er hatte geglaubt, endlich über seine Schwierigkeiten mit engen Räumen hinweg zu sein. Aber hier war er nun, und die bloße Nähe von Mauern reichte aus, die gefürchteten Erinnerungen heraufzubeschwören.

Das alles verdanke ich Valo, dachte er bitter. Diesem Ungeheuer an Grausamkeit – diesem wahren Sohn des Übels, an dem Satan, sein Vater, nichts als Wohlgefallen hat. Eines nicht zu fernen Tages werde ich…

Eine Bewegung am Ende des Tunnels ließ ihn aufblicken. Der Wachtmeister war in Begleitung des Burgkaplans zurückgekehrt.

»Herr Gunther bittet darum, Euer Beglaubigungsschreiben sehen zu dürfen«, sagte der Geistliche.

Gandar bewahrte bei aller Anspannung die Ruhe und zog ein gefaltetes Pergament aus seinem Wappenrock. Laut las er das kaiserliche Beglaubigungsschreiben vor und ließ den Kaplan einen Blick auf das anhängende Siegel werfen.

Der Kaplan neigte den Kopf. »Wenn die Herren mir folgen wollen.«

Der Wachtmeister gab den Befehl, das Tor zu öffnen, und der Kaplan führte sie in den inneren Burghof, wo Gunther von Brenneberg sie inmitten seiner Männer erwartete.

Gandar sah den Mann, aber es war die Frau an seiner Seite, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie wirkte groß und langbeinig, obwohl sie eine handbreit kleiner war als der Mann, neben dem sie stand. Sie trug ein mit Ornamenten verziertes Schappel als Kopfputz. Ihr offenes Haar hatte die Farbe von poliertem Kupfer, vermischt mit den dunkleren Tönen von Kastanien und Erde. Sie war ein faszinierendes Geschöpf – jung, und doch mit einem Ausdruck von Reife. Sein Blut pulsierte plötzlich schneller durch seine Adern. Hastig wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Burgherrn zu und glitt aus dem Sattel.

»Willkommen, Herr. Womit kann das Haus Brenneberg einem Abgesandten der kaiserlichen Majestät zu Diensten sein?«

»Wie Ihr unschwer erkennen könnt, sind wir weit gereist«, erwiderte Gandar. »Eine Mahlzeit und eine Schlafstatt kämen uns sehr gelegen.«

»Mein Haus steht zur Verfügung«, antwortete Brenneberg.

Seine Männer jedoch benahmen sich, als hätten sie den Teufel persönlich unter ihrem Dach. Vermutlich hatten sie zu viele Schauergeschichten über die Sarazenen gehört und erwarteten nun, dass Ahmad sie sofort abschlachten würde. Gandar warf ihnen einen grimmigen Blick zu.

»Bezähme dein Herz, mein Bruder«, murmelte Ahmad auf Arabisch. »Mein aufbrausendes Blut duldet nicht, dass du meinetwegen beleidigt wirst. Ich werde im Stall übernachten.«

Pferdeknechte kamen gelaufen, um die Tiere wegzubringen. Ahmad ergriff die Zügel und bedeutete den Knechten mit einer Geste, ihm den Weg zu den Stallungen zu zeigen.

Gunther von Brenneberg lächelte. »Es wäre mir ein Vergnügen, wenn Ihr mir die Ehre geben würdet, mit mir die Abendmahlzeit einzunehmen«, sagte er. Gandar nahm dankend an.

Sie folgten dem Burgherrn durch ein Stiegenhaus in den ersten Stock. Im Saal war es dämmrig und kühl. Diener waren damit beschäftigt, neue Fackeln in die Halterungen an der Wand zu stecken. Als die Männer hereinkamen, verschwanden die Bediensteten durch eine unauffällige Tür an der Rückseite des Saales.

Der Burgherr führte seine Gäste zu einer Gruppe von Stühlen vor dem Kamin und lud sie ein, sich zu setzen. Gandar sah sich verstohlen um. Sein Blick fiel auf ein Schachspiel und er trat an den Tisch, um es sich anzusehen. Aufmerksam betrachtete er die Stellung der Figuren auf dem Brett und erwog in Gedanken die Möglichkeiten der Spieler für den nächsten Zug.

»Spielt Ihr ebenfalls, Herr ...?«, fragte Brenneberg, während er Gandars Schild mit dem Hengstkopf zu den anderen an einen Steinpfeiler des Saales hängte.

»So oft es meine Zeit erlaubt«, erwiderte Gandar und überging dabei die unausgesprochene Frage nach seinem Namen. »Wie ich sehe, verfolgt Ihr eine gewagte Strategie, Herr Gunther. Eurem Gegner dürfte es schwerfallen, seinen König zu retten.«

Brenneberg lachte gutmütig. »Ich muss gestehen, dass ich es bin, der in der Falle sitzt«, erklärte er. »Meine Tochter Gwenfrewi führt die roten Figuren.«

Gandar sah überrascht auf. Brennebergs Tochter, dachte er. Eine schöne Frau, die das Denken in komplizierten Windungen beherrscht. Konnte die Lösung so naheliegend sein? Waren sie zu verblendet gewesen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass eine Frau die Verräterin war?

In seinem Kopf begann sich das Bild zu einem Ganzen zu formen, aber das Muster war noch zu unvollständig, um es zu erkennen. Noch.

 

 

Gwenfrewi von Brenneberg schwankte zwischen Hoffnung und Furcht, als sie in Begleitung einer Magd den Saal betrat. Konnte der dunkle, einschüchternde Fremde der Nachfolger ihrer Mutter sein, auf den sie schon so lange vergeblich wartete? Sie hatte im Hof nur einen kurzen Blick auf ihn werfen können, aber das hatte genügt, um ihr einen Schauer über den Rücken zu jagen. Er war groß und schlank wie ein Wolf und es erschien nicht ratsam, ihm in die Quere zu kommen.

Die Magd stellte Pokale und Wein auf einer Truhe ab und Gwenfrewi griff nach dem Krug, um einzuschenken. Ihr Vater nickte ihr zu. »Dies ist meine älteste Tochter Gwenfrewi. Sie ist es, deren Geschick Ihr gelobt habt.«

»Ich beglückwünsche Euch zu Eurer ausgezeichneten Taktik, mein Fräulein«, sagte der Fremde.

Gwenfrewi machte einen Knicks, hielt die Augen auf den Boden gerichtet und murmelte: »Habt Dank, mein Herr.«

Der Mann hob nachlässig die Schultern. »Trotzdem solltet Ihr Euch Eures Sieges nicht zu sicher sein. Ein kluger und vorausschauender Gegner könnte Euch durchaus noch schlagen.«

»Vielleicht«, erwiderte sie sanft. »Vielleicht auch nicht.«

»Vergebt mir meine Anmaßung, Fräulein, aber ich bin überzeugt, dass ich es könnte«, bemerkte er, während er einen Pokal Wein entgegennahm. Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen, aber seine waldgrünen Augen wirkten unergründlich – und kalt.

Gwenfrewi musterte ihn verstohlen. Sein Blick war nicht so, wie sie es von den Männern der Burgbesatzung gewohnt war. Es war keine Wärme in diesen Augen, kein Willkommen. Nie zuvor hatte sie ein männliches Gesicht gesehen wie das seine. Faszinierend war ein Wort. Erschreckend ein anderes.

Nichts in diesen Gesichtszügen deutete auf Weichheit hin. Die harten Linien um seine Augen und den Mund straften das Lächeln Lügen. Das Kinn war eckig, widerspenstig und hätte äußerst einschüchternd gewirkt, wäre da nicht der kurze Bart gewesen, der ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Und sein Mund war die pure Versuchung, wie geschaffen, ein Mädchen um den Verstand zu küssen …

Nein, nein, nein, dachte sie, das ist ungehörig von mir. Diese Gedanken sind verwerflich. Ich darf nicht, ich darf nicht …

Er musste ihre angespannte Miene bemerkt haben, denn sein Blick ließ ihren nicht los, während er einen tiefen Schluck aus seinem Pokal nahm.

»Nun, Herr Bote, welche Nachrichten bringt Ihr?«, fragte ihr Vater mit einem ungeduldigen Unterton in der Stimme.

»Verzeihung. Kennt Ihr Euch mit der Politik am königlichen Hof aus?«

»Gott bewahre! Bei Politik halte ich mich lieber heraus. Es gibt in diesem Land zu viele kleine und große Herrscher und zu viele Machtinteressen. Ich verabscheue diesen ganzen Sumpf. Politik bedeutet, dass Höfe in Flammen aufgehen und Burgen belagert werden und … Gut, Ihr werdet einen Grund haben, mich mit diesen Dingen zu quälen. Sprecht also.«

»Es geht um das Konzil in Lyon und den Papst, der sich anmaßt, den rechtmäßigen Kaiser abzusetzen. Innozenz schäumt und bezichtigt Friedrich des Eidbruchs und häretischer Glaubensvorstellungen. Was nicht der Wahrheit entspricht.«

»Wie man hört, wirft seine Heiligkeit ihm seine Kontakte zu sarazenischen Herrschern und den Verkehr mit Sarazenen-Mädchen vor. Und damit hat er recht. Es ist unmoralisch und ein schlechtes Beispiel. Trotzdem hätte der Papst das Friedensangebot des Kaisers annehmen sollen«, brummte Brenneberg. »Ich mag diese ewigen Grabenkämpfe nicht. Warum kann nicht alles bleiben, wie es ist? Ich will Ruhe. Nichts als meine Ruhe.«

»Die werdet Ihr nicht bekommen.«

Brenneberg, der bisher gestanden hatte, ließ sich auf einem der Faltstühle nieder und bedeutete den Männern mit einer Handbewegung, seinem Beispiel zu folgen.

»Meine Antwort gefällt Euch wohl nicht? Erscheint es Euch verwerflich, wenn ich mit den Differenzen der hochgeborenen Herren nichts zu tun haben möchte?«

»Nun, nicht verwerflich …«

»Aber?«

»Nutzlos«, sagte der Fremde. »Ihr steht überall in dem Ruf, ein treuer Anhänger des Kaisers und seines königlichen Sohnes zu sein. Oder habe ich etwas Falsches gehört?«

Gwenfrewi starrte ihn überrascht an. Sie spürte unwillkürlich etwas von der unheilvollen Drohung, die in der scheinbar achtlos hingeworfenen Frage verborgen war. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es nicht ratsam wäre, sich diesen Mann zum Gegner zu machen. Er würde einen gefährlichen Feind abgeben – mächtig und seiner selbst sicher.

»Euren Mangel an Höflichkeit will ich Euch für diesmal noch nachsehen, mein Herr«, entgegnete Brenneberg schneidend. »Allerdings tätet Ihr gut daran, mir einen Beweis zu liefern, dass Ihr tatsächlich ein Bote des Kaisers seid. Meinen Kaplan könnt Ihr mit Euren Siegeln vielleicht beeindrucken. Mich nicht.«

»Könnt Ihr lesen?«

Brenneberg nickte. »Sicher.«

»Ausgezeichnet.« Der Fremde zog ein in Leder eingeschlagenes Päckchen unter seinem Kettenhemd hervor, öffnete die Verschnürung und entnahm ein dünnes Bündel Pergamente, dessen Oberstes er seinem Gastgeber reichte.

»Was ist das?«

»Eine Urkunde, die meine Stellung als Abgesandter des Kaisers bestätigt. Gewiss erkennt Ihr das Siegel Seiner Majestät? Und hier …«, der Mann zupfte weitere Blätter aus dem Stapel und reichte sie dem Burgherrn, »... ein Rundschreiben des Kaisers an seine deutschen Fürsten. Ergänzt durch persönliche Notizen, die ich während der Reise niedergeschrieben habe. Sie dürften Euch interessieren, da sie die Gründe aufzeigen, warum die Wahl Heinrich Raspes zum König als ungültig angesehen werden muss.«

»Ihr wart dort?«

»Allerdings. Der Kaiser hat mich beauftragt, ihm alles zu berichten, was in diesem Land vorgeht, nach Möglichkeit aus eigener Anschauung. Gut für Euch, dass Ihr Euch geweigert habt, an dieser Farce teilzunehmen.«Brenneberg verschränkte die Arme. »Ich weigere mich«, erklärte er, »da es auf deutschem Boden schon einen rechtmäßig gewählten König gibt.« Er brach ab. Kopfschüttelnd blätterte er die Pergamente durch und zog schließlich ein eng beschriebenes Blatt aus dem Stapel, um es zu überfliegen.

Gwenfrewi spähte verstohlen über seine Schulter. Viele der größten Herren im Lande konnten nicht einmal ihren Namen schreiben oder lesen … und dieser Mann hier schrieb ganze Berichte, obendrein in einer ordentlichen, gestochenen klaren Schrift, wie sie üblicherweise nur Kleriker beherrschten?

Zögernd schob Brenneberg den Bericht wieder in den Stapel zurück, nahm sich stattdessen den Brief des Kaisers vor und studierte ihn schweigend.

Gwenfrewi rückte unauffällig näher an ihren Vater heran, in dem Versuch, den Inhalt des Briefes zu erhaschen.

»Grundgütiger«, sagte Brenneberg plötzlich. Er ließ das Blatt sinken und starrte seinen Gast an. »Ihr seid Gandar, Graf von Rodéna? Der Gandar von Rodéna?«

Der Angesprochene zog die Brauen in die Höhe, sagte aber nichts.

Brenneberg trank, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Dann fuhr er fort: »Eure Tat hat den Rheingau in zwei Lager gespalten. Die einen zollen Euch Beifall für Euren Mut, die anderen halten Euch für einen Brandstifter, der die gottgewollte Ordnung infrage stellt.«

Rodéna schnaubte. »Keine Frau verdient, halb zu Tode geprügelt zu werden, weil sie einen schärferen Verstand besitz als ihr Ehemann.«

»Die Sache ging Euch nichts an.«

»Nein«, widersprach der Graf entschieden. »Was ich gesehen habe, war das abscheuliche Verhalten eines Feiglings, der nicht den Mut aufbringt, sich einen ebenbürtigen Gegner zu suchen. Es war meine Pflicht, die Frau zu verteidigen.«

»Hm.« Brenneberg wiegte den Kopf hin und her. »Ich fürchte, Ihr habt Euch einen unversöhnlichen Feind geschaffen.«

Rodéna zuckte die Schultern. »Das bekümmert mich nicht.«

»Ich muss sagen, Ihr seid wirklich über die Maßen galant zu den Damen, mein Herr«, spottete Brenneberg und wandte sich wieder den Pergamenten zu.

Gwenfrewi biss sich auf die Lippen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wenn dies der Mann war, dem die Sänger und Geschichtenerzähler den Beinamen Löwe von Rodéna verliehen hatten, konnte er unmöglich der Mann sein, der die geheimen Aufgaben ihrer Mutter übernehmen sollte. Seine ungeheuerliche Tat machte ihn zum Hauptgesprächsthema in den Gesindekammern. Oder gehörte dies zu seiner Tarnung? Hatte man ihn ausgewählt, weil er so ehrenhaft wirkte, dass niemand ihm zutraute, ein Spion zu sein?

Gwen schluckte trocken. Wie gerne hätte sie jetzt ihren Vater um Rat gefragt. Doch dieser ahnte nichts von dem Vermächtnis, das seine Gemahlin ihrer ältesten Tochter hinterlassen hatte. Ohne es zu wollen, war sie Teil einer streng geheimen Organisation geworden, die im ganzen Reich Nachrichten für die königliche Kanzlei sammelte. Die Aufgabe war ihr zuerst recht einfach erschienen. Sie musste Botschaften entgegennehmen und aufbewahren, bis der Nachfolger der Gräfin eingetroffen war. Doch inzwischen lag der Tod ihrer Mutter ein halbes Jahr zurück, ohne dass sich etwas getan hatte. Keiner der möglichen Kandidaten hatte auf das geheime Zeichen reagiert und Gwen quälte die Sorge, dass ihr Dilemma in der königlichen Kanzlei noch gar nicht bemerkt worden war. Vielleicht war ihr Gast ja der Gesuchte, aber Gwen war sich keineswegs sicher, ob ihr der Gedanke gefiel. In der Notwendigkeit, eine Entscheidung treffen zu müssen, stand sie da und starrte blicklos auf das Schachspiel vor dem Kamin. Sie wusste, was sie ihrer Mutter schuldig war und es gab keinen Weg, sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Sie griff nach dem Weinkrug und ging herum, um die Pokale der Männer nachzufüllen. Während sie einschenkte, drehte sie die linke Hand so, dass der auffällige Ring an ihrem Finger nicht zu übersehen war. Aber Rodéna schien gar nicht auf ihre Hände zu achten. Jedenfalls deutete nichts darauf hin, dass er den Ring erkannte.

Gwenfrewi seufzte kaum hörbar. Darüber sollte ich doch eigentlich erleichtert sein, oder? Aber das bin ich nicht … Vielmehr denke ich, dass ich ihn gerne wieder gesehen hätte … Jesus, was für ein Durcheinander …

Beinahe fluchtartig zog sie sich an den Spieltisch zurück und beschäftigte sich mit dem unterbrochenen Schachspiel.

 

Inzwischen hatte Brenneberg seine Lektüre beendet und gab die Pergamente an seinen Gast zurück. »Mir scheint, der kaiserliche Hof ist zu einem Wespennest verkommen«, bemerkte er. »Wenn selbst der Kaiser seines Lebens nicht mehr sicher ist ...«

»Es war eine Verschwörung, die mit Wissen und ausdrücklicher Billigung des Papstes in Gang gesetzt wurde«, sagte Rodéna. »Der Kaiser hatte Glück, dass der Anschlag im letzten Moment vereitelt werden konnte.«

»Grundgütiger!«

»Da ist noch mehr. Zeitgleich gingen Botschaften zwischen Mainz und einer der Rheinburgen hin und her, die einen Anschlag auf König Konrad zum Thema hatten.«

»Einer der Rheinburgen? Wie soll ich das verstehen, mein Herr? Rheinburgen gibt es viele. Drückt Euch ein wenig präziser aus, wenn es genehm ist.«

Rodéna antwortete nicht, aber sein Schweigen war beredt.

»Ihr glaubt, dass ich …« Brenneberg hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er sprang auf und stapfte aufgebracht durch den Saal. »Der Kaiser denkt, ich habe mich in ein so schändliches Unternehmen hineinziehen lassen? Das ist widerwärtig!«

Rodéna hob seine Hand. Und obwohl er ein wenig abgerissen aussah – die Geste war die eines Mannes, dem man gehorchte. »Ich erinnere mich nicht, den Namen Brenneberg erwähnt zu haben. Wie kommt es, dass Ihr sogleich auf Euch schließt, mein Herr?«

Brenneberg nahm einen tiefen Schluck aus seinem Pokal. »Euer Schweigen war kaum anders zu verstehen.«

»Nur ein getroffener Hund bellt.«

»Ich bin kein Intrigant, der sich beliebig vor jeden Karren spannen lässt. Mit diesem angeblichen Mordbrief habe ich nichts zu tun.«

»Schön. Habt Ihr Zeugen, die das bei Bedarf beschwören könnten?«

»Wollt Ihr mir drohen?«

Rodéna strich sich mit dem Daumen übers Kinn. »Betrachtet es als wohlmeinende Warnung. Ihr mögt vielleicht selbst nichts mit dem Brief zu tun haben – aber Ihr könntet Euch schneller in der Rolle des Sündenbocks wiederfinden, als Euch lieb ist. Es gibt einen päpstlichen Spion in Eurem Haushalt.«

Brenneberg hätte sich um ein Haar an seinem Burgunder verschluckt. »Wie bitte? Einen päpstlichen Spion?«, fragte er röchelnd, schlug sich ein paar Mal mit der Faust vor die Brust und hustete.

»Der Gedanke ist Euch wohl noch gar nicht gekommen? Was seid Ihr doch für ein Unschuldslamm …«

Entgeistert starrte Brenneberg ihn an. »Wer ist es?«

»Das findet Ihr besser heraus, bevor die nächste Geheimbotschaft ihren Empfänger erreicht.«

Brenneberg seufzte und streckte den Arm aus. »Schenk ein, Tochter!«

Gwenfrewi erhob sich, um den Pokal ihres Vaters nachzufüllen. Dabei dachte sie über das Gehörte nach. Konnte diese Angelegenheit mit dem Verschwinden ihres Kontaktmannes zusammenhängen? Hatte man ihn beseitigt, weil er zu viel wusste oder war er womöglich mit den Verschwörern im Bund gewesen? Was sollte sie jetzt tun? Dass sie etwas unternehmen musste, stand außer Frage.

Wolfram von Milanes, sagte ihr eine innere Stimme. Er war der einzige Mann in ihrer Umgebung, der noch als Verbindungsmann zur königlichen Kanzlei infrage kam. Wolfram war ein entfernter Vetter ihrer Mutter, der sich als Dauergast in Brenneberg eingenistet hatte. Gerade an diesem Morgen hatte er ihr eine Nachricht zukommen lassen, in der er sie dringend um ein geheimes Treffen ersuchte. Das war einfach zu passend, um noch als Zufall durchzugehen.

Sollte sich ihre Vermutung als zutreffend erweisen, war ihr Problem jedoch schwerwiegender, als sie angenommen hatte. Sie konnte sich keineswegs innerhalb der Burgmauern mit ihm treffen. Hier gab es einfach zu viele Augen, die beinahe jeden ihrer Schritte beobachteten. Wie leicht konnte ein falscher Verdacht entstehen, der ihr die Ausführung ihrer Aufgabe unmöglich machte. Sie musste einen Ort finden, der zwar außerhalb der Burgmauern lag, aber leicht zu erreichen war.

Nachts alleine durch den Wald laufen? Schauderhafte Vorstellung.

Du weißt, was du zu tun hast. Einen anderen Weg gibt es nicht.

Mutter! Muss ich wirklich?

Sicher. Die Zeit drängt. Es ist deine Aufgabe, die Verbindung aufrecht zu halten. Nachrichten müssen zuverlässig weitergegeben werden. Du willst doch sicher nicht dafür verantwortlich sein, wenn dem König etwas zustößt, weil er nicht gewarnt wurde?

Gwen hätte am liebsten geseufzt, aber sie unterdrückte den Impuls gerade noch rechtzeitig. Der Gedanke, sich in der Dunkelheit aus der Burg zu schleichen, um Wolfram von Milanes zu treffen, behagte ihr ganz und gar nicht – aber was blieb ihr übrig?

Vor Dir, Gott, allmächtiger Vater bekenne ich meine Schuld … Die Worte dröhnten in ihren Ohren, obwohl sie sie nur in Gedanken sprach. Seit beinahe drei Monaten hatte sie nicht mehr gebeichtet, hatte die Schuld der Verstocktheit zu ihren Sünden hinzugefügt und heute Nacht würde die Liste ihrer Verfehlungen noch weiter anwachsen. Gott, wie sollte sie das nur jemals beichten?

Gwenfrewi schreckte auf und stellte fest, dass der Bote schon eine ganze Weile sprach, ohne dass sie seine Worte wirklich wahrgenommen hatte.

»… Federico lässt die Verschwörer unerbittlich verfolgen. Gnadengesuche sind weder erwünscht, noch gestattet. Der Kaiser ist einmal zu oft herausgefordert worden. Gefangene Frauen werden verbrannt oder eingekerkert. Den Männern droht Folter und Verstümmelung – bevor man sie in Säcke genäht im Meer ertränkt ...«

Sie sah zu dem Boten hinüber und studierte sein Gesicht. Ob ihn etwas von dem, was er da gerade erzählt hatte, berührte? Oder war er so kalt, dass Leiden und Schmerzen ihm nicht nahe gingen? Es gelang ihr nicht, diese Frage zu beantworten.

»Ich hoffe, Euch sind meine Geschichten nicht unangenehm«, sagte Rodéna.

Gwenfrewi schüttelte den Kopf. »Ich weiß gern, was vorgeht in der Welt.«

Rodéna sah sie an. Mit einem Blick, der eine Woge der Wärme durch ihren Körper sandte. »Nun, dann hoffe ich, dass ich Eure Wissbegierde stillen konnte.«

»Ja. Danke«, murmelte sie atemlos. Sie fühlte sich mit einem Mal schwindelig und krank und wusste nicht, welche Krankheit das war. Sie fühlte vage, dass die Heilung dieser Krankheit dort lächelnd neben ihrem Vater saß. Sie erhob sich eilig und bat um Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen. Sie müsse das Auftragen der Abendmahlzeit überwachen.

 

»Wie wollt Ihr vorgehen?«, fragte Gandar, nachdem Gwenfrewi hinausgeeilt war.

»Das weiß ich noch nicht«, seufzte Brenneberg. »Seht Ihr, die Angelegenheit ist weitaus komplizierter, als Ihr wissen könnt.«

»Inwiefern?«

»In weniger als zwei Wochen siedelt meine Tochter in die Burg ihres zukünftigen Gemahls über. Der König selbst hat die Ehe arrangiert, deshalb kann sie nicht daherkommen wie eine Bettlerin. Sie braucht eine standesgemäße Eskorte zu ihrem Schutz. Obendrein gebietet die Höflichkeit, dass ich sie dem Bräutigam persönlich übergebe. Ich habe nicht genügend Männer, um an zwei Stellen gleichzeitig zu sein.«

»Dann seht zu, dass Ihr den Spion entlarvt, bevor er sich im Gefolge Eurer Tochter davonmacht«, sagte Gandar.

Brennebergs Antwort bestand aus einem dünnen Lächeln. Aber er schluckte die Bemerkung hinunter, die ihm ganz offensichtlich auf der Zunge lag, und rief nach mehr Wein.

Knechte strömten herein und begannen mit den Vorbereitungen zum Mahl. Während die Tafel aufgebaut wurde, unterhielt sich Gareth mit Brenneberg, aber Gandar hörte nicht hin. Er war damit beschäftigt, Gwenfrewi anzusehen, die mit einem frischen Krug Wein in der Hand auf ihn zukam. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Das ist unmöglich, dachte er. Völlig unmöglich … ich sehe sie nur an und …

So hatte er sich noch nie gefühlt. So, als müsse sein Mund dauernd lächeln und gleichzeitig voll tiefer Trauer. Was geschah nur mit ihm?

Gwenfrewi war schön, sicher. Aber es war nicht die zarte, zerbrechliche Schönheit, die in den Romanzen der Spielleute gepriesen wurde. Sie besaß eher die blühende Gesundheit und die lebhaften Farben eines Mädchens, das sich viel im Freien und in der Sonne aufhielt. Er hoffte für sie, dass ihr zukünftiger Gemahl lebhafte Farben mochte.

Eine Glocke rief die Burgleute zu Tisch und der Saal füllte sich mit Menschen. Ihre Haltung wirkte vollkommen gelassen, aber Gandar entgingen die verstohlenen Blicke nicht, die sie ihm und Gareth zuwarfen.

Gandar lächelte wehmütig. Wenn er Pech hatte, wusste inzwischen die ganze Burg, wer oder was er war. Gareth sonnte sich in dem Ruhm, den sie ernteten, doch Gandar war die Aufmerksamkeit lästig.

Brenneberg sprach das Tischgebet. Wasserschüsseln und Tücher wurden gereicht, danach folgten die Speisen. Die Pagen traten in Reihen vor den Herrentisch, was dort nicht gewünscht wurde, winkte Brenneberg weiter. Es gab sauer zubereiteten Fisch und gefüllte Tauben, Eier auf Spießen, dazu scharfe Brühe und ein Mus aus dicken Bohnen mit Kräutern.

Die Mahlzeit verlief in angenehmer Stimmung. Gareth sorgte mit einigen Anekdoten vom königlichen Hof für Staunen und Heiterkeit am Herrentisch. Gandar dagegen beschränkte sich darauf, still zuzuhören und die Tochter des Hauses zu beobachten. Gwenfrewi gab sich den Anschein, ausschließlich mit ihrem Essen beschäftigt zu sein, doch Gandar bemerkte, dass sie sich kein Wort von Gareths Bericht entgehen ließ. Unauffällig lenkte er das Gespräch auf Fragen der Reichspolitik, ein Thema, bei dem sich Frauen für gewöhnlich langweilten. Doch, statt zu erlahmen, schien sich Gwens Interesse zu steigern. Das war bemerkenswert.

Brenneberg trank bedächtig einen Schluck Wein und musterte Gandar. »Wir haben ein Gerücht gehört, mein Herr. Ist es wahr, dass Heinrich Raspe einen Hoftag in Franchenfurt abzuhalten gedenkt?«

»Die Vermutung liegt nahe«, antwortete Gandar. »Er wurde zwar auf Drängen des Papstes und mit Unterstützung der Erzbischöfe von Mainz und Köln zum Gegenkönig gewählt. Doch Konrad denkt nicht daran, seinen Thronanspruch aufzugeben.«

Brenneberg verengte die Augen. »Jesus … sie alle haben die Macht vor den Glauben gesetzt.«

Gandar zuckte ungerührt die Schultern. »Es ist kein Geheimnis, dass Raspe die Bereitschaft, sich zur Wahl aufstellen zu lassen mit einer Zuwendung der Kirche in beträchtlicher Höhe versüßt wurde.«

Brenneberg schnaubte. »Kaiser und Papst müssen dazu gebracht werden, ihre Herzen wieder zu öffnen und ihre Demut vor Gott anzuerkennen«, sagte er. »Der Kaiser muss ein Zeichen setzen, das den Heiligen Vater dazu zwingt, ihn als Bruder in die Arme zu schließen.«

»Wie stellt Ihr Euch das vor?«, fragte Gandar. »Federico ist schon mehrfach auf den Heiligen Stuhl zugegangen. Genützt hat es ihm nichts.«

Brenneberg zog eine Braue in die Höhe. »Was ist mit Raspes Wahl? Ist sie rechtens?«

Bedächtig wischte Gandar mit einem Brotstückchen Soße aus seiner Schüssel, während er über Brennebergs Frage nachdachte. »Einmal abgesehen von der schier erdrückenden Überzahl wahlberechtigter Kirchenfürsten, lässt sich die Sache theoretisch nicht anfechten. Heinrich ist jedoch offiziell noch nicht zum König gekrönt. Was, wenn es nach Konrad geht, auch niemals geschehen wird.«

»Und Raspe?«, wollte Brenneberg wissen. »Wisst Ihr etwas über seine Pläne?«

»Heinrich versucht, die Stadtväter von Franchenfurt für sich einzunehmen, indem er ihnen Privilegien und den Händlern gute Gewinne verspricht, wenn sie ihm ihre Tore öffnen. Wenn sie klug sind, lassen sie sich davon nicht blenden.«

Gandar winkte einen Diener mit einer Wasserschüssel heran, säuberte sich die Hände und trocknete sie mit dem dargereichten Tuch ab. »Es war ein langer Tag. Wenn Ihr erlaubt, würden wir uns gerne zurückzuziehen.«

»Oh«, machte Gwenfrewi. »Wie schade. Dann darf ich wohl nicht auf eine Schachpartie gegen Euch hoffen?«

Gandar betrachtete sie amüsiert. »Höre ich da ein gewisses Missfallen in Eurer Stimme, mein Fräulein?«

»Ich würde nie wagen, so etwas zu äußern, Herr Ritter.«

»Akzeptiert«, sagte er lächelnd.

»Akzeptiert was?«

»Euren Fehdehandschuh. Ich glaube, Ihr habt soeben einen Handschuh geworfen.«

Gandar griff nach seinem Weinbecher und machte eine einladende Geste Richtung Spieltisch. »Nun denn. Wollen wir?«

 

 

Sie folgte ihm und nahm ihm gegenüber Platz. Eine Weile beschäftigten sie sich schweigend mit ihren Spielfiguren. Gwen fand ein stilles Vergnügen darin, zu beobachten, wie ihr Gast mit gerunzelter Stirn über den Figuren brütete. Bedächtig nippte sie an ihrem Wein und verbarg ihr Lächeln hinter dem Becher. Wie kam es nur, dass sie es mit einem Mal kaum erwarten konnte, sich mit ihm zu messen?

»Bitte, mein Herr, macht Euren Spielzug«, forderte sie ihn auf.

Er streckte die Hand aus, ließ sie mehrere Herzschläge über dem Spielfeld schweben, als könne er sich nicht für ein bestimmtes Vorgehen entscheiden. Als er schließlich eine Figur bewegte, entrang sich ein enttäuschter Seufzer ihrer Kehle. Sein Spielzug war ungeschickt und ermöglichte ihr, seinen Bischof zu schlagen.

»Wie schade«, sagte sie. »Einen Moment lang hoffte ich, Ihr würdet es mir nicht so leicht machen.«

»Al’atrash fi alzifa«, murmelte er.

»Mein Herr, ich verstehe nicht …«

»Das macht nichts. Es war nicht wichtig …« Mit seinem nächsten Spielzug schlug er ihren Ritter aus dem Feld.

»Ach! Ihr!«, jammerte sie. »Ihr habt eine unfeine Art abzulenken.«

»Das lag nicht in meiner Absicht.«

»Nun, dann sagt mir doch wenigstens – was für eine Sprache ist das, die Ihr da benutzt habt? Dergleichen kennt man hier nicht.«

»Es war Arabisch.«

»Es klang wie – ein Lied«, murmelte Gwen. »Nach Sonne und Wärme. Spricht man es dort, wo Ihr herkommt?«

»In Rodéna? Ja. Unter anderem.«

»Ist es schön da?«

Er hob den Kopf und sah sie an. »Stellt Ihr Euren Gegnern immer so viele Fragen?«, erkundigte er sich mit leiser Belustigung in der Stimme.

»Vergebt mir.« Gwen nahm ihre geschlagene Figur vom Feld und drehte sie in den Händen. »Aber ich wüsste wirklich gerne, wo Ihr herkommt.«

Diesmal schien sein Lächeln eine neue Qualität zu erhalten, es war ein Lächeln, in dem so viele unausgesprochene Dinge mitschwangen, die in ihrem Kopf herumflatterten wie Schmetterlinge. Fasziniert beobachtete sie, wie seine schlanken Finger langsam und sinnlich über das Holz seiner Königin strichen. Wie sich diese Finger wohl auf ihrem Körper anfühlen mochten?

Seine Mundwinkel verzogen sich spöttisch, so als wisse er, an was sie gerade gedacht hatte, und sie fühlte verräterische Hitze in ihre Wangen steigen. Diese Gefühle, die sich in Bezug auf Gandar von Rodéna so schnell eingestellt hatten, irritierten sie. Sie fühlte sich sicher im Umgang mit ihm – und gleichzeitig auf völlig fremden Terrain. Hastig beugte sie sich über das Spielfeld und konzentrierte sich auf ihren nächsten Zug.

Scharf und gezielt griff sie seine Figuren an. Er wich der Bedrohung aus, konnte jedoch nicht verhindern, dass sie ihm eine weitere Spielfigur abjagte. Sie fand es schwer, ihr Lächeln nicht in ein siegessicheres Grinsen umschlagen zu lassen. Gleich habe ich dich, formulierte sie in Gedanken und war überrascht, welche Genugtuung diese Überzeugung in ihr wachrief. »Vielleicht solltet Ihr besser aufgeben, mein Herr«, schlug sie ihm vor.

»Und warum, wenn ich fragen darf?«

»Weil es klüger wäre – und weniger beschämend als eine vollständige Niederlage – ich möchte Euch nur ungern eine solche Schmach zufügen …«

»Verkauft das Huhn nicht, bevor Ihr es geschlachtet habt«, gab er in gespielter Empörung zurück.

Gwenfrewi lachte – ein glucksender, glockenheller Laut, der die seltsamsten Dinge mit Gandars Körper anstellte. Ein nie gekanntes Verlangen überkam ihn – es verbrannte seine Selbstbeherrschung zu Asche, ließ in seinem Kopf nur Raum für einen einzigen Gedanken. Er wollte sie berühren – ihre Wangen, den Hals, ihre Schultern, den Ansatz ihrer Brüste … Langsam neigte er sich ihr entgegen, hob die Hand, um eine ihrer Kupferlocken …

Es war Gareth, der ihn rettete, indem er ihm übertrieben fröhlich auf die Schulter klopfte und eine Bemerkung zum Spielstand machte.

Himmel, dachte Gandar benommen, wollte ich sie tatsächlich gerade – berühren? Hier mitten in der Halle, mit den Burgleuten als Zuschauer? Was zur Hölle ist denn nur in mich gefahren?

Mehrere Herzschläge lang starrte er ausdruckslos vor sich hin, senkte dann den Blick und schluckte schwer.

»Ist Euch nicht wohl, mein Herr?«, fragte Gwenfrewi besorgt.

Gandar schüttelte langsam den Kopf. »Mir geht es gut. Bitte fahrt fort. Ihr seid am Zug.«

Energisch griff sie nach ihrem Turm und bewegte ihn vorwärts.

»Mein Fräulein, Ihr seid wirklich eine unerbittliche Gegnerin«, sagte er, als sie ihm einen weiteren Bauern wegnahm.

»Nun, ich fürchte, Eure Niederlage lässt sich nicht mehr aufhalten, mein Herr.« Ein triumphierendes Lächeln lauerte in ihren Mundwinkeln, unschlüssig, ob es sich tatsächlich zeigen sollte. Ungeduldig wartete sie, bis er seinen Spielzug abgeschlossen hatte. Hob die Hand, um nach ihrem Läufer zu greifen. Und verharrte mitten in der Bewegung über dem Spielfeld.

»Matt«, sagte Gandar. Ganz sachlich.

Sie starrte verwirrt auf das Spielfeld. »Ich sehe, was Ihr meint«, sagte sie düster. »Demnach habt Ihr mich die ganze Zeit zum Narren gehalten, richtig? Das war sehr unfein von Euch.«

»Ich bitte um Vergebung.« Er griff nach ihrer Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Die Berührung ließ seine Finger prickeln und er hatte das Gefühl, dass sie verbrannt wurden. »Es war nicht leicht, Euch zu schlagen. Ich bedaure, wenn ich Euch damit Kummer bereitet habe.«

Sie kaute nachdenklich auf ihrer Lippe. »Es war eine von langer Hand gestellte Falle, nicht wahr? Ihr habt in Kauf genommen, wie ein Narr dazustehen, um mich in Sicherheit zu wiegen.«

Gandar verbeugte sich vor ihr. »Ich bekenne mich in allen Punkten schuldig.«

Brenneberg näherte sich, um den Ausgang der Schachpartie zu erfahren. »Habt Ihr tatsächlich verloren, Tochter! Na, das ist aber einmal ein seltenes Ereignis. Denkt nicht, dass ich darüber allzu traurig bin!«

»Nein, Herr Vater«.

»Nun schmollt nicht, Kind. Begebt Euch lieber zu Bett. Es ist spät.«

»Ja«, sagte Gandar und wechselte einen Blick mit Gareth. »Wir würden uns jetzt ebenfalls gerne zurückziehen.«

Brenneberg nahm einen Kerzenhalter vom Tisch. »Ich zeige Euch Euren Schlafplatz, meine Herren.«

»Empfangt meine Wünsche für eine gute Nacht, mein Fräulein«, sagte Gandar.

Gwenfrewi antwortete nicht. Aber er konnte ihren Blick in seinem Rücken spüren, bis die Tür hinter ihm zugefallen war.

 

Gwenfrewis ältliche Kinderfrau Berta erschien mit einem Licht und führte sie in ihre Schlafkammer.

»Ihr seid blass, Kind«, sagte Berta, während sie ihrer Herrin aus dem schweren Gewand half. »Was fehlt Euch?«

»Nichts, Berta. Ich bin nur müde. Hast du die Bauernkleidung beschafft, um dich ich dich gebeten hatte?«

»Ja, Herrin. Wenn auch nicht gern. Es ist heute besonders gefährlich da draußen …«

»Berta, bitte! Du sprichst in Rätseln. Was ist ausgerechnet heute anders als sonst?«

»Es ist Sommersonnenwende«, sagte Berta. »Heute Nacht besäuft man sich und schlägt über die Stränge. Da könnt Ihr von Glück sagen, wenn Ihr nicht augenblicklich mit nacktem Hintern auf dem Boden zappelt – aber was rede ich, Ihr verbittet Euch ja jede Begleitung …«

»Ich nehme meinen Dolch mit.«

»Ein Messer gegen Bauernfäuste? Kind, wo habt Ihr nur Euren Kopf!«

»Sicher wird Herr Wolfram nicht zulassen, dass mir etwas zustößt.«

»Herrin, bitte geht nicht.«

»Ich muss aber«, murmelte Gwenfrewi. »Ich muss einfach. Es war der letzte Wunsch meiner Frau Mutter. Ich habe ihr versprochen, ihre Arbeit weiterzuführen.«

»Geht ein andermal. Bitte.«

»Schluss jetzt, Berta. Weck mich rechtzeitig vor Sonnenaufgang. Und dass du es mir ja nicht – ganz aus Versehen natürlich – vergisst.«

Gwenfrewi

 

 

Gwenfrewi

 

Gwenfrewi verließ die Burg durch eine alte, in Vergessenheit geratene Tür in der Sattelkammer. Sie durchquerte den Obstgarten und erreichte eine Pforte in der Burgmauer, durch die man in die Weinberge gelangte. Sie duckte sich hinter die Reben und sah zum Wehrgang hinauf, um sich zu vergewissern, dass sich der Wächter gerade auf dem von ihr abgewandten Teil seiner Runde befand. Geduckt eilte sie an den Rebenreihen entlang, bis sie den Rand des Weinbergs erreichte. Sie wollte schon aus der Deckung der Weinstöcke hervortreten, als anschwellendes Getöse sie erschrocken innehalten ließ.

Süßer Jesus, dachte sie, das übertrifft bei Weitem Berthas Beschreibung ... Gwenfrewi starrte auf die ausgelassenen Menschen. Rund um das hoch auflodernde Feuer

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Máire Brüning
Cover: Bildquelle: Masson/Shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2013
ISBN: 978-3-7487-6941-5

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