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Leseprobe

 

Das Buch:

Sizilien 1254

Als ihr Onkel Gandar auf unerklärliche Weise verschwindet, bricht für Roana eine Welt zusammen. Schnell wird ihr klar, dass Eile geboten ist, wenn sie ihren Onkel lebend wiedersehen will. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als Rafael um Hilfe zu bitten, einen Mann, dem man nachsagt, ein skrupelloser Mörder zu sein. Rafael hat überhaupt kein Interesse daran, sich mit der unnahbaren Grafentochter abzugeben, doch Herzog Gandars Verschwinden ist in der Tat ein Notfall. Gemeinsam gehen sie auf Spurensuche, aber schnell gerät Roana in einen Strudel aus Intrigen, Eifersucht und roher Gewalt. Ihr Leben ist in Gefahr - und während Rafael sich aufmacht, um sie zu retten, muss er erkennen, wie sehr Roana sich schon in sein Herz geschlichen hat ...

 

 

 

Die Autorin:

Máire Brüning, geboren 1966 wuchs in einer Region auf, die reich an Zeugnissen staufischer Baukunst ist. Dadurch begeisterte sie sich schon als Kind für alte Ruinen, Sagen und Ritterrüstungen; ihre Leidenschaft für Geschichte und das Mittelalter führte sie schließlich zum historischen Roman. Nach einigen Wanderjahren als Floristin quer durch Deutschland lebt und arbeitet Máire Brüning in der Nähe von Frankfurt. Von Máire Brüning sind bereits erschienen:

Roana
Tage der Trauer (Sequel 1 zu Roana)
Wie ein Siegel auf dein Herz Teil 1
Wie ein Siegel auf dein Herz Teil 2
Die Braut des Medicus
Der Schatz des Venezianers
Vetitum Teil 1

 

 

Dramatis Personae

 

Historische Personen sind mit einem * gekennzeichnet.

 

Die Hauptpersonen

Roana Isabella von Morra

Rafael, gen. Malik al Maut (Engel des Todes)

Gefährten und Freunde

Gandar von Rodéna, Herzog von Rodi, Roanas Oheim und Rafaels Ziehvater

Ahmad ibn Asher Halewi, Gandars sarazenischer Freund

Peire, Sänger, Rafaels Freund und Diener

Bewohner von Rodéna

Omar, Haushofmeister von Rodéna

Zippora seine Frau, Ahmads Schwester

Amaro, Ahmads Bruder,

Lauris von Segeste, Ritter

Julian von Ora, Ritter

Manfred, Ritter

Roanas Familie

Graf Léon Carl von Morra, ihr Vater

Gräfin Judith von Morra, ihre Mutter, Gandars Schwester

Diotima, Iliane, Hilda, Helene, Roanas Schwestern

Rafaels Familie

Fra Lucca, sein leiblicher Vater

Ravena, seine Schwester

Nael, Medicus, sein Halbbruder

 

Die Glouburger

Richard von Glouburg, Gandars Zwillingsbruder

Gwenfrewi von Glouburg, Gemahlin Richards, Gandars heimliche Geliebte

Sonstige

Lorenzo di Bora, Sklavenhändler

Manfred von Sizilien*

Konrad IV von Hohenstaufen*

Friedrich II *

 

Causa (Ursache, Grund)

 

Lagerstadt Victoria, in der Nähe von Parma, Italien

 

An einem Februarmorgen des Jahres 1248, kurz vor Sonnenaufgang, begann das Töten.

Im Westen der Po-Ebene war der Himmel noch dunkel, doch im Osten glühte er bereits orange und violett. Die Nacht wich langsam aus den Straßen der kaiserlichen Stadt Victoria zurück, während das erste Licht des Tages wie eine siegreiche Streitmacht über die Dächer kroch. Die Zinnen der Wehrmauer standen als schwarze Umrisse vor dem flammenden Horizont.

Drei in dunkles Tuch gekleidete Gestalten huschten verstohlen durch die Gassen und näherten sich einem der Stadttore. Lautlos meuchelten sie die Torwächter, wischten ihre Dolche ab und öffneten die Mannpforte neben dem Tor. Mehr und mehr finstere Gesellen sickerten in die Stadt, eilten zu den Stadttoren und begannen ihr Vernichtungswerk. Nur wenige Herzschläge später brach die Hölle los.

Der Besatzung von Victoria blieb keine Zeit, sich auf den Angriff vorzubereiten. Ein Gutteil der Männer wurde vom Dröhnen der Sturmglocke aus weinseligem Schlummer gerissen. Schlaftrunken griffen sie nach ihren Waffen und stolperten halb bekleidet auf die Straßen. Andere wiederum hielten den Alarm für eine Übung und verabschiedeten sich erst umständlich von ihren Dirnen, bevor sie ihren Kameraden zur Hilfe eilten. Doch da war es schon zu spät. Der Ansturm der Soldaten und Bürger aus Parma kannte kein Zögern und überrollte die Stadt Kaiser Federicos mit der Wucht einer Lawine.

In seinem Versteck hinter der Kirche verzog Rafael höhnisch die Lippen, während er zusah, wie der Marktplatz sich binnen Kurzem in ein Schlachtfeld verwandelte. Wenigstens brauchte er sich dieses Mal keine Gedanken zu machen, was er mit der Leiche tun sollte. Ein Toter mehr oder weniger fiel in diesem Gedränge nicht auf. So weit das Auge reichte, waren Ritter und Soldaten in erbitterte Zweikämpfe verwickelt und Rafael beobachtete gleichgültig, wie sie dabei über die reglosen Leiber der ersten Gefallenen stolperten.

Harun stieß ihm das stumpfe Ende seines Wurfspießes in den Rücken. »Warum bleibst du stehen, Wurm?«, rief er über das Waffenklirren hinweg. »Vorwärts, geh weiter.«

Rafael fuhr mit einem so wilden Blick zu seinem Herrn herum, dass dieser unwillkürlich zurückwich. Harun ließ sich jedoch nicht so leicht überraschen. Er versetzte Rafael einen heftigen Stoß mit dem Spieß und fegte ihm gleichzeitig mit einem Fußtritt die Beine weg. Rafael schlug schwer auf dem Boden auf.

»Willst du dich mit mir anlegen, elendes Stück Dreck?«, spottete Harun. »Nur zu! Nichts bereitet mir mehr Freude, als dir eine Lektion in Demut zu erteilen.«

Rafael lag bäuchlings im Staub. Seine Rippen schmerzten und er konnte spüren, wie sein Herz wild in seiner Brust zu trommeln begann. Wenn er doch nur …

Aber dann presste er die Kinnladen zusammen und würgte seinen Zorn hinunter. Demütig kroch er vorwärts und berührte mit der Stirn Haruns Schuhspitze. Die vergangenen fünf Jahre hatten ihn schmerzhaft gelehrt, dass ein Sklave keine Würde mehr besaß, keinen eigenen Willen. Für ihn gab es keine Gerechtigkeit, niemanden, bei dem er sich beschweren konnte, keine Hilfe. Es gab nur Erniedrigung, Knechtschaft des Körpers und des Geistes, Unterjochung und Scham.

»Nun mach schon. Hoch mit dir!« Sein Herr versetzte ihm einen aufmunternden Fußtritt und Rafael erhob sich eilig.

»Du weißt, was du zu tun hast«, sagte Harun und reichte ihm einen Dolch und ein Wurfmesser. »Töte den Herzog und du erhältst eine Woche lang Essensreste vom Tisch des Scheichs.«

Rafael starrte seinen Herrn ungläubig an. Sich sieben Tage lang nicht mit den Ratten um die mageren Küchenabfälle balgen zu müssen, die man ihm für gewöhnlich zugestand, erschien ihm wie das Paradies auf Erden. Dafür würde er tun, was immer Harun von ihm verlangte.

Rafael nahm die Waffen und schob sie in seinen Gürtel. Einen kurzen Moment verweilte sein Blick dabei auf seinen Händen. Es besaß die Finger eines Musikers feingliedrig und beweglich, dafür gemacht, über die Saiten einer Laute zu tanzen. Doch er hatte mit diesen Händen solche Taten begangen, dass es nichts gab, was seine Seele noch vor der Hölle bewahren konnte. Eigentlich hätte ihm das etwas ausmachen müssen. Aber das tat es nicht. Entschlossen schob Rafael diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Hörner wurden geblasen. Gruppen von Feldkämpfern und Sarazenenkriegern in den kaiserlichen Farben kreuzten sein Blickfeld, alle liefen zielstrebig zum Palast. Einer Eingebung folgend, eilte er hinter den Männern her und mischte sich unter die Feldkämpfer. Sein Augenmerk galt jedoch den Sarazenen. Wenn sein Plan aufging, würden sie ihn direkt zu seinem heutigen Opfer führen.

Der Palast war so groß und prunkvoll, dass Rafael einen Augenblick zu träumen glaubte. Doch die Zerstörung war echt. Alle Türen waren aufgebrochen und hingen zersplittert in ihren Angeln. Polternder Lärm verriet, wo die Plünderung noch in vollem Gange war. Rafael zögerte. Sollte er hineingehen? Nein, entschied er. Hier war nichts mehr zu holen. Der Herzog würde sich mit einem so aussichtslosen Unterfangen nicht aufhalten. Wohin also?

Die Schatzkammer, schoss es Rafael durch den Kopf. Kaiser Federico würde von seinen Getreuen erwarten, dass sie wenigstens den Kronschatz in Sicherheit brachten, wenn schon der Palast nicht mehr zu retten war.

Sein Blick erfasste eine plötzliche Bewegung und er riss den Kopf herum. Geschosse mit brennendem Pech prasselten auf die Straße nieder. Rafael spürte den Luftzug an seinem Gesicht und hörte das seufzende Zischen des Schaftes, als ein Pfeil dicht an ihm vorbei surrte. Weg hier!

Wie ein Kaninchen auf der Flucht rannte er durch die Straßen, bog wahllos ab, duckte sich in Hauseingänge oder wartete atemlos, mit dem Rücken an eine Hauswand gepresst ab, bis die stampfenden Füße einer Gruppe Bewaffneter sein Versteck passiert hatten. Schließlich erreichte er die Schatzkammer. Aus den Türen schlug ihm Grölen entgegen. Junge Kerle durchwühlten die Räume, rafften Prunkgewänder, Goldschmuck und Zierrat zusammen.

»Verschwinde! Wir waren zuerst hier!«

Rafaels Anspannung schlug um in Panik. Zur Hölle. Wohin jetzt? Der Harem? Wenn der Herzog auch dort nicht war …

Nun mach schon, ermahnte er sich. Du willst dir doch eine Woche lang den Bauch vollschlagen ...

Inzwischen stand beinahe die halbe Stadt in Flammen. Beißender Rauch und Hitze erfüllten die Luft und machten das Atmen zur Qual. Schwerfälliger als zuvor setzte Rafael sich wieder in Bewegung und trabte eine Gasse mit dicht beieinanderstehenden Häusern entlang. Plünderer warfen unbrauchbaren Hausrat aus den Fenstern auf die Straße, und etwas schlug ihm wie ein gigantischer Hammer von hinten gegen die Beine. Er fiel vornüber, kam, durch die Wucht des Aufpralls weitergerissen, noch einmal auf die Füße und stürzte ein zweites Mal. Sein Kopf schlug gegen etwas Hartes, Unnachgiebiges und alles wurde dunkel.

Als Rafael aus seiner Ohnmacht erwachte, lag er bäuchlings im stinkenden Morast einer Gosse und hatte Schwierigkeiten, in die Realität zurückzufinden. Von allen Seiten drangen Geräusche auf ihn ein; kreischende Stimmen, Gelächter, splitterndes Holz. Das dröhnende Sturmgeläut einer Glocke quälte sein Trommelfell. Trotzdem war es immer noch besser, als die Schreie der Verletzten und Sterbenden, die durch die Straßen gellten.

Mühsam richtete Rafael sich auf Hände und Knie auf und kroch wie ein Tier auf den nächsten dunklen Hauseingang zu. Seine Glieder fühlten sich seltsam an – taub und gleichzeitig leicht und er zitterte vor Überanstrengung und Müdigkeit.

Wahrscheinlich bemerkte er deshalb die vier Kriegsknechte in abgerissenen Lederharnischen auch erst, als sie sein Versteck schon eingekreist hatten. Dem Ersten schleuderte er sein Wurfmesser entgegen und zerfetzte ihm mit einem tödlichen Treffer die Kehle. Aber da er nicht genug Fleisch auf den Knochen und zu wenig Kraft in seinem mageren Körper hatte, war es den drei verbleibenden Männern ein Leichtes, ihn zu überwältigen.

Innerhalb kürzester Zeit hing er mit dem Kopf nach unten über einem halbhohen Mauervorsprung. Seine Arme wurden von je einem Mann festgehalten, während der Dritte mit der flachen Hand auf seinen Hintern klatschte, spielerische Klapse, die dennoch in Rafaels Ohren widerhallten wie Donner.

»Sieh einer an, was haben wir denn da für ein Vögelchen?«, sagte der Mann, der seinen linken Arm festhielt. »Was meinst du, Tadeo, ist so ein hübsches Kerlchen nicht genauso gut wie die Kaiserhuren, die sie uns weggenommen haben?«

»Na und ob!« Die Männer brachen in grölendes Gelächter aus.

Rafael stieß einen animalischen Laut voller Wildheit und Zorn aus und begann, sich wie eine in die Ecke gedrängte Wildkatze zu wehren. Trotzdem spürte er, wie Tadeo ihm die Lumpen vom Körper riss, schwielige Hände gierig über seine nackte Haut strichen. Er wusste, was passieren würde. Wenn er nur ein bisschen mehr Kraft gehabt hätte … Aber so gab es kein Entkommen. Seine Schreie würden ungehört verhallen, Rufe um Hilfe unbeachtet bleiben. Niemand würde zuhören. Niemand würde es kümmern.

Der Mann zu seiner Rechten kicherte. »Nun mach schon, Tadeo!«, sagte er mit zittriger Stimme. »Gib es dem kleinen Bastard.«

Tadeo warf seinen Leibriemen auf den Boden und ließ Beinlinge und Bruche fallen, sein Atem ging in schweren Stößen, Schweiß triefte von seiner Stirn. Seine Hand sauste noch einmal klatschend auf Rafaels Hinterteil nieder, bevor er mit einem einzigen, harten Stoß in ihn eindrang.

Rafael blieb stumm. Doch etwas Dunkles, Schweres, Brodelndes schien aus den Tiefen seiner Seele emporzuschießen, seine Gedanken hinwegzufegen und ihn mit Kraft zu erfüllen. Der Schmerz erlosch, verschwand und wurde von etwas Neuem, Fremden und Bösen abgelöst. Mit einem gellenden Schrei bäumte er sich auf und versuchte, seinen Peiniger abzuschütteln.

Tadeo versetzte ihm einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf und steigerte das Tempo seiner Bewegungen. Bei jedem schmerzhaften Stoß schrammte Rafaels ungeschützter Bauch über die raue Kante der Mauer, bis er das Gefühl hatte, sein ganzer Körper stünde in Flammen. Schweiß lief ihm in die Augen. Ihm wurde schwindelig. Dunkelheit griff nach ihm. Rafael war es recht.

Ein Kampfschrei ertönte, begleitet vom Geräusch donnernder Hufe. Einer der Kriegsknechte stieß einen Warnruf aus und ließ hastig Rafaels Arm los. Seine Hand fuhr an den Griff seiner Waffe.

Tadeo grunzte, zog sich hastig zurück und riss sein Schwert aus der Scheide.

Ein dunkler Schatten glitt über die Gruppe hinweg. Der dritte Mann griff ebenfalls nach seiner Waffe und Rafael war plötzlich frei. Er wälzte sich von der Mauer und ließ sich in den Staub fallen, wo er keuchend nach Atem rang.

Wütende Schreie erfüllten die Luft. Rafael sah einen Mann in der grünen Kluft eines Jägers vom Pferd springen, das Schwert in der Hand. Das gut trainierte Tier trabte noch aus der Gefahrenzone, bevor es stehen blieb und seinem Herrn einen Blick zuwarf.

Benommen starrte Rafael den fremden Mann an. Wo kam dieser so plötzlich her? Und was noch viel wichtiger war – auf wessen Seite stand er?

Tadeo riss seine Waffe hoch, aber er war zu langsam. Der Jäger legte die linke Hand hinter der Rechten ans Heft und schwang die Klinge. Es war eine einzige fließende Bewegung – so schnell, dass Rafaels Blick ihr kaum zu folgen vermochte. Alles, was er sah, war ein Blitzen von Stahl. Im nächsten Moment flog der Kopf Tadeos mit einigem Schwung nach links und landete auf der Erde, wo er holpernd weiterrollte, bis er mit einem unangenehmen Plock an eine Hauswand stieß und liegen blieb. Rafael starrte entgeistert auf seinen kopflosen Peiniger, dessen Leib blutüberströmt im Staub lag – der Arm mit dem Schwert immer noch drohend erhoben.

Die beiden anderen Fußknechte erwachten mit einem Ruck aus ihrer Erstarrung, tauschten einen Blick und griffen den Jäger von zwei Seiten gleichzeitig an. Rafael reagierte, ohne zu denken. Er robbte vorwärts, umklammerte die Beine eines Knechtes und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Neben ihm wich der Jäger mit einem verzweifelten Satz der Waffe des dritten Angreifers aus und ließ gleichzeitig sein Schwert auf Rafaels Gegner niedersausen. Funken stoben, als die Klinge gegen die Metallbeschläge seines Lederharnischs prallte. Der Getroffene schrie auf, ließ seine Waffe fallen und ging in die Knie. Rafael sprang auf seinen Rücken und umklammerte mit dem rechten Arm seinen Hals, während seine Linke nach dem Dolch am Gürtel des Mannes tastete. Der Fremde konzentrierte sich ganz auf den dritten Fußknecht und durchbohrte ihn im gleichen Augenblick mit dem Schwert, in dem auch Rafael den Dolch in den Hals seines Gegners stieß. Er drehte die Klinge, schlitzte die Kehle auf und durchtrennte die Hauptschlagader. Der Mann starb auf den Knien.

Für einen langen Augenblick starrten sich der magere, mit Schrammen übersäte Junge und sein Retter über die Leichen der Männer hinweg an.

Rafael wusste nicht genau, was er von dem Mann halten sollte. Er trug die einfache Kleidung eines Jägers, aber sein Schwert war kostbar. Und er wusste besser damit umzugehen, als man es von einem einfachen Waidmann erwarten durfte.

Der Jäger stieß einen lauten Pfiff aus. Der Rappe trabte heran und sein Besitzer schwang sich in den Sattel. In diesem Moment entdeckte Rafael das Wappen. Erregung packte ihn. Sein Retter war der Herzog, den er töten sollte!

Los jetzt! Eine Woche lang anständiges Essen! So leicht kannst du es dir nie mehr verdienen!

Mit einem verzweifelten Satz schwang er sich hinter dem Reiter aufs Pferd und presste ihm die Klinge seines Dolches an die Kehle.

»Eine falsche Bewegung und du stirbst.«

Der Rappe tänzelte nervös, aber Rafael ließ sich davon nicht beirren. Der Herzog dagegen wirkte wie erstarrt. »Was willst du?«, fragte er gepresst.

Rafael zögerte. Eine berauschende Idee formte sich in seinem Kopf. Dieser Mann war mächtig genug, um seinem Herrn Furcht einzuflößen. Vielleicht konnte er ihm helfen, der Sklaverei zu entkommen.

»Freiheit«, sagte Rafael.

»Freiheit?«

»Ja. Wenn du mir hilfst, sie zu erlangen, werde ich dir treu dienen, solange du es verlangst.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Dann töte ich dich und stehle dein Pferd.«

»Meine Männer werden dich ergreifen und dich umbringen.«

Langsam schüttelte Rafael den Kopf. »Sie werden mich nicht fangen.«

Jetzt lachte der Mann kurz und trocken: »Junge, du weißt nicht, mit wem du dich anlegst.«

Im nächsten Moment schoss stechender Schmerz durch Rafaels Handgelenk. Sein Dolch flog in hohem Bogen davon und er landete unsanft auf dem Boden. Verblüfft starrte er Pferd und Reiter an. Er hätte schwören können, dass sich die Vorderhufe des Rappen eben noch in der Luft befunden hatten. Aber nun stand er da, ließ den Kopf hängen wie ein müder Karrengaul und sah aus, als könne ihn kein Wässerchen trüben.

Der Herzog musterte ihn unter zusammengezogenen Brauen und in seinem Blick lag eine Härte, die zuvor noch nicht da gewesen war.

»Steh auf«, befahl er.

Unsicher kam Rafael auf die Füße. Er begriff immer noch nicht so recht, wie es diesem Fremden gelungen war, ihn derart zu übertölpeln.

»Du bist dünn wie eine Weidenrute, Junge. Kommst du aus Parma?«

»Nein. Ich bin …« Rafael verstummte. Die Haut an seinem Hals war gerötet, wund gescheuert und blutig und verriet deutlicher als jedes Wort, dass er für gewöhnlich einen eisernen Sklavenring trug.

Der Reiter sah ihn wortlos an. Aber die Schärfe in seinem Blick war einem Schmerz gewichen, den Rafael nicht zu deuten wusste.

»Ich kann dir helfen, die Stadt zu verlassen«, sagte der Herzog. »Aber für deine Dienste habe ich keine Verwendung.«

Rafael kämpfte zähneknirschend gegen das Aufwallen hilfloser Wut an, das diese Worte in ihm auslösten. Aus der Stadt zu entkommen, war nicht genug. Harun würde ihn finden. Er fand ihn jedes Mal, wenn er floh und dann …

»Ich werde sein, was immer mein Herr wünscht.« Rafael brachte die Worte über seine steifen Lippen, selbst überrascht, wie leicht sie ihm fielen, wie einfach er die letzten Fetzen seines Stolzes abzuschütteln vermochte. »Ich werde tun, was immer mein Herr von mir verlangt.«

»Hast du keine Familie, zu der ich dich bringen könnte?«

Rafael schüttelte den Kopf, obwohl es gelogen war. Aber sein eigener Vater hatte ihn an Harun verkauft und er wollte nie mehr im Leben etwas mit dem Mann zu tun haben.

Der Herzog seufzte. »Du versuchst besser nicht noch einmal, mich umzubringen.«

»Nein.«

»Gut denn«, sagte der Reiter und streckte ihm die Hand entgegen. »Steig auf. Ich bringe dich erst einmal von hier fort. Vielleicht können sie am kaiserlichen Hof etwas mit dir anfangen.«

Rafael wagte kaum, zu atmen. Mit wild pochendem Herzen ergriff er die dargebotene Hand und ließ sich auf das Pferd heben. Freiheit, dachte er benommen. Der vage, flüchtige Traum dieses Wortes hatte ihn zu jeder Stunde seiner Gefangenschaft verfolgt. Jetzt hielt seine Zukunft auf einmal wieder Möglichkeiten und Aussichten bereit, die über den einfachen Wunsch hinausgingen, seinen nächsten Auftrag zu überleben. Die Erkenntnis traf ihn mit zu Kopfe steigender Macht.

Ja, dieses Mal würde er seine Freiheit finden. Und nicht einmal der Teufel persönlich sollte versuchen, ihn daran zu hindern.

 

 

Rodéna, Sizilien, drei Monate später

 

»Roana Isabella von Morra! Himmel, Herrgott! Was glaubst du eigentlich, was du da tust?«

Gandar von Rodéna starrte entgeistert seine knapp dreizehnjährige Nichte an, die ihn gerade mit der Rücksichtslosigkeit und Gewandtheit eines erfahrenen Straßenräubers entwaffnet hatte. »Das war gegen alle Regeln!«

»Oh«, machte Roana. »Immer, wenn du verlierst, berufst du dich auf irgendwelche unsinnigen Regeln, Mon Dom. Freut es dich nicht, dass ich inzwischen mit dem Dolch wirklich gut bin? Dass mir die Männer endlich den Respekt zollen, den sie mir schuldig sind?«

Gandar wischte sich mit dem Ärmel seiner gepolsterten Schutzkleidung den Schweiß von der Stirn. »So war das nicht gedacht, Bella.«

»Aber du hast doch selbst vorgeschlagen, mich zu trainieren, Oheim.«

»Ich weiß.«

»Und? Bereust du den Entschluss?«

»Ja und nein. Ich wollte, dass du in der Lage bist, dich zu verteidigen, für den Fall dass …«

»Sprich weiter«, sagte Roana. »Sprich es aus.«

»Lieber nicht.«

»– dass mich ein Mann wieder einmal mit einem Loch verwechselt, in das er brutal sein Ding reinstecken und so lang drin herumstoßen und herumwackeln darf, bis er endlich kommt und seinen ganzen Samen in mich hinein spritzt. Wolltest du das sagen?«

»Bella …«, setzte Gandar an und wusste plötzlich nicht mehr weiter. Er forschte in diesem feingeschnittenen, ansprechenden Gesicht. Es war ein hübsches, ein wirklich hübsches Gesicht – bis auf die Augen.

Diese zu hellen, wilden Augen, die immer, auch bei schwächstem Licht, zu glitzern schienen. Wie eine blank polierte Schwertklinge, dachte Gandar, oder schillerndes undurchsichtiges Wasser, an dessen glatter Oberfläche alles abprallt, und auf dessen Grund man nie sehen kann.

»Inzwischen bin ich in der Lage, mich zu verteidigen.«

»Verteidigen nennst du das?«, fragte Gandar aufgebracht. »Deine Reflexe sind völlig außer Kontrolle geraten!«

»Inwiefern?« Roana sah ihn abwartend an und ihre Augen waren kalt und still. Sie hatte eine Art, einen Menschen, ohne zu blinzeln, so unergründlich und ausdruckslos anzustarren, dass es Gandar plötzlich schwerfiel, ihr das zu sagen, was er zu sagen hatte.

»Die … Reaktion setzt nicht ein, solange du siehst, wer auf dich zukommt; wenn es den Überraschungseffekt nicht gibt. Aber du kannst nicht immer dafür sorgen, dass du mit dem Rücken zur Wand stehst, wenn du unter Menschen gehst. Ich wage kaum, mir auszumalen, was geschehen könnte, sollte jemand den Fehler machen, von hinten an dich heranzutreten.«

Roana sah ihn an. »Er würde es bereuen.«

Ich werde meine Augen nicht senken!, wütete Gandar im Stillen. Ich nicht! Auf keinen Fall!

Aber er tat es doch; und musste alle seine Willenskraft einsetzen, um Roana wieder ins Gesicht zu schauen. »Aber dann könnte es schon zu spät sein. Und es wäre genauso gut möglich, dass du es bist, Roana, die dabei umkommt.«

»Aber Mon Dom! Wie, um Christi willen, kommst du auf die Idee, dass mir das etwas ausmachen würde?«

Nexus (Verbindung, Verpflichtung)

 

Rodéna, Sizilien, Ende März 1254

 

Gandar von Rodéna legte die Schreibfeder beiseite und überflog noch einmal den Brief, den er gerade beendet hatte.

Worte wie Schwerter, dachte er bekümmert. Aber er wusste nicht, wie sich dass, was er seiner Nichte Roana mitzuteilen hatte, abmildern ließ.

Er ließ das Pergament auf seinem Schreibpult liegen, damit die Tinte trocknen konnte, und trat ans Fenster seines Schlafgemachs. Der Morgenhimmel war muschelgrau und wolkenlos. Zartes Rot verkündete bereits den Sonnenaufgang. In Kürze würde der bestellte Bote erscheinen, um die Nachricht abzuholen, die er in der Nacht bereits gesiegelt hatte und die für seinen Ziehsohn bestimmt war. Gandar lächelte wehmütig. Rafael würde ihn ganz sicher aus tiefstem Herzen verfluchen, sobald er den Brief in Händen hielt. Er hasste jede Art von Zwang.

Und der Brief enthielt eine Bitte, die an Erpressung grenzte. Auf eine Weise formuliert, die es Rafael unmöglich machte, sie abzulehnen.

Worte wie Schwerter, fürwahr.

Was seine Gedanken wieder zu Roana zurückbrachte. Er hatte versucht, ihr die Gründe für sein Handeln zu erklären. Aber diesen Brief hatte er zerrissen und im Kamin verbrannt, weil er zu sehr wie ein Abschiedsbrief geklungen hatte. Roana kannte ihn gut. Er konnte es sich nicht leisten, dass sie Verdacht schöpfte. Sie besaß die Eigenschaft, sich wie ein Bluthund in eine Sache zu verbeißen, sobald ihr Argwohn erst einmal geweckt war.

Er wollte nicht, dass irgendjemand ihn vermisste, wenn er für immer aus Rodéna fortging. Seine Beweggründe würde ohnehin niemand in vollem Maße begreifen können. Wie sollte er auch in Worte fassen, was er empfand?

Mit geschlossenen Augen lehnte er seinen Kopf an den steinernen Fensterbogen. Bald Gwen, dachte er. Bald bin ich bei dir und dann soll kein böses Schicksal uns jemals wieder auseinanderreißen.

Und wie so oft in all den einsamen Jahren die hinter ihm lagen, glaubte er, durch Zeit und Raum, ihre Stimme zu hören, die ihm zuflüsterte: Verlass mich nicht …

Sizilien, Ende Mai 1254

 

»Was soll das heißen, wir reiten nicht nach Rodéna?« Peire sah seinen Freund fassungslos an. »Der Herzog verlässt sich auf dich, Rafael!«

Das erste Wurfmesser sauste, ein Zweites, ein Drittes, federnd fuhren sie der Reihe nach in den Stamm einer Palme, ein Viertes landete links der Linie, das Fünfte prallte mit Funken am Eisengriff seines Vorgängers ab.

»Ich habe nicht vor, den Leibwächter für ein verwöhntes Edelfräulein zu spielen«, sagte Rafael und ging, seine Messer einzusammeln. In Augenblicken wie diesen bedauerte er, seinem Freund und Diener Peire jemals von der Bitte seines Ziehvaters erzählt zu haben.

Ich hätte Gandars Nachricht verbrennen sollen, dachte Rafael. Aber etwas hatte ihn davon abgehalten. Eine nagende kleine Stimme in seinem Hinterkopf, die ihm einflüsterte, dass an diesem Brief etwas nicht stimmte.

Normalerweise mischte sich der Herzog nicht in sein Leben ein. Schon gar nicht mit einem als Wunsch verkleideten Befehl, der jede Logik entbehrte. Warum also jetzt? Konnte er von dem Attentat erfahren haben, das man auf ihn, Rafael, verübt hatte?

Nur Peire und Nael, der Medicus, dem er sein Leben verdankte, wussten, wie knapp es für ihn gewesen war. Nael ritt zweimal die Woche zum Markt, um Vorräte einzukaufen. Falls er es versäumt hatte, den Mund zu halten …

Rafael weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Er würde keine Einmischung in seine Pläne dulden. Nicht einmal vonseiten des Herzogs.

Unwillkürlich schlossen sich seine Finger um das Kreuz, das er an einer Lederschnur um den Hals trug. Das Schmuckstück hatte seinem Angreifer gehört. Rafael musste es ihm während ihres entsetzlichen Ringens in der Dunkelheit einer mondlosen Nacht abgerissen haben. Zumindest hatte er es in der Faust gehalten, als Peire ihn schwer verletzt und blutend gefunden hatte.

Es war ein Kreuz aus Silber, mit schimmernden Edelsteinen verziert. Auf der Rückseite war zu erkennen, dass der mittlere Teil mit dem Reliquienfach ausgebessert worden war. Und diese Tatsache war es, die ihm einfach keine Ruhe ließ. Denn er war sich sicher, dass er genau diese Art von Flickwerk schon einmal gesehen hatte. Rafaels Herzschlag beschleunigte sich.

Himmel, er ertrug es nicht, daran zu denken, wo das gewesen war. Aber er irrte sich nicht. Er konnte sich nicht irren. Er wusste, wem das Kreuz gehörte.

Er starrte Peire an, während er verzweifelt versuchte, gleichmäßig und ruhig zu atmen. Denn sonst würde er unter der grausamen Wucht der Erkenntnis zusammenzubrechen. Und das kam nicht infrage.

Er brauchte kein Mitleid. Schon gar nicht von Peire, dessen naiver Glaube an das Gute in ihm, ihn oft genug bis an den Rand seiner Beherrschung trieb. Nein, Peires Mitgefühl war das Letzte, was er jetzt ertragen konnte.

Es war einfacher – und sicherer – den Freund im Unklaren zu lassen, was die Herkunft des Kreuzes betraf. Denn dieses Kreuz war nicht irgendein Schmuckstück, sondern das Crux pectoralis seines leiblichen Vaters Lucca.

Luccas Absicht, ihn zu töten, war eindeutig gewesen. Und Rafael hatte nicht vor, dazusitzen und abzuwarten, bis ihm das gelang. Nein, diesmal würde er Rache nehmen an dem Mann, dem er jedes Übel verdankte, das ihn in seinem Leben befallen hatte.

»Schäm dich, Rafael«, sagte Peire. »Herzog Gandar bittet dich selten genug um etwas. Warum willst du seinen Wunsch nicht erfüllen?«

Rafael zog die Messer aus dem Stamm. »Weil es ein unsinniger Wunsch ist«, erwiderte er schroff. »Meine bloße Anwesenheit würde Madonna Roanas Ruf irreparabel schädigen. Ich weiß gar nicht, was sich Gandar dabei gedacht hat, mich darum zu bitten. Er kennt mich doch.«

»Eben deshalb hat er dich gebeten, du sturer Ochse.«

Peire hockte im Schatten eines verwilderten Myrtenhains, den Rücken an den Sockel einer zerbröckelnden antiken Statue gelehnt, und musterte ihn mit jenem störrischen Blick, den Rafael nur zu gut kannte. Der Sänger war keineswegs bereit, das Thema fallen zu lassen.

»Ich glaube, dein Ziehvater macht sich große Sorgen um dich und die Bitte ist seine Art, dir zu helfen«, bemerkte er.

»Helfen? Wobei?«

»Wünschst du dir nicht manchmal, das Leben, das du führst, hinter dir zu lassen?«

»Nein.«

»Lügner.«

Wie beiläufig ließ Rafael sein Wurfmesser von einer Hand in die andere gleiten. Dabei blickte er dem Sänger so gerade und eisig ins Gesicht, dass dieser unwillkürlich zurückzuckte.

»Schon gut«, rief Peire beschwichtigend. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Das schwöre ich.«

Rafael verharrte vollkommen reglos. Seine Augen waren von einem silbrigen Grau und wurden von leicht geschwungenen, schwarzen Brauen eingerahmt, die ihm ein eher träges Aussehen verliehen. Aber niemand hielt Rafael von Rodéna für träge. Er galt als einer der gnadenlosesten und gefährlichsten Männer auf der Insel, ja, vielleicht sogar im gesamten Königreich beider Sizilien.

»So?«, fragte Rafael und seine Stimme war noch kälter als sein Blick.

Peire sprang wie von einer Tarantel gestochen auf und funkelte seinen Freund wütend an. »Himmel, Rafael, du hast gerade mit Mühe und Not einen Mordanschlag überlebt und du bist dickköpfig wie ein Maulesel! Diese Reise wäre die Gelegenheit, für eine Weile aus der Schusslinie zu kommen!«

»Es war nicht der erste Versuch, mich umzubringen«, gab Rafael trocken zurück.

»Oh nein, nur beinahe der Letzte. Du solltest dem Herrn auf Knien danken, dass er dir im rechten Augenblick einen so guten Medicus wie Nael geschickt hat … Ich hätte nichts gegen dein Fieber tun können.«

In der Nähe ihres Rastplatzes stampften die Pferde in einem provisorischen Pferch. Rafaels brauner Hengst schnaubte und schüttelte die Mähne, um die lästigen Fliegen zu vertreiben.

Eine leichte Brise trug von irgendwoher den süßen Duft blühender Orangen heran.

»Was den Attentäter angeht …«, fuhr Peire fort. »Das war keiner von diesen ehrgeizigen jungen Rittern, die versuchen, sich einen Namen zu machen, indem sie sich mit dir messen. Dieser Mann war auf Rache aus – oder aber …«

»Oder was?«

»… es war sein Auftrag, dich umzubringen. Manchmal frage ich mich, ob nicht längst ein Preis auf deinen Kopf ausgesetzt ist.«

Rafael zuckte mit den Schultern, ohne Peire anzusehen. Er kannte die Summen, die unter der Hand genant wurden und sie waren hoch genug, um selbst einen loyalen Freund wie Peire in Gewissensnöte zu bringen.

Er war Malik al Maut, der Engel des Todes. Ein gefürchteter und gleichzeitig verachteter Mann. Dass er seine schmutzigen Aufträge im Namen der Krone ausführte, hob sein Ansehen um keinen Deut.

»Sorge dafür, dass unsere Sachen gepackt werden«, sagte Rafael. »Ich möchte aufbrechen, sobald Meister Nael vom Markt zurück ist.«

Peire seufzte. »Und wohin reiten wir?«

»Wir werden sehen«, sagte Rafael.

Im Pferch hörte Rafaels Hengst auf zu grasen und spitzte die Ohren. Braune und schwarze Köpfe kamen hoch. Ohren spielten und Mähnen wurden geschüttelt. Der Braune wieherte.

Rafael sah über den Bach zum anderen Ufer hin. Jetzt hörte er auch das schwache Pochen von Hufschlag. Ein Mann in einer schwarzen Djellabah ritt über die Wiese auf ihr Lager zu.

Nael.

Im Lager angekommen, stieg der Medicus vom Pferd, führte seinen Rappen zu ihrem improvisierten Zelt im Palmenschatten und band ihn dort an.

Er zog eine versiegelte Hülle aus seiner Gürteltasche und streckte sie Rafael entgegen. »Dein Gewährsmann in Enna hat mir eine dringende Nachricht für dich mitgegeben«, sagte er.

Rafael streifte das Siegel mit einem kurzen Blick, durchbrach es dann und überflog die wenigen Zeilen. Als er aufschaute, war seine Miene ernst. »Von Ahmad«, erklärte er an Peire gewandt. »Er bittet mich, so schnell es geht, nach Triormani zu kommen.« Er ließ den Brief sinken. »Seltsam. Dieser Tage scheint jedermann meine Hilfe zu brauchen. Nun, jetzt hast du dein Ziel, Peire. Bereite alles zum Aufbruch vor.«

Mit gerunzelter Stirn sah Nael ihn an. »Du bist noch nicht vollständig genesen«, sagte er. »Als verantwortlicher Medicus dürfte ich dir gar nicht erlauben, schon aufzubrechen.«

»Mir geht es gut.«

»Das kommt dir nur so vor, Rafael. Du wirst einen Rückfall riskieren, wenn du dich zu sehr anstrengst. Aber damit will ich dann nichts zu tun haben.«

»Ich betrachte mich als gewarnt, Medicus«, sagte Rafael. Er versuchte zu lächeln, aber er spürte selbst, dass es bei einem Versuch blieb. Er empfand eine tiefe Verwirrung – und so etwas wie Zorn auf das Schicksal. Rafael kannte sich gut genug, um zu wissen, dass seine zur Schau gestellte Gleichgültigkeit nichts als Fassade war.

Selbst für seine Verhältnisse war es mehr als schäbig, Gandars Bitte abzuschlagen. Aber er hatte zwei Jahre damit verbracht, nach Lucca zu suchen, in der Hoffnung, durch ihn etwas über den Verbleib seiner Schwester Ravena zu erfahren. Ravena und er waren als Kinder gewaltsam getrennt und an Sklavenhändler verkauft worden. Damals war er zu jung gewesen, um etwas dagegen tun zu können.

Als freier Mann jedoch hatte er die Sklavenhändler gejagt, einen nach dem anderen. Dabei hatte er herausgefunden, dass er die ganze Zeit der falschen Spur gefolgt war, dass Lucca seine kleine Schwester nicht verkauft, sondern in seiner Obhut behalten hatte.

Als er seinen Fehler erkannt hatte, war das Töten bereits ein Teil seines Lebens geworden. Das Einzige, was er kannte. Es war, als habe er in dem Augenblick, in dem er den ersten Sklavenhändler getötet hatte, seine Seele endgültig verloren; das Bedürfnis Rache zu nehmen, war immer stärker, dunkler, drängender geworden.

Bei aller Beharrlichkeit war es ihm jedoch nie gelungen, seinen Vater aufzuspüren. Jetzt endlich hatte er zum ersten Mal eine Spur, der er folgen konnte.

Dass Ahmad ihn zu sich gerufen hatte, war nicht einmal schlecht. Er musste seine Ausrüstung ergänzen und neue Vorräte einkaufen. Dafür war Triormani genau der richtige Ort. Auf dem dortigen Markt bekam man alles, was man sich nur wünschen konnte – vorausgesetzt, man kannte die richtigen Händler.

Ja, dieses Mal würde er die Sache mit Lucca zu Ende bringen. Das war er seiner Schwester und sich selbst schuldig.

»Ich war noch nie in Triormani«, unterbrach Nael seine Gedanken. »Glaubst du, ein guter Medicus wäre dort willkommen?«

»Oh, ganz bestimmt«, erwiderte Rafael. »Es fragt sich nur, ob es dir gefallen würde. Ungefähr die Hälfte der Bewohner sind Schmuggler und Hehler, bei dem Rest weiß nur der Teufel, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen.«

Nael verzog das Gesicht. »Scheint ja ein nettes Fleckchen Erde zu sein.«

»In Ahmads Haus sind wir sicher. Sein Wort gilt etwas in Triormani. Niemand würde es wagen, ihn zu verärgern.«

Zweifelnd blickte der Medicus zu Rafael. »Ich hoffe, du weißt, was du tust. Für mich ist dieser Ort jedenfalls nichts. Ich denke, ich werde noch ein paar Tage im Landesinneren verbringen und mich dann zur Küste aufmachen. Taormina vielleicht ...

»Ich wollte, ich könnte dich überreden, in den Dienst des Herzogs zu treten«, sagte Rafael.

»Ich danke dir für das Angebot, aber ich bleibe lieber mein eigener Herr.«

»Wie du willst. Nun, bei allem war es gut, dass wir uns begegnet sind.«

Peire führte die gesattelten Pferde heran und Rafael bestieg seinen Braunen. Nach einem kurzen Gruß an Nael schlug er dem Hengst die Fersen in die Flanken und trabte davon.

Dubium (Zweifel)

 

Triormani, Sizilien, Anfang Juni 1254

 

Wut.
Verzweiflung.

Roana wusste nicht, welches dieser beiden Gefühle stärker war und sie schließlich dazu bewogen hatte, wie eine Besessene nach Triormani zu galoppieren. Vielleicht war es die dümmste Idee, die sie je gehabt hatte. Vielleicht auch nicht. Aber es gab keine Alternative. Sie musste einfach wissen, warum ihr Oheim sie so plötzlich aus seinem Haus verbannte. Hatte sie etwas getan, um ihn zu erzürnen? Sie war sich keiner Schuld bewusst.

Roana ließ ihr Pferd in einem Mietstall zurück und ging zu Fuß die Hauptstraße entlang, vorbei an tief verschleierten Frauen und wild gestikulierenden Maultiertreibern.

Jetzt stand sie am Rand des lärmerfüllten Marktviertels, starrte in die engen Gassen hinein, in denen fast alles feilgeboten wurde, was es auf Erden gab, und spürte, wie die Übelkeit in Wellen aus ihrem Magen in ihre Kehle stieg.

Nur wenig Licht fiel zwischen die Häuser. Das Dämmerlicht zauberte Bewegungen, Schatten ins Nichts. Ihr Herz hämmerte. Um sie herum war Stimmengewirr. Es schwoll an und wurde wieder schwächer. Roana glaubte, Satzfetzen zu hören, die aus dem Halbdunkel zu ihr herüberwehten.

Lauf weg, Mädchen! O Gott. Lauf doch weg!

Ein Mundwinkel verzog sich zu einem grimmigen Lächeln. Sie wusste, dass sie die Worte nicht wirklich hörte, wusste, dass es sich nur um eine Einbildung handelte. Aber seit sie von Rodéna aufgebrochen war, saß dieses Angstgefühl in ihrem Magen und ließ sich nicht mehr vertreiben.

Ihre Hand tastete nach dem Dolch in ihrem Ärmel, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Sie würde die Waffe nicht brauchen – nicht brauchen dürfen, wenn sie keinen Aufruhr verursachen wollte.

Sie glitt in den Strom der Käufer und ließ sich tiefer in die Gassen hineintragen. Brennende Lampen glommen in den Gewölben der Händler wie die roten Augen hungriger Ratten. Berauschende Dämpfe stiegen aus Räuchergefäßen. Damaszenerklingen blitzten, Goldschmuck funkelte.

Dunkelhäutige Krieger in kurzem Lederharnisch und Männer in Djellabah und Turban fluteten in einem ständigen Strom an den Auslagen der Handwerker und Händler vorbei. An den Ecken hockten Schlangenbeschwörer und Geschichtenerzähler, deren Darbietungen ganze Trauben von Zuhörern angelockt hatten. Roana wich hastig bis an die Hauswände zurück, sorgsam darauf bedacht, dass keiner der Passanten ihr zu nahe kam. Sie konnte die Berührung von Männern nicht mehr ertragen. Seit man ihr das – angetan hatte.

Roana, die Ausgestoßene.

Es gab nur einen Mann, der sie in den Arm nehmen durfte, wenn der Schmerz zu übermächtig wurde, um ihn noch allein aushalten zu können.

Instinktiv glitt ihre Hand in den Almosenbeutel an ihrem Gürtel und tastete nach dem Pergament. Ein Blatt, von Knickstellen zerfurcht, mit verwischter Schrift, so oft hatte sie es hervorgeholt, entfaltet und gelesen. Gandars Nachricht.

Ein kurzer, unpersönlicher Brief, in dem sie aufgefordert wurde, ihre Truhen zu packen.

Wenigstens hätte Gandar es mir persönlich sagen können.

Aber das hatte er nicht getan. Was völlig untypisch für den Herzog war. Roana hatte gefühlt, dass etwas nicht stimmte. Sie war auf ein Pferd gesprungen und nach Rodéna, dem Stammsitz ihres Oheims galoppiert, um ihn zur Rede zu stellen. Aber niemand wusste, wo Herzog Gandar sich aufhielt.

Wut.

Verzweiflung.

Gandar war ein Mann von neunundzwanzig Jahren, sie eine Frau von achtzehn. Vor der Vergangenheit liefen sie beide davon. Aber gemeinsam war es erträglich.

Alleine nicht.

Deshalb musste sie Gandar finden. Egal, welche Konsequenzen sich daraus ergeben mochten. Sie wusste, was es bedeutete, ohne Begleitritter hierherzukommen. Trotz ihrer Männerkleidung war sie nur … eine Frau. Jämmerlich schwach. Freiwild.

Aber ihr war niemand anderes eingefallen, den sie fragen konnte. Gandars Freund Ahmad würde wissen, wohin der Herzog verschwunden war.

Sie schlüpfte in die schmale Gasse zwischen zwei Häusern, sah sich verstohlen um. Schummrige Lampen beleuchteten in offenen Gewölben untergebrachte Läden. Händlergehilfen huschten im Inneren umher und brachten Sitzkissen und geeiste Getränke für die Käufer, die schon in den Präliminarien des Handels waren. Niemand nahm von der schlanken Gestalt in Tunika und Bundhaube Notiz. Sie lief bis ans Ende der Gasse, blieb vor einer schlichten Holztür stehen und bewegte den bronzenen Türklopfer in einem bestimmten Rhythmus. Die Tür wurde augenblicklich geöffnet. Ein Diener in langem Kaftan ließ sie wortlos herein. Roana ging an ihm vorbei, den von Lampen erhellten Flur entlang. Mit einem leisen Luftzug wurde die Holztür zugezogen, gefolgt von einem harten metallischen Klicken.

Ahmads oberster Diener Ridwân kam auf sie zu, sorgfältig darauf bedacht, in ihrem Gesichtsfeld zu bleiben. Er empfing sie auf der Schwelle, berührte, sich tief verneigend, zum Gruß Stirn, Lippen und Brust und fragte nach ihren Wünschen.

Roana befahl, den Hausherrn Ahmad ibn Ascher Halewi von ihrer Ankunft zu unterrichten.

»Ich bedaure«, erwiderte der Diener. »Herr Ahmad befindet sich auf Reisen.«

Die Worte trafen Roana wie ein Peitschenhieb.

Wut.

Verzweiflung. Beide streckten die Hand nach ihr aus und drohten, sie zu übermannen. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass Ahmad nicht da sein könnte. Sie begann, Ridwân auszufragen, aber er wusste nicht, wohin sein Herr geritten war, noch, wann er zurückerwartet wurde.

»Ich möchte warten«, sagte Roana. »Vielleicht kommt Herr Ahmad bald zurück. Hast du Platz im Stall? Dann sorge bitte dafür, dass mein Pferd vom Mietstall hierher gebracht wird.«

»Wie du befiehlst, Herrin«, sagte der Diener. »Ich bringe dich in dein Gemach.«

In Ahmads Haus waren die Fußböden aus buntem Marmor, die Wände belegt mit edlen Hölzern, Metall und Gestein; Mosaiken zierten den Hof mit den Palmen und dem großen Brunnen; Inschriften in arabischen Buchstaben liefen als Fries um die Wände der Zimmer. Die Teppiche an den Mauern und am Boden waren dick und leuchtend bunt, Vorhänge verdeckten Nischen und Alkoven voller Polster und Kissen.

Der Diener öffnete eine Tür, ließ Roana eintreten und blieb wartend auf der Schwelle stehen, um ihre weiteren Wünsche entgegenzunehmen. Mit einer ungeduldigen Handbewegung schickte sie den Mann fort. Sie musste nachdenken. Wenn die Rechnung stimmte, die sie für sich angestellt hatte, dann war Gandar vor zwei Tagen aufgebrochen. Es musste nichts zu bedeuten haben, dass er bisher nicht nach Rodéna zurückgekehrt war. Er hatte auf der halben Insel Besitzungen und war vielleicht irgendwo aufgehalten worden … es gab tausend Wenn und Aber, die zwischen einem Plan und seiner Ausführung lagen.

Aber vielleicht war auch schon alles zu spät; das Unheil, das sie insgeheim befürchtete, längst eingetreten. Dabei war ihr eigenes Schicksal nicht der Grund für ihre Sorge. Was sie beschäftigte, war vielmehr das, was gerade in ihrem geliebten Oheim vorging. Hatte sie irgendein Zeichen übersehen? War er in den letzten Wochen anders gewesen als gewöhnlich? Verunsichert biss Roana sich auf die Unterlippe. Was hatte das alles zu bedeuten?

Der Wind trug das dünne Bimmeln einer Glocke heran, und Roana schrak abrupt aus ihren Gedanken. Mit einem Mal erinnerte sie sich eines Details, an das sie bisher nicht gedacht hatte. Im Brunnenhof gab es einen losen Stein in der Mauer, hinter dem Gandar oder Ahmad zum Spaß geheime Nachrichten für sie versteckt hatten. Vielleicht hatte Ahmad sich daran erinnert und dort einen Hinweis hinterlassen.

Sie verließ ihr Gemach und eilte in den Hof. Sie fand den Stein auf Anhieb. Er ließ sich so leicht entfernen wie früher, doch der Hohlraum dahinter war leer. Enttäuscht schob Roana den Stein wieder in die Öffnung zurück. Wie dumm von ihr, auf eine derart einfache Lösung zu hoffen!

Von irgendwoher drangen die Töne einer Laute an ihr Ohr. Roana lauschte. Jetzt erhob sich auch eine Stimme dazu, doch der Gesang war mehr ein Summen und Probieren als ein ausgeführtes Singen. Roana blieb mitten im Schritt stehen. Es war Gandars Lied … aber nicht seine Stimme.

Die Musik kam aus dem ummauerten Garten, der sich ans südliche Ende des Brunnenhofes anschloss. Roana eilte über die farbenprächtigen Mosaike zum anderen Ende des Hofes, stieß das eiserne Gartentor auf und betrat den Garten. Die Sonne stand schräg über den Palmen und malte ein lebhaftes Muster auf den Marmor der Wege. Roana sah sich um, ohne jedoch eine Spur von dem unbekannten Sänger zu entdecken. Mit ärgerlichen Bewegungen zog sie sich die Haube vom Kopf und schüttelte ihr blondes Haar aus. Noch einmal ließ sie ihren Blick durch den Garten wandern, ohne etwas Auffälliges zu bemerken.

Mit einem leisen Seufzer sank sie auf eine der zahlreichen Ruhebänke und barg das Gesicht in den Händen. Wahrscheinlich machte sie sich ganz unnötig Sorgen. Gandar war kein Mann, der sich aus seiner Verantwortung davonstahl. Sicher war er inzwischen längst wieder zu Hause in Rodéna und verfluchte sie für ihr eigenmächtiges Handeln. Aber der Gedanke nutzte gar nichts. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, zu schreien. Tief in ihr setzte ein Zittern ein. Der Atem stockte ihr in der Kehle.

Einatmen. Ausatmen. Und wieder ein.

Es war nicht wie damals, als Gandar schon einmal verschwunden war. Es gab keinen Kardinal Valo mehr, der sie beide zu einem Leben in der Hölle verdammen konnte. Sie richtete sich auf, zwang sich zu tiefen, beruhigenden Atemzügen. Die Erinnerung an das durchlebte Entsetzen, an ihre Hilflosigkeit, drohte sie zu überfluten wie eine riesige Woge. Das durfte nicht geschehen. Ahmads Garten war zu öffentlich, um sich gehen zu lassen.

So sehr war sie in diesem Moment gefangen – so tief in der Vergangenheit versunken, dass sie den Mann nicht bemerkte, der lautlos wie ein Schatten hinter ihr auftauchte.

 

 

Peire hatte darauf bestanden, in Ahmads Haus eine Ruhepause einzulegen, wo es genügend bequeme Gästekammern gab, die sie benutzen konnten. Rafael hielt es jedoch nie lange in seiner Kammer aus und verbrachte seine Zeit lieber im parkähnlichen Garten des Hauses. An den Stamm einer Palme gelehnt, studierte er zum wiederholten Male Gandars Brief.

»Hast du herausgefunden, was dich an dem Brief stört?«, fragte Peire mit mäßigem Interesse. Er saß im Schatten der Palme und hatte auf seiner Laute gespielt, aber nun ließ er die Seiten verstummen.

»Weiß der Teufel«, murmelte Rafael abwesend. »Was hier steht, klingt völlig normal. Und doch werde ich das verdammte Gefühl nicht los, etwas zu übersehen.«

»Zeig mal her.« Peire streckte die Hand aus.

Rafael löste sich von der Palme, rieb sich den schmerzenden Rücken und brachte dem Sänger die Nachricht. Peire beugte den Kopf darüber und bewegte lautlos die Lippen, während er langsam buchstabierte.

Rafael lief währenddessen ungeduldig auf und ab. Er brannte darauf, die Verfolgung seines Vaters aufzunehmen, bevor sich dessen vage Spur wieder verlor. Aber der Ritt nach Triormani hatte ihn mehr angestrengt, als er wahrhaben wollte. Er hasste es, einsehen zu müssen, wie recht Nael mit seiner Einschätzung gehabt hatte. Er war noch nicht im Vollbesitz seiner Kräfte und seine Ungeduld vermochte daran nichts zu ändern.

»Also ich finde an diesem Brief nichts Ungewöhnliches«, sagte Peire und gab das Schreiben zurück.

Rafael schüttelte den Kopf. »Es passt nicht zu Gandar, so etwas von mir zu verlangen. Er hat Ritter genug, die besser geeignet sind, eine Dame von Stand zu eskortieren. Ich bin eher ein Mann fürs Grobe …«

»Tja.« Peire überlegte einen Moment. »Vielleicht bevorzugt die Dame ja einen groben Klotz wie dich«, spöttelte er. »Ist sie hübsch?«

»Was weiß ich«, gab Rafael achselzuckend zurück. »Ich bin ihr nie begegnet.«

Wenn man von dem einen, beinahe flüchtigen Blick absah, den er vor Jahren auf die junge Roana hatte werfen können – einem Kind, das Angst vor dem eigenen Schatten gehabt hatte und fast nie von Gandars Seite gewichen war. Mühsam forschte er in seinem Gedächtnis nach einer Erinnerung an die Gesichtszüge des Mädchens. Die Farbe ihrer Haare hatte ihn an ein reifes Weizenfeld erinnert, das wusste er noch. Ihr Gesicht dagegen hatte eher einer Ansammlung von Knochen geglichen, mit Augen, die fast so farblos und kalt waren, wie Millionen Jahre altes Gletschereis.

Peire seufzte ungeduldig. »Wozu streiten wir eigentlich? Ich weiß, dass du Herzog Gandars Wunsch nicht erfüllen wirst. Es ist dir peinlich, einer Edeldame erklären zu müssen, warum du auf vielen Burgen nicht willkommen bist. Dir graut davor, dass sie erfahren könnte, woher dein schlechter Ruf rührt. Lieber stößt du deinen Ziehvater vor den Kopf …«

»Schön«, unterbrach Rafael brüsk. »Wenigstens hast du jetzt begriffen, warum ich Gandars Bitte nicht erfüllen kann.«

Er wandte sich ab, ehe sein Gesicht seine widersprüchlichen Gefühle preisgeben konnte. »Und nun kein Wort mehr zu diesem Thema. Verstanden? Ich werde nicht länger …« Er brach ab, ging bis zur Gartenmauer und spähte mit verengten Augen um die Ecke.

»Ridwân?«, fragte Peire.

»Nein. Ein Unbekannter. Im vorderen Garten. Warte hier auf mich, bis ich herausgefunden habe, wer das ist.«

Rafael schlich davon, tief in den Palmenschatten geduckt, näherte er sich dem unbekannten Jüngling, der neben einer  Bank stand und sich anscheinend  im Garten umsah. Die erste Überraschung erlebte er, als der vermeintliche Jüngling die Bundhaube vom Kopf zog, und sich eine Flut goldener Locken über seinen – ihren Rücken ergoss. Rafael starrte die junge Frau an. Etwas an ihrem Profil kam ihm vertraut vor, ohne dass er sagen konnte, woher. Sie musste zu dem kleinen Kreis von Personen gehören, die Ahmads geheimes Klopfzeichen kannten. Niemand kam an Ridwân vorbei, der nicht Bescheid wusste. Wer war sie?

Rafael trat lautlos näher. Und erlebte seine zweite Überraschung.

 

Roana spürte die Kühle in ihrem Nacken, wo eben noch Wärme gewesen war. Sie dachte nicht mehr. Etwas, das stärker war als ihr bewusstes Denken, übernahm die Kontrolle über ihren Körper; Reflexe, die sie so lange geschärft und trainiert hatte, bis sie zu eigenständigem Leben erwacht waren, lenkten ihre Bewegungen. Der Dolch glitt in ihre Hand, noch während sie von ihrem Sitz hochfuhr und herumwirbelte. Der Schrei aus ihrer Kehle mischte sich mit dem überraschten Ausruf eines Mannes. Eine Hand schoss auf sie zu, versuchte, den Dolch wegzuschlagen.

Roana fühlte, wie die scharfe Klinge abrutschte, durch ein Gewand drang und dann in das weiche Fleisch darunter schnitt.

Der Mann wich hastig zurück und verlor das Gleichgewicht. Er prallte mit dem Rücken gegen den Stamm einer Palme und stürzte zu Boden. Ein dunkler Fleck erschien auf dem Ärmel seiner Tunika und breitete sich rasch aus.

Roana dagegen verharrte absolut reglos, zu Stein geworden wie Lots Weib. Unbewaffnet schrie es in ihrem Inneren, in ihrem Kopf, ja sogar in ihrem vor Schrecken wild schlagenden Herzen. Unbewaffnet, unbewaffnet, unbewaffnet.

Langsam, ganz langsam hob sie ihre Hände, Handflächen nach oben und starrte auf ihren Dolch.

»Oh!«, flüsterte sie. »Oh mein Gott!«

Dann befiel sie ein Zittern. Sie schwankte wie eine Weide im Wind. Ihre Augen weiteten sich. Sie hatte beinahe einen Mann getötet, der gar nicht vorgehabt hatte, sie anzugreifen, und den sie nicht einmal kannte.

Sie warf ihren Dolch von sich und sank neben dem Mann in die Knie. Eine bebende Stimme murmelte unverständliche Worte, ihre eigene stellte sie fest, obwohl sie selbst nicht verstehen konnte, was sie sagte. Er sah zu ihr auf und die mörderische Wut in seinen silbergrauen Augen ließ sie zurückzucken.

»Du Wahnsinnige, was hast du getan!«, kreischte jemand.

Roana, die damit beschäftigt war, den Saum ihrer Tunika in Streifen zu reißen, hob überrascht den Kopf. Bevor sie sich auch nur bewegen konnte, war der zweite Mann an ihrer Seite. Breitbeinig stellte er sich über den Verletzten. »Rühr ihn nicht an!«

»Siehst du nicht, dass ich ihn verbinden will?«, fauchte sie zurück.

Der Mann packte zu. Roana wehrte sich wie eine Besessene. Wehrte sich so lange und heftig, dass der Fremde endlich die Hand zur Faust ballte und sie ihr gegen die Schläfe schlug. Sie brach zusammen und blieb liegen.

 

 

Als Peire sich ihm zuwandte, saß Rafael aufrecht im Gras, die unverletzte Schulter an den Stamm der Palme gelehnt. Vorsichtig betastete er mit der rechten Hand seinen linken Oberarm und starrte ungläubig auf das Blut, das seine Finger besudelte.

Peire sagte: »Oh Gott!«, und ließ sich neben dem Freund auf die Knie fallen. Mir aschfahlem Gesicht zog er ihm die Tunika über die Schulter herunter.

»So viel Blut«, jammerte der Sänger. »Ich glaube, mir wird gleich schlecht!«

Rafael rollte mit den Augen. Ohne Peires Protest zu beachten, schlüpfte er vollends aus dem zerrissenen Gewand und versuchte, zu erkennen, wo genau ihn der Dolch eigentlich getroffen hatte. Arm und Schulter brannten, als habe jemand glühende Kohlen darauf gepackt.

»Stillhalten!«, befahl Peire. Mit fahrigen Bewegungen riss er ein Stück aus Rafaels Gewand, ballte es zusammen und presste es auf die Wunde, um die Blutung zu stillen.

»Du hast verdammtes Glück gehabt«, beantwortete er Rafaels unausgesprochene Frage. »Diese Verrückte hat nichts Lebenswichtiges getroffen. Obwohl sie es bestimmt vorgehabt hat. Nicht auszudenken, wenn sie geschafft hätte, was … ach verdammt.«

»Diese Verrückte – ist Madonna Roana«, sagte Rafael.

Der Sänger hob überrascht den Kopf.

»Ich glaube es zumindest.«

»Gott bewahre.« Peire warf den blutigen Gewandfetzen beiseite und presste einen frischen Stoffknäuel auf die Wunde.

Rafael hörte kaum, dass Peire ihm erklärte, die Wunde müsse dringend genäht werden. Der Himmel helfe ihm – eine Frau, deren Instinkte so schnell reagierten wie seine? So etwas konnte es doch nicht geben – oder? Es war ein Fehler gewesen, sich an sie heranzuschleichen, das wusste er nur zu gut. Bei allen Heiligen, seit wann war er so fahrlässig geworden?

»Hilf mir auf, Peire«, verlangte er.

»Das werde ich nicht tun«, widersprach Peire entschlossen und verknotete sorgfältig die Enden des provisorischen Verbandes, den er aus Rafaels Tunika angefertigt hatte.

Rafaels Rechte umklammerte Peires Arm so fest, dass dieser noch tagelang blaue Flecken hatte. Aber er kam auf die Beine, machte einen unsicheren Schritt und dann einen Zweiten.

Das war der Moment in dem Roana ein großes, eisblaues Auge aufschlug und um sich sah. Dann öffnete sie beide Augen und kam mit einem Aufschrei auf die Füße.

Rafael hatte das Gefühl, als habe sich das Universum gedreht und ihn an einem anderen Platz zurückgelassen als dem, an dem er sich noch einen Augenblick zuvor befunden hatte. Er stand reglos da und betrachtete ihr Gesicht, das jetzt keine Ansammlung von Knochen mehr war, sondern ein sanftes Oval. Es war ein hübsches, ein wirklich hübsches Gesicht – bis auf die Augen. Basiliskenaugen, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Gorgonenhaupt. Das Antlitz der Medusa – oder?

Seine seltsamen Gefühle irritierten ihn. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich etwas für sie empfinden wollte. Konnte er sich Gefühle überhaupt leisten? Vielleicht nicht, aber alles war besser als die Gleichgültigkeit der vergangenen Jahre, die Dunkelheit, die begonnen hatte, ihn vollkommen auszufüllen.

Rafael deutet eine nachlässige Verbeugung an. »Du hast schon eine interessante Art, Bekanntschaften zu schließen, Madonna. Machst du das immer so?«

Roana starrte Rafael mehrere Herzschläge lang schweigend an. Rafael versuchte vergeblich, zu erraten, was hinter ihrer Stirn vorging. Ihr Blick konnte ebenso gut Zorn wie Schuldbewusstsein ausdrücken.

»Du bist Roana von Morra, nicht wahr?«

»Das geht dich nichts an, Herr«, erwiderte sie missfällig.

Er lächelte. Die Wirkung war seltsam anzusehen. Roana wich zurück, fahl und zitternd. Sie sah sich hektisch um, so als versuchte sie, abzuschätzen, ob sie es bis zum Eingang des Gartens schaffen konnte, bevor er sich auf sie stürzte.

Rafael machte einen Schritt auf sie zu und stolperte beinahe über die eigenen Füße. Peire sprang ihm zur Seite und packte seinen Arm. »Von mir aus kannst du ja hier auf der Stelle verbluten, du verdammter Dickschädel«, schimpfte er. »Aber ich fände es doch sehr bedauerlich, dabei auch noch Ahmads kostbaren Marmor zu verderben. Also hilf mir gefälligst, dein Gemach zu erreichen, bevor das passiert.«

»Die Wunde muss genäht werden«, bemerkte Roana sachlich. »Da es in Triormani keinen Medicus gibt, erkläre ich mich bereit, das zu übernehmen.«

Rafael sah Roana an. »Du erklärst dich bereit?«, fragte er höhnisch. »Wie überaus großzügig von dir, Madonna. Wobei ich doch stark bezweifle, ob du weißt, wie man mit einer Nähnadel umgeht.«

Roanas Fäuste ballten sich so heftig, dass die Knöchel hörbar knackten. »Es tut mir leid«, murmelte sie. »Aber ich mag es nicht, wenn sich jemand von hinten an mich heranschleicht.«

Als Rafael in ihr Gesicht sah, erlosch alles in ihm schlagartig; er fühlte noch immer Zorn, einen brodelnden hilflosen Zorn, über die Störung seiner Pläne. Aber er wusste auch, dass er ungerecht war. Er hatte sich ihr tatsächlich von hinten genähert und sie zu Tode erschreckt. Das konnte er sehen, auch wenn sie sich die größte Mühe gab, es nicht merken zu lassen.

»Ich hatte keinerlei böse Absichten«, sagte er.

»Oh ja, ich weiß. Das haben Männer, die sich von hinten anschleichen ja nie.«

Rafael hob den Kopf und musterte sie. Sein Blick wanderte einmal von oben nach unten und dann von unten nach oben, blieb bei ihren Augen hängen. »Du hast Glück, Madonna, dass du Ahmads Gast bist und das Gastrecht in seinem Haus etwas gilt, sonst müsste ich dich jetzt übers Knie legen, um meine Ehre zu retten.«

»Oh«, spöttelte Roana. »Danke. Deine Zurückhaltung freut mich.«

»Und deine Unterstellung verletzt mich«, gab Rafael zurück.

»Hört auf, zu streiten«, verlangte Peire. »Du hast gar keine andere Wahl, als deine Wunde von Madonna Roana versorgen zu lassen. Du weißt, dass ich soviel Blut nicht ertragen kann.«

Rafael drehte sich mit einer abrupten Bewegung um und wandte sich dem Haus zu.

Roanas Miene verdüsterte sich. »Gut«, sagte sie mit einem resignierenden Seufzen. »Anscheinend willst du meine Hilfe nicht.« Sie bückte sich nach ihrem Dolch, wischte ihn im Gras sauber und ließ ihn wieder in ihrem Ärmel verschwinden. Die Haube stopfte sie nachlässig hinter ihren Gürtel.

Es geschah in diesem Moment, dass Rafael das bisher so zäh festgehaltene Bewusstsein entglitt. Peire konnte ihn gerade noch auffangen, bevor er auf den Boden aufschlug.

»Schaff ihn in sein Gemach«, befahl Roana mit einem Blick auf den Bewusstlosen. Während Peire vorauseilte, rief sie einen Diener und bestellte in fließendem Arabisch Wasser, Verbandszeug und Ahmads Medizinkasten.

In Rafaels Kammer war es dunkel und stickig. Roana trat zum Fenster und stieß den Fensterladen auf, auch wenn die hereinschlagende Glut ihr augenblicklich den Schweiß aus allen Poren trieb.

»Nun beweg dich!«, fuhr sie Peire an. »Wir haben genug Zeit verloren.«

Behutsam ließ Peire den Freund auf einen Diwan gleiten.

»Du kannst mir beim Säubern der Wunde zur Hand gehen«, sagte Roana, während sie die Ärmel ihrer Tunika bis zum Ellenbogen hoch rollte.

»Äh … ich muss noch einmal hinaus in den Garten«, murmelte Peire. »Ich habe meine Laute dort vergessen. Es ist nicht gut, wenn sie zu lange in der Sonne …«

Roana brachte ihn mit einem missbilligenden Blick zum Verstummen. »Männer«, sagte sie verächtlich. »Große Reden führen, aber dahinter ist nichts als Luft.«

»Ich kann nun mal kein Blut sehen«, murmelte Peire noch, bevor er sich mit einem erstickten Laut die Hand vor den Mund schlug und aus dem Gemach flüchtete.

Coniuratio (Verschwörung)

 

Dienerinnen brachten Wein, Tücher und mehrere Schüsseln mit dampfendem Wasser. Roana wusch sich sorgfältig die Hände und trocknete sie ab.

An dieser Stelle folgte bei Ahmad immer ein kurzes Gebet zu Allah um Hilfe, aber Roana vermochte sich weder auf die lateinischen noch auf die arabischen Worte zu konzentrieren. Ihr war schlecht vor Aufregung. Gandars Freund hatte sie wohl in der Behandlung von Wunden unterrichtet, aber noch nie war sie dabei ganz auf sich allein gestellt gewesen.

Ein weiterer Diener brachte Verbandszeug, Ahmads Medizinkasten und einen Eimer für Abfälle und stellte alles neben ihr ab. Nachdem sie den Diener noch angewiesen hatte, ein Kissen unter Rafaels Rücken zu schieben, damit die Wunde höher zu liegen kam, schickte sie ihn aus dem Gemach.

Aber dann war es mit ihrer selbstsicheren Haltung erst einmal vorbei. Am liebsten hätte sie sich in eine dunkle Ecke verkrochen und den Kampf gegen ihre Tränen einfach aufgegeben.

In was für eine Lage hatte sie sich da nur wieder gebracht? Hatte Oheim Gandar sie nicht genau davor gewarnt?

Sie hatte über seine ständigen Predigten gelacht, aber nun zeigte sich, wie recht er gehabt hatte. Ihr war ein schrecklicher Fehler unterlaufen und es geschah ihr nur recht, wenn sie die Buße dafür auf sich nehmen musste.

Sie beugte sich über den Verletzten und schnitt ihm den blutgetränkten Verband vom Körper. Unter ihren vorsichtigen Berührungen zuckte er zusammen, öffnete zögernd die Augen und wollte sich abrupt aufsetzen.

»Nicht!« Sie streckte die Hand aus, um ihn daran zu hindern, zog sie jedoch hastig wieder zurück, bevor sie mit seinem Körper in Berührung kam, und wandte sich von ihm ab. Er sank auf das Kissen zurück und blieb ruhig liegen. Aber sie konnte spüren, dass er sie beobachtete. Sie warf den blutigen Stoff in den Eimer und bückte sich nach der Kiste mit den säuberlich gerollten Scharpiebäuschen. Mit zitternden Fingern begann sie, die Wunde zu reinigen. Sie ging dabei nicht eben sanft vor und binnen Kurzem standen Schweißperlen auf Rafaels Stirn.

Aber ihr war alles recht, was ihr helfen konnte, die schreckliche Unsicherheit zu vertuschen, die sie in seiner Gegenwart empfand. Für gewöhnlich reichte schon der Anblick einer nackten Männerbrust, um einen heftigen Widerwillen in ihr hervorzurufen. Aber hier …

Verstohlen ließ sie ihren Blick über seinen athletischen Körper wandern. Bei ihm empfand sie – nichts. Zumindest nicht die Art von Übelkeit, die ihr die Vorstellung, einen Mann berühren zu müssen, immer verursachte. Vielmehr spürte sie eine gewisse Erregung. Ein sanftes Flattern in der Magengrube. So wie damals, als Gandar ihr die Götterstatuen im Tempel von Segeste gezeigt hatte. Sie hatte ihre Finger über den kalten, glatten Marmor gleiten lassen und …

Himmel, was für Gedanken habe ich da, schoss es ihr durch den Kopf. Das hier ist nun wirklich kein Standbild aus Marmor. Dieser Mann ist lebendig – ein Raubtier, das nur darauf wartet, in einem Moment der Schwäche über dich herzufallen …

Sie warf die besudelten Bäusche in den Eimer, wandte sich Ahmads Medizinkasten zu und suchte eine Weile darin herum. Schließlich nahm sie eine kleine Amphore heraus, zog den Stöpsel aus der Öffnung und ließ violett glänzende Kristalle auf ihre Hand rollen.

»Was ist das?«, fragte Rafael argwöhnisch.

»Wundkristall.«

»Und du bist sicher, dass es wirkt?«

»Bei Ahmads Pferden hat es jedenfalls immer geholfen«, erwiderte Roana und streute die Kristalle in einen Becher mit Wein und sah zu, wie sie leise aufschäumten.

Vorsichtig träufelte sie die Flüssigkeit in Rafaels Wunde. Er holte zischend Atem. Sie ließ sich davon nicht beirren, tupfte weg, was herauslief, und fuhr mit der Spülung fort, bis kein Tropfen mehr im Becher war.

»Verdammt! Was war das für ein höllisches Zeug?«, fragte Rafael.

»Ich habe keine Ahnung, woraus es besteht. Ahmad weigert sich, es mir zu verraten.«

Rafael fluchte.

Roana griff nach dem Weinkrug. »Möchtest du welchen?«, fragte sie zuckersüß.

»Ich trinke nicht«, murmelte Rafael.

Ungeduldig verdrehte Roana die Augen. »Ich meinte nicht, dass du dich betrinken sollst. Ich dachte, dass du vielleicht etwas gegen die Schmerzen möchtest.«

»Nein«, erwiderte Rafael kurz angebunden.

»Ganz wie du willst, mein Herr«, meinte sie, stellte den Weinkrug fort und durchtränkte ein trockenes Tuch mit Wasser. Erneut beugte sie sich über Rafaels nackte Brust. Er schloss erschöpft die Augen, als sie das restliche Blut von seiner linken Schulter zu waschen begann. Verstohlen betrachtete sie den frisch verheilten Schnitt, der nahe seiner Kehle entlang lief. Sie verstand genug von Wunden und ihren Auswirkungen, um zu wissen, dass er dieser Verletzung eigentlich hätte erliegen müssen.

Sie wrang das Tuch über der Schüssel aus und betrachtete dann den Messerstich genauer. Er blutete kaum noch. Rafael richtete sich auf die Ellenbogen auf und schüttelte den Kopf, so, als ob er die Benommenheit hinter seiner Stirn vertreiben wollte.

»Fang an, zu nähen«, befahl er matt.

Roana nickte. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie die Nadel nahm, um den Faden einzufädeln. Sie rückte eine der Wasserschüsseln griffbereit neben sich zurecht und tauchte Nadel und Faden in die nach Honig riechende Flüssigkeit. Mit der linken Hand drückte sie dann die Wundränder zusammen und näherte die Nadel Rafaels Haut.

»Versuche, dich jetzt möglichst nicht mehr zu bewegen«, verlangte sie, »ich fange an, ja?«

Als Antwort gab er ein ungeduldiges Knurren von sich.

Sie warf einen finsteren Blick auf seinen schwarzen Schopf und stach die Nadel fester, als es nötig gewesen wäre durch seine Haut. Er zuckte mit keinem Muskel. Roana, die einen Schmerzenslaut erwartet hatte, hielt inne und hob überrascht den Blick. Das plötzliche Glitzern in seinen Augen verriet, dass er ihre Absicht, ihn zu quälen, durchschaut hatte und sich darüber amüsierte. Roana fühlte sich ertappt. Dieser Mistkerl! Konnte er nicht einfach in Ohnmacht fallen?

Nur mit Mühe war sie imstande, ihre Hände ruhig zu halten, während sie die Wundränder langsam zusammennähte. Konzentriert verknotete sie schließlich den Faden und schnitt ihn dann ab. Dann nahm sie neue Scharpiebäusche zur Hand und säuberte noch einmal die Wunde.

»Das wars. Wie fühlst du dich?«, fragte sie kühl, als sie sich die Hände wusch und danach abtrocknete.

»Besser.«

Roana schnaubte ungläubig. »Wie dem auch sei, versuche jedenfalls, dich in den nächsten Tagen ruhig zu verhalten und den Arm nicht zu belasten.«

»Das hängt ganz von dir ab«, teilte er ihr knapp mit.

»Machst du Scherze? Ab morgen habe ich mit dir nichts mehr zu schaffen.«

»Da irrst du dich. Durch deinen Angriff auf mich hast du meine Pläne zunichtegemacht und musst nun die Folgen tragen.«

»Mach dich nicht lächerlich.«

»Ich meine es ernst«, erklärte er kühl. »Du wirst mich nach Rodéna begleiten, Herzog Gandar deine Tat gestehen und ihn davon überzeugen, jemand anderen zum Anführer deiner Eskorte zu bestimmen.«

»Wie bitte?«, fragte sie verdutzt. »Welche Eskorte? Ich verstehe nicht …«

»Auf dich wird er vermutlich hören«, fuhr Rafael fort. »Du stehst ihm sicherlich nahe genug, um zu wissen, was du sagen und tun musst, um ihn von deiner angeblichen Reue zu überzeugen. Allerdings möchte ich dir raten, dich dabei sehr genau an die Wahrheit zu halten. Wir wollen doch nicht, dass es zu bedauerlichen Missverständnissen kommt, nicht wahr?«

»Wie kannst du mir so etwas Ungeheuerliches unterstellen? Ich habe es nicht nötig, irgendwelche Lügengeschichten zu erfinden. Schließlich warst du es, der sich von hinten an mich herangeschlichen hat.«

»Unbewaffnet und ohne böse Absicht.«

»Du erwartest doch nicht von mir, dass ich das glaube?«, erwiderte sie wütend.

»Nun, es ist völlig unerheblich, ob du es glauben willst oder nicht, denn das ändert nichts an den Tatsachen.«

Sie betrachtete ihn einen Moment, bemüht, ihren Zorn über ihre Machtlosigkeit nicht zu zeigen. »Na schön. Beschwere dich bei Herzog Gandar, wenn du willst. Vielleicht hast du ja mehr Glück und findest heraus, auf welcher seiner Besitzungen er sich gerade aufhält. In Rodéna ist er jedenfalls nicht.«

»Oh, keine Sorge. Ich verfüge über Mittel und Wege, mich jederzeit mit dem Herzog in Verbindung zu setzen.«

Roanas helle Augen weiteten sich. »Ist das wahr?«, fragte sie misstrauisch. Was konnte dieser Mann wissen, was ihr nicht bekannt war? Sie konnte sich nicht erinnern, ihn in Rodéna schon einmal gesehen zu haben. Aber er musste mit ihrem Oheim oder Ahmad befreundet sein. Nur Freunde erhielten Zutritt zu Ahmads Haus.

»Sag mir, wie ich Gandar erreichen kann«, verlangte sie.

»Warum sollte ich?«

»Es ist wichtig. Sag es mir.«

»So ganz ohne Gegenleistung? Nein.«

»Du verlangst Bezahlung?«, fragte sie, halb erbost, halb verständnislos. »Abgesehen davon, dass deine Forderung an Unverschämtheit grenzt, habe ich nichts von Wert bei mir.«

Sein spöttisches Lächeln wurde breiter. Er wandte den Blick von ihrem Gesicht, ließ ihn langsam ihren Körper hinabgleiten und sie hatte das Gefühl, dass er sie mit seinen verdammten Augen langsam, Stück für Stück, auszog.

Roana schauderte innerlich, aber sie ließ ihn nicht merken, mit welchem Schrecken seine Blicke sie erfüllten. Stattdessen betrachtete sie ihn abschätzend, während sich ihre Mundwinkel langsam zu einem Lächeln kräuselten, das jedem, der sie kannte, vor Schreck die Sprache verschlagen hätte. Und auch jetzt erzielte sie eine gewisse Wirkung, wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie sie es gewohnt war. Aber sie hatte ja schon gesehen, dass der Fremde kein Mann war, den man allzu leicht beeindrucken oder einschüchtern konnte.

»Du wagst es, so … etwas anzudeuten?«, fragte sie mit einer rauen, eine Spur kehligen Stimme. »Du kannst unmöglich glauben, dass ich …«

Er setzte sich auf. »Oh doch, Dolcezza, ich kann.«

»Nenne mich nicht Dolcezza, verdammt noch mal!«, fuhr sie ihn an.

»Ach? Und warum nicht? Sieh dich doch an! Du trägst Männerkleidung, die kaum etwas verbirgt, und treibst dich allein in Triormani herum. Was soll ich da denken?«

»Ich habe gute Gründe, hier zu sein.«

Er sah sie an, als zweifele er an ihrem Verstand. »Ich höre.«

»Meine Geschäfte gehen dich nichts an.« Sie wandte sich von ihm ab und starrte aus dem Fenster. »Du würdest es ohnehin nicht begreifen«, murmelte sie so leise, dass sie es selbst kaum verstehen konnte.

Er griff mit der Rechten nach ihrem Handgelenk, zog sie näher heran.

Angst wallte in ihr auf. Vieles hatte sich geändert. So vieles. Aber die Furcht war geblieben. Der stählerne Griff eines Mannes brachte sie zurück … zusammen mit den Bildern aus einer anderen Zeit, in der Männer sie festgehalten hatten, um sich gewaltsam zu nehmen, was sie wollten.

In seinen Augen blitzte etwas auf. Ein heftiger Ruck an ihrem Arm ließ auf ihn zu straucheln. Plötzlich waren ihre Augen auf einer Höhe mit seinem Mund, eine ziemlich beunruhigende Tatsache auf diese Entfernung. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut, roch den schwachen Duft nach fremden Gewürzen, der seinem Haar anhaftete; und senkte die Lider, aus Angst, die Gedanken preiszugeben, die ihr beim Anblick seiner sinnlichen Lippen durch den Kopf schossen.

»Lass dich warnen, Madonna«, sagte er. »Ich bin nicht Gandar, der dir deine Verrücktheiten durchgehen lässt. Du hast mich ohne Grund angegriffen. Dafür wirst du bezahlen, ob dir das gefällt oder nicht.«

Roana sah ihn an. Dann öffnete sie den Mund – nicht viel, kaum dass sich die Lippen teilten – und stieß ein fast lautloses, girrendes Lachen aus. Aber dieser Ton, so schwach er auch war, hatte etwas an sich, dass Rafael dazu brachte, sie abrupt loszulassen. Sie wich hastig zurück. Wie sie zufrieden feststellte, zuckte eine seiner Wangenmuskeln. Er war also bei Weitem nicht so gelassen, wie er tat. Aber dann wurde seine Miene wieder vollkommen reglos.

»Wie wäre es, wenn du mich zuerst deine Wunde verbinden lässt, bevor wir weiter streiten?«, fragte sie.

Er nickte. Sie begann erneut im Medizinkasten zu kramen und förderte schließlich einen Tiegel zutage, der eine Salbe aus Öl und Wachs enthielt. Sie strich etwas davon auf ein sauberes Stück Leinen, fügte noch einige Kräuter hinzu und legte den Umschlag über die frische Naht.

Während sie ihn verband, streiften ihre Finger immer wieder seine warme Haut und sie musste sich zwingen, nicht jedes Mal zurückzuzucken, als habe sie sich verbrannt. Sie hoffte, dass es ihm nicht aufgefallen war.

Aber sein Blick sagte ihr, dass er nur zu gut begriff, was in ihr vorging. Er ließ dieses Wissen unausgesprochen zwischen ihnen stehen, während seine Augen sie auf eine Weise zu streicheln schienen, wie sie es noch nie erlebt hatte – mit lässiger Sinnlichkeit, in dem Wissen, dass ihr Körper zwangsläufig darauf reagieren würde.

In diesem Augenblick hasste sie ihn. Sie hasste ihn dafür, dass er ihr das Gefühl gab, eine Frau zu sein. Sie hasste die Schwäche, die dieses Gefühl in ihr hervorrief.

Grimmig zog sie sich einen Faltstuhl heran und setzte sich neben den Diwan. Waren es die vermeintlichen Informationen über Gandar wirklich wert, sich mit diesem gefährlichen Fremden einzulassen?

Schweigend maßen sie ihre Blicke miteinander. Minutenlang. Eine halbe Ewigkeit lang. Wer von uns hält das länger aus, dachte Roana. Sie war überrascht, als sie merkte, dass der Anblick des Verbandes und der starren Haltung, die seine Schmerzen verriet, ein schlechtes Gewissen in ihr weckte. Aber sie wusste, wie man bluffte. Und sie war nicht bereit, nachzugeben.

»Du beißt dir lieber die Zunge ab«, sagte er plötzlich mit einem wölfischen Grinsen, »als auch nur die kleinste Frage an mich zu richten, nicht wahr?«

»Wohl kaum. Vielmehr glaube ich, dass du nichts weißt, was interessant genug wäre, um den Aufwand eines Gesprächs mit dir zu rechtfertigen.«

Sein Lächeln wurde breiter. »Aber du bist dir dessen nicht sicher, habe ich recht?«

Sie verspürte den Wunsch, mit einem Schlag das lässige Grinsen aus seinem Gesicht zu wischen – oder vielmehr, ihn gefesselt, ganz und gar ihrem Willen unterworfen, vor sich zu haben. Der Gedanke daran war berauschend. Erregend. Und Furcht einflößend. Langsam, beinahe feierlich erhob sie sich, strich ihre Tunika glatt und griff nach ihrer Haube. Dann ging sie zielstrebig zur Tür.

»Roana!«

Sie reagierte nicht, öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus.

Rafael sprang auf und erwischte sie gerade noch, als sie dabei war, die Tür zum Hof zu öffnen. Wie Stahlklammern legten sich seine Finger um ihren Arm und zerrten sie unsanft zu seinem Gemach zurück. Sein Atem ging schwer. Mit dem Rücken an die geschlossene Tür gepresst, stand er da und starrte sie an. Unter der Sonnenbräune hatte sein Gesicht alle Farbe verloren. Aber sein Blick enthielt etwas sehr Gefährliches. »Mach das nicht noch einmal, verdammtes Weibsstück.«

Roana sah ihn an. Dann lachte sie plötzlich, und da war es wieder, dieses kehlige, unbeschreiblich belustigte Glucksen, das so leise war, dass man sich anstrengen musste, um es zu hören.

»Nein?«, sagte sie. »Zu schade. Ich hab nämlich wie jede Frau eine Schwäche für Männer, die sich zum Narren machen.«

»Das sieht dem Herzog ähnlich. Nicht zu erwähnen, wie verrückt du bist …«

Langsam ging er zum Diwan zurück und ließ sich darauf sinken. »Ich verfluche den Tag, an dem Gandar mich bat, dich nach Hause zu begleiten«, murmelte er. »Noch nie war mir eine Verpflichtung so verhasst …«

»Deine Verpflichtungen – dazu solltest du mich lieber nicht zählen, mein Herr«, sagte Roana. »Ich gehöre niemand, nur mir selbst. Und dich, wer auch immer du bist, brauche ich nicht. Ich brauche überhaupt keinen Mann. Ich bin ein freier Mensch. Außerhalb der Reichweite Gottes – und vielleicht auch des Teufels …«

Er lachte bitter. »Es gibt keine wirkliche Freiheit.«

»O doch, es gibt sie«, sagte sie. »Seltsam …«

»Was ist seltsam?«

»Der Grund, warum ich frei bin. Ich nehme an, es ist die einzige Möglichkeit, wie man es jemals wirklich sein kann.«

»Und worin besteht sie, Frau?«, fragte er grimmig.

»Also gut«, sagte sie. »Ich werde es dir erklären, damit du weißt, woran du bist. Ich bin frei, weil ich mir aus nichts etwas mache. Weil mir nichts etwas bedeutet. Absolut nichts. Nicht einmal mein Leben. Wenn du jetzt eine Armbrust auf mich anlegst, würde ich nur noch näherkommen, um sicher zu sein, dass du mich nicht verfehlst …«

»Und daran glaubst du?« Er betrachtete sie mit einem verschlagenen Blick. »Angenommen, ich würde dir drohen, dir dein hübsches Gesicht so herzurichten, dass du es nicht mehr wiedererkennst?«, fragte er.

Ihre hellen Augen verengten sich. »Das ist tatsächlich eine wirksame Drohung«, sagte sie langsam. »Du kennst dich mit Frauen aus, wie? Die meisten von uns schätzen ihr Aussehen mehr als ihr Leben. Aber – versucht's lieber nicht. Wenn du mich in die Mangel nimmst, musst du mich auch töten. Und das kannst du Gandar wohl schlecht erklären, nicht wahr? Abgesehen davon, muss man dazu wirklich etwas auf dem Kasten haben, und ich bezweifle, dass du mir gewachsen bist.«

Sie hielt inne und blickte Rafael an. Seine Mine war vollkommen reglos und er fixierte sie mit einem Blick, der sich in ihr tiefstes Innerstes bohrte. Und das, so fand sie, war bedrohlicher als alles. Viel schlimmer, als offene Drohungen oder sichtbarer Zorn.

Roana senkte den Blick. Sie hatte Angst. Sie – die gedacht hatte, dass sie nichts mehr erschrecken konnte. Das Gefühl behagte ihr gar nicht. Trotzdem wich sie nicht eine Handbreit zurück, sondern starrte Rafael kalt und unverfroren ins Gesicht. Die Luft schien zu beben angesichts dieser Herausforderung.

In diesem Moment flog die Tür auf und Peire stürmte, die vermisste Laute in der Hand, herein. Abrupt hielt er inne. »Himmel, was ist denn hier los? Kaum lässt man euch alleine, seid ihr im Begriff, euch an die Gurgel zu gehen, oder was? Weib, ich warne dich - es ist ziemlich dumm von dir, Rafael absichtlich zu reizen. So etwas nimmt er schnell übel.«

»Tatsächlich? Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen«, murmelte Roana.

Ein Lächeln erschien auf Rafaels Gesicht. Breitete sich aus. Raubte ihr den Atem. Weil es das bösartigste Lächeln war, das sie je in einem Menschenantlitz erblickt hatte.

»Sie weiß es nicht besser, Peire«, sagte Rafael. »Ich fürchte, ich habe versäumt, mich vorzustellen.«

»Oh, mein Gott«, entfuhr es Peire. Und dann noch einmal: »Mein Gott.«

Rafaels Grinsen war eindeutig schadenfroh. »Mein voller Name ist Rafael von Rodéna«, sagte er. »Aber für gewöhnlich nennt man mich Malik al Maut. Ich bin der Mann, den Gandar ausgewählt hat, um dich nach Hause zu befördern.«

Roanas ganzer Körper erstarrte. Gandar hat mich einer Bestie ausgeliefert. Roana dachte diese Worte nicht; sie hörte sie. Wie Kirchenglocken klangen sie ihr in den Ohren, wie die großen bronzenen Glocken aller Kathedralen Siziliens, die vereint ihre betäubenden Stimmen erhoben, um das Ende aller ihrer Hoffnungen zu verkünden. Ausgeliefert. Einer Bestie.

Einem Mörder.

Ihre Haube zu einer feuchten Kugel knüllend, wandte sie sich zur Tür. Aber sie erreichte sie nicht. Sie sackte einfach vornüber zusammen und schlug mit dem Gesicht so hart auf dem Boden auf, dass ihre Zähne in die Oberlippe eindrangen und Blut aus ihrem Mund sickerte. Von weit her hörte sie Peire aufschreien.

Doch schon einen Lidschlag später hörte, sah und spürte sie nichts mehr. Weil alles um sie herum in Dunkelheit versunken war.

 

Nuntius (Bote, Botschaft)

 

Als sie wieder zu sich kam, wusste sie nicht, wie viel Zeit vergangen war. Im Raum war es dämmrig. Vorsichtig stützte sie sich auf die Ellenbogen und versuchte, sich aufzurichten.

»Sie ist wach«, sagte eine Stimme. In einer Ecke des Gemachs erhob sich ein Schatten und kam auf sie zu. Eine Kerze wurde entzündet und sie erblickte Rafael, der im Begriff war, sich auf der Kante des Diwans niederzulassen.

»Verschwinde, Luzifer«, murmelte sie schwach und sank wieder in die Kissen zurück.

»Glaube nicht, dass es mir Freude macht, hier zu sein«, sagte er. »Selbst die Hölle zählt zu den Orten, an denen ich jetzt lieber wäre, als in diesem Gemach … ganz zu schweigen, von den Gründen, die mich zwingen, das hier zu tun und die ich am liebsten aus meinem Gedächtnis streichen möchte.«

Roana lauschte überrascht. Zum ersten Mal hörte sie etwas anderes als vollkommene Sicherheit aus seiner Stimme. Für einen Herzschlag klang er müde, was ihn verwundbar machte, ihm ein Stück der eisigen Härte nahm. Etwas in ihrem Inneren wurde weicher. Auch ihr war diese Müdigkeit nicht fremd.

Was aber nichts an der Tatsache änderte, dass ihr geliebter Oheim sie einem Ungeheuer ausgeliefert hatte. Das verstand sie nicht. Dom Gandar wusste doch am besten, welche Geschichten man sich über den Engel des Todes erzählte. War es nicht sogar Brauch geworden, sich zu bekreuzigen und den Beistand sämtlicher Schutzheiliger zu erflehen, wenn jemand es wagte, seinen Namen auszusprechen?

Malik al Maut. Herr im Himmel!

Sie wandte den Blick von ihm ab, und als sie ihn erneut ansah, waren seine Augen wieder hart und kalt. Vielleicht hatte sie sich die Müdigkeit nur eingebildet. Sie musterte ihn, die straffe Haut, die sich über hohen Wangenknochen spannte, die dunklen, dichten Augenbrauen. Sein Lebenswandel hatte seinen Zügen einen verächtlichen, spöttischen Ausdruck verliehen. Sein Mund jedoch erschien ihr allzu sinnlich.

Ärger wallte in ihr auf. Sie hatte im Haus ihres Oheims einen gewissen Frieden gefunden, den er nun zu zerstören drohte. Dazu hatte er kein Recht. Er hatte nicht das Recht, hier zu sein und durch seine bloße Anwesenheit Barrieren einzureißen, denen nie zuvor jemand hatte gefährlich werden können.

»Peire sieh zu, ob du etwas Wein für Madonna Roana auftreiben kannst. Sie ist ein wenig blass um die Nase«, sagte Rafael knapp und sein Freund erhob sich widerspruchslos und verließ den Raum.

»Warum bist du hier, Rafael?«, fragte Roana, als sie allein waren.

Er blickte eine Weile auf sie herab, so als müsse er sich erst überlegen, ob er ihr antworten sollte oder nicht. »Ich schulde dem Herzog einen Gefallen«, bekannte er schließlich. »Jeden Gefallen, den er jemals von mir fordern könnte.«

Überrascht setzte sie sich auf. »Und was wünscht mein Oheim von dir?«

»Dass ich dich zu deinen Eltern begleite.«

»Warum?«

»Warum ich?«

»Ja.«

»Vielleicht, weil du einen Aufpasser brauchst, der keine Skrupel hat, dich übers Knie zu legen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich ein zynischer Finsterling, Rafael. Machst du das mit Absicht, oder kannst du einfach nicht anders?«

»Es hat seine Vorzüge, als Finsterling zu gelten.«

»Wirklich? Nenn mir einen Einzigen.«

»Jeder überlegt es sich zweimal, ob er dich erzürnt, hintergeht oder demütigt.«

»Oder dir vertraut.«

»Richtig. Und auch das erspart einem allerhand Ungemach.«

»Oh, ich verstehe. Nun, im Gegensatz zu dir ist Dom Gandar ein Mann, dem man bedingungslos vertrauen kann. Sein Wort gilt. Und er hat mir versprochen, dass ich in Rodéna bleiben darf, solange ich will.«

»Der Herzog wird seine Gründe haben, dich fortzuschicken.«

»Oh!«, flüsterte sie, und nach einer Weile: »Du machst es dir einfach, oder? Was beweist mir, dass du die Wahrheit sagst?«

Er seufzte. »Warum sollte ich in dieser Angelegenheit lügen? Glaubst du, es macht mir Spaß, wochenlang mit einer Frau wie dir zu reisen?«

Roana schwieg einen Moment. Auf ihren Zügen entstand ein Ausdruck von Verblüffung, aber er war nicht echt, nur gespielt. »Du denkst doch nicht etwa, dass ich freiwillig mit dir komme? So dumm kannst du doch nicht sein, oder?«

»Oh doch«, sagte er. »Du wirst mitkommen. Zumindest bis Rodéna.«

»Ich kann nicht glauben, dass Dom Gandar dich um so etwas gebeten hat, Malik al Maut.« Roana bewegte die Schultern, schloss für einen Herzschlag die Augen und stand auf. Rafael griff nach ihrem Arm, umklammerte ihr Gelenk und drückte zu. »Nicht so eilig, Roana«, sagte er. »Ich habe da nämlich noch eine Frage. Und auf die möchte ich eine Antwort.«

Roana schwieg.

»Du hast recht«, fuhr Rafael fort. »Die Bitte des Herzogs ist ungewöhnlich. Aber wenn wir schon einmal dabei sind, den Dingen auf den Grund zu gehen, dann verrate mir als Erstes, was du ohne Begleitritter in einem Ort wie Triormani zu suchen hast.«

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht«, sagte Roana. Sie versuchte, ihren Arm loszumachen, aber Rafael drückte nur noch fester zu und stieß sie grob zurück.

»Und ob es mich etwas angeht!«, fauchte er. »Nach Gandars Willen bin ich für dich verantwortlich und du wirst tun, was ich sage, oder, bei Gott, ich verpasse dir eine Ohrfeige, dass dir die Zähne beim Hintern rausmarschieren!«

»Bist du von Sinnen?«, keuchte Roana. »Du hast mir nichts zu befehlen!«

»Oh doch. Das habe ich.«

Roana seufzte. »Ich bin die Tochter eines Grafen und die Nichte eines Herzogs«, antwortete sie, in jenem halb ungeduldigen, halb resignierenden Ton, in dem man einem Blinden versucht, Farben zu erklären. »Du dagegen bist – gar nichts. Ein Ausgestoßener. Du stehst so tief unter mir, dass du froh sein kannst, wenn ich dir erlaube, den Staub unter meinen Füßen zu küssen und …«

Rafael schlug sie. Roana kippte nach hinten, stützte sich im letzten Moment mit den Händen ab und starrte Rafael verblüfft an.

»Ich warne dich«, sagte er. »Reize mich nicht über Gebühr! Halte dich an meine Anweisungen, oder ich schwöre dir, dass ich dich wie ein Gepäckstück verschnürt nach Rodéna transportiere.«

Irgendetwas in Roanas Blick änderte sich. Langsam setzte sie sich auf, starrte einen Moment zu Boden und sah Rafael dann erneut an.

Rafael schauderte. Ihre Augen sind nicht menschlich, dachte er. Sie haben ja nicht einmal eine Farbe! Sie sind weder blau noch grau noch – sie sind aus Eis! Aus Gletschereis, älter als die Erde – und darin lodert Feuer – kaltes Feuer, das nicht imstande ist, die gefrorene Hülle zu schmelzen, die es umschließt.

»Vielleicht hat Gandar ja gute Gründe, diesen Dienst von dir zu verlangen«, sagte Roana leise. »Obwohl ich nicht verstehe, warum er mir gegenüber nichts davon erwähnt hat. Er sagt mir immer alles und hat noch nie …«

Rafael schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab. »Du glaubst doch nicht etwa, dass Gandar dir wirklich jede Kleinigkeit erzählt?«

»Ich kenne ihn«, fuhr Roana unbeeindruckt fort, »vergiss das nicht. Ich kenne seine Gedanken und seine Art zu reagieren und zu handeln. Dass er über meinen Kopf hinweg etwas bestimmt, ohne mich darüber zu informieren, ist noch nie vorgekommen.«

»Wir brechen morgen früh nach Rodéna auf. Dann kannst du ihn selbst fragen.«

»Hörst du eigentlich jemals zu?«, fragte Roana. »Dom Gandar ist nicht in Rodéna. Und niemand weiß, wo er sich im Augenblick aufhält.«

»Ich finde ihn schon.«

»Das bleibt abzuwarten«, erwiderte sie. »Gandar ist ohne seine übliche Eskorte unterwegs. Und er hat zwei dieser Gebirgspferde mitgenommen, die er von seiner letzten Alpenüberquerung mitgebracht hat – und nicht seinen Araberhengst. Nur zwei Tage später verschwindet Ahmad ebenfalls und nicht einmal Ridwân weiß wohin. Kommt dir das nicht seltsam vor?«

Rafael antwortete nicht.

»Wie hat Dom Gandar sich mit dir in Verbindung gesetzt?«, fragte sie plötzlich. Ihre Stimme klang seltsam drängend und so stand er auf und kramte das Pergament mit Gandars Nachricht aus seinem Beutel. Sie griff danach und überflog es hastig. Sehr langsam ließ sie die Hand mit dem Blatt sinken. Sie saß da, reglos, den Kopf leicht schief geneigt und ihre Augen leuchteten verräterisch hell.

»Dieser Brief klingt wie ein Testament«, flüsterte sie. »So als wolle Gandar noch alle seine Angelegenheiten regeln, bevor er …«

»Bevor er was?«

»Mein Oheim würde mich nie ohne triftigen Grund aus Rodéna entfernen«, sagte sie. »Das weiß ich. Also muss es diesen Grund geben …«

»An Gandars Stelle würden mir da so einige einfallen«, brummte Rafael. »Kein Mann besitzt so viel Langmut und Geduld, um auf Dauer deine Launen zu ertragen.«

Sie schaute ihn unverwandt an, bis sich ihre Augen mit Tränen füllten, die überquellend die blassen Wimpern bekränzten, sich auffunkelnd lösten und als schimmernde Tropfen über ihre Wangen rollten. Dies alles ging vollkommen lautlos vor sich, was es nur noch schlimmer machte. Rafaels Ärger wich plötzlicher Verunsicherung. Noch nie hatte er einen Menschen so weinen sehen, und binnen eines Herzschlages stand für ihn fest, dass er ein solches Schauspiel auch nie wieder erleben wollte.

»Roana«, sagte er, aber sie schien ihn nicht zu hören. »Roana, nicht«, wiederholte er etwas lauter, und ihre Augen bewegten sich, als versuchten sie, sich auf etwas zu konzentrieren.

»Hör auf, zu weinen!«, drängte er. Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie irgendwelche Dämonen vertreiben. Er wollte sie gerne beruhigen, aber er wusste nicht wie. Himmel, damals vor zwölf Jahren hatte er es ja nicht einmal geschafft, seine kleine Schwester zu trösten, wenn sie vor Hunger weinte. Wie sollte er da gegen Roanas Tränen ankommen? Unbeholfen streckte er die Hand aus und strich langsam über ihren Arm.

Roana erstarrte. Das verstand er nicht. Er war sich sicher, dass sie diese unerklärliche Anziehungskraft ebenso empfand wie er. Aber sie tat nichts, sah ihn einfach nur an, mit diesem kühlen, distanzierten Blick, so als blicke sie durch Gitterstäbe auf eine eingesperrte, besonders widerwärtige Bestie.

Wut schoss in ihm hoch. Er hatte plötzlich den Wunsch, Sachen durch den Raum zu schleudern, einen Vulkanausbruch auszulösen, der das Eis zum Verdampfen bringen würde.

Seine Hand schoss vor, wühlte sich in ihr Haar, legte sich um ihren Hinterkopf. Sie machte sich absichtlich steif, aber er übte unnachgiebig weiter Druck aus. Er wollte sie küssen. Nicht vorsichtig und sanft, sondern wild und gierig, so wie er es sich wünschte, seit er sie im Garten zum ersten Mal gesehen hatte. Sein Mund senkte sich auf ihren, bereit ihn zu verschlingen.

Aber dann konnte er es nicht. Ihre Lippen waren trocken, kratzten an den seinen. Er knabberte sanft an ihrer Unterlippe, leckte darüber, tupfte hauchzarte Küsse bis in ihre Mundwinkel.

Sie zögerte zuerst, gab schließlich widerwillig nach, aber Rafael spürte, dass es wohl mehr ihre Verblüffung über seine Sanftheit war, die sie reagieren ließ. Das machte ihn wild. Er zog an ihrem Haar, bog ihren Kopf nach hinten, dann biss er sie spielerisch in den Hals. Sie atmete jetzt schneller. Er nahm ihre nach Olivenseife duftende Haut zwischen die Lippen und begann, daran zu saugen. Sie würde am nächsten Morgen ein auffälliges Mal an dieser Stelle haben, aber das war ihm egal. Er arbeitete sich ihren Hals entlang, zurück zu ihrem Mund.

Er fühlte, wie sie die Arme um seinen Nacken legte, während er sie küsste. Zunächst vorsichtig. Zögernd, doch unvermeidlich, als würde sie gegen ihren Willen von einer unsichtbaren Kraft getrieben. Er spürte jede Bewegung ihres Körpers, jedes Zittern, jedes argwöhnische Erstarren, als er sie noch fester an sich presste. Wie lange war es her, dass er sich zum letzten Mal so lebendig gefühlt hatte?

Seine Finger fuhren hinauf zu der Stelle, an der ihre Haut nicht mehr von ihrer Tunika geschützt war. Hitze drang durch den Stoff und er begann, ihre Schultern zu streicheln, während seine Lippen sich von ihrem Mund lösten, und über ihre Wangen zu ihrem Ohr wanderten. Er spürte, wie sie erschauerte. Seine Hand wurde mutiger, glitt unter den Stoff, unter ihr Brustband, bis seine Finger nackte Haut berührten.

Plötzlich entwand sie sich ihm mit einem leisen Aufschrei. Ihr entsetzter Blick ließ ihn reglos verharren. Die Angst und die Verletzlichkeit in ihren Augen trafen ihn wie ein Kübel Eiswasser.

Er war es gewohnt, Angst in den Augen seiner Gegner zu sehen. Himmel, er hatte praktisch sein ganzes Leben damit verbracht, diese Angst zu schüren. Aber nie bei einer Frau, die er küsste. Und die letzte Person, bei der er ein solches Entsetzen erwartet hätte, war Roana. Er hatte Verlangen in ihr wecken wollen; er hatte ihre kühle distanzierte Perfektion erschüttern wollen.

Aber das hier hatte er nicht gewollt.

Er beobachtete, wie sie verzweifelt um Beherrschung rang. Er sollte zufrieden sein, aber das war er nicht. Stattdessen verspürte er eine vollkommene schwarze Leere bei dem Gedanken, dass er bei einem Menschen ein derartiges Entsetzen hervorrufen konnte.

Während er sie mit zusammengekniffenen Augen ansah, fragte er sich, ob sie irgendein Spiel mit ihm trieb, obgleich sein Gefühl ihm sagte, dass es nicht so war. Ein derart gedemütigter Blick ließ sich nicht vortäuschen.

Er erwartete, dass sie anfangen würde, ihn zu beschimpfen, doch sie sagte nichts. Aber vermutlich tat Roana nur selten, was man von ihr erwartete. Vielmehr rollte sie zum Rand des Diwans, beugte sich vornüber und erbrach sich auf den Fußboden.

Rafael spürte, wie ihm kalt wurde. In seinem Inneren zitterte er. Es schüttelte ihn. Seine Fingerknöchel waren kreideweiß. Er musste dreimal ansetzen, bevor er ihren Namen über die Lippen brachte.

»Roana …«

Sie drehte sich um, funkelte ihn an und sagte, ihre Stimme brechend und bebend vor eiskalter Wut: »Sprich nicht mit mir. Sprich nie wieder mit mir. Wage es nicht. Hast du gehört Malik al Maut?«

»Ja«, stieß er hervor. Er sprang auf und begann seine Habseligkeiten einzusammeln, stopfte sie mit unnötiger Vehemenz in seine Satteltaschen, griff sich seine Waffen und marschierte zur Tür.

»Wenn du jetzt gehst, ändert das nichts«, sagte sie. »Außer, dass du dann nicht nur meinen Oheim, sondern auch mich auf dem Gewissen hast. Aber das dürfte dir ja kaum etwas ausmachen, du mörderische Bestie.«

»Halt den Mund«, stieß er zwischen zusammengepressten und knirschenden Zähnen hervor. »Sag kein Wort. Zumindest nicht zu mir.«

Er fühlte, wie ihre Augen ihn durchbohrten. Er drehte sich zur Seite und sah, dass sie ihre Lippen zu einem sonderbaren, rätselhaften Lächeln verzogen hatte.

»Einverstanden«, murmelte sie. Kehrte ihm den Rücken zu. Zog die Beine an den Leib und rollte sich auf dem Diwan zusammen.

Wie angenagelt blieb Rafael neben der Tür stehen. Er konnte sich nicht bewegen. Er wusste nicht, wie lange er einfach so dagestanden hatte. Es schien mehr als eine Ewigkeit zu dauern, bis er in der Lage war, sich wieder der Tür zuzuwenden. Er hob die Hand, um sie zu öffnen. Verharrte mitten in der Bewegung, weil er plötzlich das beinahe körperliche Gefühl hatte, dass ihn jemand anstarrte. Als er den Kopf Roana zuwandte, stellte er fest, dass ihn das Gefühl nicht betrogen hatte: Sie starrte ihn an. Sah ihn wie ein gefangenes und gequältes Tier mit farblosen, hinter einem Tränenschleier verborgenen Augen an; ihr eigensinniger Mund zitterte.

Rafael ging zu ihr hinüber und setzte sich auf den Rand des Diwans. »Roana«, sagte er.

»Ach, geh weg!«, murmelte sie. »Warum lässt du mich nicht einfach hier zurück? Wozu an einem Versprechen festhalten, das du einem vermutlich toten Mann gegeben hast? Damit du mich noch ein wenig länger quälen kannst?«

»Steh auf, Roana«, sagte Rafael.

Roana hob in schmerzlicher Langsamkeit ihr Gesicht. Ihre hellen Augen ruhten fest in seinem Blick. »Es ist zu spät«, erklärte sie schlicht. »Mein Oheim ist tot.«

Darauf antwortete er nicht. Es saß einfach nur da, mit gesenktem Kopf, ließ sein langes Haar nach vorne fallen und schloss sie vollkommen aus. »Für einen Moment dachte ich, du seist anders«, murmelte er schließlich, »nicht eine von denen – ach was solls …«

Er erhob sich. »Viel Glück, Roana.« Er griff nach seinem Gepäck und ging aus dem Raum, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen.

 

Cura (Sorge)

 

 

Roana holte Rafael ein, als dieser gerade dabei war, seinen dunkelbraunen Hengst aus dem Stall zu führen. Peire sattelte mit zusammengepressten Lippen sein Pferd und bedachte die junge Frau mit einem bösen Blick. Roana seufzte und schüttelte ein paar Mal den Kopf.

»Rafael«, sagte sie, »du wirst die Naht wieder aufreißen.«

Rafael ignorierte sie, griff nach seinem Sattel und hob ihn mit steifen Bewegungen auf den Rücken seines Pferdes. Roana trat eilig näher. Sie berührte ihn zaghaft an der Schulter, aber er schlug ihre Hand zur Seite und fuhr mit einer so abrupten Bewegung herum, dass sie erschrocken zurückprallte. Roanas Verwirrung verwandelte sich schlagartig in Zorn.

»Verdammt, was ist mit dir los?«, fuhr sie ihn an. »Es war keine Kleinigkeit, deine Wunde ordentlich zu nähen! Ich habe mir doch nicht so viel Mühe gegeben, nur damit du meine Arbeit mutwillig zunichtemachst!«

»Verschwinde«, sagte er kalt. Ein Muskel in seiner Wange zuckte, und für einen Moment glaubte sie, so etwas wie Hass in seinen Augen aufflammen zu sehen.

»Oh nein«, gab Roana zurück. »Ich werde nicht verschwinden. Was würde wohl Dom Gandar dazu sagen, wenn er wüsste, dass du vorhast, mich hier schutzlos zurückzulassen?«

»Was soll das?«, zischte Rafael. »Hast du etwa Angst? Oder war der Ekel vor meiner Berührung nur gespielt?«

Mit unverhohlener Abneigung starrte sie ihn an. »Du widerst mich an. Du … du verdammtes Ungeheuer!«

»Hör auf damit, Roana«, sagte Rafael. Er hatte sich jetzt wieder vollkommen in der Gewalt, und seine Stimme klang ruhig und emotionslos. »Ich will nichts mehr hören. Ich weiß, dass Dom Gandar sich darauf verlässt, dass ich seiner Bitte nachkomme, aber seine Wünsche interessieren mich nicht mehr. Ich will nicht wissen, warum du aus Rodéna fortsollst. Wahrscheinlich hat der Herzog seine Gründe, aber die sind nicht länger wichtig. Ich will nur noch, dass du verschwindest.«

»Madonna Roana hier zurücklassen?« Peire schüttelte den Kopf. »Ich habe schon einigen Unsinn von dir gehört, Rafael. Aber das jetzt ist …« Er brach ab, als ihn Rafaels Blick traf. »Verzeih«, murmelte er. »Ich hätte mich nicht einmischen dürfen.«

»Schon gut«, sagte Rafael überraschend. »Du hast vollkommen recht. Wahrscheinlich wird sie sich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen, wenn wir sie nicht mitnehmen. Dom Gandar wäre schrecklich enttäuscht von mir und so tief bin ich noch nicht gesunken, Peire. Wir bringen sie nach Rodéna. Dort werden sie schon wissen, wie sie mit ihr fertig werden.«

Roana lächelte stumm, aber in einer Art, die Peire sichtlich erbleichen ließ. Lange, mattblonde Wimpern senkten sich wie ein Vorhang über ihre Augen. Rafael fühlt sich Gandar also verpflichtet, überlegte sie. Nicht schlecht. Das könnte von Nutzen sein ...

Rafael zog den Sattelgurt fest. »Du hast gehört, was ich gesagt habe, Roana. Ich nehme an, du hast ein Pferd. Sieh zu, dass du dein Hinterteil in den Sattel schwingst, bevor …«

»Bevor – was?«, unterbrach sie ihn. »Womit willst du mir denn drohen, Rafael? Du weißt, dass ich …«

Rafael sah sie an, und was in seinen Augen glitzerte, ließ sie erschrocken verstummen. Sie raffte mit langsamen Bewegungen ihr Haar zusammen und zog ihre Haube darüber. Sie fühlte sich wie betäubt von Rafaels Feindseligkeit. Seit sie Gandars Nachricht erhalten hatte, wurde sie von einer ununterbrochenen Kette von Rückschlägen begleitet. Und mit Rafael schien eine weitere negative Komponente hinzugekommen zu sein, ein Teil einer Welt, die sie sich in den schwärzesten Farben vorstellte. Sie war in seinen Augen nur eine Frau, der man das Recht auf eigene Entscheidungen nicht zubilligte. Plötzlich hatte Roana das Gefühl, mit einem Fluch behaftet zu sein. Jeder Mann, mit dem sie zusammentraf, brachte ihr Unglück. Und Gandar, der Einzige, bei dem das nicht so war, hatte sie im Stich gelassen. Sie wandte sich um und ging an Rafael vorbei zum Stall.

 

Peire lächelte wehmütig. »War es wirklich nötig, Madonna Roana so zu behandeln?«

»Nötig?« Rafael überlegte einen Moment und zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht. Vielleicht war es auch überflüssig.«

»Ich glaube, du verstehst mich nicht«, sagte Peire eindringlich. »Seit du dem Tod entkommen bist, hast du dich verändert, Rafael. Du bist kurz davor, auch noch den Rest deiner Menschlichkeit zu verlieren.«

»So?«, machte Rafael desinteressiert. »Bin ich das? Ich wusste gar nicht, dass ich diese Eigenschaft überhaupt besitze.«

Peire verzog gequält das Gesicht. »Rafael«, sagte er. »Ich … ich weiß, wie du dich fühlst. Aber du darfst jetzt nicht an Rache denken! Nicht in diesem Moment! Du hast mir selbst erzählt, wie viel du dem Herzog schuldest. Du kannst ihn nicht einfach im Stich lassen.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fragte Rafael sarkastisch. »Mit ihr seelenruhig durch ganz Italien reisen? Aus einem Grund, den ich nicht einmal im Entferntesten durchschaue?«

Er seufzte. »Dieses Teufelsweib hat mich mit dem Dolch angegriffen. Wer sagt mir, dass sie es nicht noch einmal tun wird? Irgendwann muss ich schließlich schlafen. Und du auch.«

»Dieses Selbstmitleid steht dir nicht«, murmelte Peire.

»Selbstmitleid«, wiederholte Rafael. »Vielleicht ist es das, mag sein. Aber ich will einfach nicht mehr tun müssen, was andere mir vorschreiben.«

»Du willst davonlaufen«, sagte Peire. »Du willst dich feige aus der Verantwortung stehlen, das ist alles.«

Rafael nickte. »Und wenn?«

Peire musterte ihn eine Weile wortlos. »Manchmal machst du mir wirklich Angst, Rafael«, murmelte er schließlich.

In diesem Moment trat Roana, ihren kupferroten Hengst am Zügel führend, aus dem Stall. Rafael sah sie an und brachte kein Wort heraus. Wieder regte sich in ihm dieses schmerzhafte und quälende Gefühl, das er schon nach ihrer überraschenden Reaktion auf seinen Kuss empfunden hatte.

Sie ist schön, dachte er, wunderschön, schrecklich schön, aber nicht lieblich. Ganz im Gegenteil! Diese Augen – vielleicht sind sie der Rauch einer Seele, die im Fegefeuer brennt. Und doch ist da etwas, was meine Sinne anspricht, mich verzehrt, mich blendet und sicher um den Verstand bringt …

Rafael schob den Gedanken verärgert beiseite. Er wandte sich seinem Pferd zu und zog mit sichtlicher Anstrengung den Sattelgurt noch einmal nach. Seine Wunde schmerzte höllisch, aber damit wurde er fertig. Was ihm mehr zu schaffen machte, war ein Verdacht, der sich ungebeten aber beharrlich in ihm einnistete. Er hatte das Gefühl, dass es nicht Roana war, der sein Zorn gelten sollte. Sie war ein Werkzeug, wie er. Es war Herzog Gandar, der sie beide für etwas benutzte, auch wenn Rafael vorerst noch nicht wusste, wie, oder zu welchem Zweck. Also war es Gandar, auf den er zornig sein sollte. Aber er konnte es nicht. Trotz allem war der Herzog der Mann, dem er sein Leben verdankte.

Roana schenkte den Männern ein süßes Lächeln. »Falls es den Herren genehm ist, können wir aufbrechen«, bemerkte sie.

Sie verließen Ahmads Besitz und führten ihre Pferde am Zügel durch den Basar. Wie selbstverständlich nahmen Rafael und Peire Roana in ihre Mitte. Sie sagte dazu kein Wort, als Peire ihr jedoch beim Stadttor in den Sattel helfen wollte, wich sie seinen Händen aus. Mit einer behänden Bewegung zog sie sich in den Sattel und klopfte ihrem unruhig tänzelnden Pferd beruhigend den Hals. Peire und Rafael saßen ebenfalls auf. Sobald sie außer Sichtweite der Stadtwachen waren, trieb Roana ihren Hengst zu einer schnelleren Gangart an.

»Nicht so eilig, Roana«, sagte Rafael.

Roana brachte ihr Pferd zum Stehen und drehte sich im Sattel zu ihm um. »Oh«, machte sie. »Warum nicht? Willst du erst bei Einbruch der Dunkelheit in Rodéna ankommen?«

Rafael starrte sie drei, vier Herzschläge lang durchdringend an, aber Roana hielt seinem Blick gelassen stand. »Es mag zwar sein«, sagte sie, »dass wir alle nach Rodéna wollen, aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir auch gemeinsam reisen. Ihr würdet sowieso nicht mit mir mithalten können, also versucht es erst gar nicht.«

Sie stieß ihrem Hengst die Fersen in die Flanken und flog im nächsten Augenblick im Galopp die Straße entlang.

Ein verschlagenes Grinsen breitete sich langsam über Rafaels Gesicht. Roana auf dem dahinrasenden Hengst bot einen atemberaubenden Anblick und er beschloss, ihn noch einen Moment zu genießen. Schließlich steckte er zwei Finger in den Mund und ließ einen schrillen Pfiff ertönen. Der Fuchshengst blieb abrupt stehen. Roana wurde unsanft nach vorne geschleudert und rutschte halb aus dem Sattel, bevor es ihr gelang, im letzten Augenblick Mähne und Hals des Pferdes zu umklammern.

Peire warf Rafael einen verblüfften Blick zu.

»Der Fuchs ist einer von Gandars Hengsten«, sagte Rafael schlicht. »Ich habe ihn ausgebildet.«

»Und wie ich dich kenne«, sagte Peire grinsend, »hast du ihm ein paar Kunststückchen beigebracht, von denen unsere liebe Roana nichts weiß …«

Rafael nickte weise. Der Hengst tänzelte irritiert und brach immer wieder zur Seite aus, sobald Roana versuchte, sich in den Sattel hochzuziehen. Rafael ließ sein Pferd an ihr vorbeilaufen, schnippte einmal mit den Fingern und ihr Hengst trottete folgsam wie ein junger Hund hinter ihm her. Roana fluchte in drei Sprachen, während sie nach dem vorderen Rand des Sattels griff und sich mühsam aufrichtete.

»Diese Schlacht hast du vielleicht gewonnen, Rafael«, sagte sie erbost. »Aber das macht nichts. Unser Krieg hat erst begonnen …«

Rafael warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus.

Mysterium (Geheimnis)

 

 

Auf dem weiteren Ritt zu Gandars befestigter Villa schwiegen alle drei. Rafael vermochte sich nicht zu erinnern, wann er sich das letzte Mal so erschöpft und ausgelaugt gefühlt hatte. Er wusste, dass er durch die Anstrengung des Reitens mehr Kraft verbrauchte, als er sich leisten konnte. Er kämpfte gegen das übermächtige Verlangen, einfach die Augen zu schließen und sich auf den Hals seines Pferdes sinken zu lassen.

»Hast du Fieber, Rafael?«, fragte Peire.

Rafael wandte den Kopf und sah Peire stirnrunzelnd an. Er hatte nicht gemerkt, dass der Sänger an seiner Seite aufgetaucht war. Ein deutliches Anzeichen für den Grad seiner Erschöpfung.

»Noch nicht«, sagte er nach einer Weile.

Peire grinste schief. »Dann warte damit auch besser, bis wir in Rodéna sind.«

»Witzbold«, erwiderte Rafael. Er funkelte seinen Freund einen Herzschlag lang wütend an und sah dann zu Roana hinüber. Sie saß stocksteif im Sattel und starrte vor sich hin.

»Eine Silbermünze für deine Gedanken«, sagte er.

»Das wäre ein schlechter Handel.«

Rafael verzog kurz die Mundwinkel nach oben. »Weißt du was? Ich glaube, du machst absichtlich ein Drama aus Gandars Abwesenheit, um von deiner geplanten Heimreise abzulenken.«

Roana wandte den Kopf. Der Blick, mit dem sie Rafaels Gesicht musterte, war finster. »Falls es deine Absicht war, mich mit deinem Argwohn zu kränken, hast du dein Ziel erreicht.«

»Und falls es deine Absicht war, mit deiner Arroganz meinen Argwohn zu nähren, hast du ebenfalls dein Ziel erreicht«, konterte Rafael.

»Dann können wir ja beide zufrieden sein«, knurrte sie. »Und da habe ich doch tatsächlich für einen Augenblick angenommen, in dir jemanden gefunden zu haben, der meine Bedenken teilt. Aber wie es scheint, kennst du den Herzog längst nicht so gut, wie ich dachte.«

Rafael betrachtete sie kopfschüttelnd. »Welches Spiel spielst du, Roana?«

Sie lachte leise und hart und in einem Ton, der Rafael erschauern ließ, verschränkte die Hände über dem Sattelknauf und sah ihn an. »Ich meine es ernst. Wir werden Gandar nicht wiedersehen, wenn wir nichts unternehmen, weißt du das?«

Rafael antwortete nicht.

Roana schien sein Schweigen als Zustimmung zu deuten. »Du fragst dich, ob ich nicht doch recht habe, nicht war? Gandar ist innerlich schon lange tot. Ein lebender Toter, der bisher nur seinen Leuten zuliebe noch nicht umgefallen ist. Aber diesmal wird ihn nichts mehr halten.«

»Du sprichst in Rätseln«, gab Rafael kurz angebunden zurück.

»Du glaubst mir nicht? Weißt du nicht, was in Navas passiert ist, Rafael?«, fragte sie erstaunt. »Dabei war es doch eine der Schauergeschichten, die man sich monatelang in Rodéna erzählte. Das heißt, wenn der Herzog nicht in der Nähe war.«

Sie sah Rafael an, und obwohl er sich bemühte, desinteressiert zu wirken, huschte ein triumphierendes Lächeln über ihre Züge, und sie fuhr fort. »Um die Burg meines Vaters zu retten, begab Gandar sich als Geisel in die Hand der Belagerer. Deren Anführer hielt sich jedoch nicht an die Absprachen und verkaufte Gandar an seinen Feind, den Kardinal Valo. Der hat ihn in Navas in ein schauriges Kellerloch gesperrt und vier Monate Rache an ihm genommen. Weiß der Teufel für was. Als Ahmad ihn endlich befreien konnte, war Gandar mehr tot als lebendig. Und als er sich erholt hatte, war er … nicht mehr derselbe Mann.«

»Ahmad sagte, er sei vollständig genesen«, erwiderte Rafael.

»Körperlich ja. Aber du glaubst doch nicht etwa, dass vier Monate Haft in einem höllischen Kerker danach einfach – vorbei sind?«

»Nein, natürlich nicht.« Es ärgerte ihn, dass sie etwas so Persönliches über Gandar wusste, er dagegen noch nie davon gehört hatte.

Es gab tausend Fragen, die ihm auf der Zunge lagen, aber er zog es vor, sich nicht anmerken zu lassen, wie wenig er über Gandars Vergangenheit wusste. Nach dem, was Roana angedeutet hatte, stand sie dem Herzog näher, als ihm bewusst gewesen war. Dafür wollte er sie hassen, wollte seinem Zorn freien Lauf lassen, aber er konnte es nicht. Seine Gefühle waren in Unordnung.

Zwischen Roanas Brauen erschien eine steile Falte. »Du bist verärgert«, stellte sie fest. »Warum?«

Rafael runzelte die Stirn, starrte einen Moment den Mähnenkamm seines Pferdes an, als gäbe es dort etwas Besonderes zu entdecken, und hob dann ruckartig den Blick.

»Was verschweigst du mir?«, fragte er scharf. »Du weißt mehr über Gandars Verschwinden, als du bisher zugegeben hast. Und ich will jetzt wissen, was hier gespielt wird.«

Roana lächelte und klatschte in die Hände. »Bravo Malik al Maut. Jetzt hast du es mir aber gegeben. Ich wusste gar nicht, dass du einen so ausgeprägten Sinn für Dramatik hast.« Sie lachte leise und wurde übergangslos ernst, ehe Rafael zu einer Erwiderung ansetzen konnte. »Aber du hast recht, Rafael. Vielleicht weiß ich tatsächlich mehr über Gandars Verschwinden; zumindest habe ich einen Verdacht, was den möglichen Auslöser für sein seltsames Verhalten angeht. Ich muss in Rodéna nur noch einiges nachprüfen.«

»Dann … glaubst du tatsächlich, dass der Herzog absichtlich verschwunden ist?«, fragte Rafael überrascht. »Dass er sein Haus, seine Güter, die Menschen, die von ihm abhängig sind, einfach im Stich lässt, ohne ein Wort der Erklärung?«

»Wäre es nicht so, wäre ich jetzt nicht hier, oder? Selbst ich bin nicht verrückt genug, ohne triftigen Grund alleine nach Triormani zu reiten.«

»Komm zur Sache«, knurrte Rafael. »Wurde Gandar bedroht?«

»Bedroht?«, fragte Roana. »Von wem denn? Der Herzog hat keine Feinde. Nicht mehr.«

Oh doch, dachte Rafael, die hat er. Mächtige Feinde. Gegner, die vor nichts zurückschrecken, was ihren Zielen dient, weder vor Entführung noch vor Erpressung. Das Schwierige daran war, dass Gandar von der Bedrohung nichts ahnte. Dieses Wissen lastete wie ein Felsen auf Rafael, aber daran konnte er nichts ändern. Es gab Kämpfe, die er alleine ausfechten musste.

»Woher weißt du das alles, Roana?«, fragte er. »Woher weißt du, dass Gandar in Gefahr ist, wenn du nicht einmal weißt, ob er seine Ländereien tatsächlich verlassen hat? Was, wenn er nur einen Umritt macht, um bei seinen Bauern nach dem Rechten zu sehen?«

»Ich weiß es und das muss genügen«, antwortete Roana scharf.

Rafael schüttelte wütend den Kopf. »Das muss es nicht, Roana. Du glaubst, dass Gandar fahrlässig sein Leben aufs Spiel setzt, aus Gründen die–«

»Du wählst die falschen Worte, Rafael«, sagte Roana ruhig. »Ich glaube es nicht. Ich weiß es. Aus irgendeinem Grund hatte Gandar keine Wahl. Und du vergisst, dass ihm sein eigenes Leben nicht mehr allzu viel wert ist, seit er aus Navas zurückgekehrt ist.«

Rafael sah sie an. »Was ist in Navas geschehen, Roana?«

Roana antwortete nicht. Ihre Mundwinkel zuckten, und ihre Hände verkrampften sich so stark um die Zügel, dass die Nägel tief in die Haut schnitten und ein dünner Blutstropfen hervorquoll. Sie bemerkte es nicht einmal.

»Roana …«, murmelte Rafael.

Alarmiert wandte sie ihm das Gesicht zu und musterte ihn aufmerksam.

»Hör auf, mich so anzustarren«, fuhr Rafael sie an. »Ich werde dir nicht den Gefallen tun, ohnmächtig vom Pferd zu kippen.«

»Nett von dir, mir das zu sagen. Es erleichtert ein Mädchen doch ungemein, einen großen, starken Beschützer an seiner Seite zu wissen«, sagte sie sanft.

Die Art, in der sie die Worte aussprach, reizte Rafael noch mehr. »Irgendjemand hat es versäumt, dir ein paar Manieren einzubläuen.«

Roana lächelte überheblich. »Das möchtest du jetzt wohl nachholen? Denke nicht einmal daran!«

Sie rief nach dem Sänger. Sobald Peire an ihrer Seite erschien, befahl sie ohne Umschweife: »Reite nach Rodéna voraus und lass eine Sänfte bereit machen. Man soll uns entgegenreiten und …«

»Ich brauche … keine Sänfte«, murmelte Rafael. Seine Worte klangen lahm und hilflos, und genauso fühlte er sich. Er wusste, dass Roana recht hatte, auch ohne die Schmerzen, ohne die Schweißtropfen, die auf seiner Stirn standen. Er wandte sich dem Sänger zu und sagte ihm leise ein paar Worte. Peire warf seinem Freund einen besorgten Seitenblick zu. »Du bittest mich tatsächlich, Nael zu suchen? Himmel, warum hast du mir nicht gesagt, wie schlecht es dir wirklich geht?«

»Betrachte es als Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Rafael. »Genauso wie Nael es anscheinend als Vorsichtsmaßnahme betrachtet, uns folgen.«

»Wie bitte? Nael folgt uns?«

Rafael nickte knapp. »Seit Triormani.«

»Seltsam«, bemerkte Peire. »Warum tut er das?«

»Seine Gründe sind mir im Augenblick ziemlich gleichgültig, das kannst du mir glauben.«

Peire stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor er sein Pferd wendete und davongaloppierte.

Rafael und Roana ritten im Schritt weiter. »Wer ist dieser Nael?«, fragte sie.

»Ein Medicus.«

»Und? Weiter? Ist er Freund oder Feind?«

Rafael antwortete nicht. Die Umstände seiner Bekanntschaft mit Nael gingen niemanden etwas an, schon gar nicht Roana.

»Na gut«, sagte Roana mit einer matten, ausdruckslosen Stimme voll tödlicher Gelassenheit, »ich hatte mich schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, du wärst ein klein wenig anders als die anderen und jetzt-«

»Welche anderen?«, fragte Rafael scharf. »Und wie anders?«

»Anders als die meisten anderen Männer. Klüger. Denn in Bezug auf das, was ein Mädchen – eine Frau – empfindet, sind die männlichen Wesen, die ich bis jetzt kennengelernt habe, nicht eben – sehr klug. Wenn dir also daran gelegen ist, nicht mit meinem Dolch zwischen den Rippen zu enden–«

»Himmel Roana!«

»– solltest du einiges über mich wissen«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »So zum Beispiel, dass es meiner Meinung nach keine Rechtfertigung dafür gibt, eine Edelfrau wie einen Gegenstand zu behandeln. Genau das hast du nämlich getan. Stell keine Fragen, Roana, schweig still, Roana, in die Ecke mit dir, bis zum nächsten Gebrauch.«

»Da magst du recht haben«, gab er gelassen zurück. »Aber schau dich doch einmal an. Deine Launen wechseln schneller als das Wetter. Du bist wild, unberechenbar, vulgär, – also kurzum etwas, was man am besten nur mit der Kohlenzange anfasst – und da erwartest du, dass ich dich wie eine Edelfrau behandle?«

»Ich bedauere, nicht besser gezielt zu haben«, sagte sie mit kaum verhohlener Wut.

Er zog vielsagend die Brauen hoch.

»Es würde mir wirklich Spaß machen, dir den Bauch aufzuschlitzen. Ganz langsam. Nur wäre es leider ein bisschen zu kompliziert, das Peire oder den anderen zu erklären. Also bist du sicher. Im Augenblick jedenfalls.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du hast mich einmal überrascht, Roana. Das gelingt dir kein zweites Mal.«

»Bist du dir da sicher?«

Rafael antwortete nicht. Er wandte den Blick von ihrem Gesicht und ließ ihn langsam an ihrem Körper hinabgleiten. Herausfordernd.

Roana atmete hörbar ein. Für einen winzigen Moment glaubte Rafael beinahe, so etwas wie Erregung in ihren Augen zu sehen, bevor sie ihn wütend anfunkelte. »Ich weiß, was du bezweckst«, zischte sie. »Spar es dir. Das mag bei anderen Frauen funktionieren, bei mir jedoch nicht.«

Rafael unterdrückte den Impuls, zu grinsen, aber er war nicht schnell genug. Roana schnappte wütend nach Luft und setzte zu einer ohne Zweifel bissigen Erwiderung an, wobei sie jedoch von lauten Zurufen unterbrochen wurde.

Eine Gruppe Bediensteter in den herzoglichen Farben trabte heran, allen voran Hauptmann Amaro. Wie sich herausstellte, führte er einen von drei Trupps, deren Aufgabe es war, nach Roana zu suchen.

»Der Herzog kann wirklich stolz auf euch sein«, spöttelte Rafael. »Immerhin habt ihr Madonna Roanas Fehlen schon nach einem Tag bemerkt.«

Amaro machte eine unbestimmte Geste, die weder zustimmte, noch verneinte. »Sie verschwindet öfter, ohne zu sagen, wohin, Herr. Wir haben uns angewöhnt, uns erst Sorgen zu machen, wenn sie länger als einen Tag fortbleibt.«

»Das hört mir ab sofort auf«, sagte Rafael. »Hast du verstanden, Roana?«

Amaro konnte sich ein kleines Siegerlächeln nicht versagen. Roana dagegen sah aus, als wolle sie mit den Fäusten auf ihn losgehen. Er konnte sehen, wie sie sich mühsam zusammennahm. Ein fast unmerkliches Straffen der Schultern verriet sie, ein Anspannen der Wangenmuskeln.

»Lasst uns weiterreiten«, sagte er. Seine Stimme klang plötzlich so matt, wie er sich fühlte. Seine Hände zitterten und vielleicht waren seine Augen glasig, denn Roana starrte ihn einen Moment lang beinahe erschrocken an. Rafael winkte ab und trieb sein Pferd vorwärts. Er konnte es sich nicht erlauben, seiner Erschöpfung nachzugeben, bevor sie Gandars Villa erreicht hatten.

Mit einem Seufzer der Erleichterung brachte er sein Pferd schließlich vor dem Stallgebäude zum Stehen. Er zitterte jetzt beinahe am ganzen Körper und die Aufgabe, sein Bein über die Kruppe seines Hengstes zu schwingen, erschien ihm unlösbar.

Roana winkte zwei Stallknechte herbei. »Helft ihm vom Pferd«, befahl sie knapp. »Aber seid vorsichtig. Seine Schulter ist verletzt.«

Rafael wollte protestieren, aber Roanas herausfordernder Blick brachte ihn dazu, sich widerstandslos helfen zu lassen. Den Triumph, ihn mit der Nase voran im Staub landen zu sehen, konnte er ihr unmöglich gönnen.

Roana griff nach den Zügeln von Rafaels Pferd, aber Amaro kam ihr zuvor. Roana sagte nichts dazu, wenn es ihr auch schwerfiel, den Hauptmann nicht mit harschen Worten zurechtzuweisen. Sie begann, sich allmählich wie ein Kind zu fühlen, das an einem unsichtbaren Gängelband herumgeführt wurde und dem jeder sagen zu müssen glaubte, was es zu tun und zu lassen hatte.

Schweigend griff sie nach den Zügeln ihres eigenen Pferdes und führte es in den Stall.

 

 

Vier Tagesritte entfernt, tief in den Wäldern Kalabriens, saß Gandar von Rodéna auf einem umgestürzten Baumstamm und entfernte sorgfältig die Verkleidung, die ihn in einen Greis mit zottigen grauen Haaren verwandelt hatte. Auf dem Festland war es nicht länger notwendig, sich unkenntlich zu machen. Hier kannte ihn niemand. Auf Sizilien dagegen war der Herzog von Rodi ein vertrauter Anblick.

Er hatte nicht riskieren wollen, dass sich jemand erinnerte, ihn auf dem Weg nach Messina oder auf der Fähre zum Festland gesehen zu haben.

Ahmad kannte seine Gewohnheiten und er war sehr geschickt darin, einzelne Mosaikteilchen zu einem Bild zusammenzufügen. Seine Reise durfte keine Spuren hinterlassen. Sein Abschied von Rodéna war so endgültig wie ein Schritt über den Rand der Erdscheibe.

Ich gehe.

Ich bin fort …

Nichts bleibt zurück.

Mit einem tiefen Seufzer vergrub Gandar das Gesicht in den Händen.

Ohne dich, liebste Gwen, bin ich ein elend unglücklicher Mann. Nächtelang hab ich mit dem einzigen Brief von dir in der Hand geschlafen, so oft, dass das Pergament vom Schweiß meiner Haut aufgeweicht wurde. Oft sehe ich dich des Nachts neben meinem Bett stehen. Ich springe auf, um dich zu umarmen, und muss nur allzu bald feststellen, dass die dunklen Stunden mir etwas vorgegaukelt haben. Ich weine, wenn ich merke, dass ich nichts in Händen halte …

Gandar ließ die Arme sinken und sah einem Käfer zu, der zu seinen Füßen im Moos krabbelte. Seine Brust schmerzte, eine tiefe, unheilbare Wunde. Stundenlang, so schien es, saß er da und starrte zu Boden.

Die Nachmittagssonne kroch zwischen die Bäume und blendete ihn. Schwerfällig erhob er sich, bestieg sein Pferd und griff nach dem Zügel seines Packpferdes.

Bald Gwen … bald bin ich ein freier Mann und nichts soll mich je wieder von dir trennen.

Was Gandar jedoch völlig außer Acht ließ, war die Tatsache, dass er zwei Pferde bei sich hatte, die Ahmad beinahe genauso gut kannte wie seine Gewohnheiten.

 

 

Gandars Villa thronte auf einer felsigen Anhöhe. Sie war aus grauen Steinen, mit spitzen gotischen Bögen, hohen Fenstern mit bleigefasstem Glas, und jeder Raum war von Licht überschwemmt. Überall gab es große Kamine gegen die winterliche Kälte und der Innenhof war in ein Blumenparadies verwandelt worden. Er war mit einer komplizierten Konstruktion aus Balken und bleigefasstem Glas überdeckt, damit Zipporas Vögel frei umherfliegen konnten. Ahmad schickte nach Apulien und sogar nach Afrika, um immer neue und schönere Sorten zu bekommen. Die Vögel zwitscherten und sangen und zeigten ihre farbenprächtigen Federn.

Roanas Lieblingsplatz war eine von üppigen Pflanzen umgebene Nische, in der ein Diwan nach Art der Sarazenen stand.

Im Augenblick jedoch fühlte sie sich viel zu ruhelos, um sich auf das Buch zu konzentrieren, das sie sich aus ihrer Kammer mitgebracht hatte. Seit ihrer Ankunft war ein ganzer Tag vergangen. Vierundzwanzig Stunden, in denen sie weder von Gandar, noch von Rafael etwas gehört hatte. Roana stand auf, legte ihr Buch zur Seite und schlenderte durch den Hof. Die Morgensonne fiel durch das unterteilte Glas, und das Licht warf ein Schachbrettmuster über den Boden.

Wieder und wieder stellte sie sich die Frage, welchen Grund Gandar haben konnte, sie zu ihren Eltern zurückzuschicken. Wie konnte er ihr das nur antun? Oder Judith, ihrer Mutter, die beim Anblick der leblosen Gletscheraugen ihrer Tochter jedes Mal zurückzuckte – auch wenn sie sich die größte Mühe gab, es niemanden, vor allem nicht Roana – merken zu lassen.

Ihre Eltern konnten mit ihr nichts anfangen. Sie war einfach nicht wie andere junge Frauen, würde es nie mehr sein. Anfangs hatte ihr Vater noch versucht, sie zu verheiraten. Zugegeben, es waren hübsche junge Männer gewesen, die er ihr präsentiert hatte. Aber nachdem sie den Ersten beinahe entmannt und dem Nächsten einen Dolch an die Halsschlagader gesetzt hatte, während er versuchte, ihr die Hand zu küssen, waren diese Pläne schleunigst fallen gelassen worden. Seitdem verbrachte sie die meiste Zeit mit ihrem Oheim Gandar oder auf ihrem eigenen kleinen Gut, das er ihr im vergangenen Frühjahr geschenkt hatte.

»Madonna Roana?«

Roana wirbelte herum. Zu sehr in ihre trüben Gedanken versunken, hatte sie nicht bemerkt, dass Zippora, die Frau des Hauhofmeisters hereingekommen war.

»Rafael lässt anfragen, ob drei Tage genügen, um dein Gepäck vorzubereiten«, sagte Zippora.

»Ich habe nicht die Absicht, abzureisen«, beschied ihr Roana knapp.

Zippora hob begütigend die Hand und betrachtete sie mit einer Miene, die Ärger ebenso wie Sorge ausdrückte.

»Nun erschlage nicht gleich den Boten für die Nachricht, die er überbringt. Rafael möchte, dass du–«

»Ich glaube nicht, dass er mir etwas zu sagen hat«, fiel Roana ihr ins Wort. »Weder gehört ihm Rodéna, noch ist er mein Verwandter.«

»Aber er ist der Stellvertreter des Herzogs. Solange Gandar nicht da ist, hat Rafael das Kommando.«

»Das gibt ihn noch lange nicht das Recht, über mich zu bestimmen.«

Zippora seufzte und streckte den Arm aus. Ein neugieriger Vogel trippelte heran und landete zutraulich auf ihrer Hand. Geistesabwesend reichte sie dem Tier ein wenig Futter.

»Dom Gandar hat diesmal gar nichts davon erwähnt, dass Rafael nach Rodéna kommen will«, bemerkte sie beiläufig. »Wusstest du etwas davon?«

»Nein.«

»Nicht? Trotzdem hast du genau zum rechten Zeitpunkt die Flucht ergriffen? Seltsam …«

»Wer behauptet denn so etwas?« Roana tat, als falle sie aus allen Wolken.

Zippora stieß hörbar die Luft aus. »Mir steht nicht der Sinn danach, mich von dir für dumm verkaufen zu lassen. Dom Gandar mag ja glauben, dass sich deine unsinnige Furcht vor Männern gebessert hat. Mir dagegen machst du nichts vor. Du bist davongelaufen.«

Roana lächelte schmallippig. »Großspurige Finsterlinge wie Rafael jagen mir keine Angst ein.«

»Oh nein, sie versetzen dich regelrecht in Panik«, konterte Zippora. »Bei Allah, ich bin es leid, Zeugin deiner Feigheit sein zu müssen! Du stehst da mit tragischer Miene und unterstellst jedem Mann unlautere Absichten, aber du hast dir niemals, nicht einen Herzschlag lang, die Mühe gemacht, einen von ihnen näher kennenzulernen. Du …«

»Jetzt gehst du zu weit, Zippora«.

»Dann nenne mir einen einzigen, glaubwürdigen Grund, wieso du ohne Eskorte und in Verkleidung davongeritten bist.«

»Ich glaube kaum, dass ich verpflichtet bin, meine Privatangelegenheiten mit dir zu erörtern«, gab Roana verdrossen zurück.

Zippora warf den Vogel in die Luft und sah zu, wie er in einem Wirbel farbenprächtiger Federn davonflatterte. »Privatangelegenheiten gibt es für deinesgleichen schon lange nicht mehr«, entgegnete sie. »Deshalb sagst du mir jetzt besser, wo du warst.«

Roana ging auf die Frage nicht ein. »Kommt es dir nicht seltsam vor, dass Gandar allein unterwegs ist? Ein Herzog ohne Begleitritter – das gehört sich doch nicht …«

Zippora vollführte eine wegwerfende Geste. »Deine Bedenken kommen ein wenig zu spät, meinst du nicht? Obendrein sind sie vollkommen unbegründet. Ich … wir wissen doch beide, warum Gandar von Zeit zu Zeit in die Einsamkeit flüchten muss. Missgönnst du ihm die Möglichkeit, seinen Seelenfrieden zu erhalten?«

»Nein, natürlich nicht.«

Zippora betrachtete sie einen Moment mit zur Seite geneigtem Kopf. »Wie kommt es eigentlich, dass du so genau über Herzog Gandars Angelegenheiten Bescheid weißt? Du warst in Triormani, hab ich recht? Bei meinem Bruder.«

»Ahmad ist nicht in Triormani, Zippora.«

»Also warst du tatsächlich da. Oh ihr Götter! Wie kann ein Mensch nur über so wenig Verstand verfügen wie du!«

Roana schnitt eine Grimasse des Unwillens. »Wärst du wohl so nett, Zippora, mich dieses eine Mal mit deiner Predigt zu verschonen? Ich finde es bedenklich, dass weder der Herzog noch dein Bruder da sind, wo sie zu sein hätten. Nicht einmal Ridwân konnte mir sagen, wohin sein Herr geritten ist …«

»Es sind Männer, Roana. Sie sind uns Frauen keine Rechenschaft schuldig, über ihr Tun und Lassen.«

»Oh, erspare mir die klugen Reden. Sage mir lieber, was du über Gandars Pläne weißt.«

»Gar nichts weiß ich darüber«, entgegnete Zippora. Es klang ungehalten. »Bist du deshalb ohne angemessene Begleitung nach Triormani geritten, nur um meinen Bruder auszufragen?«

»Es war die nächstliegende Lösung.«

»Tja. Was für ein dummer Zufall, dabei ausgerechnet Rafael in die Arme zu laufen«, spöttelte Zippora. »Dem einzigen Mann, der sich nicht verpflichtet fühlen muss, Rücksicht auf deine Launen zu nehmen.«

»Herrgott noch mal, Zippora! Du stellst es immer so dar, als hätte ich eine anstößige Krankheit. Wann begreifst du endlich, dass ich eine erwachsene Frau bin, die durchaus in der Lage ist, eigene Entscheidungen zu treffen?«

»Wenn du anfängst, dich wie eine solche zu benehmen.«

Roana runzelte die Stirn. Sie wünschte sich, Zippora könnte einmal etwas sagen, ohne es mit einem Vorwurf zu verbinden. »Großartig. Ich ziehe mir ein Kleid an, reite im Damensattel und verlasse Rodéna niemals ohne angemessene Eskorte. Wir wollen doch nicht, dass Gandars Männer sich nutzlos fühlen, weil ich ihren Schutz nicht brauche, nicht wahr?«

»Du brauchst ihn sehr wohl. Denn in Zukunft wirst du auf diese schrecklichen Dolche verzichten, die du überall an deinem Körper zu verstecken pflegst. Es gehört sich nicht für eine Dame, sich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: Kiselev Andrey Valerevich/Shutterstock.com, Megin/Shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2010
ISBN: 978-3-7309-0185-4

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Widmung:
IN MEMORIAM Ferdinand Brüning Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern; tot ist nur, wer vergessen wird. (Immanuel Kant / Lucius Annaeus Seneca)

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