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Der Morgen danach


I. Simones Gedankenwelt


Als wir, am Abend im Hotel „La Reviera“ in Khao Lak eintreffen, herrscht eine frohe Stimmung in unserer Kleingruppe, vier Erwachsene und fünf Kinder, zusammen mit den Schneiders. Rasch packen wir aus, ziehen luftigere Kleidungen an und treffen wir uns in der Strandbar des Hotels. Bei einem Singha-Bier plaudern wir, betrachten die Kinder, die in warmen Sand beim Lichtmond spielen und machen Pläne für den nächsten Morgen. Erst spät in der Nacht verabschieden und begeben wir uns in unseren Hotelzimmer.
Der Tag beginnt für uns mit Toast, Marmelade und Käse genauso wie zuhause. Von Schneiders sehen wir noch nichts. Für 9:30 Uhr sind wir am Strand verabredet, dort wo wir gestern gefeiert haben. Vielleicht sind die Freunde schon dort, oder kommen erst.
„Lass uns nicht mehr warten! Gehen wir am Strand“, sage ich begeistert. „Die Morgenstunden liebe ich am meisten. Komm gehen wir.“
„Nein, ich will auf Michael warten“, ruft Alexander aus. „Wir wollen ein Schwimmwettbewerb machen.“
„Es kann sein, dass Michael schon dort ist.“, bemerkt Leo und nimmt Pascal in die Arme.
Ich fange Maries Hand, streichle Alexanders Kopf um ihn zu besänftigen und verlassen das Büffet.
Der Anblick ist wunderschön. Wir machen uns bequem. Aber die Schneiders sind nirgendwo zu sehen. Bestimmt schlafen sie noch tief und fest. Ich, Alexander und Pascal bleiben am Ufer. Leo und Marie sind schon im Wasser.
„Schatz“, höre ich Leo rufen. „Schatz“. Ich liebe seine Stimme – so kraftvoll und dennoch so zart. Alles was mich umgibt: die streichelnden Sonnenstrahlen, der nach Meer duftende Wind, der ganz sacht meine Haut berührt und meinen Körper für einen kurzen Moment zum vibrieren bringt, machen meine Bemühungen, aufrecht zu sitzen zwecklos. Nach unzähligen Anstrengungen, mich aus diesem wohltuenden Zustand zu lösen, stehe ich endlich auf und winke ihnen zu.
„Simone, schau dir an, was die Marie kann!“, brüllt Leo und ist gerade dabei seine Tochter aus dem Wasser zu heben. Jetzt kommt ein spannender Moment den ich nicht verpassen darf. So greife ich nach der Kamera und bin bereit für die Aufnahme. Gespannt gebe ich Leo das Startzeichen. Sofort hebt er Marie aus dem Wasser samt ihren Schwimmreifen und Schwimmflügel. Er lässt sie zu ihrem Vergnügen mit voller Wucht ins kalte Nass fallen. Die Tropfen in ihrem Gesicht funkeln in Sonnenschein. Ihr Mund öffnet sich in einem breiten Lächeln und die Hände platschen nacheinander in das blaue Meer. Leo stemmt sie wieder hoch, küsst ihre nassen Locken, lässt sie wieder fallen und erneut genießt sie das aufregende Planscherlebnis.
„Kommt ihr beide nicht mehr raus? Habt ihr immer noch nicht genug?“ Ich sehe wie glücklich sie sind, ich blicke über ihnen hinaus auf das Meer. Es ist so friedlich, so still. Fast keine Welle ist am Horizont zu erkennen. Nicht einmal die Vögel wollen mit ihrem Zwitschern diesen wunderbaren Frieden stören. Amüsiert lege ich mich wieder hin. Doch zuvor beobachte ich den kleinen Pascal, der voller Glückseligkeit in seinem aufgebauten Zeltchen schläft. Wie gut dieser feine Sand unter meinem Körper sich anfühlt. Oh, ich liebe das Meer, ich liebe dieses Land, dieser Ort und die Menschen die für einen da sind, wenn man sie braucht. Ich drehe den Kopf nach links und beobachte „unseren Häuptling“, wie Leo ihn nennt. Alexander ist vor kurzem 13 geworden, aber für sein Alter ein richtig großer Bursche mit dunklen braunen Haaren, ganz wie der Vater. Die langjährige begeisterte Teilnahme am Schwimmkurs macht sich durch den zunehmenden muskulösen Körperbau bemerkbar. Die Liebe für Natur und Friede hat er aber von mir. Ich schließe ganz langsam die Augen und spüre den Wind nicht mehr. Es ist so ruhig, fast zu ruhig. Ich denke an nichts. Ich bin ganz entspannt und genieße die Stille. Meine Hände berühren die zwei Kinder die seitlich von mir liegen. Die wohlige Wärme, die von allen Seiten hervorbricht: aus der Luft und meinem Herzen, aus der Erde und mein Bauch, erfüllt meine Seele. Ich bin voller Freude. Der Atem strömt einfach und in meinem Herzen schwingt die Kraft der Liebe. Ich kann mir nicht in diesem Augenblick vorstelle, dass es jemals anders war. Ich betrachte mein Leben als vollendet! Meine Welt und die meines Geliebten ist vollkommen und als Krönung, die Kinder. Unbeschwert, froh und sorglos genieße ich diesen goldenen Tag! Nichts kann mich aus dem Gleichgewicht bringen, auch wenn jetzt die Vögel laut zwitschern, ...sehr laut!
II Nilatis Gedankenwelt
Mein Leben ist schon immer schwer gewesen. Am Anfang waren wir arm, aber trotzdem glücklich, auch wenn wir manchmal nur einmal am Tag aßen – die Eltern liebten uns. Dann stirbt mein Vater und mein Bruder erkrankt an einer schweren Lungenentzündung. Nach ein paar Monaten stirbt er auch. Es gibt Tage, in denen ich und meine Mutter nichts essen, damit die Zwillinge etwas zu sich nehmen können. Dennoch eines Tages fiebern die kleinen Schwestern. Und dann....
Für einen Moment spüre ich meine Einsamkeit, aber im gleichen Augenblick vertreibe ich sie mit der gleichen Kraft, mit der sie über mich fiel. Mein Atem stockt und die Muskeln verkrampfen sich. Das dumpfe Pochen meines Herzens lässt die Angst in meinem Inneren steigern. Ich versuche mich zu beruhigen. Wie kann ich mich aber beruhigen, wenn mich die Vergangenheit immer wieder einholt? Wie kann ich aufhören die Schmerzen meiner Seele zu spüren, wenn ich weiterhin, diese Kinder sehen, die missbraucht werden? Wie kann ich die Mütter und die Väter noch als wertvolle Menschen anerkennen, wenn sie doch so viel Leid über ihre Sprösslinge ergehen lassen? Nein, das kann ich nicht! Sie sind keine Menschen mehr, sie sind menschliche Abfälle. Sie sind nur noch üble Seelen, die für Geld alles auch das was ihnen heilig ist, verkaufen würden!
„Madame, Nilati geht’s Ihnen gut?“
Ich drehe den Kopf und sehe dieses erbärmliche Stück Mensch. Ich mustere sie streng und entsprechend klingt meine Stimme als ich sie anspreche:
„Mir blöde Fragen zu stellen, dafür bezahle ich dich nicht! Geh und erledige deine Arbeit!“
„Ja Madame! Ich habe verstanden Madame!“
Ich lasse sie ein paar Treppen raufsteigen und rufe sie dann wieder. Hektisch, steigt sie die Treppen wieder runter, stolpert und landet vor meinen Füßen.
Paola, heute bist du um Punkt 19 Uhr in meinem Büro.“
„Ja Madame, ich habe verstanden Madame!“
„Und jetzt geh endlich! Ach, ja! Nächstes Mal, setz ein Fuß nach dem anderen!“ Ich lache. Aber mein Lachen hört sich so leer, so kraftlos. Ich spüre wie mein Zynismus abklingt.
Pfui! Ich hasse die Menschen die hier leben, ich hasse meinen Vater und sein Erbe – dieses kleines, schmutziges Hotel zusammen mit dem Personal.
Vor ein paar Monate haben 4 von ihnen gekündigt. Ich habe sie sofort ersetzt, mit billigeren Arbeitskräften. Das hat mir Freude gebracht. Ich war damals richtig glücklich! Paola und Thuan muss ich noch los werden.
Ich fülle mich allein und enttäuscht. Die Wut wächst in mir, denn die Akzeptanz, die in meine Seele nisten will, lässt sich schwer vertreiben. Ich bin außer mir und ich suche wie besessen das Böse.
Ich bin in einem Lichtlabyrinth gefangen, wo angenehme Gefühl versuchen mein Herz zu erobern. Bis vor kurzem war ich noch zufrieden und musste das Böse nicht suchen, denn ich war das Böse! Und jetzt versuchen die Gedanken einen Ausgang aus diesem Labyrinth zu finden, sie greifen aber ins Leere! Wo finde ich die Lösung? Noch mehr Hass und Missbilligung, noch mehr Eckel und Abscheu! Nur so wird die Festung, wo mein Hass herrscht, wieder Heil!
Ich durchquere das Parterre des Hotels. Es ist hell und mit bunten Blumen verziert. Auf den kleinen Tischen und Stühlen aus Rattan, die sternförmig eingerichtet im Raum sind, steht je ein Kristallsalz mit Teelichter. Die orangen Gardinen aus sehr feinem Voile, lässt dieses Bereich in einem wunderbaren warmen Licht tauchen.
Warum ausgerechnet heute, beobachte ich alles, was mich umgibt so gern? Ich bin doch immer so gleichgültig und unempfindlich gewesen! Warum ist heute anders?
Ich komme dem Fenster näher, das in einem runden Bogen die Fassade des Hotels „Reviera“ bildet. Mein Hotel!
Ich sehe die Menschen am Strand und blicke über ihnen hinaus auf das Meer! Es ist so ruhig und so still, zu still! Es ist lange her, als ich das Blaue des Himmels über das Meer betrachtet habe! Es ist lange her, als ich den duftenden Wind auf meiner Haut gespürt habe! Ich fülle mich leichter und wenn ich Flügel hätte würde ich fliegen...weit, weit! Die Vögel zwitschern laut, sehr laut!
III Simones Erfahrung
Die angenehme Wärme umfasst meinen Körper, berauscht meinen Sinnen, verleiht mir Flügel. Ich bin ganz entspannt und habe kein Ziel, da alles vollkommen ist.
Seltsam, als hätten sie einen Befehl ausgeführt, haben die Vögel aufgehört zu singen. Die Stille ist erdrückend. Ein leichtes Rauschen, das von Weitem kommt, nehme ich war und lausche dem fliegenden Schwarm. Diese Geräusche wirken beunruhigend auf mich zu. Ich stehe auf und starre das Meer an Es ist schwarz wie das Öl. Das Wasser zieht sich rasch zurück. Merkwürdig. Ich will Leo rufen, aber im gleichen Moment höre ich meinen Namen:
„Simone, etwas stimmt hier nicht!“, schreit er laut, beugt sich und hebt die Marie aus dem Wasser. Er hält sie fest an seiner Brust. Meine Hand ist gestreckt, mein Zeigefinger zeigt auf das Meer und mein Gesicht ist wie versteinert. Leo dreht sich um, fängt an zu laufen und ruft verzweifelt.
„Lauf, Lauf! Pack die Kinder und Laufff..! Entfern dich vom Strand! Lauffff! Sie kommt! Laufff..!
Ich lege Pascal in seine Wiege und packe Alexander an die Hand. Ich habe die Kinder, halte sie fest und laufe, laufe sehr schnell. Ich drehe mich nicht um, ich kann es nicht. Was, wenn ich stolpere? Ich muss weiter laufen! Pascal ist gerade aufgewacht und fängt an zu weinen. Ich kann ihn nicht trösten! Wir müssen weiter laufen! Obgleich ich erschöpft bin, mobilisiere ich sämtlichen Energien und laufe! Ich laufe weiter! Meine Arme spüre ich nicht mehr! Erschrocken beobachte ich meine Hände, um mich zu vergewissern, dass ich die Kinder noch fest halte. Ich atme tief ein. Meine Finger krampfen sich zusammen auf Alexanders Unterarm und auf dem Griff der Wiege. Ich atme tief aus. Wir laufen weiter. Alexander berührt den Boden nicht mehr und das Rauschen hört sich bedrohlich nah an. Ich drehe kurz den Kopf um Ausschau nach Leo und Marie zu halten. Mein Atem stockt. Das Blut friert in meinen Adern. Eine gigantische Welle kommt auf uns zu. Der Himmel ist dunkel und diese enorme Wassermasse erscheint mir, als wäre sie einen unendlichen, schwarzen Mantel, der Mantel des Todes. In sekundenschnell läuft mein ganzes Leben vor meinen Augen ab.
Ich sehe mich als kleines Mädchen, das zusammen gekauert auf dem Boden neben den Wohnzimmerschrank sitzt. Ich schaue nach oben zu meiner blutverströmte Mutter. Mein Blick wandert zu meinem Vater. Seine Fäuste schlagen wie verrückt auf sie zu. Mein kleiner Bruder, der in seinem Bettchen liegt, wacht auf und fängt an zu schreien. Mein Vater zuckt zusammen, hält inne, dreht sich brüsk um und nähert sich wankend dem Bettchen. Er hebt meinen Bruder hoch und fängt an ihn zu schaukeln.
Meine Mutter schnappt mich an der Hand und wir schleichen uns schnell aus dem Zimmer. Wir laufen raus aus der Wohnung und wir laufen die Treppen herunter. Wir laufen raus aus dem Wohnhaus und wir laufen raus aus der Stadt. Ich weiß nicht wo wir hingelaufen oder wo wir angekommen sind! Ich habe es vergessen!
Ich laufe weiter, die Kinder sind bei mir!
Ich sehe mich als Jugendliche – ängstlich und traurig. Ich laufe von Jungs weg. Ich laufe von Männer weg, aber Leo holt mich ein und bremst mich.
Ich sehe mich und Leo, die Zweiheit die, die Ganzheit sucht. In uns ist Freude und Sehnsucht. Die Liebe erfüllt uns und wir leben in Harmonie. Wir haben alles, was wir brauchen: ein schönes Haus und drei wundervolle Kinder. Vollkommen und vollendet ist unsere kleine Welt.
Ich schaue noch mal hinter mir. In ein paar Minuten wird uns diesen schwarzen Mantel mit seiner Nässe umhüllen. Ich habe keine Kraft mehr. Die Kinder sind schwer geworden. Wir schaffen es nicht, nicht mal bis zum Hotel. Es ist vorbei! Ich höre Leos Stimme: „Laufff..!“ Erneut sammle ich meine Kräfte, aber es ist schon zu spät. Das Wasser kommt mit großem Druck auf uns zu. Ich versuche zu schwimmen, aber ich habe keine freie Hand. Ich tauche ab und versuche die Kinder über das Wasser zu halten. Alexander holt mich an der Oberfläche und bemüht sich seine Hand frei zu bekommen. Aber ich halte ihn fest.
„Lass mich los Mutter!“
„Nein, die Strömung ist zu stark! Das schaffst du nicht!“
„Lass mich los, sonst sterben wir alle!“
Wie recht er hat! Ich schaue Pascal an, ich schaue Alexander an! Und meine Faust öffnet sich langsam! Meine Tränen und das Meer sind Eins! Wie sehr liebe ich dich Alexander! Wie sehr habe ich dich geliebt Meer! Ich hatte nie Angst vor dir! Und jetzt nimmst du mir meinen Sohn.
Das Wasser geht mit ungeheuerlicher Wucht zurück. Ich muss Türen und Autos, Leichen und Ästen abweichen, und versuche gegen den Strom zu schwimmen. Ich sehe unsere Rettung, es ist diese Palme! Ich habe es geschafft! Ich klammere mich fest an ihr. Ich sehe Alexander! Er hat auch geschafft sich an einem Baum festzuhalten.
„Halt dich fest! Lass nicht los!“, rufe ich ihm zu. Ob er mich hört?
Ich sehe auf das Meer hinaus. Eine noch gewaltigere Gischt kommt auf uns zu. Sie reißt bereits Bäume aus dem Boden. Das ist das Ende!
Zum letzten Mal möchte ich meine Kinder anschauen. Ich habe den Eindruck, dass Pascal fast keine Luft mehr kriegt, so heftig weint er! Sein Gesicht ist rot angelaufen und er bewegt den Kopf hin und her. Die kleinen Hände zupfen zitternd an das weiße Body. Wie gerne würde ich ihn trösten, sein süßes Gesicht mit Küsschen bedecken und ihn wieder sanft ins Schlaf wiegen.
Mein Blick richtet sich auf Alexanders Baum. Unser Häuptling! Aber er ist nicht mehr da! Dieser Anblick schneidet mir die Seele. Ich schließe die Augen und flehe Gott an, meine Kinder zu retten. Meine kleine Welt ist zerstört! Dennoch sollen sich die Kinder an dieses wunderbare, unberechenbare Leben erfreuen. Auch wenn ich nicht mehr da bin!
IV Nilatis Erfahrung
Ich fülle mich schuldig, denn mein Herz lässt sich von Kleinigkeiten berauschen. Ich entferne mich vom Fenster. Ich lebe in dieser Welt, gehöre ihr aber nicht. Zukunft - ich habe keine Zukunft! Herkunft - ich habe keine Herkunft! Ich bin kein Mann, aber auch keine Frau! Ich bin nicht jung, aber auch nicht alt! Ich bin weder böse noch gut! Ich bin nur Hass, denn nichts erfüllt mich!
Ich setze mich auf meinen Stuhl. Die Tasse Kaffe und das Stück Kuchen liegen bereits auf dem Tisch. Thuan macht seine Sache gut! Paola bringt mir meine Schachtel Zigarette und den Aschenbecher. Eigentlich macht sie ihre Arbeit auch ganz gut! Ach, was rede ich, heute abend werde ich beide kündigen!
„Verschwindeeeeet beide aus meinen Augen! Habt ihr alles schon fertig?“
„Die Zimmer sind fertig, Madame!“
„Und die Küche ist auch sauber, Signora Nilati!“, verkündet leise Thuan – diese kleine, miese Wurm.
„Und wollt ihr vielleicht für heute frei, oder soll ich danke sagen? Es ist genug Arbeit hier! Macht das ihr weg kommt! Raus hier, ihr Ratten!“
Oh, ich hasse dieses Land, dieser Ort und all die Menschen die mich umgeben!
Ich trinke noch ein Schluck Kaffee und dabei betrachte ich durch die geöffnete Tür, das Leben da draußen. Der Wind hat aufgehört zu blasen und die Vögel singen nicht mehr. Ich sehe Menschen die in unsere Richtung eilen. Um einen besseren Überblick zu haben, stehe ich auf. Und ich sehe eine riesige Wand braunen Wasser! Ein Monster! Die Leute laufen um ihr Leben. Wie vom Blitz getroffen, falle ich wieder auf dem Stuhl. Ich kann nicht glauben, das was ich gerade gesehen habe!
Paolas Schrei bringt mich zur Besinnung. Die Gefahr wird mir bewusst. Ich stehe auf und sehe auf das Meer. So wütend und aufgebracht, so schmutzig und hungrig habe ich es nie gesehen! Die riesengroße Welle kommt auf uns zu, direkt auf uns zu und alles was ihr im Wege steht wird zerschmettert oder für immer geschlungen. Ich sehe eine Frau mit zwei Kinder! Sie läuft wie besessen! Sie wird aber nicht schaffen, denn sie ist entkräftet!
„Laufen Sie Signora!“, ruft mir Thuan.
Laufen? Wohin denn laufen? Ich setze mich wieder auf den Stuhl. Es entkommt doch keiner! Warum denn laufen? Ich habe Angst, kann mich nicht bewegen, kann mich nicht wehren! Und mein Leben läuft vor meinen Augen ab.
Ich sehe mich als armes Mädchen. Fast nackt sitze ich auf dem Bett und sehe ihn kommend: dieser fetten, großen Mann. Er ist nackt. Meine Finger drücken ganz fest die Augen, denn ich möchte nichts mehr sehen.
Schreien und laufen!
Ich schreie und laufe im Zimmer herum. Warum kann ich nicht entkommen? Warum kommt niemand? Wohin soll ich laufen? Ich habe Angst und kann mich nicht bewegen! Mein kleiner Körper spürt diese eklige, klebrige Berührung. Ich schlage um mich herum und versuche zu laufen. Wohin denn laufen? Dieser Abschaum hält mich aber fest! Wo ist meine Mama? Warum kommt sie nicht? Warum hilft sie mir nicht? Ich bin machtlos und habe Angst!
Mit großer Wucht fällt dieser Monster über mich heraus! Es fühlt sich so kalt und so nass an! Ich schlage um mich herum, kann aber nicht entkommen! Ich denke ich bin tot. Häuser, Schiffe, Boote, Autos schwimmen vorbei, Kinder, Männer und Frauen schreien um Hilfe. Das Wasser geht zurück und ich versuche mich an diese Tür, an diesem Telephonmast, an diesem Auto fest zu halten. Zwecklos! Ich werde ausgespült! Zu viel Kraft, zu viel Druck, dagegen bin ich hilflos. Ich werde gegen einen riesigen Baum geschleudert. Mein Körper ist Wund, die Schmerzen unerträglich. Dennoch kann ich mich an dem Baum festhalten! Ein unbeschreiblich schönes, beruhigendes Gefühl diesen großen, starken Baum zu umarmen! Die zweite Welle fällt über mich zusammen, aber ich fühle mich sicher, ich habe keine Angst mehr! Ich bin eins mit dem Baum! Ich bin der Baum und ich bin staark, ja ich bin staaaark! Das Wasser geht zurück und ich sehe diesen Jungen, der an mich vorbei schwimmt! Eines Tages wird er auch ein großer, starker Mann sein! Er blutet! Wenn ich ihm nicht helfe, wird er auf hohe See weggespült und für immer verschwinden. Die Angst ist weg, der Hass und die Wut verschwunden und zum ersten mal, nach so lange Zeit, spüre ich die Lust zum Leben! Soll ich versuchen ihm zu helfen? Ja, er braucht meine Hilfe und ich bin da! Ich lasse meinen Baum los und bemühe mich den Jungen zu erreichen. Er taucht unter. Meine Hand berührt in letzter Sekunde seine und einen Augenblick ist mein Herz stehen geblieben. Ich packe ihn kräftig an und suche meinen Baum. Es ist kein Baum mehr da! Um uns herum sind nur Trümmer und Leichen. Wir werden weggespült! Aber ich möchte so gerne Leben! Soll das, das Ende sein? Jetzt, wo alles erst angefangen hat? Ich sehe den Jungen an! Wir sind doch auf Entdeckungsreise! Das Leben öffnet gerade die Tore für uns. Seine Augen sind zu. Er blutet stark.
Trotz allem, muss ich fest stellen, dass ich schwach bin. Ich bin ausgedient und spüre wie mein Mund, die Nase und die Ohren sich mit Wasser auffüllen. Ich sterbe, aber ich bin froh, in letzter Sekunde die Schönheit dieser Welt und der Menschen gesehen zu haben.
Zwei Hände fangen mich an und ziehen mich auf einem Holzbrett heraus.
Mein Mund ist voller Wasser, ich spucke aus und huste.
„Der Junge! Wo ist er?“
„Hier Signora! Es ist alles wieder gut, liebe Signora! Haben Sie keine Angst, Thuan ist hier!“
Seine starke Hand berührt scheu meine Hand. Ich drehe den Kopf und starre ihn an. Zum ersten Mal, als wäre mir ein Schleier vom Stirn gefallen, sehe ich ihn so an, wie er ist. Ein rüstiger, schöner Mann mit sanften Augen und herzlichen Lachen.
„Entschuldigen Signora! Ich weiß nicht, was in mich gefallen ist!“ und vorsichtig zieht er die Hand zurück. Ich halte sie aber fest! Es tut gut diese warme, weiche Hand zu spüren. Keine Angst, keine Wut, kein Eckel, kein Hass! Ich bin frei!
„Wirst du mir jemals verzeihen, Thuan? Du und Paola? Werdet ihr mir je vergeben können? Du und die anderen?“
Auf meinen Wangen rollen die Tränen, bis zu meinem Mund. Ich schlecke sie! Sie sind so salzig! Ich habe vergessen wie die Tränen schmecken! Ich fülle mich gut!
„Oh, Oh Signora! Genug Wasser ist hier! Muss Signora keine Tränen mehr vergießen!“
Überwältigt stütze ich mein Kopf auf seiner Schulter. Zärtlich streichelt er meine Haare und wischt mir die salzigen Kristallen aus dem Gesicht!
V Simones Veränderung
Dieser Ruf, der kommt von weitem und ich kenne die Stimme! Kann aber nicht antworten!
„Simone, Simone!“
Meine Brust wird kräftig gepresst und meine Lungen bekommen auf einmal ganz viel Sauerstoff. Das Wasser lässt mich frei, frei atmen. Meine Augen lassen sich schwer öffnen. Ich sehe Leo und will unbedingt wissen, wo die Kinder sind, aber ich bin geschöpft! Ich spüre die Tränen, sie brennen mein Gesicht!
„Simone, Marie und Pascal sind in Sicherheit.... aber Alexander.....“ Er weint auch.
„Ich wollte ihn nicht los lassen, nein, ich wusste, dass er nicht schaffen wird.“ Meine Stimme klingt ungeheuerlich, maßlos. Ich hasse mich, ich hasse das Meer. „Nein, Alexander! Ich komme, ich helfe dir, ich lass dich nicht allein!“ Ich stehe auf, reiße mich los, aber die markigen Männerhände ziehen mich zurück.
„Nein Simone, ich gehe ihn suchen. Du musst ins Krankenhaus mit den Kindern.“ Sein warmer Kuss ist mir so fremd! Warum hasse ich ihn? Ich werde ausgetragen. So viele Trümmer und Zerstörung, so viele Leichen und ruinierte Leben! Wo sind meine Kinder! Wo werde ich gebracht!
VI Nilatis Veränderung
„Der Junge muss schleunigst in Krankenhaus, Thuan, aber wie schaffen wir es? Schau dich nur um! Und wo sind wir eigentlich?“
„Wir werden es schon bewältigen! Ich kenne mich aus!“
Ich nicke.
„Mein ganzer Besitz, bin ich los! Ich habe nichts mehr!“
„Doch Signora, Ihr Leben! Und das hat mehr Wert als alles anderes!“
„Du hast recht Thuan! Ich bin arm, aber glücklich! Obwohl ich jetzt weinen sollte, lache ich!“
„Lachen Sie Signora, lachen Sie!“
„Nilati, keine Signora, einfach nur Nilati!“
Ich schaue tief in seinen schwarzen Augen, bis mir warm ums Herz wird.
„Sag mir Thuan, warum hast du mich gerettet? Das habe ich gar nicht verdient!“
„Sig.., Nilati, vielleicht hört sich blöd an, aber ich kenne Ihre...“
„Nicht <Ihre> - <deine>.“
„Ich kenne deine Seele, deine Alpträume sind mir bekannt! Und außerdem“, er nimmt meine Hand und hält sie fest in seine, „liebe ich dich!“
Ich bin bestürzt.
„Woher...wie kannst du das wissen? Was bedeutet das?“
„Pst! Ich werde dir erzählen, aber nicht jetzt. Ich besorge uns eine Fahrgelegenheit.“
Thuan ist weg. Wir bleiben auf einem kleinen Hügel. Um uns herum nur Wracke und Kadaver. Alles ist zerstört.
VII Die Hoffnung
Der Tag neigt zu Ende. Die weinenden Menschen haben für kurze Zeit aufgehört mit dem Schicksal zu hadern. Der Sensenmann ist heute da gewesen, aber weg ist er immer noch nicht, denn heute abend werden noch viele Seelen geerntet. Die Nacht ist gekommen!
Und am Himmel brennen die Sterne.
Die Gedanken sind wie Gestirne,
Sterne die brennen und am Ende sterben.
Die Schmerzen sind wie die Flammen,
Die fressen dich auf - bis in dem Tod hinein.
Stumm ist der Schmerz und taub der Gedanke,
Der Schlaf übermannt dein Körper und erstarrt deine Seele.
Die Nacht alleine herrscht mit einer tiefen Stille,
Und ihr Schatten fließt herab über Leichen und Ruinen.
Noch Tage, noch Wochen vielleicht auch noch Monaten, bestimmt auch noch Jahren wird man nach den Liebsten suchen.
Es wird qualvoll morgen, der Morgen danach! Denn die Realität wird all die Erwartungen zerschmettern.
Dennoch wird man die Hoffnung nicht aufgeben und nach vorne blicken, morgen, der Morgen danach!


Elidia Banu München, den 08.06.2006

Impressum

Texte: Auf dieser Website finden Sie Texte aus dem künstlerischen Schaffen von Claudia Elisabeta Stolz, geb. Ciobanu. Copyright bei C.E.Stolz
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2009

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