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Der verlorene Bruder

Als Straga und Aria vorsichtig in den Raum lugten, der sich hinter der morschen Holztür befand, erstarrte Straga.
Ihnen gegenüber stand eine Gestalt an einem Fenster und schaute hinaus.
Von dort aus, wo sie standen, konnten sie nur den Rücken und Hinterkopf sehen,
doch das reichte aus. Es war tatsächlich noch ein Kind, vielleicht zehn Jahre alt.
doch das war es nicht, was ihn so in den Bann zog.
Der Junge hatte krauses, schwarzes Haar, eine einzelne Strähne stand merkwürdig von
seinem Kopf ab. Am Hals hatte er eine lange, rote Narbe, die, so sah es aus, schon sehr lange dort war und der linke Arm schien etwas kürzer zu sein, als der rechte.
Und als der Junge sich zu ihnen umdrehte und lächelte, gefror ihm das Blut in den Adern.
Das halbe Lächeln um den Mundwinkel, die arrogante Art, wie er auf sie hinab sah und die braunen Augen, aus denen jede Wärme verschwunden war, diese Dinge trugen dazu bei, dass ihm der Atem stockte. All diese unbedeutenden Einzelheiten trafen ihn in diesem Augenblick und brachen auf ihn hinab, als wäre ein Damm gebrochen.
Erst da fiel ihm die goldene Kette mit dem großen, blauen Stein auf, die sich an den Hals des Jungen schmiegte.
Straga konnte den Blick nicht von dem zehnjährigen Jungen wenden, wie versteinert stand er da und starrte ihn fassungslos an.
„Ich wusste nicht, dass wie Gäste haben“, sagte der Junge lächelnd zu ihnen.
Aria flüsterte ihm leise etwas zu. „Du gibst mir Rückendeckung!“
Doch ihre Worte drangen kaum zu ihm durch. Auch der Junge ihm gegenüber schaute mit großen, erstaunten Augen zurück.
Straga konnte es nicht fassen, so viele Nächte hatte er wach dagelegen, weil er an ihn
denken musste. So viele Male hatte er von ihm geträumt, von dem Jungen, der neben ihm in der Mine stand und mit einem Mal in sich zusammensackte, tot.
Wenn er jedoch gestorben war, wie konnte er dann hier vor ihm stehen?
Er konnte nicht gestorben sein! Doch er, Straga, hatte es doch gesehen!
Er hatte gesehen, wie der kleine Junge neben ihm starb, der Junge, den er um jeden Preis beschützen wollte. Den Jungen, für den er alles gegeben hätte, für den Jungen, für den er gestorben wäre!
Der Junge, der nun die Kette um den Hals trug, der seinen Körper beherrschte, der Junge, der für so viele Tote verantwortlich war. Doch all das kümmerte ihn in diesem Augenblick nicht.
Er sah nicht den Mörder, der er war, er sah nicht den Jungen, der seine Freunde
umgebracht hatte.
Er sah nur ihn, den Jungen, den er vor zwei Jahren verloren hatte.
Es war Scape…der Träger…seinen…
Neben ihm legte Aria einen Pfeil an, spannte den Bogen.
Jeden Moment würde sie loslassen und das Geschoss würde sich in den Leib des
Jungen bohren. Und als sie dann tatsächlich schoss, sprang er auf sie zu und riss sie zu Boden, sodass der Pfeil sein Ziel verfehlte.
„Bist du verrückt geworden?“, fauchte sie ihn zornig an, doch er beachtete sie gar nicht.
Er und der Junge schauten sich an, ganz still.
Aria rappelte sich auf und starrte den Jungen ihnen gegenüber hasserfüllt an.
„Lass ihn“, sagte Straga tonlos.
„Straga, was soll das?! Deswegen sind wir doch hier!“
Als sie seinen Namen nannte, zuckte der Junge kaum merklich zusammen und seine Augen wurden noch größer.
„So ist das also“, fauchte Aria, „er erinnert dich an Lenny! Du willst ihn ungehindert morden lassen, weil er dich an ihn erinnert! Weil er ein Kind ist, ja? Ist es das?!“
Straga schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dem Jungen zu wenden.
„Oh doch, das ist es! Ich habe es gesehen! Erst Lenny, dann das kleine Ifritmädchen und jetzt dieser mörderische Junge! Du willst kein Kind töten, nicht war? Wir Elfen haben ein Wort für solche, wie dich, Schwächlinge! Du bist schwach, Straga! Du hast Angst, ein Kind zu töten!“
„Aria, bitte, tu es nicht“, sagte Straga, noch immer tonlos, als sie einen weiteren Pfeil aus ihrem Köcher zog.
Zornig starrte sie ihn an, doch er schenkte ihr keinen Blick.
Langsam ging er auf den Jungen zu, aus dessen Gesicht das halbe Lächeln verschwunden war.
Als er direkt vor ihm stand, fragte er flüsternd: „Bist du es, Scape?“
Der Junge schien einen Moment lang erstarrt zu sein, doch dann fragte er
ebenso leise: „Straga?“
Die beiden Junge standen sich gegenüber und plötzlich tat Scape einen Schritt auf ihn zu
und umarmte ihn.
„Oh, Scape!“, schluchzte Straga, während Scape seinen Kopf fest an seine Schulter presste.
Verwirrt und wütend wich Aria einige Schritte zurück.
„Nein!“, stieß sie hervor, „Nein, Straga! Wie konntest du nur? Du bist ein Spion! Die ganze Zeit über…die ganze Zeit hast du mich…du hast alle belogen! Du bist ein Spion, sein Spion!“
Sie schrie die Worte, zornig und die Hände zu Fäusten geballt.
„Aria, ich…“
„Spar dir deine Lügen!“, schrie sie zurück, „Du bist ein Verräter, nicht mehr wert, als die Ifrit! Du hast mich belogen! Wie konntest du nur?! Ich…ich habe dir vertraut.“
„Aria, hinter dir…!“
„Nein, sei still! Ich will keine Lügen mehr hören!“
Kaum waren die letzten Worte aus ihrem Mund heraus, da wurde sich auch schon von einem riesigen Ork von hinten gepackt.
„Lass…“, schrie sie und versuchte, sich dem festen Griff zu entwinden, ohne Erfolg.
Straga starrte sie verzweifelt an und mit einem Mal sagte Scape etwas zu dem Ork.
„Lass sie los, Kent.“
Der Ork blickte seinen Meister verblüfft an, tat jedoch, was er gesagt hatte.
„Danke. Und jetzt geh.“
Der Ork drehte sich um und verließ den Raum, nicht ohne sich noch einmal umzusehen.
Aria stand zitternd und schwer atmend da und starrte die beiden Jungen hasserfüllt an.
„Wie konntest du mir das nur antun?“, fragte sie flüsternd, nicht mehr zornig, sondern traurig und enttäuscht. „Warum, Straga? Warum?“
Sie schüttelte traurig den Kopf und schaute ihn an.
„Aria, ich bin kein Spion!“, sagte Straga wahrheitsgemäß.
„Warum sollte ich dir glauben?“
„Sage mir, warum du es nicht solltest.“
Aria ließ sich kraftlos an der Mauer hinabsinken, antwortete ihm jedoch nicht.
Auf einmal machte Scape plötzlich einen Schritt auf sie zu, dann zögerte er.
Er schien mit sich zu kämpfen und da fiel es Straga wieder ein.
Es war die Kette, die magische Elfenkette Ayelda. Oder besser: es war der Geist, der in der Kette eingeschlossen war und von ihm Besitz ergriffen hatte.
„Bitte, Aria“, bat Straga sie, „Du musst ihm helfen! Du musst ihn von dem Geist von König Malock befreien!“
Sie hob langsam den Kopf. „Ich wollte es bereits tun, Straga, doch du hast mich aufgehalten.“
„Du meinst…die einzige Möglichkeit ist…dass er stirbt?“, fragte er entsetzt und sie nickte.
„Warum hast du mich aufgehalten, wenn du angeblich kein Spion bist?“, fragte sie auffordert und er musste schlucken.
„Er ist mein Bruder.“

Stragas Geschichte

Aria starrte ihn fassungslos an. „Dein Bruder?“
Er nickte, wusste nicht, was er sagen sollte.
„Warum…warum hast du das nicht schon früher gesagt, wenn du es doch wusstest?“
„Weil ich es nicht wusste!“
Straga sah zu Scape hinüber, der die Hand um die Kette an seinem Hals gelegt hatte, als wolle er sie abreißen und von sich werfen, doch er tat es nicht.
„Du weißt, dass ich sieben Jahre lang in der Mine lebte, oder?“, fragte Straga Aria und sie nickte verwirrt.
Und dann begann er mit seiner Geschichte, mit der Geschichte von ihm und Scape.
„Als ich noch in meinem Heimatdorf lebte, war ich sehr glücklich. Ich hatte eine gute Mutter und einen Vater, er war Fischer. Und ich hatte einen Bruder, Scape. Als ich vier Jahre alt war wurde mein Vater schwer krank und kurz darauf starb er. Wir waren nicht gerade die reichste Familie des Dorfes und mein Vater hatte uns nichts hinterlassen. Sie musste sich nun alleine um uns kümmern. Doch wir waren arm, hatten wenig zu essen und sie hatte keine Arbeit, also verdiente sie auch kein Geld. Und dann, es war Winter, starb auch sie. Sie erfror, doch auch der Kummer und die Angst um unsere Zukunft brachten sie um. Ich und Scape hatten keine anderen Verwandten im Dorf und wir waren nicht sehr beliebt, aus welchem Grund
auch immer. Eine alte Frau, ihr Name war Rose`, nahm uns bei sich auf, obwohl sie selbst vier Kinder hatte und kein Essen im Haus. Und das was sie hatte, gab sie uns und ihren eigenen Kindern. Nach etwa zwei Wochen sagte sie jedoch zu uns, dass es so nicht weiter gehen konnte, dass wir sie noch ärmer machen würden. Sie scheuchte uns hinaus und wir zogen wieder in die Hütte, die wir mit unseren Eltern bewohnt hatten. Da wir jedoch keine Nahrung hatten, musste ich stehlen, was mir und Scape viele Feinde einbrachten. Und dann, zwei Tage nach meinem fünften Geburtstag, wurden wir aus unserem Dorf verbannt.
Ich nahm Scape mit in den Wald. Als unsere Mutter noch lebte stieß ich dort einmal auf eine Höhle, in der wir nun lebten. Ich brachte mir selbst das Jagen mit einem Messer bei und sorgte so für Nahrung. Doch im Endstadion des Winters wurde Scape krank und ich wusste nicht, was er brauchte.“ Er warf Scape einen schnellen Blick zu und fuhr dann fort, „Also ging ich zurück ins Dorf. Die Dorfbewohner waren sehr erstaunt, sie dachten, wir wären in der Kälte umgekommen, verhungert oder auch von einem wilden Tier gefressen worden.
Doc sie fassten sich schnell und griffen mich mit Messern an, um mich zu verscheuchen oder, wenn sie es schafften, sogar zu töten. Ich hatte mein eigenes Messer auch dabei und wehrte mich, so gut ich konnte. Schließlich brauchte ich die Medizin für Scape.
Ich kämpfte gut und verwundete sogar einige der Dorfbewohner. Doch ich hatte Pech, denn zur selben Zeit waren Soldaten des Edelfürsten im Dorf und sie sahen mich und wollten mich mitnehmen, warum auch immer. Ich floh sofort vor ihnen, doch da ich noch klein war und es nicht besser wusste, lief ich direkt zu unserer Höhle, in der Scape wartete. Die Soldaten folgten mir und als sie mich und Scape schließlich in die Enge getrieben hatten, schlugen sie uns bewusstlos und nahmen uns mit nach Kesselstadt.
Wir erwachten auf einem Karren, auf dem wir nicht alleine waren. Noch drei andere Kinder waren da, ein Mädchen namens Marcy und zwei Jungen, dessen Namen
Josey und Howard waren. Der Karren war auf den Weg in die Mine, in die der Edelfürst und geschickt hatte. Wir wurden von vier Soldaten bewacht, die aufpassen mussten, dass wir
nicht flohen. Und dann, wie viele Tage wir brauchten weiß ich nicht mehr, dann hatten wir das Ziel erreicht. Ich, Scape und unsere neuen Freunde, Marcy, Josey und Howard, wurden in die Mine gebracht und unseren Plätzen zugewiesen, wir waren alle fünf nebeneinander, ein kleiner Trost. Als wir das erste Mal die Mine betraten, fing Scape an zu weinen und…“
Er sag zu Scape hinüber und fragte sich, ob er wohl etwas dagegen hatte, dass er es erwähnte, doch er rührte sich nicht und Straga fuhr fort.
„Ich konnte es ihm nicht verdenken, es war schrecklich. Es war laut, überall waren Angstschreie, die Schläge einer Spitzhacke und das Weinen kleiner Kinder zu hören. Ich war da gerade fünf Jahre alt gewesen, Scape drei. Wir bekamen unsere eigenen Spitzhacken und mussten auf Fels einschlagen. Wenn wir dann Edelsteine oder Gold fanden, mussten wir sie in einen bereitstehenden Karren bringen. Abends und morgens bekamen wir etwas zu essen, jedes Mal dasselbe, eine Schale Suppe und ein trockenes Brot, dazu gab es Wasser. Und nach dem Abendessen, das höchstens fünf Minuten dauerte, kam einer der Wächter zu uns und erzählte allen Kindern Geschichten von oben, von der Welt außerhalb der Mine.
Er erzählte uns von Orks, von Nachtmahren, von Seelenschluckern uns vielem mehr, was uns davon abhalten konnte, jemals den Wunsch zu wecken, die Mine zu verlassen.
In unseren ersten tagen wurde uns beigebracht, wie man bis tief in die Nacht wach bleiben konnte, ohne einzuschlafen, das taten sie, damit wir länger arbeiteten.
Einer der Wächter kam an unseren zweiten Tag zu Scape und sagte, er sollte eine Stunde Pause machen, damit er sich erholen und wieder gesund werden konnte, denn er war noch immer sehr krank. Jeden Tag hatte er eine Stunde frei, ein Luxus, für den viele ihn beneideten. Nach fünf Tagen war Scape wieder halbwegs gesund und er musste wieder den ganzen Tag arbeiten, wie alle anderen auch. Ich erfuhr, dass ihm die Pausen nur erlaubt wurden, da man sich dort unten keine Krankheiten erlauben konnte, da noch mehr Kinder angesteckte werden könnten und so weniger gearbeitet wurde. Doch als er gesund war, erfuhren wir, was es wirklich hieß, in der Mine zu leben. Tag für Tag hörten wie verzweifelte Schreie, Schluchzer und sahen die Kinder, die sich mit uns in der Dunkelheit quälten.
In jedem Gang der Mine gab es nur eine einzige Öllampe, die uns einwenig Licht spendete.
Und nach einiger Zeit stimmten wir in die Angst- und Schmerzensschreie mit ein. Wir sahen einige Karren, die mit Kinderleibern davonfuhren und bald begriffen wir, dass es der Transport für Tote war, denn natürlich starben dort unten viele Kinder und man konnte sie nicht einfach dort liegen lassen, es hätte gestunken, was es sowieso schon tat.
Der Gestank war fürchterlich. Und so lebten wir sechs Jahre lang in der Mine.
Das war ein Rekord, die wenigsten überlebten ein ganzes Jahr, doch wir gleich sechs davon.
Wir sahen Kinder, die kamen und gingen, unsere Freunde Marcy, Josey und Howard waren ebenfalls schon gestorben, sie hatten gerade mal den ersten Monat überstanden.
Und dann wurde Scape krank. Er litt sehr, doch dieses Mal gönnte man ihm keine Stunde frei, man schenkte ihm gar keine Beachtung. Niemandem kümmerte es, dass er im sterben lag.
Es war ganz alltäglich, dass jemand starb und die Wächter hofften nur, dass sie bald eine Sorge weniger hatten… Und eine Woche nachdem Scape krank wurde, sackte er plötzlich neben mir zusammen. Zwei Wächter kamen herbei uns untersuchten seinen Puls, ich hoffte, dass sie ihn fanden. Doch so war es nicht, sie hoben ihn hoch und schleppten ihn zu einem der Karren, auf dem bereits zwei andere Kinder lagen und da wusste ich, dass er tot war.
Ich wusste auch, wohin sie ihn bringen würden, in den Totenraum. So wurde der große Raum genannt, der hinter einer morschen Holztür lag, den wir niemals zugesiecht bekamen.
Doch wie alle wussten, was sich dort verbarg, denn hinter dieser Tür verschwanden die Karren der Toten und wenn sie zurückkamen, waren sie leer.
Nach seinem Tod hatte die Zeit keine Bedeutung mehr für mich, es interessierte mich nicht, was für einen Tag wir hatten, welche Woche, welchen Monat. Es interessierte mich nicht, ob draußen Sommer oder Winter war, nichts interessierte mich mehr. Wenn ich meine tägliche Suppe bekam, aß ich nur die Hälfte und gab einem anderen Jungen etwas ab, der ebenfalls jemanden verloren hatte, seine Schwester. Und schließlich, es musste ungefähr ein Jahr vergangen sein, stahl ich mich eines Nachts fort. Ich wollte den Mond sehen, das Gras unter meinen Finger fühlen. Ich stahl mich an den Wachen vorbei und schaffte es bis zum Ausgang. Und dann sah ich den Mond und fühlte das Gras unter meinen Fingern. Ich hörte das Geräusch eines Baches und hörte einen Vogel singen. Und all diese Dinge, die ich seid sieben Jahren nicht mehr gehört, gesehen und gespürt hatte, kamen mir vor wie das Paradies. Und da entschloss ich mich, der Mine den Rücken zu zuwenden und ich floh. Und seid dem bin ich ein Waldläufer.“
Er endete mit seiner Geschichte und Aria und Scape schwiegen.
Schließlich meinte Scape: „Doch ich starb nicht.“
„Aber alle waren sich sicher, dass du tot warst! Die Wächter konnten deinen Herzschlag
nicht finden!“
„Den müssen sie gespürt haben, doch sie dachten, ich schaffe es sowieso nicht.
Jetzt kommt meine Geschichte´“, sagte Scape und dann erzählte er, wie es kam, dass er
jetzt hier war.
„Wie du schon gesagt hast, brachten sie mich in de n Totenraum. Als ich wieder zu mir kam, denn ich war bewusstlos, versuchte ich, einen Ausgang zu finden. Ich fand sogar einen.
Er war zwar verschüttet, doch ich schaffte es, ihn mit meinen Händen wieder freizulegen.
Der schmale Durchgang führte direkt nach draußen und auch ich floh.
Ich kam bis nach Kesselstadt und dort gefiel es mir so gut, dass ich dort blieb. Ich wurde zum Dieb, fand Freunde. Einer dieser Freunde war Joe…“
„Ich habe ihn kennen gelernt“, unterbrach Straga ihn, „Und Arane kenne ich auch. Sie vermisst dich.“
„Du…kennst sie?“, fragte Scape erstaunt und er nickte.
„Dann weißt du auch von den Füchsen und was ich getan habe?“
„Wenn du mit den Füchsen die Diebesbande meinst, die Joe anführt hat, dann ja, ich kenne sie.“
„Ah, Joe ist also mein Nachfolger geworden? Eigentlich dachte ich, arane würde nach mir die Anführerin sein, aber es ist in Ordnung. Zusammen mit meinen Freunden stahl ich mich in die Burg und brachte eigenhändig den Edelfürsten um. Nach seinem Tod wurde ich der Anführer der Füchse. Ich habe mir den Namen selbst ausgedacht, da ich ihn für geeignet hielt.
Wir schlichen durch die Straßen der Stadt, wie hungrige Füchse, die sich auf jede Beute warfen, die sie sahen. Die Soldaten des Edelfürsten, die den Kampf überlebt hatten, warf ich in die Kerker und lebte gemeinsam mit meinen Freunden, den Füchsen, in der Burg.
Doch eines Tages fand ich eine wunderschöne Kette.“
Bei diesen Worten legte er sanft eine Hand auf die Kette, die um seinen Hals lag.
„Als ich diese Kette als mein Eigen an mich nahm, hörte ich…hörte ich…“
„Was hörtest du?“, fragte Straga ihn und schaute ihn fragend an.
„Da war eine Stimme in meinem Kopf. Sie sagte mir, was ich tun sollte, immer noch.
Sie sagt es mir immer noch“, flüsterte Scape leise.
Straga warf einen beunruhigenden Blick auf Aria, die sich jedoch nicht von der Stelle rührte und Scape hasserfüllt anstarrte.
„Was sagt sie dir jetzt?“, fragte Straga leise.
„Sie sagt, dass ich euch töten soll.“
Aria zuckte kaum merklich zusammen und in Stragas Innern zog sich alles zusammen.
„Und…und wirst du ihr gehorchen?“
Es schien Scape schwer zu fallen, das folgende zu sagen. „Sie sagt, dass etwas Schreckliches passieren wird, wenn ich es nicht tue. Sie sagt, dass ich dann sterben werde. Ich…muss...“
„Aber Scape“, meinte Straga und wich einen Schritt zurück, „Ich bin doch dein Bruder! Du kannst mich doch nicht umbringen!“
„Ich…muss…“, flüsterte er erneut.
Straga und Aria wichen noch einige Schritte zurück, als Scape plötzlich laut
einen Namen rief. „Kent!“
Sofort kam der Ork zurück, den grimmigen Blick auf Straga und Arane gerichtet.
„Kent, bitte bring die Elfe in den Kerker und sag Denise, sie soll etwas Gutes kochen.“
Aria wehrte sich nicht, als der Ork sie packte und davon schleppte, sie schien zu benommen zu sein.
Ein Gespräch

Straga und Scape saßen an einem kleinen Holztisch, auf dem ein kleines Mahl aufgetragen worden war. Er sah einen gebratenen Fisch, von dem ein köstlicher Duft ausging, Bratkartoffeln, einen Salat und eine Fleischsuppe. Straga fragte sich, wo man hier, im Reich des schwarzen Fürsten, wohl Kartoffeln und Salat herbekam.
Er hatte Scape gebeten, Aria nicht in den Kerker zu sperren, doch sein bruder war nicht umzustimmen gewesen. Er hatte gemeint, es sei besser so und er wolle kein Risiko eingehen.
Die beiden aßen schweigend, bis Straga ihn fragte: „Was machst du eigentlich mitten in einer alten Burgruine im Reich des schwarzen Fürsten?“
Scape schluckte den Bissen Fisch herunter, den er gerade im Mund hatte und antwortete:
„Ich habe vor, den schwarzen Fürsten zu töten und selbst König zu werden. Die Krone der Moorelfen reicht mir nicht aus. Was du hier machst, weiß ich. Du und diese Elfe wart auf der Suche nach mir, um mich zu töten. Doch dann hast du festgestellt, dass ich dein Bruder bin. Richtig?“
Straga wusste nicht recht, was er darauf sagen sollte. Er konnte ihm schließlich schlecht sagen, dass er ihn hatte umbringen wollen.
„Es ist so“, schloss Scape aus seinem Schweigen und fuhr dann fort; „Keine Sorge, deiner Elfenfreundin werde ich nichts tun.“
Straga nickte erleichtert und fragte zögernd: „Hat die Stimme in deinem Kopf dir auch gesagt, dass du die Freien Elfen angreifen sollst?“
„Ja, das hat sie allerdings. Es hat mich sehr enttäuscht, als ich sah, dass sie sich mir nicht angeschlossen hatten, dass sie stattdessen lieber den Tod vorziehen. Aber daran ist wohl nichts zu ändern, nicht wahr?“
Er lächelte über den Tisch hinweg an. „Ich bin froh, dass du da bist, Straga. Die Gesellschaft der Elfen und Orks langweilt mich allmählich.“
Straga nickte zögernd. „Ich bin auch froh, dass ich dich gefunden habe. Ich dachte ja, du seihst tot.“
„Wie sehr man sich doch manchmal täuscht, nicht wahr?“
„Genau. Aber sag, Scape, warum hast du nicht nach mir gesucht?“
„Nun, erstens dachte auch ich, du wärst gar nicht mehr am leben und zweitens ist…es ist…“
Er zögerte, wusste nicht recht, wie er sich ausdrücken sollte. „Du musst wissen, als ich die Kette an mich nahm, verschmolzen meine eigenen Wünsche mit denen von Malock.
Ja, ich weiß, dass er es ist“, fügte er hinzu, als er Stragas Gesichtsausdruck sah.
„Natürlich weiß ich es. Meine und seine Wünsche haben sie miteinander verwoben und manchmal weiß ich nicht, ob ich ich selbst bin, wenn ich etwas tue. Als ich zum Beispiel gegen die Freien Elfen kämpfte, bekam ich kaum etwas mit. Es war, als ob nur mein Körper kämpfte, doch mein Geist sehr weit weg war. Und dann gibt es wieder Momente, in denen die Stimme in meinem Kopf verschwindet.“
„Was sagt sie dir jetzt, die Stimme?“
Scape lächelte. „Gar nichts.“
„Rein gar nichts?“
Scape schüttelte den Kopf. „Wenn ich glücklich bin, ist meist auch er glücklich. Jetzt bin
ich glücklich.“
„Weil ich da bin?“
„Weil du da bist“, schloss Scape und sie aßen schweigend weiter.
Nach einer Weile fragte Scape ihn leise: „Wie geht es Arane?“
„Es geht ihr gut, denke ich“, antwortete Straga verwundert, „Warum?“
„Sie ist…sie war meine beste Freundin. Ich habe ihr vertraut, wie keinem anderen. Also ist sie glücklich, jett, wo ich fort bin? Ist sie oft mit Joe oder Falio zusammen?“
„Sie…natürlich möchte sie, dass du zurückkommst!“
„Das habe ich nicht gemeint“, sagte Scape.
„Sie ist…unglücklich, dass du weg bist. Sie hat einmal geweint, ich habe sie dabei beobachtet.“
Scapes Miene verhärtete sich.
„Du hast sie beobachtet? Liebst du sie? Ich will die Wahrheit hören!“, sagte er kurz angebunden zu ihm und Straga schüttelte schnell den Kopf. „Nein, ich liebe sie nicht! Wirklich nicht!“
„Und Joe? Was ist mir mit ihm? Und Falio? Ist sie oft bei ihnen?“
„Nun, Joe und Falio…die beiden gehörten zu deiner Armee. Sie waren…“
„Sie überlebten den Kampf und kehrten nach Kesselstadt zurück, nachdem ich es
ihnen erlaubte.“
„Oh, nun gut. Also, als ich bei den Füchsen war, habe ich Arane manchmal bei Joe gesehen. Sie ist so etwas wie…seine Gefährtin. Sie waren beide die Anführer der Füchse.“
„WAS?“, schrie Scape zornig und richtete sich auf.
Straga fuhr ebenfalls hoch, wich jedoch vor seinem wutschnaubenden Bruder zurück.
„Was hast du noch gesehen?“, schrie Scape ihn zornfunkelnd an.
„Ich…ich habe die beiden einmal gesehen, in einem der Flure der Burg.“
„Und was haben sie da gemacht?“, schrie er ihn weiter an.
„Sie haben sich geküsst – Bitte, Scape!“
Scape hatte einen zornigen Schrei ausgestoßen und hatte den Tisch umgeworfen.
„Nein, nein, nein!“, schrie er wütend, „Du lügst, du lügst!“
„Scape, bitte, beruhige dich!“
Scape atmete schwer, hörte jedoch auf zu schreien.
Langsam ging sein Bruder auf eine Mauer zu und ließ sich daran hinab sinken.
Als Straga sich neben ihn setzte, sah er, dass er weinte und er legte einen Arm auf
seine Schulter.
„Ich habe sie geliebt!“, schluchzte Scape.
„Ich weiß, Straga, ich weiß. Alles ist gut, ist ja gut!“ Das hatte er immer zu ihm gesagt, als sie beide noch jünger waren, als sie noch in der höhle im Wald lebten und er geweint hatte, wenn er außer sich war.
Scape hob den Kopf und blickte ihn an.
„Du und diese Elfe, liebt ihr euch?“
„Nein, wir sind nicht mehr als gute Freunde.“
Er nickte und Straga sagte leise: „Weißt du, das kann jedem passieren!“
„Wenigstens habe ich noch dich!“
„Ja, genau“, stimmte Straga ihm zu, „Du hast mich.“


Der schreckliche Befehl

Straga und Scape saßen am reich gedeckten Tisch im Zelt, in dem sie nun schon das sechste Mal gemeinsam speisten. Straga war nun bereits drei Tage hier in dieser Burg, die seid vielen Jahren niemanden mehr beherbergte und langsam zu einer Ruine wurde.
Deshalb verbrachten sie die meiste Zeit in Zelten, die auf dem Burghof errichtet wurden.
Scape aß gerade eine köstliche Fleischsuppe, während Scape an einem saftigen
Hühnchen nagte.
Straga fand es seltsam, doch in den ganzen drei Tagen, die er nun schon hier war, hatte Scape ihn kein einziges Mal richtig in die Augen gesehen.
Bildete er sich das nur ein, oder wich er seinem Blick aus?
Auch hatten die beiden, mit Ausnahme der Geschichte, die sie sich erzählt hatten, hatten sei kaum miteinander gesprochen.
Nachdem die beiden das erste Mal zusammen in diesem Zelt gespeist hatten, hatte Scape sofort einem Moorelf den befehl gegeben, ein weiteres Zelt für Straga zu errichten und war dann gleich verschwunden.
An nächsten Tag hatten sie beide im Zelt gefrühstückt, danach hatte Straga sich die Burg angesehen und Scape gesucht, der jedoch nicht zu finden war.
Und jetzt, am dritten Tag, war es nicht anders gewesen.
Es war Abend, Scape war gerade eben erst eingetroffen und hatte ihm gesagt, er sei beschäftigt gewesen, doch genaueres hatte er nicht erzählt.
Bevor Straga selbst das Zelt betrat, hatte er Aria in ihrer Zelle, unten im Kerker, besucht.
Sie hatte nicht viel gesagt und er hatte sie nicht drängen wollen und was hätten sie denn auch bereden sollen?
Und jetzt saß er neben seinem Bruder im Zelt und aß gemeinsam mit ihm, was die Köchin, eine alte Moorelfe namens Denise, ihnen aufgetragen hatte.
Mit einem Mal sprach Scape ihn an.
„Ich muss mit dir reden.“
Straga blickte erwartungsvoll hoch und hob eine Augenbraue hoch, als Scape schwieg.
„Ja?“, hakte er nach und schaute ihn fragend an.
„Es geht um die Stimme, die, in meinem Kopf. Oder besser gesagt, es geht darum, was
sie mir sagt.“ Wieder schwieg er.
„Was sagt sie dir denn?“, fragte Straga beunruhigt.
„Sie sagt, dass ich dich umbringen soll“, flüsterte Scape leise, doch laut genug, damit
er es verstand. Straga zuckte zusammen und starrte seinen Bruder an.
„Und? Was wirst du tun?“
Sein Bruder schien verärgert zu sein. „Was glaubst du denn? Ich kann dich doch wohl schlecht töten!“
Straga erwidert darauf hin nichts und nach einer weile fügte Scape leise hinzu: „Aber wenn ich seinen Befehl nicht befolge, ist mir übel, ich muss mich erbrechen und ich habe Schweißausbrüche. Dann kann ich keinen klaren Gedanken fassen, nur, dass ich den Befehl unbedingt befolgen muss.“
Straga wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte aufgehört zu essen und sah Scape nur an.
„So lange ich lebe, muss ich seine Befehle befolgen, verstehst du, Straga? Solange ich lebe, muss ich es tun!“
Straga nickte endgeistert, stand dann langsam auf und flüsterte: „Ich gehe schlafen. Gute Nacht, Scape.“
Scape öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann jedoch wieder
und sagte: „Ja, also…bis morgen früh.“
Doch Straga hatte bereits das Zelt verlassen und war auf dem Weg in sein eigenes.

Als er in seinem Zelt auf einer Decke lag, konnte er nicht einschlafen.
Er musste daran denken, was Scape zu ihm gesagt hatte.
Sie sagt, dass ich dich umbringen soll und solange ich lebe, muss ich seine Befehle befolgen.
Straga wollte es sich nicht eingestehen, doch im tiefsten innern, hatte er Angst.
Doch bevor sein bruder diese Worte gesagt hatte, hatte er noch etwas gesagt: Ich kann dich doch wohl schlecht töten!
Als er diese drei Sätze zusammenfügte, überkam ihn ein fürchterlicher Gedanke.
Solange er lebte, musste er seine Befehle befolgen.
Solange er…solange er…
Und dann, ganz langsam, wurde ihm die schreckliche Wahrheit bewusst.


Tod

Als Straga am nächsten Morgen erwachte, hatte er Scapes Worte noch immer im Kopf.
Langsam verließ er das Zelt und sah sich auf dem Burghof um.
Die Sonne war gerade aufgegangen und es war noch nicht viel los.
Zwar schliefen die Moorelfen und Orks in der zugigen Burg, doch die meiste Zeit verbrachten sie, wie Scape und er selbst auch, auf dem Hof der Burg.
Straga blickte zum Zelt seines Bruders Scape und erschauderte, als er sah, dass der Vorhang, der den Weg hinein versperrte, zur Seite geschlagen worden war.
Das Zelt war leer. Er ging zwischen den Zelten umher und suchte nach Scape.
Er hoffte, es war noch nicht zu spät. Doch noch viel mehr hoffte er, er hatte sich geirrt und Scape hatte etwas ganz anderes mit seinen Worten gemeint.
Erschrocken fuhr er herum, als er von hinten eine leise Stimme hörte.
„Guten Morgen.“
Straga atmete tief aus, als er erkannte, wer da gesprochen hatte.
Es war Kent, der Ork, der Scape jeden Wunsch von den Augen ablas.
Wenn man erst einmal darüber hinweg gekommen war, dass er ein Ork war, konnte Kent gar kein so schlechter Zeitgenosse sein.
„Guten Morgen, Kent. Hast du Scape gesehen?“
„Der Meister ging in die Burg. Er wollte alleine sein, zum Nachdenken.“
Straga hauchte noch ein kurzes „Dankeschön“, dann rannte er schon auf die Holztür zu, die in die Burg hineinführte.
„Der Meister will nicht gestört werden!“, rief Kent ihm nach, doch er war schon in der
Burg verschwunden.
Es war ihm wieder eingefallen.
Shiba, die Seherin der Freien Elfen hatte es in der Vision gesehen, wie sie es ihm und dem Rat berichtet hatte. Sie hatte gesagt, am Ende würde sie eine große Überraschung ereilen.
Die Überraschung war, dass Straga herausfand, dass der Träger sein Bruder war.
Außerdem hatte sie gesagt, dass eine schwere Entscheidung getroffen werden musste, von der das Schicksal aller abhängig war. Fast hatte er diese letzten Worte vergessen, doch nun waren sie ihm wieder eingefallen.
Es war Scapes Entscheidung. Er musste entscheiden, ob er Straga umbringen
wollte oder…oder nicht.
Straga sprintete durch die Gänge der Burg. Wo war er, wo war sein Bruder?
Er musste ihn finden, musste ihn aufhalten!
Und dann sah er ihn.
Er stand am Ende des Ganges und das, was er ihn der Hand hielt, ließ ihn den Atem
stocken und noch schneller werden.
„SCAPE! NEIN!“, schrie Straga so laut er konnte, als er bereits die halbe strecke zu ihm hinter sich hatte. Scape öffnete lächelnd die Augen und flüsterte: „Es tut mir Leid, doch ich kann dich nicht töten.“
Und dann stieß er sich das glänzende Schwert in die Brust.


Trauer und der Weg in die Zukunft

„SCAPE!“, schrie Straga entsetzt und verdoppelte seine Geschwindigkeit.
Wie in Zeitlupe sah er, wie sein Bruder in sich zusammensackte und kurz bevor er am Boden aufkam, war er da und hielt ihn in einer trauernden Umarmung gefangen.
Er sah das dunkelrote Blut, das aus der Wunde in seiner Brust lief, das Schwert, das noch immer darin steckte.
Straga zitterte am ganzen Leib, während er Scape umklammerte.
Nein, das durfte nicht sein!
Nein, das konnte nicht sein!
„Nein!“ Er beugte sich über Scape und fing haltlos an zu weinen.
Scape stöhnte leise und schmerzerfüllt und flüsterte ihm mit röchelnder Stimme ins Ohr: „Bitte, wirf sie weg. Es tut mir Leid, Straga, es tut mir so Leid!“
Er drückte ihm etwas in die Hand, etwas Kühles, Flaches und als er hinschaute, lag die Kette in seiner Handfläche. Die magische Elfenkette Ayelda, die Besitz von ihm ergriffen hatte.
Er wandte den tränenverschmierten Blick wieder Scape zu und stieß einen Schrei aus.
„NEIN!“
Sein Bruder rührte sich nicht mehr. Er war tot.
„Nein, nein, nein! Straga! Bitte, Straga, du bist nicht tot! Du bist nicht tot! Nein!“
Plötzlich hörte er eine Stimme hinter sich. „Meister?“
Straga stand auf und drehte sich um, Scapes lebloser Körper glitt zu Boden.
Er ging an Kent vorbei, der da stand und Scape fassungslos anstarrte.
Doch Straga wusste, all die Trauer, vielleicht sogar die Wut, all das war nichts im Gegensatz zu dem, was er selbst fühlte.
Malock, der Geist, der sich in der Kette verbarg, hatte seinem Bruder aufgetragen, ihn, Straga, umzubringen. Scape hatte ihm gesagt, dass, solange er lebte, er Malocks Befehle
befolgen musste. Nun lebte er nicht mehr, er musste seine Wünsche nicht mehr erfüllen.
Oh, diese Kette, die magische Elfenkette Ayelda, wie er sie doch hasste!
Und nun hielt er sie selbst in der Hand, hielt sie fest umklammert, weil sein Bruder sie ihm gegeben hatte.
Sein Bruder…Scape, der Träger.
Er war fort, an dem Ort, von dem es keine Wiederkehr gab.
Was sollte er jetzt tun, jetzt, wo er alles getan hatte?
Seine und Arias Mission war gewesen, den Träger aufzuhalten, das hatten sie getan.
Langsam und schleppend stieg er die Stufen zum Kerker hinab.
An der geschlossenen Tür von Arias Zelle blieb er stehen. Etwas war anders, die Moorelfen, die sie bewacht haben, waren verschwunden. Natürlich. Ihr Anführer, Malock, hatte nun keinen Körper mehr, die Macht war gebrochen, nun waren sie keine Sklaven mehr.
Also nahm er selbst den Schlüssen vom Haken an der Wand, schloss die Tür auf und
stieß sie auf.
Eine leise Stimme drang zu ihm heraus. „Straga, was ist passiert?“
Also hatte Aria es gemerkt, schließlich war auch sie eine Elfe, wenn auch keine der Moorelfen, die unter Malocks Macht gelitten hatten und ihm wie Marionetten dienen mussten.
„Er ist tot“, war das einzige, was er ihr antwortete und sie kam verwirrt aus ihrer Zelle, in der sie vier Tage verbracht hatte.
„Was? Aber wie…? Hast du…?“
„Er hat es selbst getan“, meinte Straga tonlos und dann erzählte er ihr alles.
Er begann damit, dass die Stimme in Scapes Kopf ihm Befehle erteile, die er befolgen musste und dass er, wenn er es nicht tat, Schweißausbrüche und große Übelkeit hatte.
Er erzählte ihr, dass Malock ihm den Befehl erteile, ihn selbst umzubringen und er sagte ihr, wie er es geschafft hatte, diesen Befehl nicht auszuführen.
Als er geendet hatte, sagte sie lange Zeit nichts, doch dann nahm sie seine Hand, öffnete sie und zog die Kette daraus hervor.
„Ich habe sie nur einmal gesehen, als ich ein kleines Mädchen war. Sie war auf einem
Bild gemahlt.“
Straga nickte, als sie das sagte und betrachtete die Kette, die nun sie in der Hand hielt.
Er wollte sie schon zurück nehmen, als Aria ihren Arm vor ihm zurückzog.
„Vergiss nicht, was sie angerichtet hat, wessen Geist sich noch immer in ihr befindet!
Ich weiß, sie bedeutet dir sehr viel, nun, da dein Bruder…sie dir gegeben hat, nun,
da er…fort ist. Doch sie bleibt das, was sie ist und wird es immer bleiben, verstehst du? Wenn du sie an dich nimmst, wird sie dich beherrschen, wie sie Scape beherrscht hat! Wir müssen sie vernichten! Wie du mir eben gesagt hast, Scape wollte, dass du sie nicht behältst, auch er wollte, dass du sie vernichtest!“
„Hör auf seinen Namen zu nennen, bitte, Aria!“, sagte er tonlos und eine Träne stahl
sich aus seinen Augenwinkeln.
Sie zögerte einen Moment lang, dann nickte sie.
„In Ordnung. Was…was willst du nun tun?“
Er hob den Kopf und schaute sie an. „Was meinst du damit?“
„Nun, da alles vorbei ist. Nun, da unser Auftrag ausgeführt wurde. Wirst du wieder umher ziehen, ein Waldläufer sein? Oder wirst du mit mir kommen und Elra`, das Dorf meines Volkes mit aufbauen?“
Straga dachte darüber nach. Er wusste nicht, was er jetzt tun würde.
Bei den Freien Elfen hatte es ihm sehr gefallen, sollte er mit Aria zu ihnen zurückkehren
und ihnen bei dem Wiederaufbau ihres Dorfes helfen?
Anderseits war er ein Waldläufer, oder nicht?
War es nicht die Pflicht der Waldläufer, durch das Land zu wandern?
Das hatte er sich schließlich immer gewünscht, frei zu sein, unabhängig.
Doch als er vor fast einem Jahr diese Entscheidung getroffen hatte, hatte er Aria noch
nicht gekannt. Er hatte damals noch keinen der Freien Elfen gekannt. Doch nun tat er das.
Lenny hätte sicher gewollt, dass er ein Waldläufer bliebe, er hatte sie immer bewundert.
Es wäre sicher sein Wunsch gewesen, hätte er noch gelebt.
Ach Lenny.
Auf dieser Reise war er durch das ganze Land gezogen, hatte Freunde gefunden und
wieder verloren. Er hatte seinen Bruder gefunden und auch ihn schon nach wenigen Tagen wider verloren.
Tabor, den Halbelfen, den er kaum gekannt hatte und der auf dieser reise gar nicht mitkommen konnte, den er doch trotz allem verloren hatte.
Agor, den alten, weisen Magier, der doch immer so furchtlos gewesen war.
Jean, den er in Kesselstadt kennen lernte, in dem er einen guten und treuen Freund
gefunden hatte.
Lenny, der achtjährige Junge, der noch am leben wäre, hätte Straga nicht auf ihn gehört und ihn mit auf diese lange reise mitgenommen.
Scape, seinen Bruder, den er damals in der Mine verloren hatte, tot geglaubt und erst vor vier Tagen hatte er feststellen müssen, dass er noch lebte und dann auch noch, dass er der
Träger war. All diese Menschen hatte er verloren.
Was hätten sie gewollt, was er tat?
Und dann sagte er zu Aria: „Ich begleite dich und helfe deinem Volk, euer Dorf wieder neu
zu bauen. Und dann…und dann werde ich sehen, was die Zukunft für mich bereithält.“

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Tag der Veröffentlichung: 08.06.2010

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