Die Hülle
Als Straga erwachte, blickte er direkt in das Gesicht der friedlich schlafenden Elfe.
Sie hatte ihm das Gesicht zugewandt und er konnte sehen, dass ihre Augen im Schlaf zuckten.
Wann war sie gekommen? Ihm fiel auf, dass sich kleine Blätter und Zweige in ihrem blonden Haar verfangen hatten.
Und dann schlug sie plötzlich die grünen Augen auf und sah ihn an.
„Guten Morgen“, sagte sie leise und er wiederholte den Gruß.
Langsam setzte er sich auf und sah sich um. Das Feuer war erloschen, Lenny und Jean schliefen noch und Agor saß, an einem Baum gelehnt, da und starrte in den wolkenlosen, blauen Himmel hinauf, als suche er dort oben nach etwas.
Straga rappelte sich auf, ging zu ihm hinüber und ließ sich dann neben ihm nieder.
„Wonach hältst du Ausschau, Agor?“, fragte er leise und Agor antwortete, ohne ihn anzusehen: „Es macht mir Sorgen, dass Tabor noch nicht zu uns gestoßen ist. Das ist nicht seine Art. Normalerweise weiß er etwas, bevor wir es wissen.“
„Jean hat mal gesagt, er könnte mit den Toten reden, stimmt das?“, fragte er begierig.
Agor nickte. „Ja, er kann mit den Geistern in Kontakt treten. Allerdings kann er nicht zu
ihnen sprechen, sie sprechen zu ihm. Verstehst du das?“
„Ich denke schon. Aber wofür soll das gut sein, wenn die Verstorbenen mit ihm reden können? Ich meine, was nützt das?“
„Was es nützt? Nun, sie können ihn zum Beispiel vor möglichen Gefahren warnen. Er spürt ihre Gegenwart, was manchmal sehr nützlich sein kann, manchmal aber auch etwas nervig.“
Straga nickte.
Mit einem Mal hörten sie Aria sagen: „Wir sollten weiter gehen. Es ist nicht gut, wenn wir warten, bis der Träger von Ayelda findet. Wir müssen ihn zuerst finden!“
Agor seufzte und sagte dann: „Ja, lasst uns aufbrechen. Straga, weckst du bitte Jean
und Lenny?“
Straga sprang auf und ging, durch eine dünne Schneeschicht hindurch, auf Jean und Lenny zu, die nahe dem Feuer lagen.
„Was ist denn los?“, fragte Lenny verschlafen, nachdem er ihn wachgerüttelt hatte.
„Beeil dich, wir müssen weiter ziehen.“
Lenny erhob sich schläfrig und zog sich an. Auch Jean regte sich und schon standen alle bereit und hellwach neben den Feuer.
„Ich frage euch am besten erst gar nicht, ob ihr Hunger habt“, sagte Aria zischend und funkelte dabei jeden von ihnen zornig an.
„Doch, ich habe großen Hunger!“, meinte Lenny und streckte bittend die Hand aus.
Doch Aria lächelte nur, hob eine Augenbraue und fragte: „Kontakraut?“
Sogleich verzog Lenny das Gesicht, zog seine Hand blitzschnell wieder zurück und schüttelte angewidert den Kopf.
Aria lächelte bitter, steckte die hand aus der Tasche und holte ein kleines Büschel von dem bitteren Kraut heraus, das sie sich selbst in den Mund steckte, ohne es vorher über der Glut
zu rösten.
„Wir müssen etwas essen, auch wenn wir es…nicht besonderes mögen!“, meinte Agor, „Oder wollt ihr verhungern?“
Da ihm niemand widersprach reichte Aria ihm spöttisch weitere vier Krautbüschel, die er an Jean, Lenny, Straga und sich selbst verteilte.
Straga sah, dass Lenny angewidert das Gesicht verzog, als er das braune Kraut kaute und ihm selbst erging es nicht viel besser. Es widerlich zu nennen, wäre noch ein Kompliment gewesen. Bei dem Geschmack kam ihm die Galle hoch und er musste würgen.
Aria schaute sie spöttisch an, während sie versuchen, es zu schlucken und als sie es alle geschafft hatten, applaudierte sie übertrieben.
Dann sahen sie sich an und machten sich schließlich auf den Weg.
Straga und Agor gingen wieder vorne weg, Jean und Lenny folgten, Aria ging am Ende.
So gingen sie in den kleinen Wald hinein und schon bald waren sie von kahlen Bäumen umgeben, manche mit Schnee bedeckt.
Aria schaute hoch zu den Bäumen und flüsterte dabei immer wieder dieselben Worte: „Je et Sagu ma`.“
Da Straga die Worte nicht verstand, musste es die Sprache der Elfen sein, in der sie sprach.
Was auch immer sie da sagte…
Weil er auf die Elfe geschaut hatte, hatte er nicht bemerkt, dass Agor abrupt stehen geblieben war, bis er mit ihm zusammenstieß.
Doch Agor schimpfte nicht etwa, er stand nur da und starrte auf etwas, das am Boden lag, halb vom Schnee verdeckt. Als er genauer hinsah, wurde ihm mit Schrecken klar, was es sein musste. Rund um das Ding herum waren große Fußabdrücke. Diese Füße hatten lange, scharfe Krallen gehabt, es waren die Spuren eines Nachtmahrs. Doch das war es nicht, was ihm Angst machte und schaudern ließ. Jean hielt Lenny rasch die Augen zu, damit er nicht sah, was da im Schnee lag.
Als er noch in der Miene lebte, hatten die Wächter ihnen oft Geschichten erzählt.
Er konnte sich noch genau an ihre Worte erinnern.
„Habt ihr je die lehre Hülle gesehen, die nach der Häutung einer Libelle übrig bleibt?
So ist es auch bei den Opfern der Nachtmahre. Sie ernähren sich von der Angst, saugen all das Leben aus ihren Körpern, bis schließlich nur noch die Hülle übrig bleibt. Alles ist weg, das Fleisch, das Blut, selbst die Knochen. Nur die Haut, die lassen sie liegen, weil sie ihnen nicht schmeckt. Nur die Hülle, die Haut, des Mensches, lassen sie liegen. Das andere saugen sie auf. Wie die Haut einer Libelle, die sich gehäutet hat, oder wie die einer Schlange.“
Und so war es auch.
Alles war weg, das Fleisch, das Blut und selbst die Knochen, nur die Haut war lag noch da, halb vom Schnee bedeckt.
„Je et Agiva Che la`, flüsterte Aria leise, in der Sprache der Elfen.
Straga warf ihr einen schnellen Blick zu und wunderte sich, dass sie ganz ruhig da stand
und keine Gefühlsregung zeigte.
„Was ist denn? Lasst mich gucken!“, flehte Lenny, doch Agor nahm seine Hand nicht von seinen Augen.
Jean starrte die Hülle entsetzt an und konnte den Blick nicht von ihr wenden.
Doch schließlich flüsterte Agor tonlos: „Lasst uns weiter gehen. Hier können wir nichts tun.“
Ohne die Hand von Lennys Augen zu nehmen, ging er schweigend neben den anderen her und erst als sie eine beträchtliche Entfernung zwischen sich und der Haut gebracht hatten, gab er ihm seine Sicht wieder.
Sagu ma`
Gegen Mittag erreichten sie einen Bach.
„Wir könnten hier Rast machen“, schlug Jean vor, da sie alle erschöpft waren. Sie erneuerten ihren Wasservorrat und setzten sich dann, um wieder zu Atem zu kommen.
Mit einem Mal hob Aria den Kopf und blickte starr in die Ferne, als könnte sie dort
etwas sehen.
„Was ist da? Was siehst du, Aria?“, wollte Jean von ihr wissen und musterte sie.
„Da ist ein Dorf“, gab sie tonlos zur Antwort.
Straga folgte ihrem Blick, konnte jedoch nichts erkennen, außer der öden, flachen Landschaft, die an manchen wenigen Stellen mit Schnee bedeckt waren.
„Ich sehe nichts“, sagte er und schaute sie an.
„Bei den miserablen Augen, die ihr Menschen habt, kannst du auch nichts sehen!“, sagte Aria spöttisch, ohne ihren Blick von dem ab zu wenden, was da auch immer sein mochte.
„Elfen haben viel bessere Augen als wir“, raunte Jean ihm leise zu, „Sie können viele Kilometer weit sehen.“
„Es ist ja auch keine große Leistung, bessere Augen zu haben, als ihr!“, meinte Aria.
Als Straga ihr das erste Mal begegnet war, war sie ihm richtig sympathisch vorgekommen, doch jetzt… entfernt ist es?“
„Du siehst also ein Dorf?“, fragte Agor neugierig, „Wie weit entfernt ist es?“
Arias Augen wurden schmal, als sie die ungefähre Entfernung berechnete.
Schließlich sagte sie zufrieden: „Etwa am Abend würden wir es erreichen. Vielleicht früher, vielleicht später. Kommt auf das Wetter an und wie fit ihr seid. Also, was sagt ihr? Ich kann auf jeden Fall noch laufen!“
Agor blickte zwischen den übrigen hin und her.
„Könnt ihr noch?“
Jean und Straga schüttelten erschöpft die Köpfe und Jean fragte: „Zehn Minuten Pause?“
Und damit war die Sache beschlossen.
Nach der Zehn-Minuten-Pause ging es dann weiter, dieses Mal jedoch führte Aria sie.
Ein heftiger, eiskalter Wind wehte und sie drückten ihre dicken Pelzmäntel fest an sich.
Bereits nach wenigen Minuten waren sie durchgefroren und klagten über den Wind und
die Kälte.
Gäbe es hier wenigstens Bäume oder Berge, dann hätten sie den Wind ein wenig abhalten können, doch sie waren in den Marschen, jener Landschaft, in der es keine Erhöhungen gab, keine Bäume, keine einzige Pflanze und fast kein Leben.
Der steinerne Boden war rissig und mit einer dünnen, kalten Schneeschicht bedeckt.
Lennys Zähne schlugen bibbernd aufeinander und Jean und Straga zitterten.
Agor ging mit Aria voran und seltsamerweise ging eine gewisse Wärme von ihm aus, die das Schlimmste doch fernhielt, worüber sie alle froh waren.
„Wie kommt es, dass er diese Wärme ausstrahlt?“, fragte Lenny Jean, der ihm leise antwortete: „Es ist die Magie.“
„Und Aria?“, wollte Lenny wissen, „Sie hat doch auch Magie, sogar mehr als Agor. Weshalb tut sie nichts gegen den Wind oder die Kälte?“
Jean seufzte. „Elfen greifen nicht gerne in den Lauf der Natur ein oder verändern das Wetter.“
„Aber sie könnte es, oder?“
„Ja Straga, sie könnte es wahrscheinlich, aber sie tut es nicht. Und wenn ich dich bitten darf, frag sie auch nicht warum, wenn du nicht schon wieder eine Predigt von ihr hören willst.“
Just in diesem Augenblick drehte Aria sich zu ihnen um und warf ihnen einen ärgerlichen Blick zu, den Agor mit einem freundlichen Lächeln erwiderte.
Sie gingen noch lange und während der gesamten Zeit beschwerte Lenny sich über das Wetter.
Als sie am Abend ihre drei Zelte aufschlugen, versuchte Agor mit Hilfe der Magie ein Feuer. Zu entfachen, ohne großen Erfolg. Zwar loderte für den Bruchteil der Sekunde ein kleines Flämmchen auf, erlosch dann aber auch gleich wieder.
Aria stand neben ihm, tief in Gedanken versunken.
Schließlich fragte sie tonlos: „Wer von euch ist müde?“
Straga, Lenny und Agor warfen sich schnelle Blicke zu, dann hob Lenny zögernd die Hand und unterstrich das ganze mit einem langen Gähnen. Aria verdrehte die Augen, fragte dann aber: „Noch jemand?“
Sie schüttelten die Köpfe und Lenny schaut verlegen zu Boden.
Aria klatschte einmal in die Hände und sagte dann entschlossen: „Agor, Jean und Straga, ihr baut die Zelte wieder ab! Lenny, Agor wird dich tragen, er ist stark!“
Die letzten Worte sagte sie mit etwas mehr Schärfe, ganz so, als ob sie ihm drohen wollte, falls er es nicht war.
Alle blickten sie verständnislos an, bis sie sagte: „Na, wollt ihr etwa nicht weiter gehen?“
„Aber…aber der kalte Wind?!“
„Mach dir darüber mal keine Sorgen, Lenny“, sagte Aria lächelnd, „Um den werde ich mich schon kümmern.“
Straga und Jean sahen sich verblüfft an und machten sich dann, gemeinsam mit Agor, daran, die Zelte wieder abzubauen. Straga beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Aria sich auf den kalten Steinboden niederließ, die Arme in die Luft regte und mit lauter Stimme sagte: „Sagu ma`!“ Diese Worte wiederholte sie immer wieder, bis Straga schließlich merkte, wie der Wind sich legte, schließlich ganz verschwand und die Kälte mit sich nahm.
Sie lächelte zufrieden und Agor, Jean, Straga und Lenny starrten sie verwundert an.
„Wie kommt es, dass du deine Meinung so plötzlich geändert hast?“, wollte Jean von
ihr wissen.
„Ach, ich war euer ewiges Genörgel einfach Leid! Und außerdem, wir müssen weiter, oder etwa nicht?!“
„Ich wette mal, sie hat selbst gefroren“, meinte Jean später zu Straga, als sie bereits eine Weile gegangen waren. Agor hatte Lenny, wie einen Sack, über die Schulter genommen, damit er schlafen konnte. Aria hatte wieder die Führung übernommen.
Arias Blick war nach vorn gerichtet, sie ließ das, was sie da sah, keine Sekunde aus
den Augen.
Als sie etwa eine Stunde gegangen waren, konnten auch die anderen kleine Häuserspitzen in der Ferne sehen und Straga fragte sich, wann sie sie wohl erreichen würden.
Sie kamen nun schneller voran, was daran lag, dass ihnen kein eiskalter Wind mehr
entgegen blies.
Es war überhaupt nicht mehr kalt, eher ein bisschen warm.
Und als die Sonne schließlich am Horizont erschien, um den neuen Tag zu begrüßen, wachte Lenny auf, sodass er nun selbst gehen konnte und sie noch ein wenig schneller vorankamen.
„Gegen Mittag werden wir es wohl erreicht haben“, schätze Aria zufrieden.
Immer wieder warf sie schnelle Blicke au den rissigen, staubigen Boden und ihre Stirn zog sich dabei jedes Mal in kleinen Falten zusammen, sodass der kleine, goldene Stern, der darauf graviert war, ganz runzelig aussah.
Straga wusste nicht, was dieses Mal auf ihrer Stirn zu bedeuten hatte, aber er vermutete, dass es das Zeichen des Königshof sein mochte.
Als die Sonne schließlich ihren höchsten Stand erreicht hatte, waren sie tatsächlich schon fast im Dorf angelangt. Es lag nicht weniger als einen Kilometer vor ihnen.
Und nach einigen Minuten hatten sie es dann vollends erreicht.
Informationen
Sie standen am Rande des kleinen Dorfes und blickten auf den alten Mann, der auf sie zugehumpelt kam.
„Fremde? Was wollt ihr denn hier? Seid ihr über die Marschen gekommen?“
Agor trat vor und sagte: „Ja, wir sind über die Marschen gekommen, sie haben Recht. Wir suchen nach Informationen und wollen etwas Proviant für unsere weitere Reise kaufen. Wo finden wir den Dorfältesten?“
„Er wohnt in der Hütte, die am Marktplatz steht. Den Mark werdet ihr wohl ohne Probleme finden, er liegt genau in der Mitte unseres Dorfes.“
„Wir danken ihnen!“, sagte Agor freundlich und sie machten sich auf zum Markt.
Der steinerne Platz war klein
Ein kleiner Junge lief an ihnen vorbei, den Blick erschrocken auf Aria gerichtet.
Aria schien sich hier recht unwohl zu fühlen, was keinen von ihnen groß wunderte.
Sie fiel am meisten auf, weil, dank ihrer spitzen Ohren und ihrer makellosen Schönheit, nicht verborgen blieb, dass sie eine Elfe war.
Agor sah sich um und ihm fiel gleich ein kleines (für dieses Dorf war es noch groß) Haus auf.
Es war aus sandfarbenen Steinen erbaut worden und die Tür war aus massivem Holz.
„Wo haben die denn hier das Holz her? Hier wächst doch nichts!“, meinte Jean verwundert und musterte das Haus und die anderen, noch kleineren, Hütten forschend.
Agor zuckte mit den Schultern und Straga sagte: „Vielleicht treiben sie Handel.“
„Keine Ahnung. Aber das soll uns nicht interessieren! Wir müssen den Dorfältesten fragen, ob er etwas über diesen Scape weiß.“
Sie alle nickten und als Straga diesen Namen hörte, lief ihm ein kalter Schauer
den Rücken hinunter.
„Soll ich sprechen?“, fragte Agor. Straga und Lenny verstanden nicht recht, was er damit meinte, doch die anderen stimmten ihm zu.
Sie traten an die Tür des Hauses und Agor klopfte.
Es dauerte einige Augenblicke, ehe eine heisere Stimme von drinnen sagte: „Komme gleich.“
Aria straffte die Schultern an und sah plötzlich ganz angespannt aus.
Die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren und vor ihnen stand ein alter Mann.
Er war verhältnismäßig klein und etwas rundlicher. Auf seinem großen Kopf waren kaum noch Haare, doch sein Kinn war ein einziger Urwald. Seine kleinen, schwarzen Augen blickten misstrauisch zu ihnen hinauf und als er nun sprach, war seine Stimme brüchig, doch es lag eine gewisse Autorität darin. „Wer seid ihr? Was wollt ihr?“
Agor nickte ihm höflich zu, während die übrigen nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten.
„Guten Tag, mein Herr. Mein Name ist Agor und meine treuen Freunde hier sind Aria, Jean, Straga und Lenny“, stellte er sie vor und weiß dabei auf jeden einzelnen.
Der Mann beäugte sie misstrauisch und dann huschte sein Blick zu Lenny.
„Ganz schön junger Freund, den du da hast!“
Agor räusperte sich und meinte dann: „Nun, Lenny ist…mein jüngerer Bruder.“
„Und was ist mit diesem Straga und der Elfe? Was habt ihr mit den Elfen zu tun?“
„Also…Straga ist mein Cousin und Aria…ist eine gute Freundin.“
Lenny und Straga stutzen, als sie diese Lüge hörten.
Lenny warf Agor einen fragenden Blick zu, den er jedoch nicht erwiderte.
„Die Elfe ist also eine…Freundin? Wie das?! Das elfische Volk sind unsere Feinde!“
Arias Augen wurden schmal, als sie das hörte und sie sagte mit fester Stimme: „Wir wollen nur einige Informationen und etwas Proviant kaufen! Mehr nicht!“
Der Dorfälteste stemmte beide Arme in die Hüften.
„Was für Informationen?“
„Nun, wir suchen nach….nach dem Sohn meiner Schwester. Nach Stragas Bruder, um genau zu sein. Sein Name ist Scape und er ist von einem tag auf den anderen verschwunden. Wir wissen nur, dass er ständig von…dieser Gegend gesprochen hat, er wollte unbedingt einmal hier her. Und da dachten wir uns, vielleicht ist er hier ja vorbeigekommen und sie haben ihn gesehen.“
Straga zuckte bei seinen Worten leicht zusammen, ließ sich jedoch nichts anmerken.
Agor schaute den Dorfältesten erwartungsvoll an, doch der meinte lediglich: „Und wo ist die Mutter des Jungen? Oder der Vater? Warum suchen die nicht? Ich traue euch nicht!“
Agor räusperte sich, ehe er sagte: „Die Mutter ist tot und der Vater ein Soldat des neuen Fürsten unseres Landes. Er kann sich da nicht um seinen verschwundenen Sohn kümmern, also haben wir, seine Familie, das übernommen.“
Der Mann hob eine Augenbraue, es war abzusehen, dass er ihnen kein Wort glaubte.
„Nehmen wir mal an, es stimmt alles, was sie da sagen und sie wollen wirklich bloß Informationen und Proviant von uns kaufen…was bekäme ich, wenn ich dafür sorgen würde, dass sie sie bekommen?“
Aria stieß ein hohes Fauchen aus und der Dorfälteste wandte leicht den Kopf in ihre Richtung.
„Halten sie diese Bestie zurück, Mann! Oder meine Leute werden dafür sorgen!“
Aria warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, sagte jedoch nichts weiter.
„Nun“, sagte Agor, als wäre nichts geschehen, „Wir haben nicht viel, was wir ihnen geben könnten…was stellen sie sich denn so vor?“
Der alte Mann lächelte hämisch und schlug lässig vor: „Etwa so…eine Goldmünze.“
Es war kein Vorschlag, sondern ein Preis.
Aria sog zischend die Luft ein und machte einen drohenden Schritt auf ihn zu, doch Jean hielt sie zurück und schaute zu Agor hinüber, der nun leise fragte: „Ich würde das gerne mit…mit meiner Familie besprechen, wenn sie nichts dagegen haben.“
„Gewiss dürfen sie das“, meinte der Dorfälteste, „Aber beeilen sie sich, ich habe nicht den ganzen Tag zeit!“ Seine letzten Worte klangen wie eine Drohung und Aria schürzte die ärgerlich die Lippen.
Sie gingen einige Schritte weg von der Tür und Aria ließ dabei den alten Mann nicht aus den Augen.
Sofort legte sie los. „Was glaubt der eigentlich, wer wir sind?! Reicht Händler die hunderte von Goldmünzen zu verschenken haben? Kann der sich nicht denken, dass wir…?!“
„Ruhig, Aria“, meinte Jean beschwichtigend, „Lass Agor entscheiden.“
Der Magier räusperte sich und sagte mit leiser Stimme: „Wie viel Geld haben wir dabei?“
Jean rechnete es kurz zusammen und verkündete dann leise: „Eine Gold- drei Silber- und drei Kupfermünzen, wenn ich mich nicht irre.“
Agor nickte und fuhr fort: „Wir werden verhandeln müssen. Mehr als zwei Silbermünzen können wir nicht entbehren.“
„Zwei Silber? Aber wir werden noch so viel benötigen und wenn wir ihm jetzt so viel geben…“, setzte Jean an, doch Agor unterbrach ihn. „Wir brauchen diese Informationen. Erinnere dich an unseren Auftrag! Wir wussten doch, dass es nicht einfach sein würde, auch du, Jean!“
Darauf blieb es still, also trat Agor abermals vor und sprach zu dem Dorfältesten: „Mein lieber Herr, wir haben uns entschlossen. Wir bitten euch, denkt an unsere Lage. Wir haben nicht sehr viel Geld und müssen gut darauf acht geben. Wenn ihr euch mit zwei Silbermünzen zufrieden stellen könntet…wir wären euch wirklich sehr, sehr dankbar, mein Herr!“
Der alte Mann musterte Agor für einige Sekunden und sagte dann mit fester Stimme: „Sieben Silber.“
Agor lächelte schwach und sagte: „Vier? Ich bitte euch, bedenkt, in welcher Lage wir uns befinden. Bitte!“
„In Ordnung. Vier Silber und euer Wort, dass ihr, nachdem ihr eure Informationen und euer Proviant habt, sofort aus meinem Dorf verschwindet und nie wieder zurückkehrt!“
Agor senkte dankbar den Kopf und flüsterte: „Ich und meine Familie danken euch sehr,
mein Herr!“
Der Dorfälteste lächelte und meinte: „Nun gut, dann gebt mir das Geld und ich werde euch die gewünschten Informationen liefern!“
Agor zählte das Geld ab und überreichte es ihm, ehe der Dorfälteste sagte: „Vor etwa einer Woche kam hier ein ziemlich schmutziger Junge vorbei. Er umklammerte eine Kette, ich konnte sie nicht richtig erkennen, da er sie keine Sekunde losließ und sie so verborgen hielt. Er wollte, dass wir ihm etwas Nahrung gaben. Doch er konnte nicht bezahlen und deshalb gaben wir ihm nichts. Er war ziemlich wütend und seine Augen haben seltsam geglüht. Und er sagte…er sagte, dass, wenn er erst einmal über das gesamte Weltreich herrschen würde, uns fürchterlich bestrafen würde. Natürlich glaubten wir ihm kein Wort.“
„Was ist dann passiert?“, fragte Jean und der alte Mann fuhr fort. „Er blieb etwa einen tag in unserem Dorf, lauerte hinter Häuserecken und überfiel ein- zwei der Dorfbewohner, nahm ihnen alles, was sie bei sich trugen. Die Opfer kamen zu mir, wütend, entrüstet. Ich schickte sogleich einige meiner Männer los, um ihn zu fassen, doch er war schon fort. Das ist alles, was ich weiß“
Agor nickte und sagte: „Wir danken euch sehr, mein Herr. Vielen Dank!“
Der Dorfälteste meinte: „Ja, bitte. Und nun erfüllt auch, was ihr versprochen habt. Besorgt euch euer Proviant und verschwindet dann von hier!“
„Sehr wohl. Ich kann ihnen nicht genug danken, werter Herr!“
Der alte Mann schüttelte den Kopf, verabschiedete sich und zog sich zurück in sein Haus.
Aria bleckte die Zähne und meinte: „Er war anders.“
„Was meinst da damit, Aria?“, fragte Straga sie zaghaft und sie antwortete misstrauisch: „Seine Augen. Sie waren so…anders.“
„Das hast du dir sicher nur eingebildet“, versuchte Jean sie zu besänftigen und schlug dann vor: „Kommt. Lasst uns sehen, was sie hier auf dem Markt anbieten.“
Die steinerne Wüste
Sie gingen lange.
Straga hatte aufgehört, die Tage zu zählen.
Die öden, lebensfeindlichen, flachen, heißen, unendlichen Marschen hatten sie nun schon seid langer Zeit nicht mehr verlassen. Ihre Wasservorräte waren fast aufgebraucht und bis jetzt waren sie an noch keinen Bach, Fluss oder sonst einer Wasserquelle vorbeigekommen und konnten diese nicht auffüllen. Sie aßen das, was sie in dem kleinen Dorf gekauft haben, doch auch dies würde nicht mehr all zu lange ausreichen. Dann würden sie nichts mehr haben, wovon sie leben konnten. Sie waren gefangen, mitten in dieser Landschaft, in der sie die einzigen Lebewesen darstellten, Pflanzen eingeschlossen.
Straga wunderte sich immer mehr darüber, wie die Bewohner dieses Dorfes überleben konnten, eingekesselt zwischen den unendlichen Marschen und der unerträglichen Hitze.
Am Anfang hatte er es nicht so schlimm gefunden, doch nun, da sie kaum noch einen Tropfen Wasser übrig hatten, war das anders.
Er hasste die Marschen. Hier merkte man nichts von dem eiskalten Winter, der sonst überall im Land herrschte. Nein, hier war die Kälte, Schnee oder Eis ein Fremdwort.
Der nagende Hunger war ja noch ganz erträglich, doch der Durst…
Noch nie in seinem Leben hatte Straga sich so durstig gefühlt, nicht einmal in der Mine.
Dort hatte er zwar immer Durst und Hunger gehabt, doch es war nicht annähernd so schlimm gewesen, wie jetzt.
Der Durst quälte ihn jede einzelne Sekunde.
Die Tage flossen dahin, wie ein zähflüssiges Gebräu.
Doch Lenny erging es noch schlimmer, als den anderen.
Er war erst acht Jahre alt und nicht an so lange Tagesmärsche gewöhnt. Manchmal gingen sie sogar die gesamte Nacht hindurch.
Arias Haare hingen ihr wirr ins Gesicht und auf ihrer makellosen haut funkelten kleine Schweißperlen, die auch den übrigen nicht erspart blieben.
Sie baten sie oft, nach einem Dorf oder Oase Ausschau zu halten, doch sie sah nichts.
Sie, mit ihren Augen, die viele Kilometer weit blicken konnten. Sie sagte jedes Mal erschöpft dasselbe Wort. „Nein.“
Es umgab sie nur die weite Landschaft, in der nichts wuchs.
Aus dem steinernen, rissigen Boden krochen an manchen Stellen Ströme aus heißem Dunst heraus, die sich in der Luft auflösten.
Während der gesamten Zeit sprachen sie kaum ein Wort, die brauchten ihre ganze Energie zum weitergehen. Sie zählen die Tage nicht, es erschien ihnen allen Sinnlos und mit der Zeit begann Straga sich zu fragen, ob sie jemals lebend hier raus kommen würden, aus dieser Wüste aus Stein.
Er wusste es nicht, doch mit jeder Stunde schien es ihm unmöglicher.
Doch sie mussten weiter, mussten vorankommen, die unendlichen Marschen verlassen.
Sie durften nicht aufgeben, mussten diesen Jungen finden, der die magische Elfenkette Ayelda bei sich trug und von ihr beherrscht wurde.
Sie mussten ihn von dem schreckliche bann befreien, mussten ihn heilen und die Kette vernichten, zum Wohle aller.
Doch wenn sie nun zu spät sein würden?
Wenn dieser…dieser Scape bereits die Herrschaft über das Reich erlangt hatte?
Was dann?
Was würde geschehen, wenn er selbst den schwarzen Fürsten besiegte, der den Osten regierte?
Was, wenn er gewann und bald über die ganze Welt herrschen würde?
Was, wenn das längst geschehen war?
Sie hätten es nicht erfahren.
Denn wer würde denn schon quer durch diese Marschen laufen, nur um ihnen die Nachricht zu übermitteln, dass der Kampf verloren war?
Was, wenn er verloren war?
Wen das alles schon passiert war?
Nein, er durfte nicht daran denken!
Er musste immer denken, dass es noch Hoffnung gab.
Sehr, sehr wenig Hoffnung.
Doch sie mussten daran glauben, dass all diese Dinge noch nicht geschehen waren.
Sie mussten einfach daran glauben.
Rettung
Es geschah morgens.
An einem Morgen bekamen sie ihre ganze Hoffnung wieder zurück.
Es war Aria, die ihnen die frohe Botschaft mitteilte.
Als sie sich erhoben, trotz des Schlafen noch immer müde, und sie nach Osten blickte,
sah sie es.
Vor Verwunderung riss sie die Augen weit auf.
Agor, der das sah, kroch erschöpft zu ihr herüber und fragte sie leise und röchelnd: „Was siehst du, Aria?“
„Wasser. Wasser und Berge. Und…Gras.“
Im ersten Moment verstand niemand, was sie da gesagt hatte, doch dann waren sie
alle hellwach.
Wasser, Berge und Gras. Das konnte nur bedeuten, dass sie bald diese Steinwüste hinter sich haben musste.
Jean brachte ein leises, zittriges Lachen zustande und schon waren sie alle auf den Beinen
und rannten.
Die Müdigkeit war wie weggeblasen.
Wasser, Berge und Gras.
Sie konnte sich ja so glücklich schätzen, dass sie das sehen konnte.
Er sah es nicht, doch er hoffte, sie hatte Recht und litt nicht nur unter einer Sinnestäuschung.
Straga wusste nicht, wie lange sie rannten, doch es war sehr lange.
Nach etwa einer halben Stunde kehrten die Erschöpfung, die Hitze, der Durst und der Hunger schlagartig zurück, doch nun kümmerte es sie nicht.
Sie liefen, ohne eine Pause zu machen.
Und da, nun sah Straga es auch.
Berge.
Sie waren nicht mehr weit entfernt, doch weit genug.
Er starrte sie so sehr an, dass er gar nicht sah, wohin er kannte und mit einem Mal lag er flach auf dem Boden.
Er war gestolpert.
Doch auch schon im nächsten Moment war er wieder auf den Beinen und hatte die anderen eingeholt.
Und dann waren sie endlich da.
Lachend ließ er sich ins Gras fallen, neben die anderen.
Aria, ihre Retterin, lag neben ihm und lachte ebenfalls.
Hier war es warm, doch nicht heiß.
Sie lagen im Schatten der Berge, auf weichem Gras, bis sie plötzlich etwas hörten.
Wasserrauschen.
Er rappelte sich auf und stürzte in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Das klare Wasser sprudelte aus einer kleinen Felsspalte.
Es schmeckte frisch und sofort legte sich das trockene Gefühl in seinem Mund.
Straga bemerkte, dass sich auch die anderen über den kleinen Bach beugten und gierig tranken, ehe Agor zwei große Wasserflaschen aus seinem Beutel holte und sie in das kühle Nass tauchte.
Als sie alle erfrischt waren, sagte Aria glücklich: „Gut, ich denke, wir haben den schlimmsten teil der Reise hinter uns.“
Straga wusste, dass es ganz anders war, doch er wollte ihre gute Laune nicht trüben.
Ja schon, der steinernen Wüste waren sie entkommen, aber da würde noch die Grenze kommen und wenn sie diese überschritten, wären sie m Reich des schwarzen Fürsten und dann würden die Schwierigkeiten erst losgehen. Und dann gab es da auch noch das Nebelgebirge, das ein Großteil des Reiches einnahm und voller heimtückischer
Gefahren war.
Doch von alledem erzählte er nichts, es würde ihre Feierlaune nur dämpfen.
Jean kam hinüber zu ihm hinüber, kniete sich neben ihn und meinte lächelnd: „So, wir sind der Steinwüste endlich entkommen! Und doch…du scheinst nicht glücklich darüber zu sein. Was ist los, Straga?“
Er sah besorgt aus, als er dies fragte und nach einer kurzen Pause des Überlegens antwortete Straga wahrheitsgemäß: „Oh doch, ich freue mich sehr. Ehrlich, Jean! Es ist nur…dies war nicht der gefährlichste Abschnitt unserer Reise. Wir müssen noch über die Grenze kommen und dann sind wir im Reich des schwarzen Fürsten…und dann auch noch das Nebelgebirge. Ihr habt ja keine Ahnung, was dort alles im Dunkeln lauert.“
„Dann klär mich doch mal bitte auf. Was ist dort im Gebirge?“
Er holte tief Luft, ehe er leise sagte: „ich war selbst nie im Gebirge, habe nur davon gehört. Dort soll es Höhlentrolle geben und Orks. Es wimmelt dort nur so von Dämonen, auch Dämonen der Nacht, die Nachtmahre. Und es gibt dort Kreaturen, für die es keinen
Namen gibt.“
Jean schien von dem, was er gesagt hatte, nicht im Mindesten erschrocken zu sein und sagte nur: „Nun komm schon. Lass dich von denen doch nicht einschüchtern!“
Er ging wieder zu Agor hinüber und fragte ihn etwas.
Der runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf.
Er kam ihm irgendwie traurig vor…
Ein weiterer Traum
Sie blieben nicht lange am Fuße des Berges, sie mussten sich beeilen, wenn sie den Träger der magischen Elfenkette Ayelda aufhalten wollten.
Und so gingen sie, nachdem sie ihre Wasservorräte wieder aufgefüllt, einen Hasen gefangen und einige Kräuter aufgesammelt hatten, weiter.
Sie mussten nur noch überlegen, ob sie die Berge umgehen oder durchschreiten sollten.
„Ich bin der Meinung, wir umgehen sie“, schlug Aria vor und blickte sich in der kleinen Runde um.
Doch Agor widersprach ihr. „Wir sind schneller, wenn wir diesen Pass dort nehmen, er führt direkt hindurch. Es würde nur einen Tag dauern. Wenn wir ihn umgehen, zwei.“
„Aber es ist kühler im Schatten.“
„Ja. Und wenn wir den pass nehmen, werden wir immer Schatten sein.“
Schließlich gab sie sich geschlagen und sie überquerten den Bergpass.
Am frühen Abend machten sie Rast und Lenny bemerkte freudig, dass sie bereits die Hälfte des Weges hinter sich hatten.
Wenn sie die Nacht über durchgehen würden, würden sie am Morgen die andere Seite der berge erreicht haben.
Straga nahm Lenny auf die Schulter, als dieser müde war, damit er etwas schlafen konnte.
Die Nacht über gingen sie schweigend hintereinanderweg, bedacht darauf, dem anderen von hinten nicht auf die Füße zu treten.
Ein kühler Wind wehte, doch er war nicht so kalt, dass sie rohren, dazu waren sie noch zu nah an der steinernen Wüste.
Es sollte sich herausstellen, dass er Recht behalten sollte.
Gerade als die Sonne hinter den Berggipfeln auftauchte, hatten sie den Pass verlassen.
Vor ihnen lag ein stiller Bach, dahinter erhob sich ein weiterer Berg.
Doch dieser war nicht so groß, wie die anderen, eher klein.
Lenny erwachte und rieb sich müde die Augen.
„Wo sind wir?“, fragte er schläfrig und Agor antwortete ihm: „Wir haben den Bergpass gerade verlassen. Hast du Hunger?“
Lenny nickte und seine Augen weiteten sich, als Agor das Kaninchen aus seinem Beutel hervor zog.
„Habt ihr es in der Nacht gar nicht gegessen?“
„Nein, wir wollten warten, bis du wach bist.“
„Aber gestern habt ihr doch nur einige Pilze und Fisch gegessen.“
„Du hast auch nicht mehr gehabt. Es wäre nicht gerecht, wenn wir mehr hätten als du.“
„Aber ihr seid die Nacht gelaufen, ich wurde von Straga getragen.“
„Evi Corta, gerecht geteilt.“
Lenny lächelte Aria dankbar an und meinte dann leise: „Die Sprache der Elfen ist faszinierend. Alles klingt so…elegant.“
„Wenn du willst, kann ich sie dir einwenig beibringen“, schlug sie lächelnd vor und Lenny wurde rot.
„Wenn es dir nicht zu viel ausmacht, Aria…gerne! Ist sie sehr schwer?“
„Für mich ist sie sehr leicht, da es meine Muttersprache ist. Aber vermutlich ist es für dich schwerer, da du es nicht gewohnt bist, in einer fremden Sprache zu sprechen. Und jetzt lasst uns essen, ich habe Hunger!“
Agor machte ein kleines Feuer, über dem er das Kaninchen briet, während die anderen darauf warteten, dass es schön knusprig wurde.
Aria aß die Kräuter, die sie gefunden hatten.
Nach dem Essen ging ihre Reise auch schon wieder weiter. Dieses Mal umgingen sie den Berg, da er nur sehr klein war und am Abend hatten sie bereits die andere Seite erreicht und das, mit Schnee bedeckte Grasland, auf dem hin und wieder kahle Bäume und Büsche wuchsen, lag vor ihnen.
Sie schlugen ihre drei Zelte auf und krochen hinein.
Ein heftiger Wind rüttelte an den Zelten und pfiff in den Zweigen eines Baumes, an dem sie ihr Nachtlager errichtet hatten.
Es dauerte lange, bis Straga, der sich ein zelt mit Jean und Lenny teilte, eingeschlafen war.
In seinem Traum war er abermals in der Mine.
Er hackte Stein für Stein ab, die auf den Staubigen Boden prasselten.
Neben ihm stand ein Junge, vielleicht acht, er selbst war zehn.
Der Junge neben ihm war zu bemitleiden, er war blass und hatte kaum noch Kraft und doch musste er weiter arbeiten, genau wie die anderen, ungefähr zwanzig Kinder, die sich neben ihnen abmühten, Edelsteine freizulegen, die sie dann in einen bereitstehenden Karren warfen, damit sie mit ihrer Ladung davonfuhren.
Kein Lichtstrahl drang bis zu ihnen hinab, die Mine war tief in einen Berg gegraben.
Und er, Straga, und der Junge neben ihm, waren in der untersten Etage, in
der dunkelsten Ecke.
Plötzlich sackte der Junge in sich zusammen, zu schwach, um wieder aufzustehen.
Straga wollte ihm helfen, wieder auf die Beine zu kommen, doch da waren auch schon zwei Wachmänner zur Stelle, die auf das Herz des Jungen horchten.
Sie packten ihn und ließen ihn vorsichtig in einen zweiten karren fallen, der an der
Felswand stand. Sie schoben ihn fort und das letzte was er sah, waren die leblosen Augen
des Jungen.
Dann wachte er auf.
Unterricht bei einer Elfe
Als sie am nächsten Morgen ihre Zelte wieder abgebaut hatten und losgegangen waren, fragte Aria Lenny: „Und? Möchtest du, dass ich dir etwas über uns Elfen lehre?“
Lennys Augen weiteten sich und er nickte begierig.
Aria lächelte.
„In Ordnung. Aber sei nicht enttäuscht, wenn du einiges von dem schon wusstest, was ich
dir erzähle.“
Straga ging neben ihnen und fragte zögernd: „Darf ich auch zuhören?“
„Natürlich. Ihr dürft beide. Und wenn ihr fragen habt, unterbricht mich ruhig, das macht mir nichts aus. Wisst ihr, es ist ungewöhnlich, dass Menschen etwas über uns erfahren wollen… Nun, es gibt drei Arten von Elfen. Wisst ihr, welche?“
„Also, ich kenne nur zwei.“
„Dann sag sie, Lenny“, sagte Aria lächelnd.
„Die Freien Elfen, zu denen zu gehörst, und die Moorelfen.“
„Genau, Lenny. Aber da gibt es noch eine dritte Art. Es ist kein Wunder, dass ihr noch nie von ihnen gehört habt, sie sind nicht weit verbreitet. In Kesselstadt, so glaube ich, gab es zwei oder drei. Das sind die Wolfselfen. Schon mal von ihnen gehört?“
Straga und Lenny schüttelten beide die Köpfe.
„Sie haben längliche Gesichter und ihre Haut ist etwas bräunlich. Sie haben kleinere Ohren, die nicht so spitz sind, wie die, von uns anderen Elfen. Dafür haben sie aber sehr spitze Zähne und ihre Finger gleichen eher einer Klaue, mit fünf langen Krallen. Sie können heulen wie ein Wolf, was ihnen den Namen gegeben hat. Sie bekämpfen sich untereinander, was dazu beigetragen hat, dass es sehr wenige von ihnen gibt. Ihr Heulen ist eine Art Kampfansage, denn es zieht andere Wolfselfen an und wenn sie zu zweit sind, kommt es zu einem Kampf. Es sind Einzelgänger und sie jagen in Bergen oder Wälder. Einige wenige von ihnen haben sich die Menschen oder andere Elfen auch zugute gemacht. Sie nutzen sie sozusagen aus, zu ihren eigenen Gunsten. Wir Freien Elfen sind ihnen nicht sehr zugetan, was das anbelangt. Sie greifen uns manchmal an und beuten uns aus, doch das machen sie mit allen so, der ihnen über den Weg läuft. Sie haben keinen Anführer, außer den Ka` selbst.“
„Den…Ka`?“, fragte Straga sie verwirrt, er hatte diesen Namen noch nie gehört.
„Wie ihr wisst, bin ich die Prinzessin der Freien Elfen und werde über mein Volk herrschen, sobald ich volljährig bin. Niemand steht über der königlichen Familie, außer dem Ka`.
Er ist so etwas wie der König der Könige, versteht ihr?“
Sie nickten und Lenny fragte: „Regiert er auch das Volk, dass du später regieren wirst?“
„Er mischt nur selten in das Herrschungstreiben der Könige ein, doch wenn er es tut, müssen alle ihm gehorchen, ja.“
„Wird der Ka` gewählt oder erbt e dieses Amt? Können auch Frauen einer sein?“
Aria lachte leise. „Du hast viele Fragen, Lenny. Nun, ich werde sie dir so gut beantworten, wie ich kann. Der Ka` erbt diese Stelle und es ist dabei gleich, ob es ein Mann oder eine
Frau ist. Wenn der letzte Ka` allerdings eine Tochter und später noch einen Sohn bekommt, dann wird er den Sohn wählen. Das muss aber geschehen, ehe die Tochter dann
volljährig wird.“
„Ab wann seid ihr volljährig?“, wollte Straga wissen und wäre beinahe über einen Stein gestolpert.
„Mit zwanzig. Aber wir können viele hundert Jahre alt werden. So weit ich weiß, wurde die älteste Elfe zweitausend Jahre alt. Wir können nicht an Altersschwäche sterben, nur durch eine Klinge, einen Pfeil oder ein Gift. Aber nur, wenn der Pfeil oder die Klinge durch unser Herz stößt, wenn sie mich schwer am Bein verletzt, passiert nichts.“
Lenny und Straga starrten sie endgeistert an und sie lächelte.
„Ja, das ist gemein, nicht wahr? Aber nun weiter. Was wollt ihr noch über uns Elfen wissen?“
„Eure Bräuche, eure Feste. Feiert ihr überhaupt Geburtstage, wo ihr doch so alt werdet, wird das nicht irgendwann langweilig?“
Sie lachte und antwortete: „Wir feiern alle zehn Jahre unser Geburtstag. Andere Feste haben wir kaum, aber Bräuche schon. Wenn zum Beispiel ein Baby geboren wird, dann versammeln sich alle und ein jeder spricht seinen Segen an das Kind aus. Wenn die königliche Familie Zuwachs bekommt, ist es genauso. Wenn jemand stirbt, dann fasten wir eine Woche lang. Wir dürfen während der gesamten zeit nur Wasser trinken und jeden Tag versammeln wir uns und beten zu unseren Ahnen, dass der Tote eins mit der Natur wird. Er wird dann ein Teil
der Welt. Und nach der Fastenzeit gibt es ein großes Essen. Wenn jemand einen verliert, den er geliebt hat, dann schneidet derjenige sich die Haare ab und verbrennt sie, aber es muss wahre Liebe sein, kein Vater-Sohnverhältnis oder etwas Ähnliches. Es muss vom Herzen kommen, nicht aus der Verwandtschaft. Damit erweißt man dem Tote n seine letzte Ehre.
Außerdem schwört an damit, seinen Tot zu rächen.“
„Hast du schon einmal jemanden verloren, den du geliebt hast, bei dem du dir die haare abgeschnitten hast?“, fragte Lenny und wurde leicht rot.
„Nein, habe ich nicht. Aber als meine Mutter gestorben ist, hat mein Vater seine haare ins Feuer geworfen.“
„Deine Mutter ist gestorben?“, fragte Straga schockiert und Lenny
fragte behutsam: „Woran?“
Arias Gesichtszüge verhärteten sich, als sie sagte: „Vor fünfundneunzig Jahren. Es war die Klinge eines Menschen. Mein Vater hat sein Haar gelassen und rächte ihren Tod noch am selben Tag.“
Straga und Lenny sahen sich an, das hatten sie nicht gewusst.
„Das tut mir Leid, Aria. Das mit…deiner Mutter. Hast du geweint?“
Arias Blick blieb hart, als sie sagte: „Wir Elfen weinen nur, wenn wir glauben, es könnte nicht schlimmer werden.“
„Das ist keine Antwort!“, beschwerte Lenny sich und Aria lächelte.
„Ich habe noch nie geweint.“
„Was? Noch nie? Aber…aber das geht doch gar nicht!“, meinte Straga verblüfft, „Das ist doch unmöglich…niemals zu weinen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe noch nie geweint. Wenn wir Elfen glauben, es ist so schlimm, dass die Welt untergehen könnte, dann weinen wir.“
„Aber es war doch deine Mutter!“
„Ja, Lenny, es war meine Mutter Doch das Leben geht weiter. Natürlich war ich traurig, habe jedoch nicht geweint.“
Lenny zuckte mit den Achseln und bat dann: „Erzähl noch mehr von euch Elfen. Ich möchte eure Sprache lernen.“
Aria lächelte und meinte: „Ich denke, dafür ist später auch noch Zeit. Spart eure Kraft fürs Gehen auf, wir werden es brauchen.“
Sie gingen bis spät in die Nacht hinein und erst, als sie an einem Bach vorbeikamen, der noch nicht zugefroren war, machten sie Halt und errichteten ihr Lager.
Auch in dieser Nacht träumte Straga von dem Jungen, der neben ihm in der Mine stand und mit einem Mal in sich zusammensackte.
Die Armee der Moorelfen
Am nächsten Morgen schien die Sonne. In der Nacht hatte es nicht gefroren und so war der Schnee geschmolzen, was ihr Vorankommen ein wenig erleichterte.
Sie bauten die Zelte ab und verstauten sie in ihren Taschen.
Während sie nun weitergingen, suchte Aria den Boden und den Horizont ab.
Den Boden, weil dort vielleicht noch einige Kräuter wuchsen, die nicht erfroren waren und die sie essen konnte.
Den Horizont, weil sie mit ihren guten Augen jede kleinste Bewegung wahrnehmen konnte und so jedes Tier sah, was Jean und Agor dann fangen und über einem Feuer braten konnten.
Immer wieder bückte sie sich, um Kräuter vom Boden aufzulesen, die sie sich dann in einen kleinen Beutel steckte, der ihr am Gürtel hing.
An diesem Morgen geschah nichts bemerkenswertes, doch gegen Mittag, als Aria sich gerade zu einem Krautstängel hinabbeugen und es aus der Erde reißen wollte, richtete sie sich plötzlich auf und hob ruckartig den Kopf. Ihre Ohren zuckten und ihre grünen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
„Aria?“, fragte Agor besorgt, „Was ist los?“
Doch Aria schüttelte nur den Kopf und ihre Augen verengten sich noch ein kleines Stück.
„Aria?“, fragte Agor noch einmal, die Stirn hatte er in Falten gelegt, „Was…“
Aria war so schnell, dass Straga es kaum wahrnahm.
Sie packte Lenny, zog ihn hinüber zu einer kleinen Ansammlung Büsche und duckte sich neben ihn. All das war eine fließende Bewegung.
Straga verstand gar nichts mehr, folgte aber den anderen, die sich nun ebenfalls zu ihr und Lenny gesellten.
„Aria? Was hast du gesehen?“, wollte Jean wissen und blickte ihr fest in die Augen.
„Elfen“. Aria sprach ganz leise, sodass man sie kaum verstehen konnte.
„Aber wenn da Elfen sind, warum verstecken wir uns dann vor ihnen?“, fragte Straga, der sichtlich verwirrt war. Lenny hatte schneller begriffen als er und meinte flüsternd: „Es ist eine andere Art von euch, oder? Wolfselfen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Moorelfen.“
Jean und Straga sahen sie fragend an und Lenny fragte sie: „Was machen sie hier? Ich dachte, sie leben im Moor. Hier ist doch keines!“
Agor vergrub den Kopf in den Händen und schüttelte immer wieder den Kopf.
„Lenny, verstehst du denn nicht?“, fragte Aria leise, doch Lenny begriff wirklich nichts.
„Malock, der Elfenkönig, der seine Lebenskraft in der Kette Ayelda eingeschlossen hat. Er war ein Moorelf.“
Doch Lenny verstand noch immer nicht, genauso wenig wie Straga.
„Malock war ein Moorelf. Er will über die ganze Welt herrschen. Und das schafft er wohl nicht, ohne Hilfe!“
„Aber…aber…“.
Jetzt hatten sie begriffen.
„Aber die werden ihm doch nicht folgen, oder? Aria? Das werden sie doch nicht!
Hab ich recht?“
Agor blickte auf, als Aria nicht antwortete und tat es selbst.
„Lenny, er wird wohl seine Magie eingesetzt haben.“
Da sagte Aria dann doch etwas.
„Er ist in der Gestalt von Scape zu ihnen gegangen und hat ihnen erzählt, dass er zurück ist. Er hat den Thron beansprucht und sie können ihn diesen Wunsch nicht verbieten, er ist
der König. Und als er den Thron bekam, wurden alle Moorelfen von ihm angezogen, wie ein Magnet. Sie spüren, dass er zurück ist und sie gehen zu ihm, ob sie wollen oder nicht. Sie sind seine Sklaven geworden, haben ihren eigenen Willen verloren.“
„Aria, woher weißt du das?“, fragte Straga sie endgeistert und sie musste schlucken.
„Ich…ich habe es auch gespürt.“
Alle starrten sie an.
„Warum hast du uns das nicht gesagt, Aria? Und warum fühlst du diese Anziehungskraft nicht? Warum musst du nicht zu ihm gehen?“
„Weil ich eine Freie Elfe bin. Und weil ich zu der königlichen Familie gehöre. Aber ich habe es trotzdem gespürt. Es war vor etwa einer Woche.“
„Aber warum hast du es nicht gesagt?“, fragte Jean zornig.
„Und was hätten wir dagegen unternehmen sollen?“, fauchte sie zurück und warf einen weiteren Blick über die Büsche.
Agor atmete tief aus und fragte: „Meinst du, sie haben uns gesehen? Wie weit sind sie entfernt?“
„Sie haben uns nicht gesehen. In etwa zehn Minuten sind sie hier.“
Eine klare Antwort.
Also warteten sie, verborgen hinter den Büschen.
Und dann kamen sie.
Zuerst hörten sie sie nur, dann sahen sie sie auch.
Es waren viele, sehr viele.
Sie gingen in Zweierreihen, es war eine sehr lange Reihe, sie konnten das Ende nicht erkennen.
Sie hatten alle dieselbe grünliche Haut, die spitzen Ohren, die feindseligen Gesichter.
Und ganz vorn gingen drei Elfen mit bräunlicher Haut.
Es waren keine Moorelfen, dass erkannte Straga gleich im ersten Moment.
Ihre Gesichter waren länglich, die Ohren spitzer.
Straga erinnerte sich an die Erzählung von Aria, aus der er entnahm, dass es sich bei ihnen um Wolfselfen handeln musste.
Und da, mitten zwischen den anderen Moorelfen, konnte Straga einige bekannte Gesichter erkennen. Da waren sie, die Gesichter hart wie Stein, ausdruckslos.
Joe, der Herr der Füchse, und Falio, der zu seiner Diebesbande dazu gehörte.
Und hinter ihnen, die Haut nicht ganz so grün, die Ohren nicht ganz so spitz und das Gesicht nicht ganz so feindselig, ging jemand, von dem sie am allerwenigsten erwartet hätten, ihn hier anzutreffen.
Direkt hinter Joe und Falio, marschierte ein junger Mann.
Er war ein Halbelf, wie Straga gleich erkannte.
Es war Tabor.
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2010
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