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DAS WUNSCHKÄSTCHEN

Auf halbem Weg der Wendeltreppe nach oben, lag ein braunes Plüschtier. Sein Colliemischling versuchte es grad mit der Schnauze zu schnappen, aber Winter erfasste es zuerst. Sein Hund zog enttäuscht darüber an der Leine.
Es war der Teddy von Melanie mit dem rechten, ausge- franzten Ohr. Mit raschen Schritten sprang er bald die Treppen hoch, bis zum Besucherraum.
“Oliver!”, rief er laut und: “Ist jemand hier?” Keine Antwort!
Anscheinend befand er sich mit seinem hechelnden Hund alleine. Auf den vorderen Tisch sah er einen Zettel liegen. Winter legte den Teddy auf die Bank davor und nahm die Notiz in die rechte Hand und las:
Christian, da du ja jetzt noch nicht hier bist, wir sind Holz sammeln gegangen.
Morgen, nach Einbruch der Dunkelheit ist unser "Leuchtfeuer”, dass wir jedes Jahr am ersten Oktoberwochenende machen. Du findest uns am Anfang des Küstenwegs, rechter Hand. Gruß Oliver.
Ja, dort lagen auch bereits etliche Äste und Zweige auf kleineren Häufen aufgeschichtet. Komisch, dass ihm das erst jetzt kam. Aber gesehen hatte er sie beide dort nicht! So musste er wohl oder übel, beinah den ganzen Weg wieder zurücklaufen.

Bei den Gehölzhaufen angekommen, schaute er rechts, ungefähr 120 Meter entfernt, in den kleinen Wald hinein. Ach, eher könnte man es Miniwäldchen nennen. Mit mehreren Buchen, Tannen und viel Gebüsch und Gestrüpp. Ansonsten sah er eigentlich nichts. Wahrscheinlich war es auch zu weit entfernt. Er ging bis hinter den ersten Buchenbaum und schrie:
“Oliver! Melanie! Wo seid ihr?” Max bellte dazu mit. Doch nichts! Nur das Rauschen des Meeres, ein leises knacken und rascheln der Herbstblätter, bei jedem weiteren Schritt, den er machte.
Zirka 10 Meter vor ihm bewegten sich plötzlich ruckartig zwei Tannen, sich nach allen Seiten kurz schüttelten und jemand versuchte sich zwischen ihnen hindurch zu drängen. Zum Vorschein kam - Oliver. Sein Gehstock wehrte energisch den letzten, hinderlichen Tannenzweig beiseite. Der daraufhin ihm peitschend ins Gesicht federte.
“Aua!”, schimpfte Oliver laut.
“Was ist denn um Himmels Willen los?”, frug Winter besorgt.
Ganz aufgelöst und noch außer Atem sagte der: “Melanie hat sich in einem alten Abwasserrohr eingezwängt. Sie kommt nicht mehr raus!”
“Was, wo?”
“Dort hinten!” Oliver deutete mit dem Stock in die Richtung, aus der er sich gerade mühsam hervorgezwängt hatte. Winter sah an Oliver zwei blutende Schnitte im Gesicht, über der linken Schläfe. Außerdem war sein rechter Jackenärmel eingerissen.
“Ich kann ihr nicht helfen mit meinem Bein!”, stellte Oliver klar.
“Oliver, halt du die Hundeleine solange. Ich geh besser alleine hin. Warte vorne am Weg solange.”
So nahm er Max mit der Leine und Winter lief weiter.

Nicht unweit der Tannen, lag unter einem Dickicht von Gestrüpp und Flechten, fast ganz versteckt, ein altes, ungefähr 2,50 Meter langes, vergessenes Rohr, auf, nein halb in der Erde eingegraben. Und da drinnen steckte Melanie fest. Sie weinte leise vor sich hin. Nur die beiden hellgrauen Sporthalbschuhe schauten heraus. Beim hinunterbeugen rief er in das dunkle Kanalrohr hinein.
“Melanie, hab keine Angst! Kannst du deine Arme bewegen und versuchen, dich auf die Seite zu drehen?”
Sie wimmerte und stöhnte. Ein hallendes, kurzes:
“Jaa!”
Schließlich gelang es ihr sich irgendwie zu drehen und hatte so etwas mehr Platz. Und Winter ging so nah er konnte ans Rohr und versuchte mit aller Kraft, sie herauszuziehen. Es schien zuerst zu blockieren, dann gab es einen schnellen Ruck und sie war befreit und draußen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Er nahm sie sogleich in den Arm.
“Ist ja alles wieder gut!”, tröstete er sie. Schmutzig war sie, aber verletzt schien sie offenbar nicht zu sein.
Sie hielt ein kleines Kästchen in den Händen. Aus Holz war es mit metallischem Schloss. Es war ziemlich verschmutzt. Auf dem Deckel funkelte ein roter, eingelassener, runder Stein.
“Das habe ich da drinnen leuchten sehen. Ich wollte nur mal nachschauen, was es ist”, erklärte sie und wischte sich mit schmutzigen Fingern, die letzten Tränen aus den Augen.
“Das schauen wir uns nachher zusammen an”, und: “Dein Opa wartet dort vorne auf uns.”
Also gingen sie gemeinsam zum Weg zurück. Jetzt war er ebenso wieder dreckig geworden. Aber was soll´s! Zum Glück gab es ja schon ewig Waschmaschinen.


Alle saßen im Besucherraum im Leuchtturm oben. Das gefundene Kästchen stand, vom gröbsten Schmutz befreit, in der Mitte des vorderen Tisches. Melanie hatte sich gerade das Gesicht und die Hände gewaschen, nahm ihren alles geliebten Teddy bei der Hand und setzte sich auf die Bank, an den Tisch und betrachtete das geheimnisvolle kleine Kästchen.
Was mag wohl darin sein? Irgendwas? Vielleicht ein Schatz? Überlegte sie so.
Winter versorgte gerade noch ihren Opa, mit einem großen Pflaster. Vorher hatte er ihm die Wunden in seinem Gesicht, natürlich gereinigt.
Schließlich meinte Oliver: “Das ist bestimmt ein Zauberkästchen, Melanie, was du da gefunden hast.” Winter schmunzelte.
“Das wird mit deinen Eltern nachher wieder Krach geben, weil ich dich mitgenommen habe”, redete er weiter.
Oliver Hansen ließ es sich nicht nehmen, Tee zu machen. Stellte die Kanne mit drei Bechern auf den Tisch. Anstelle von Rum, brachte er diesmal jedoch nur Zucker.
“Den Rest an Holzsammeln und das Aufschichten des Holzes zu einem Turm kann morgen Mathias und seine Kumpels übernehmen. War auch zu dumm von mir gewesen!"
“Haben sie für morgen nicht stürmisches Wetter mit Regen angekündigt?”, wollte Christian Winter wissen. Oliver kicherte lange und antwortete:
“Dann fällt das ganze “Leuchtfeuer” ins Wasser! Alle Arbeit umsonst.”
Melanie zupfte ihren Opa, der nun auf der Bank neben ihr saß am Ärmel.
“Na, mien Lütte? Wat ist?” Und blickte sie fragend, endlich zur Ruhe gekommen an. Seine Enkelin zeigte ungeduldig mit dem Finger auf das kleine Holzkästchen, welches mitten auf dem Tisch stand.
“Ja, ich möchte auch zu gerne wissen, was da drinnen ist!”, kam es von Christian und schob das Kästchen Oliver zu.
“Opa, mach schon!”
Oliver hielt es mit der linken Hand fest und öffnete. Zuerst widersetzte sich das Schloss, mit einen kurzen, tiefen, knarzendem Knacken. Dann hob er den Deckel an. Melanie schaute höchst gespannt, was nun wohl zum Vorschein kam. Auch Christian wartete voller Spannung. Und Oliver nahm ein scheinbar goldenes Glöckchen an einer langen Schnur heraus. Hielt es in der offenen Hand, so dass jeder es sehen konnte. Nur das Pendel fehlte.
“Ach, eine Glocke!” Kam es nun irgendwie enttäuscht von Melanie.
“Ja, das ist ein Glöckchen aus Gold, wie mir scheint.”
“Jetzt wissen wir wenigstens das Geheimnis des
Kästchens”, sagte Christian Winter.
“Klingeln kann sie leider nicht mehr. Aber ich glaube, ich weiß, was das für ein Glöckchen ist. Das ist nicht irgendein Glöckchen. Neein!” Und dabei blickte er Melanie aufmerksam an. Sie wartete…
“Neein! Dass muss die des armen Fischers Johann sein, dem Fischer, von dem es auch eine spannende Geschichte zu erzählen gibt.”
“Opa, erzähl sie doch bitte!”, bettelte Melanie und zupfte und zerrte ihn wiederum am Ärmel.
“Ich will sie auch hören! Los Oliver, fang an!”, forderte nun auch Christian.
Er legte die Glocke samt Schnur auf den Tisch, fuhr sich nachdenklich über den grauweißen Vollbart, grinste und begann schließlich mit:
"Also, die Sache begann so…”

Vor langer Zeit hatten die Leute hier auf der Insel eine sehr schwere Zeit. Die Nahrungsmittel waren knapp. Es gab überhaupt sehr wenig zu essen und die Regale im einzigen Supermarkt, waren schon fast alle leergeräumt und Nachschub war erst einige Tage später wieder möglich, wegen dem sehr schlechten Wetters. Es konnte in diesen stürmischen Tagen kein Schiff oder Fähre zur Insel gelangen, geschweige denn, kaum eine Fischerkutte ablegen.
Nun gab es da aber zwei Fischer auf der Insel, die trotz dem schweren Regen und Sturm, mutig zur See hinausfuhren, um wenigstens ihr Glück zu versuchen, auch wenn es umsonst blieb. Aber wenn sie etwas gefangen hatten, so war es für die eigene Familie oder dem nächsten Nachbarn, welche die paar wenigen Fische dankbar annahmen. So konnten sie sich gegenseitig helfen. Der eine Fischer hieß Klaas. Ein Mann, wie ein Baum und dementsprechend kräftig. Der andere, Johann. Ein schlanker, drahtiger und älter als Klaas. Er war Mitte vierzig, hatte drei hübsche junge Mädchen im Alter von vier, neun und fünfzehn Jahren. Der andere erst dreißig, mit einem Sohn von sechs. Beide hatten sie auch eine Frau.
Also kämpften sich die beiden jeden Tag erneut, auf dem zuerst ruhigen Meer, kurz nach Sonnenaufgang mit den Fischernetzen ab, und kamen jeden Abend abgekämpft vom Sturm und Wasser, mit magerer Ausbeute wieder heim.
Ihre Familien und der halbe Ort, hatten Angst, dass ihnen noch etwas geschah. Das sie vielleicht auch nicht mehr zurückkamen. Verschollen, verschluckt, vom tobenden Meer. So ging es auch nicht mehr weiter!
Klaas hatte vorgesorgt. Er hatte noch genug Vorräte für mindestens zwei Wochen Zuhause. Aber Johann war so arm dran, er wusste weder ein noch aus! Heute aßen sie schon wieder nur eine recht dünne Kartoffelsuppe, genauso wie gestern.
Seine Frau meinte: “Wie soll das nur weitergehen? Für morgen haben wir nur noch ein halbes Brot und etwas Käse übrig.”
“Morgen bringen sie einen kräftigeren Sturm. Ich weiß nicht, ob wir überhaupt hinausfahren können”, sagte Johann resigniert.
Seine Frau machte ein betrübtes Gesicht und verbarg die Tränen, die ihr nun herunter rannen, hinter vorgehaltenen Händen. Was sollte er bloß machen?
Sie hörten alle den Wind ums Haus pfeifen. Wie er mit einer kurzen Böe irgendwelche Sachen herumtrieb, Äste abbrachen und über die Dächer im Ort fegte.

Nachdem sie alle zu Bett gegangen waren, bei dem Sturm, konnte er einfach keinen Frieden finden. Er schlief als einer der Letzten ein. Und hatte einen recht merkwürdigen Traum…


Das Meer lag vor ihm, weit und dunkelblau. Er sah mächtige Wellen an seinen und Klaas Schiffskutter brechen und schmeckte das salzige Wasser auf der Zunge und spürte die steife Brise im Gesicht. Da merkte er, dass er alleine auf dem Boot war. Warum auch immer. Er vernahm eine Stimme, so klar und rein, vom Meer herauf: “Johann. Morgen wirst du alleine mit dem Boot hinausfahren. Es kommt ein schlimmes Unwetter herbei. Aber keine Angst! Es wird dir nichts geschehen!”
Voller Schreck ging Johann zur rechten Bootsseite und schaute über die Reling aufs Meer hinab. Da sah er eine Meerjungfrau durchs Wasser herausschauen. Sie hatte goldene, lange Haare und einen blaugrünen schimmernden Fischschwanz.
“Wieso sollte ich aufs Meer hinaus, wenn es einen solchen Sturm gibt?”, frug er ungläubig dessen, was er sah und hörte, zurück.
“Dir bleibt keine andere Wahl. Ich weiß von eurer Not auf der Insel und möchte allen helfen!”
In ihren Händen erblickte er ein kleines Kästchen. Sie war so wundersam schön anzuschauen. Wer hatte auch schon jemals eine Meerjungfrau gesehen? Sie schwamm flink an die Bootsseite heran und reichte ihm das Kästchen.
“Hier nimm… Darin befindet sich etwas, dass du morgen zum Fischen benötigst. Es hat Zauberkräfte! Du kannst es zwei Mal benützen und dann ist der Zauber leider vorbei.”
Jetzt kniend, ergriff er das Kästchen, wobei er der Meerjungfrau ihre Hand streifte. Sie fühlte sich warm aber äußerst feucht an. Feucht und nass, wie ein Fisch eben.
“Binde es nur weit oben am Fischernetz fest, und du wirst mit reicher Beute wieder heimkehren und eure Not ist vorbei. Fürchte dich also nicht!”
Sie winkte ihm lächelnd zu und als er gerade noch: “Danke, danke dir liebe Meerjungfrau”, noch rufen konnte, war sie alsbald schon wieder im Meer untergetaucht. Er sah gerade noch einmal ihre große Schwanzflosse auf das Meer aufschlagen, gleich einem Wal und verschwunden war sie.
Nun saß er da, im Kutter mit dem kleinen Holzkästchen vor sich, in dem ein runder, roter Stein eingelassen war, auf dem Deckel. Ein Rubin, nahm er an. Und mit fahrigen, zitternden Händen öffnete er das metallische Schloss.
Klick, klick…

Pochen, klopfen, Sturmgeheul.
Johann rieb sich schlaftrunken die Augen. Ach, es war nur ein Traum. Wieder Klopfen! War da einer an der Haustür? Seine Frau drehte sich mürrisch im Bett zu ihm um und murmelte müde, es war ja höchstens erst 3 Uhr nach seinem Gefühl.
“Willst du nicht nachschauen, Johann, was dat ist?”
Mit einem langen Seufzer antwortete er: “Na schön!”
Rappelte sich nicht weniger schläfrig aus dem Bett. Lief zum Hauseingang und öffnete gähnend die Tür. Gleich peitschte ihm Regen ins Gesicht, aber keiner stand davor. Nur der alte Besen war umgefallen und schlug wahrscheinlich immer gegen die Haustür. Schließlich nahm er ihn und beförderte denselben nach innen und lehnte ihn gegen die Wand neben der Tür. Da er nicht noch nasser werden wollte, beschloss er rasch wieder die Türe zu schließen. Doch kurz davor, entdeckte er links einen kleinen Gegenstand auf dem nassen Gras. Also sprang er mit zwei Sätzen schnell darauf zu, nahm es sich, um flink endlich die Türe zu schließen, um nicht völlig patschnass zu werden. Beim betrachten, es war ein kleines Holzkästchen, fuhr ihm der Schreck in die Glieder, bis in die Haare hinauf. Er musste auch kreidebleich geworden sein. Denn es war das Kästchen aus seinem Traum. Aber dass konnte doch unmöglich sein! Fing er an zu spinnen? Halluzinierte er? Er biss sich auf die Lippen, was weh tat. Es war real! Unglaublich!
Durch den dunklen Flur steuerte er auf die Küche zu und am Esstisch angelangt, stellte er das geheimnisvolle Kästchen auf denselben. Trocknete sich Hände, Arme und das Gesicht mit dem Handtuch vom Spülbecken ab, setzte sich auf einen einfachen Holzstuhl mit Lehne. Ungläubig dieses seltsamen Ereignisses, mit klopfendem Herzen, öffnete er das kleine Holzkästchen am metallischen Verschluss. Mit einem knarrenden Klicken sprang es auf. Er hob langsam den Deckel mit dem Rubin darin und zum Vorschein kam: Ein goldenes Glöckchen! Erschrocken, perplex riss er die Augen weit auf. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Es war doch nicht bloß so ein stinkgewöhnlicher Traum! Konnte das hier wirklich möglich sein? Sollte er wirklich aufs Meer hinaus? Und seine innere Stimme rief: Geh hinaus zum Fischen! Du musst es tun! Er hatte ja noch etwa zwei Stunden Zeit dazu. Aber was sollte er nur seiner Frau sagen? Am besten nichts. Sie würde ihn höchstens für verrückt halten. Außerdem musste er auch alleine mit dem Kutter rausfahren. Das hieß, selbst falls Klaas bei dem Wetter mit raus wollte, musste er mindestens eine halbe Stunde vor ihm beim Boot sein und abgelegt haben. Mit diesen Überlegungen legte er sich noch einmal ins Bett. Seine Frau war zwischenzeitlich eingeschlafen, konnte ihn so wenigstens nichts fragen…

Zirka eineinhalb Stunden später stand er mit seiner Öljacke, samt eingesteckten Kästchen auf dem Kutter und legte im heulenden Wind, das Boot schaukelte ganz schön, die Leinen los. Ließ den Anker hoch und schaltete den Motor ein. - Fuhr einfach los. So fuhr er ungefähr 45 Minuten lang, weit genug, auf offene See. Die Insel konnte man im Nebeldunst kaum mehr sehen. Drosselte schließlich die Geschwindigkeit, lief schwankend auf dem Kutter zum Netz hin. Nahm das Kästchen aus der Jackentasche, öffnete es, entnahm das Glöckchen, an dem eine Schnur befestigt war. Das leere Holzkästchen steckte er sogleich wieder ein. Beugte sich über das Netz, fand den obersten Rand des Fischernetzes und knotete das goldene Glöckchen gut daran fest. Jetzt würde es im Meer drunten, einen halben Meter herunterbaumeln. Gut sichtbar für jeden. Für alle Fische weit und breit! Er ließ den Motor fürs Netz anschalten. Und ganz langsam, mit der Geschwindigkeit des fahrenden Kutters zog sich das Fischernetz immer tiefer und weiter nach draußen ins Meer, bis zuletzt. Das Glöckchen konnte er, über die Reling noch relativ gut im Wasser schwimmen sehen. Dann schaltete er den Motor wieder ab. In diesem Augenblick hörte schlagartig der Sturm, das Windgejammer auf. Keine drohenden, hohen Wellen, kein heftiges rütteln und schütteln des Bootes mehr. Nur dunkle Wolken waren noch genügend am Himmel zu sehen.
Johann bekam es langsam mit der Angst zu tun. Kämpfte dagegen an.
Nach kurzer Zeit vernahm er ein leises, aber durchdrin- gendes bimmeln. Gleichmäßig war es, wie das Meer nun selbst schien. Es drang durch das Wasser herauf, bis zu ihm, und in weite Ferne. Da sah er auf einmal etliche dunkle Stellen im Meer, die sich auf das Boot zu bewegten. Immer größer und immer schneller wurden sie. Das waren Fische! Nein, mindestens zweierlei Fischschwärme! So viele, wie er sie noch nie vorher gesehen und sich erträumt hatte. Das Wasser kräuselte und spritzte nur so. Und dann zuckte und zappelte es wild im Netz. In Windeseile hatte er es dank des Motors auch an Bord gebracht. Und er freute sich an der großen Beute. Genauso war es auch, als er das Netz das zweite Mal heraufholte. Alle Fische, unzählige Heringe, Dorsche, Kabeljau und zwei verirrte Lachse verbrachte er in große Kisten mit Meerwasser und Eis und verstaute alles gut im Lagerraum. Als Letztes nahm er das Glöckchen vom Netz ab und verstaute es wieder in seinem Kästchen. Kaum das er dieses in seiner Jackentasche versenkte, fing der Sturm von vorne an zu heulen und das Meer tobte wilder denn je. Mit schwankenden, ungleichen Tritten hastete er zum Anlasser. Er ließ den Motor an, wendete, machte sich
auf schnellstem Wege nach Hause.

Gott sei Dank erreichte er unversehrt, den kleinen Inselhafen. Unglaublich erleichtert darüber und froh wieder auf der Insel zu sein. Erwartet von einem sehr ungehaltenen Klaas, seiner eigenen angsterfüllten Frau und ein paar mutigen Leuten, die nach ihm gesucht und nach ihm Ausschau hielten.
“Es tut mir leid, ich musste es machen!”, schrie er ihnen durch den Sturm vom Fischkutter aus zu.
“Aber seht selbst meinen Fang an. Verhungern müssen wir nun jedenfalls nicht mehr! Es ist für alle!” Und dann sprang er über den Bootssteg herab, geradewegs in die Arme seiner höchst besorgten Frau.
“Entschuldige meine Liebe.”
“Ach, Johann!”
Tränen standen in ihren braunen Augen.

So wurden die ganzen Fische auf der Insel gerecht verteilt. Und jeder hatte die nächsten zwei Tage genug zu essen, bis die Insel endlich Nahrungsmittel erhielt und den Fährverkehr wieder aufnahm. Und dieses grässliche Unwetter ein Ende hatte. Warum allerdings er, Johann, so viele Fische gefangen hatte, an diesem Tag, behielt er für sich. Das war und blieb sein eigenes Geheimnis. Wer würde ihm denn schon so eine Geschichte glauben? Aber jetzt war Johann bis aufs Festland hinüber bekannt. Bald musste er nicht mehr Fischen fahren. Stattdessen bot er nun Bootsfahrten um die Insel an, für Besucher und Touristen. So konnte er sich und seiner Familie etwas mehr leisten als vorher. Es ging ihnen besser, nein wirklich gut! Zum Fischen ging er nun mehr für sich allein, wenn er mal wieder allein sein wollte und vielleicht heimlich nach der Meerjungfrau suchte.

Melanie schaute ihren Opa mit glänzenden Augen an. Es herrschte eine feierliche Stille hier im Leuchtturm.
“Die Geschichte ist schön gewesen. Gibt es wirklich Meerjungfrauen? Opa?”
Hansen lächelte. “Wer weiß, Melanie. Wer noch träumen kann, für denjenigen erfüllen sich so mache Sachen. Wie du siehst”, meinte er dann.
“Ja, das glaube ich auch”, kam es von Christian.
So saßen sie alle drei noch gut eine Stunde beisam- men, tranken Tee und plauderten und erzählten sich Witze, über die herzlich gelacht wurden und vergaßen völlig die Zeit. Keiner merkte, dass es bereits dunkel draußen wurde. Erst als der alte Hansen einen Blick aus dem kleinen Leuchtturmfenster warf, erschrak er kurz.
“Ach du liebe Zeit! Es wird schon dunkel. Nun aber nix wie nach Hause. Schnell aufräumen!“, brachte er entsetzt heraus.
Winter blickte auf seine Armbanduhr. Sie zeigte 17.10 Uhr an. Er runzelte nachdenklich die Stirn.
“Um wie viel Uhr soll eigentlich dieses Leuchtfeuer morgen starten? Falls es nicht "ins Wasser" fällt?”
“Wahrscheinlich so um 16 Uhr. Es wird auch Gegrilltes geben. Zum Trinken gibt´s ebenfalls genügend.” Erklärte Hansen, der bereits die Tassen und die Kanne wegräumte. Christian und Hansen beschlossen, das Melanie ihr magisches Wunschkästchen mit der Glocke für sich behalten durfte. Schließlich hatte sie es ja auch selbst gefunden. Sie nahmen an, das irgendein Tier, ein Hund oder Fuchs oder was auch immer, dieses Kästchen vor Jahren verschleppt und dort im Kanalrohr versteckte. So hatte sie ihren ersten Schatz für sich. Darauf könne sie ja nun stolz sein, wie Christian meinte. Melanie freute sich insgeheim auch ungeheuerlich darüber.

Opa Hansen lief mit seinem Gehstock humpelnd hinter Melanie her, welche den ganzen Weg über bis Zuhause, vor sich hin lächelte. Unter dem einen Arm ihr Wunschkästchen, an der anderen Hand ihren alten Teddybären tragend. Ab und an hüpfte sie vergnügt. Ihr Opa kam schier nicht mehr mit!
“Melanie, mach bitte langsamer.”

Zwischenzeitlich war Christian Winter mit Hund, wieder in seiner Pension angekommen. Später wollte er etwas essen gehen im Ort. Vielleicht in diesem kleinen Fischlokal, in dem er mit Andrea früher einige Male gewesen war.


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Texte: Alle Rechte liegen beim Autor! Keine unerlaubten Kopien, Auszüge und so weiter... Mai 2011
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2011

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