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Mit Gottes Hilfe
Helmut Marischka

Es war zum Verzweifeln. Pfarrer Christopher Hauser raufte sich die dichten, dunkelblonden Haare. Seit drei Wochen versuchte er seine kleine Schwester Bettina zu finden. Normalerweise hatte sich Bettina regelmäßig bei ihm gemeldet. Mindestens zweimal in der Woche. Er hatte sie natürlich schon bei der Polizei als vermisst gemeldet. Bisher ohne jedes Ergebnis. Er war natürlich schon in ihrer kleinen Einzimmerwohnung gewesen und hatte dort alles durchsucht. Das einzig Interessante, das er dort gefunden hatte, war ihr Tagebuch. Aber der letzte Eintrag war über ein Jahr alt. Er hatte natürlich schon alle Bekannten und Freunde von ihr angerufen. Niemand wusste etwas. Bettina war erst zwanzig Jahre alt, fast zwölf Jahre jünger als er selbst. Als sie 15 war, waren ihre Eltern bei einem Unglück ums Leben gekommen. Seit dieser Zeit hatte sich Christopher um seine Schwester gekümmert. Vier Jahre lang hatte sie bei ihm im Pfarrhaus der St. Michael Kirche gewohnt. Dann hatte sie einen Ausbildungsplatz und eine kleine Wohnung in der Nähe gefunden. Angefangen hatte das ganze Unglück, als Bettina diesen Stefano kennen gelernt hatte. Einen Kalabresen, der mit seiner Familie vor nicht allzu langer Zeit in ihre kleine Stadt gezogen war. Die Casparellis waren offensichtlich sehr wohlhabend, denn sie hatten sich einen luxuriösen Bungalow am Rande von Neustadt gekauft und unverzüglich mit etlichen Um- und Anbauten begonnen. Gute Katholiken. Natürlich, stammten sie doch aus Süditalien, wo man noch an Papst und Kirche glaubte. Das Oberhaupt der Familie war Pasquale Casparelli. Er besuchte regelmäßig den Gottesdienst. Die beiden Söhne hießen Luigi und Stefano. Stefano war Anfang - Luigi eher Ende zwanzig. Sie hatten die Kirche noch kein einziges Mal von innen gesehen. Eine Frau Casparelli schien es nicht oder nicht mehr zu geben. Vielleicht war sie schon verstorben. Nur wenige Monate, nachdem die Bauarbeiten am Haus der Casparellis abgeschlossen waren, verschwand auch der Vater Pasquale. Jedenfalls tauchte er weder in der Stadt noch in der Kirche je wieder auf. Von Bettina hatte Christopher erfahren, dass Seniore Casparelli angeblich geschäftlich unterwegs war. Bettina hatte Stefano in einer Eisdiele kennen gelernt. Ihr Faible für südländische Typen, schnelle Autos und Partys hatte dafür gesorgt, dass der junge Italiener schnell bei ihr landen konnte. Über vier Monate zogen die beiden zusammen durch die Gegend. Bettina hatte ihm immer von ihrer Zeit mit Stefano erzählt. Kino- und Diskothekenbesuche, Pizza essen, Ausflüge mit Stefanos Maserati – alles ganz normale Dinge. Aber Pfarrer Hauser war von Anfang an skeptisch gewesen und auch ein bisschen neugierig. Was waren das für Leute, die offensichtlich keiner geregelten Arbeit nachgingen, aber trotzdem mit Geld nur so um sich warfen?
Er hatte Erkundigungen eingezogen. Allerdings mit bescheidenem Erfolg. Die Casparellis waren unbescholtene Geschäftsleute aus Corigliano in Kalabrien, Import/Export. Mehr war da nicht herauszufinden. Nicht einmal, mit welchen Gütern gehandelt wurde. Es klang ihm zwar sehr nach Klischee, dennoch hatte ihn der Gedanke an die ehrenwerte Familie - die Cosa Nostra - förmlich angesprungen. Seine Vermutung, dass Bettinas Verschwinden etwas mit der Familie Casparelli zu tun hatte, begründete sich auf das letzte Telefonat, das er mit seiner Schwester geführt hatte. Sie hatte ihm erzählt, dass sie langsam genug von Stefanos Machoallüren hatte. Allerdings habe sie Angst, mit ihm Schluss zu machen. Warum? Weil Stefano ihr mehrmals gesagt hatte, dass er sie nie gehen lassen würde. Er sei noch nie von einer Frau verlassen worden und schon gar nicht von einer dummen blonden Tedesca.
Bettina war einigermaßen ruhig gewesen und hatte erzählt, dass sie alles unter Kontrolle habe. Aber Fakt war, dass er seit jenem Anruf nichts mehr von ihr gehört und gesehen hatte. Auch die Polizei, die sich auf Christophers Anregung mit Interpol in Verbindung gesetzt hatte, konnte ihm nur mitteilen, dass den Casparellis nichts nachzuweisen war. Sie hatten vermutlich Verbindung zur sizilianischen Mafia, aber eben nur vermutlich. Beweisen konnte man ihnen nichts. Drei Wochen waren vergangen, und es gab noch immer keinerlei Spur. Es war zum Verrücktwerden.

Ausschlaggebend für Pfarrer Hausers darauf folgenden Handlungen war letztlich die Beichte eines jungen Mannes, der sich im Dunstkreis von Stefano und Luigi bewegte, und schon etliche Botengänge für die Familie Casparelli unternommen hatte. Der Junge berichtete, nicht wissend, dass er über die Schwester seines Zuhörers sprach, von seinen illegalen Taten und von einem Gespräch mit dem angetrunkenen Stefano. In diesem Gespräch sollte der Kalabrese gesagt haben, dass er die aufdringliche Blondine gerade noch rechtzeitig entsorgt habe. Christophers Verzweiflung wuchs. Er durfte der Polizei aufgrund des Beichtgeheimnisses nichts erzählen, konnte aber unmöglich akzeptieren, dass der Verbrecher - der Mörder seiner geliebten Schwester - ungeschoren davonkam.
Mehrere Tage ergab er sich seiner Verzweiflung. Er trank bis zum Umfallen und zerstörte in einem Tobsuchtsanfall fast die gesamte Einrichtung seines Schlafzimmers im Pfarrhaus. Am Ende stand ihm seine Aufgabe glasklar vor Augen. Er selbst musste in Gottes Namen und mit Gottes Hilfe für Gerechtigkeit sorgen. Pasquale, den Vater, kannte Christopher persönlich, aber er hatte weder Luigi noch Stefano jemals von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Wussten sie, dass er Bettinas Bruder war? Unwahrscheinlich.
Bettina, was typisch in ihrem Alter war, war nicht gerade stolz darauf, dass ihr einziger naher Verwandter ein Pfarrer war. Noch dazu ein katholischer. Trotzdem musste er sichergehen. Davon hingen seine ganzen weiteren Planungen ab. Zunächst musste er die Polizei dazu bewegen, die Casparellis nicht mehr wegen Bettina zu behelligen. Sie durften keinen Zusammenhang zwischen Bettina und ihm herstellen können. Neustadt war zu klein, um einfach selbst zu den Italienern zu marschieren. Er dürfte sich auch nicht mit ihnen in der Öffentlichkeit zeigen, weil er dort sofort als Bettinas Bruder identifiziert werden würde.
Aber wie kam er dann an die beiden Brüder heran? Und falls er das schaffen könnte, wie sollte er seine Aufgabe zu einem Abschluss bringen? Er war schließlich nicht Dirty Harry.

Christopher teilte der Polizei mit, dass sich seine Schwester aus Australien gemeldet habe. Dort wollte sie noch länger bleiben, da sie einen Job gefunden habe. Ihre Ausbildung zur Industriekauffrau habe ihr sowieso nie zugesagt. Und um nicht auf die Widersprüche ihres Bruders eingehen zu müssen, war sie ohne Abschied abgereist. Die Polizei war allem Anschein nach froh, diesen Fall ad acta legen zu können und stellte die Ermittlungen rasch ein. In den nächsten Monaten verwandelte sich Christopher Hauser, katholischer Priester, in eine Art Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Er fuhr weite Strecken mit seinem Auto, um sich in einer entfernten Stadt Perücken anfertigen zu lassen. Die eine glich seiner eigenen Frisur. Die andere bestand aus längerem, schwarzem Haar. Dazu kaufte er einen passenden Schnurrbart. Dann ließ er sich eine Glatze rasieren. Fortan war er bei Tag weiterhin als normaler Priester zu sehen. Nachts jedoch fuhr er mit seinem Fahrrad zu einem kleinen Friedhof außerhalb der Stadt, wo er sich in Günther, den Biker, verwandelte. In einem kleinen Schuppen, der der Kirche gehörte, hatte er sein Motorrad, seine Lederklamotten und seinen Helm versteckt. Dort waren auch die schwarze Perücke, der falsche Schnurrbart und Schminkzeug. In dieser Verkleidung sondierte er das Umfeld der Casparelli-Brüder. Zeitgleich kontaktierte er einen alten Schulkameraden, der in der Praxis des angesehensten Arztes der Stadt als Assistenzarzt arbeitete. Dort waren Luigi und Stefano schon in Behandlung gewesen. Deren Gewohnheiten herauszufinden, die Orte aufzusuchen, an denen sich die Brüder aufhielten und Näheres über ihren Gesundheitszustand in Erfahrung zu bringen, waren Christophers Prioritäten.
Mit einiger Mühe konnte er Karl Münch, den Assistenzarzt, dazu überreden, ihn einmal mit in die Praxis zu nehmen, weil er sich angeblich für die modernen medizinischen Geräte interessierte. Bei dieser Gelegenheit gelang es ihm, einen Abdruck des Zentralschlüssels der Praxis zu machen. Jetzt musste alles schnell gehen. Noch in derselben Nacht kehrte er dorthin zurück und suchte die Unterlagen über die Casparellis. Zwar mit geringem Erfolg, aber viel Glück, denn niemand schien seinen Einbruch bemerkt zu haben, verließ er in den frühen Morgenstunden die Praxis.
Stefano war kerngesund. Sein Bruder Luigi hatte nachweislich nur eine leichte Allergie gegen bestimmte Gewürze. Safran, Salbei und indischen Curry.
Was sollte er damit anfangen können?

Mittlerweile war dem jungen Pfarrer der Schlafmangel anzusehen. Seine Wangen waren eingefallen, seine Augen waren rot geädert, und unter ihnen waren tiefe, schwarze Ringe. Aber seine Energie war ungebrochen. Er kam inzwischen mit zwei bis drei Stunden Schlaf pro Nacht aus.

Luigi war fast immer in Begleitung von Tillmann, seinem zwei Meter großen und fast ebenso breitem Bodyguard unterwegs. Der riesige Kerl schien zu allem Übel auch noch bei den Casparellis zu wohnen.
Stefano war ein richtiger Lebemann. Morgens joggte er, anschließend konnte man ihn häufig auf dem Tennisplatz antreffen, wo er nach dem Spiel die clubeigene Sauna besuchte.
Dann ging er stets ins Café Wien. Gelegentlich traf er sich dort mit mehr oder weniger dubiosen Gestalten. Abends folgten diverse Discos und Nachtclubs. Fast nie war er ohne Begleitung anzutreffen. Trotz dieser fast aussichtslosen Situation für seinen Weg zur Gerechtigkeit wollte Christopher nicht aufgeben. Und eines Nachts reifte in seinem Gehirn ein verwegener Plan heran. Er musste alles am selben Tag erledigen.
An zwei verschiedenen Orten. Und ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.
Aber bevor er sich an die Ausführung heranwagen konnte, musste er noch einiges besorgen. Noch mehr testen. Sehr genau – minutiös planen.
Der einzige Ort, an dem Stefano alleine anzutreffen war, war die Sauna des Tennisclubs. Dort wollte Christopher zuschlagen. Das Wie war ein größeres Problem. Dafür musste er seine Kenntnisse der Physik, welches sein zweites Studienfach gewesen war, wieder hervorkramen. Und er brauchte spezielle Materialien und Gerätschaften. Diese zu beschaffen, würde einige Zeit in Anspruch nehmen.
Im Keller seines Pfarrhauses richtete er sich ein kleines, aber feines Labor ein. Weihwasser sollte das Instrument der Gerechtigkeit sein. Allerdings nicht flüssig, sondern gefroren. Um den richtigen Zustand herbeiführen zu können, musste er von flüssiger Luft abdestillierten flüssigen Stickstoff verwenden. Dessen Siedetemperatur beträgt minus 196 °C. Das Wasser gefriert schlagartig ohne Volumenzunahme. Das Eis bildet unter diesen Bedingungen keine scharfen Kristalle, sondern hat glasartige Struktur. Das auf diese Weise entstandene Objekt brachte er in einen speziell angefertigten Behälter aus Duroplast ein. Dieser Behälter vereint in sich die Eigenschaft von extrem hoher Hitzebeständigkeit, bei gleichzeitiger Isolation und unbegrenzter Bruchfestigkeit bei Kälte. Einmal freigesetzt, würde das Eis schmelzen und dadurch nicht mehr auffindbar sein. Das war Teil eins seines Planes. Auch der zweite Teil nahm schon Formen an.
Hierzu musste er sich möglichst viel medizinisches Wissen anlesen: „Die meisten Allergien sind harmlos, erzeugen Juckreiz, Niesen, Hautrötung oder leichte Schwellungen. Gefährlich wird es für Allergiker nur dann, wenn ein anaphylaktischer Schock eintritt. Dramatisch verläuft die anaphylaktische Reaktion mit Symptomen wie Schweißausbruch, Atemnot und Kreislaufkollaps, die mit dem Verlust des Bewusstseins oder gar dem Tod enden können.“ Eine Gewürzallergie allein würde für solch eine Reaktion allerdings nicht ausreichen. Eine andere Zutat wäre noch vonnöten.
Zunächst ging er los und besorgte sich einige Kochbücher - hauptsächlich für italienische Speisen. Nun musste ihm nur noch einfallen, wie dieses kulinarische Geschenk an die richtige Person gebracht werden konnte.

Der schwarzhaarige Mann öffnete die schwere Holztür zur Sauna. Dampf schlug ihm entgegen. Im ersten Augenblick konnte er nichts sehen. Nach kurzer Zeit konnte er jedoch die Konturen einer auf der hinteren Bank liegenden Gestalt durch den Nebel erkennen. Leise schloss er die Tür hinter sich. Er atmete tief durch, der Schweiß drang ihm innerhalb einer Sekunde aus allen Poren. Die liegende Gestalt richtete sich auf und blickte ihm entgegen. Das Stirnrunzeln war nur vage wahrzunehmen.
„Hey Mann, freust du dich so, mich zu sehen, oder was? Bleib bloß da vorne, Schwuchtel“, war durch den lichter werdenden Dampf zu vernehmen.
Der Neuankömmling blickte an sich herab und konnte die Ausbuchtung an seinem einzigen Kleidungsstück – einem um die Hüfte gewickelten Handtuch – sehen.
Er hob beschwichtigend beide Hände und nahm auf dem vordersten Sitz, gleich neben der Tür, Platz. Nach einer Weile legte sich die andere Gestalt wieder flach auf die hölzerne Bank. Der Mann wartete noch eine Weile und versuchte seine heftige Atmung zu beruhigen. Er blickte angestrengt von dem kleinen Fensterchen, das einen Ausschnitt des Flurs zeigte, zu dem auf der Bank Liegenden. Behutsam griff er unter sein Handtuch und holte einen kleinen, blauen Plastikapparat hervor. Langsam erhob er sich von der Bank, legte ein, zwei vorsichtige, geräuschlose Schritte zurück, den Atem anhaltend. Mit einem schnellen Satz warf er seinen Oberkörper auf den des vor ihm liegenden Mannes und drückte die hohle Spitze des blauen Apparates gegen dessen Nase.
„Du verdammter Schwul...“, stieß der hervor.
Ein lautes Zischen war zu hören. Der Liegende fuhr hoch, rammte dem Angreifer die Stirn gegen die Nasenwurzel und versetzte ihm einen Faustschlag auf das linke Ohr. Dann plötzlich verdrehte er die Augen und fiel mit einem dumpfen Laut zurück auf die Holzbank. Der Angreifer rappelte sich hoch, ergriff das blaue Ding, das ihm entglitten und auf dem Boden gelandet war, und rieb sich das schmerzende Ohr. Vorsichtig beugte er sich über den anderen. Der dunkelhaarige, junge Mann auf der Pritsche lag starr da, die Augen weit aufgerissen. Aus seinem linken Nasenloch rann ein Rinnsal Blut. Hektisch blickte sich der Mann um, sein Herz klopfte so laut, dass er glaubte, ihm würde der Schädel zerspringen und jeder andere im Umkreis von hundert Metern könnte es hören. Er packte den reglosen Mann und zerrte ihn von der Bank herunter, hinter das Aufgussbecken. Dann drapierte er ihn so, dass er nicht so leicht zu sehen war. Er wickelte sein Handtuch wieder fester um die Hüften und verließ schwitzend und schweratmend die Sauna.

Die Party war schon in vollem Gange. Luigi beschwerte sich zum x-ten Mal, dass sein nichtsnutziger Bruder nicht einmal an seinem Geburtstag pünktlich sein konnte. Der dünne schwarzhaarige Mann in der Livree eines Kellners drängte sich an einem Kollegen vorbei und packte die beiden Teller, die vor ihm auf einer Anrichte standen.
„Ich mach das schon“, sagte er über die Schulter gewandt.
Der andere Kellner verzog nur die Mundwinkel und sagte: „Wenn du meinst, dass du dir so einen Stress machen musst. Du schwitzt ja schon wie ein Verrückter. Aber nur zu.“
Ein verkrampftes Lächeln war die Antwort, dann eilte der Mann mit Geschirr beladen los. Aber nur, um kurz hinter der Küchentür wieder zu stoppen. Er stellte die Teller auf einem Regal ab und holte ein kleines Fläschchen aus seiner Jackentasche. Der Inhalt wurde schnell auf die zwei mit dampfender Pasta gefüllten Teller verteilt. Er eilte auf die Terrasse hinaus, wo speisende Gäste und Gastgeber an zwei langen Tischen saßen. Ein eisiger Schreck durchzuckte ihn, als er bemerkte, dass sich bereits ein anderer Kellner in die Richtung bewegte, die er auch ansteuerte. Er lief los. Zu schnell - fast wäre er gestolpert. Die Teller auf seinen Händen kippten fast über. Im letzten Moment konnte er sie noch ausbalancieren. Dann schnitt er seinem Kollegen einfach den Weg ab und stellte seine Last auf den Tisch.
Einen Teller für den Gastgeber, den anderen für den riesenhaften Hünen an seiner Seite. Der blickte auf und musterte ihn misstrauisch.
„Entschuldigung“, murmelte der Kellner undeutlich. „Guten Appetit.“
Er zog sich hastig wieder zurück. In einiger Entfernung stellte er sich an einen der Stehtische, um die Gläser abzuräumen. Schon wenige Minuten später fing der Gastgeber, Luigi Casparelli, an zu keuchen.
Dann musste er husten. Als der Anfall nicht mehr aufhören wollte, klopfte ihm sein Bodyguard Tillmann besorgt auf den Rücken. Luigis Kopf war mittlerweile rot angelaufen. Er sprang auf, griff sich mit der einen Hand an den Hals, während er mit der anderen wild in der Luft herumruderte. Plötzlich kippte Luigi röchelnd zurück auf seinen Stuhl.
„Einen Arzt. Schnell einen Arzt“, rief Tillmann.
Luigis Lippen waren mittlerweile blau und seine Augen quollen heraus. Dann rutschte er langsam zu Boden. Tillmann beugte sich über ihn und begann selbst zu husten. Allerdings nur kurz, dann richtete er sich auf und warf wilde Blicke in die Menge der still gewordenen Gäste und Schaulustigen. Er kippte den Tisch zur Seite, als würde er aus Papier bestehen, und bahnte sich, wieder hustend und würgend, einen Weg durch die Menge. Er steuerte genau auf den wie erstarrt an dem kleinen Partytisch stehenden Kellner zu, der ihm und seinem Arbeitgeber die Pasta gebracht hatte. Plötzlich kam Leben in den Kellner. Abrupt wirbelte er herum und lief Richtung Haus, drängte sich durch die in kleinen Trauben stehenden Gäste und bewegte sich schließlich auf den Ausgang zu. Aber dann legte sich eine kraftvolle Hand auf seine Schulter und zerrte ihn herum.
Tillmann war viel schneller, als seine immense Körpermasse vermuten ließ. Mit entsetztem Gesicht riss sich der Kellner los und taumelte nach hinten. Der Bodyguard griff mit der anderen Hand zu, bekam aber nur einen Haarschopf zu fassen. Der Kellner – jetzt glatzköpfig – duckte sich, wirbelte abermals herum und entkam durch den Hauptausgang. Gehetzt überquerte er die Straße und rannte wie von Furien gehetzt in die nächste Seitengasse.
Er rannte so lange, bis ihm die Lungen brannten und seine Beinmuskeln höllisch schmerzten. Schließlich blieb er keuchend stehen. Er sah sich um, aber niemand war mehr hinter ihm her.

Mit weiteren unauffälligen Recherchen hatte Christopher einige Daten in Erfahrung bringen können. Er hatte Kontakt zu der Raumpflegefrau aufgenommen, die das Haus der Casparellis in Ordnung hielt. Diese Art von Angestellten war meist am besten geeignet, sich über die Vorgänge in dem betreffenden Haushalt zu informieren. So auch in diesem Fall. Über sie, eine Frau Liane Meier, erfuhr er genaue Daten in Bezug auf die Termine von Stefano und Luigi. Im August stand Luigis Geburtstagsfest an. Für eine so große Feier wurde von den Brüdern mit Sicherheit ein Partyservice beauftragt. Bei diesem Partyservice hatte sich sein Alter Ego Günther als Aushilfskellner beworben. Luigis Geburtstag war ein Samstag. Stefano versäumte nie sein Tennismatch am Samstagnachmittag und den Saunagang hinterher. Dies waren genau die Vorrausetzungen, die sich Pfarrer Christopher erhofft hatte.
Er hatte sich zwei verschiedene Tötungsarten zurechtgelegt. Für den einen Bruder benutzte er Safran, das zu einer Pasta mit Schinken-Sahnesoße wunderbar passte. Aber das allein war noch nicht tödlich. Die andere Zutat war Bienengift, das der afrikanischen Biene. Dieses Gift führte zu einer heftigen Anschwellung der Schleimhäute - dem so genannten Quinke-Ödem - das, wenn der Rachenraum betroffen ist, fast immer zum Erstickungstod führte.
Für den anderen Bruder benutzte er das Weihwasser, schockgefroren in einer Duroplaströhre konserviert und von einer Druckluftpatrone abgefeuert. Der kleine, aber spitze Eispfeil drang durch die aufgebrachte kinetische Energie durch die Nase direkt in Stefanos Gehirn ein.
Nach kurzer Zeit, besonders in der Hitze der Sauna, schmolz das Eis – geweiht oder nicht – und hinterließ keinerlei Spuren. Der Schaden jedoch war irreparabel.

Am nächsten Tag wurde über die beiden Todesfälle in der Lokalzeitung berichtet. Zwei Brüder am gleichen Tag. Sehr seltsam, schon fast absurd. Die beiden Männer waren noch jung und gesund gewesen. Der eine starb an einem anaphylaktischen Schock, der andere möglicherweise an einem Schlaganfall. Mit Gottes Hilfe war Gerechtigkeit geübt worden.

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Tag der Veröffentlichung: 12.12.2008

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