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Ein seltsamer Baum
Helmut Marischka

Der Himmel im Westen färbte sich langsam dunkelrot, als die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwand. Der junge Mann kramte in seinem Rucksack und förderte eine kleine Blendlaterne zu Tage. Neben ihm saß, auf einer ausgebreiteten Wolldecke, ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Sie hatte langes, blondes Haar, dass ihr in sanften Wellen über die schmalen Schultern fiel. Ihre tiefblauen Augen wurden von langen Wimpern beschattet. Ihre Nase war klein, der Mund voll und sinnlich. Ihre hohen Wangenknochen verliehen ihr etwas Aristokratisches. Sie trug ein teueres blaues Kleid, dessen Ausschnitt den Ansatz ihres üppigen Busens sehen ließ. Sie war schlank, ihre helle Haut, wirkte fast ätherisch im Licht der aufkommenden Dämmerung. Er wandte sich zu ihr um und sagte: „Ich habe uns Licht mitgebracht, damit wir nicht gleich wieder nach Hause müssen. Du hast doch noch etwas Zeit, Sarah?“ Die junge Frau lächelte und nickte. „Ja. Etwas Zeit sollten wir uns schon noch nehmen, Ian.“ Der Mann – Ian – war kaum älter als sie. Etwa zwanzig Lenze. Er war gut gebaut. Breitschultrig, mit schmalen Hüften und eher sehnig, als muskulös. Seine rotbraunen Haare trug er mittellang. Seine Wangen zierte ein dunkler Flaum. Die rehbraunen Augen blickten offen und klug. Seine Nase war etwas groß und seine Lippen etwas schmal. Aber im Ganzen, war er ein gut aussehender Bursche. Er trug nur einfache braune Stoffhosen, ein helles Leinenhemd und eine dunkelgrüne Jacke. Er hatte sich diesen Ort für sein erstes Treffen mit der schönen Sarah ausgesucht. Die kleine Lichtung bei dem Runenbaum. Dieser alte, knorrige Baum war etwas Besonderes. Er stand schon immer hier und schon immer trug er diese geheimnisvolle Runeninschrift, in - und auf seiner Rinde. Viele Geschichten und Legenden wurden sich im Dorf über diesen Baum und den Wald hier erzählt. Ian erschien es ein angemessener Platz zu sein, um Sarah zum Picknick einzuladen. Er hatte an alles gedacht. Das hoffte er zumindest. Brot, Butter, Schinken, frische Eier und verschiedenes Obst. Nicht zu vergessen, die hervorragende Flasche Wein, die er bei seinem Onkel ‚ausgeliehen’ hatte. Und natürlich die Laterne, denn er hatte nicht vor das Rendezvous mit dem schönsten Mädchen, dass er je gesehen hatte, so schnell wieder zu Ende gehen zu lassen. Sarah war erst vor zwei Wochen in ihr Dorf gekommen. Sie besuchte ihre Großtante May Ibensborgh. Ian hatte gar nicht gewusst, dass die alte Lady Ibensborgh überhaupt Verwandte hatte. Das diese Verwandte, die hübsche Sarah war, war ein ausgesprochener Glücksfall. Zuerst hatte er sich keine großen Hoffnungen gemacht. Er war nur der Sohn des Müllers. Aber Sarah schien keine Standesdünkel zu kennen und hatte sich schon bei ihrer ersten Begegnung nett und offen mit ihm unterhalten. Also hatte er allen Mut zusammengenommen und sie gefragt, ob sie mit ihm einmal den magischen Baum besuchen wollte. Nun öffnete er die Flasche Wein und goss je einen Becher für sie beide ein. Sarah lächelte und prostete ihm zu. Anmutig strich sie vor dem Trinken ihr goldenes Haar aus der Stirn.
„Du bist wunderschön, Sarah“, sagte er und wurde etwas verlegen. Er wollte schließlich nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Aber er konnte nicht anders. Die junge Frau war ihm, seit er sie das erstemal gesehen hatte, nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er war drauf und dran sich in sie zu verlieben. Sarahs’ Lächeln verschwand nicht. Sie stellte den Becher ab und wandte sich ihm zu.
„Möchtest du denn wissen, wie der Wein von meinen Lippen schmeckt?“, antwortete sie mit verführerischer Stimme. Ian schluckte schwer. „Oh ja“, hauchte er. Wie konnte er nur hoffen, diesem elfengleichen Geschöpf ein Partner und Liebhaber sein zu dürfen? Er war nicht reich. Er hatte keinen nennenswerten Schulabschluss. Aber in diesem Augenblick war ihm das auch egal. Vorsichtig beugte er sich vor und küsste sie sanft auf ihre roten Lippen. Sarah ließ es geschehen. Dann jedoch zog sie ihn näher und küsste ihn leidenschaftlicher. Ian war zu verblüfft, als dass er hätte angemessen reagieren können. Er fiel ungeschickt auf Sarah und zerdrückte ihr teueres Kleid. Doch sie schien das nicht zu stören. Ian wurde mutiger. Er umarmte sie, küsste sie weiter und streichelte ihre Wade, die unter dem Kleid hervorlugte. Plötzlich hielt er inne. Ein seltsames Aufblitzen neben ihm hatte seine Aufmerksamkeit erregt.
„Was ist?“, fragte Sarah irritiert.
„Ich ... Ich weiß nicht. Irgendetwas ist an uns vorbei geflogen oder gefallen. Etwas Blitzendes“, antwortete Ian. Sarah runzelte etwas unwillig die Stirn. Trotzdem griff Ian nach der Laterne und hielt sie in die vermutete Richtung. In einiger Entfernung lag etwas Blinkendes.
„Verzeih. Einen Moment, Sarah“, sagte Ian und stemmte sich hoch. Dort lag ein Goldstück. Ian gab einen erstaunten Laut von sich. „Nun sieh mal, was ... . Da ist noch eines.“ Gebückt lief der junge Mann der Spur der Goldstücke hinterher. „Hier. Noch eines“, rief er.
Sarah verzog ihren hübschen Mund abfällig, stand aber trotzdem ebenfalls auf, um Ian zu folgen. Die Nacht war schon fast hereingebrochen und ohne die kleine Laterne hätten sie nicht mehr viel sehen können. „Dort.“ Ian war ganz aufgeregt. Es war mittlerweile in einem kleinen Bogen um den Runenbaum herumgelaufen. Sarah kam an seine Seite.
„Wo kommen die denn plötzlich her?“, fragte sie nachdenklich. „Die waren doch vorher nicht da, oder?“
Ian antwortete nicht, sondern fasste nach ihrer Hand und zog sie vorwärts. „Da sieh nur. Noch mal eines.“ Plötzlich ging eine wellenförmige Bewegung durch die Luft. Dann hatte sich von einer Sekunde zur anderen die Umgebung verändert. Der Runenbaum war verschwunden. Sie standen, Hand in Hand, auf einer Erhebung – einem Hügel – der sich inmitten einer nebligen Sumpflandschaft befand.
„Verfluchter Mist“, schimpfte Sarah undamenhaft.
„Was ist denn jetzt passiert?“ Ian war vollkommen konsterniert. Er konnte nicht begreifen was geschehen war. Die Umgebung hatte sich innerhalb eines Lidschlages vollkommen verändert. So etwas gab es doch gar nicht. Oder doch? Zauberei? Sarah befreite ihre Hand aus Ian’s Griff, der unbewusst immer fester geworden war. „Au. Du tust mir weh“, klagte sie. Ian murmelte eine Entschuldigung und hielt die Laterne hoch.
„Wo sind wir?“, fragte er verwirrt.
„Woher soll ich das wissen? Du hast mich doch zu diesem unheimlichen Baum geschleppt“, antwortete sie brüsk.
„Wir sollten versuchen von hier fortzukommen“, schlug Ian nach einer Weile vor. Sarah zog eine Schnute. Dann nickte sie. Sie liefen den Hügel herab. Der Nebel umgab sie schon nach kurzer Zeit. Ihre Sicht wurde immer schlechter. Die wallenden, feuchten Wolken schienen immer dichter zu werden, je weiter sie sich von der kleinen Erhebung entfernten.
„Ob das eine gute Idee war?“, fragte das Mädchen. „Wo sollen wir uns hinwenden? Wir können ja nicht einmal den Boden sehen.“
„Du hast Recht“, antwortete Ian. „Lass uns zu dem Hügel zurückgehen. Vielleicht verzieht sich der Nebel bald.“ Sarah schwieg und folgte Ian, der den Weg zurück einschlug. Nach einiger Zeit wurden beide immer unruhiger. Sie hätten den Hügel schon längst erreichen müssen. Die Orientierung in diesen dichten, weißen Schwaden war schwierig, aber sie waren einfach umgekehrt und hatten die wenigen Schritte, die sie vorher zurückgelegt hatten, wieder in die andere Richtung getan. Dennoch blieb der Hügel verschwunden.
„Das gibt es doch gar nicht“, murmelte Ian, nun vollkommen verunsichert. Sarah stieß plötzlich einen leisen Schrei aus.
„Was ist? Hast du dir weh getan?“, wollte Ian sofort wissen.
„Nein. Ich bin nur in eine Pfütze getreten. Es fühlt sich so eklig an.“
Ian beugte sich herab, um das Malheur zu untersuchen. Sarahs’ rechter Schuh war voller braunem Schlamm. Die feuchte Masse ran über die Ränder der Halbschuhe und besudelte ihren zarten Fuß. Ian holte sein Taschentuch heraus und reinigte ihren Fuß und den Schuh so gut es ging.
„Du bist ein wahrer Gentleman. Danke, Ian“, sagte sie und streichelte über seine Haare, während er vor ihr kniete. Er stand auf und nahm sie in die Arme. „Ich werde dich beschützen und wir werden einen Weg zurück finden. Ich ... . Es tut mir leid. Es ist meine Schuld, dass du in solch eine Situation geraten bist.“
„Sscht“, machte sie und küsste ihn. Mit einem unterdrückten Aufschrei löste sie sich von ihm.
„Was war das?“, fragte sie erschrocken.
„Was war was?“
„Irgendetwas hat mich am Bein berührt. Etwas Nasses und Glitschiges.“
Ein dunkler, summender Ton lag plötzlich in der Luft. Dann durchbrach ein sattes Schnalzen, den Summton. Ian riss die Augen entsetzt auf. Im nächsten Moment stieß er Sarah um und sie landeten platschend in einer der brackigen Pfützen. Sarah stieß Ian zurück.
„Bist du verrückt geword ...“, stieß sie hervor, unterbrach sich aber jäh, als sie den grauen Schatten in all dem milchigen Weiß sah. Sie sprang auf und zerrte Ian hoch.
„Weg hier“, rief sie. Blankes Entsetzten stand in ihren geweiteten Augen. Etwas zischte durch die Luft und schlug an der Stelle auf den Boden, an der die junge Frau noch eben gesessen hatte. Ian stieß ein ungläubiges Schnauben aus. Es war ein ölig glänzender, riesiger Tentakel, der sich jetzt wieder erhob und im Nebel verschwand. Ian packte Sarahs’ Hand und zerrte sie hinter sich her. Die Richtung war ihm vollkommen egal. Nur weg von hier. Sie liefen blind durch die weißen Schlieren. Patschten immer wieder in unsichtbare Pfützen, fielen hin und rappelten sich wieder auf. Noch einmal peitschte dicht vor ihnen ein grauer Muskelstrang durch die Luft, dann teilte sich der Nebel und zerfaserte vor ihren Augen. Vollkommen außer Atem rannten sie dennoch ein ganzes Stück weiter. Nur aus den Augenwinkeln nahmen sie wahr, dass sie sich über eine Ebene bewegten, die bar jeglicher Vegetation schien. Vor ihnen tauchte schließlich die Silhouette eines Waldes auf. Einige Schritte quälten sie sich noch weiter, um schließlich entkräftet am Waldrand zu Boden zu sinken.
„Um Himmels Willen. Was war das nur? Wo sind wir hier?“, keuchte Ian.
Sarah rannen die Tränen über die Wangen, sie schüttelte nur den Kopf. Beide waren über und über mit Schlamm und Dreck bespritzt. Ihr Atem beruhigte sich nur langsam. Der Himmel über ihnen war eine Masse aus grauen Wolken. Keine Sonne, kein Mond und keine Sterne waren zu sehen. Trotzdem herrschte diffuses graues Dämmerlicht. Es war unnatürlich still. Kein Vogelzwitschern oder Grillenzirpen war zu vernehmen. Sie blickten sich um. Sie hatten in ihrer Angst doch ein gutes Stück Weg zurückgelegt. Weit hinter ihnen bildete der seltsame Nebel einen gelbweißen Strich am Horizont. Nach links und rechts erstreckte sich die Ebene, auf der nur vereinzelt Felsen und Geröll zu erkennen waren. Vor ihnen streckten sich, dicht an dicht, Tannen, Fichten und Föhren dem bleigrauen Himmel entgegen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Sarah nach einer Weile.
„Ich weiß nicht“, antwortete der junge Mann verunsichert.
„Vielleicht sollten wir in den Wald gehen, um irgendwelche Anhaltspunkte zu finden.“ „Welche Anhaltspunkte?“
„Wo wir uns befinden. Und wie wir wieder zu unserem Dorf zurückkommen können“, antwortete Ian, stand auf und half dem blonden Mädchen hoch.

Ihr Zeitgefühl konnte sie trügen, aber sie waren nun schon geraume Zeit in dem Forst unterwegs, ohne auf andere Menschen oder Tiere gestoßen zu sein. Dies war ein ebenso seltsamer Ort, wie der Sumpf mit dem Nebel. Nur nicht ganz so unheimlich, da sie wenigstens halbwegs sehen konnten, wo sie sich hinbewegten. Sarah blieb plötzlich stehen und flüsterte: „Hör mal. Wasser. Da muss irgendwo ein Fluss oder Bach sein.“
Ian lauschte angestrengt. Dann vermeinte auch er das Plätschern und Murmeln eines Wasserlaufs zu vernehmen. Er lächelte erschöpft.
„Wenigstens etwas“, murmelte er. „Komm. Wir gehen dem Geräusch nach“, fügte er etwas lauter an. Bevor sie an den Bach gelangen konnten, kamen sie auf eine Lichtung in deren Mitte ein seltsames Haus stand. Es war aus grauen und schwarzen Steinen erbaut und erinnerte dadurch an das Muster eines Schachbretts. Keine Fenster waren zu erkennen, nur eine schwarz-graue Tür. Hinter dem Haus erhoben sich die verdrehten Ästen eines alten Baumes in die Luft, die das Paar sofort an den Runenbaum erinnerten. Misstrauisch blieben sie in einiger Entfernung stehen.
„Ob hier jemand lebt?“, fragte Ian halblaut.
Sarah zuckte mit ihren schmalen Schultern. „Lass es uns herausfinden“, forderte sie nach einer kurzen Weile. „Vielleicht bekommen wir dort Hilfe, oder wenigstens eine Unterkunft für die Nacht. Falls es so etwas hier überhaupt gibt.“
„Was gibt?“, fragte der junge Mann.
„Nacht. Es wird anscheinend nie richtig dunkel, aber auch nicht richtig hell“, gab das Mädchen zurück. Ian runzelte die Stirn und nickte dann. Sie gingen vorsichtig bis zu der Tür und klopften verhalten an. Einen Moment später wurde die Tür geöffnet und ein Augenpaar spähte zu ihnen heraus. „Oh. Besuch“, erklang eine sonore Stimme. „Seid willkommen. Tretet doch ein in mein bescheidenes Reich.“ Die Tür wurde vollends aufgezogen und dahinter kam ein stattlicher Mann zum Vorschein. Etwa so groß wie Ian, aber fülliger oder muskulöser. Erkennen konnte man das nicht, denn der Mann trug ein teueres, gepolstertes Samtjacket und eine passende Hose dazu.
„Wir wollten Euch nicht über ...“, setzte Ian an, wurde jedoch von dem Bewohner sofort unterbrochen. „Unsinn, kommt herein. Ich freu mich über jeden Besuch. Ich hatte schon lange keinen mehr.“ Der Mann hatte lange, schwarze Haare, dunkle Augen, eine lange, gebogene Nase und wollüstige, rote Lippen. Er sah aus, wie ein Gentlemen, der das Leben in vollen Zügen genoss und passte so gar nicht zu dieser Umgebung oder dem sonderbaren Haus. „Mein Name ist Stanislaus. Mit wem habe ich denn das Vergnügen?“, sagte er, kaum das er die Türe hinter seinen beiden Gästen geschlossen hatte.
„Entschuldigt unser Benehmen, aber wir sind etwas desolat“, erwiderte Sarah. „Meine Name ist Sarah und das ist Ian. Wir haben uns verirrt. Könnt Ihr uns vielleicht sagen, wo wir uns hier befinden?“ Ian nickte bekräftigend.
Stanislaus legte die Stirn in Falten. „Wo kommt ihr denn her, wenn ich fragen darf?“
„Wir kommen aus Penzance in Cornwall“, antwortete Ian.
„Ah. Aus dem guten alten Cornwall. Na, das ist gar nicht weit von hier. Wenn ihr euch gestärkt und ausgeruht habt, kann ich euch den Weg dorthin beschreiben. Vielleicht begleite ich euch auch, um mir euer Örtchen anzusehen“, entgegnete Stanislaus in jovialen Tonfall. Ian strahlte. „Das ist wirklich ausgesprochen nett von Euch.“
„Ihr seid sicherlich hungrig und durstig. Während ich ein Bad für Lady Sarah bereite, könnt ihr euch schon einstweilen stärken. Und danach müsst ihr mir berichten, was euch wiederfahren ist“, konstatierte der Hausherr. Er eilte durch den Flur und bedeutete ihnen, sich nach rechts zu begeben, während er die linke Tür durchschritt. Der Raum, den sie betraten, war mit Bücherregalen, Tischen und zwei bequemen Sofas gefüllt. Im Kamin brannte ein gemütliches Feuer. Schon kurze Zeit später erschien Stanilaus wieder mit einem vollbeladenen Tablett. Darauf befanden sich Käse, Schinken, Brot, Äpfel und Trauben. Er stellte das Tablett ab, um gleich darauf noch Teller und einen großen Krug mit Rotwein zu holen. „So. Esst und trinkt. Ich richte schnell ein Bad. Mit Verlaub, ihr seht etwas mitgenommen aus.“ Und schon war er wieder verschwunden. Die beiden Gäste machten es sich gemütlich und langten tüchtig zu. Durch die prasselnden Flammen des Kamins, die wohlige Wärme und dem, sich langsam einstellenden, Völlegefühl im Magen wurden das Paar müde. Beinahe wären sie eingeschlafen, doch da kehrte Stanislaus zurück. Er betrat lautlos den Raum und betrachtete die beiden eine Weile lächelnd. Dann trat er zu Ian und sagte leise: „Bleib ruhig sitzen und genieße.“ Dann wandte er sich langsam zu Sarah um. „Mylady, du bist wirklich eine Schönheit. Welch ein Glücksfall. Komm entledige dich deines schmutzigen Kleides“, flüsterte er. Seine Stimme hatte einen singenden, hypnotischen Klang. Sarah blickte nicht einmal auf, sondern zog ihr Kleid aus. Darunter trug sie nur ein dünnes Seidenhöschen. Sie stand auf und warf es von sich. Ian versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht.
„Nein“, flüsterte er.
Sarah streifte sich die Schuhe ab und schleuderte sie dem Kleid hinterher. Nun stand sie in all ihrer Schönheit vor Ian. Er konnte es fast nicht ertragen, dass dieser Stanislaus es war, dem sie sich anscheinend hingeben wollte. Schweiß trat auf seine Stirn, als er sich mit aller Kraft aufbäumte und auf die Füße kam.
„Sarah“, rief er. Stanislaus fuhr herum. Sein Gesicht war eine Fratze. Geifer troff aus seinem Mund, als er zischte: „Setzt dich hin!“
Wie eine Marionette, deren Fäden man durchgeschnitten hatte, sackte Ian auf das Sofa zurück. „Dämon“, klang ein einziges Wort in seinem Kopf auf.
„Ein starker Wille“, murmelte Stanislaus. „Aber nicht stark genug.“ Er bedeutete Sarah sich wieder zu setzen. Dann kniete er vor ihr nieder und bog ihre Oberschenkel auseinander. Mit einem tiefen, wohligen Brummen beugte er sich vor, um seinen Kopf in Sarahs Schoß zu drücken. Ian kämpfte. Tränen und Schweiß liefen ihm in Strömen über das Gesicht, aber er konnte sich nicht bewegen.
„Ah“, machte der Unhold und erhob sich. An seinem Mund klebte Blut. Ein dünner, roter Rinnsaal lief auf der Innenseite von Sarahs’ Oberschenkel herab.
„Du wartest hier“, fauchte Stanislaus an Ian gewandt. Dann nahm er Sarahs’ Hand, als ob er sie zum Tanz führen würde und verließ mit ihr das Zimmer.
Irgendwann war Ian trotz all der Verzweiflung und Wut die er empfand eingeschlafen. Er erwachte durch ein heftiges Rütteln. Sarah stand vor ihm und legte ihm einen Zeigefinger auf die Lippen.
„Schnell“, flüsterte sie. „Er ist eingeschlafen. Lass uns von hier verschwinden, bevor er wieder aufwacht.“ Ian riss erstaunt die Augen auf. Er konnte sich wieder ganz normal bewegen. Der Bann war von ihm abgefallen.
„Was? Wie bist du entkommen?“, fragte er leise. Sarah hob die linke Augenbraue. „Das sagte ich doch eben. Er ist eingeschlafen. Von einen Moment zum nächsten.“
„Was hat er dir angetan?“, zischte der junge Mann aggressiv.
„Nichts. Dazu ist er gar nicht mehr gekommen. Vielleicht ist der Tag angebrochen. Vielleicht muss dieses Monstrum tagsüber schlafen.“
„Ich bringe ihn um“, stieß Ian hervor.
„Nein. Wer weiß, vielleicht erwacht er. Und dann nimmt er uns wieder gefangen. Lass uns von hier verschwinden“, bat Sarah, mit ängstlicher Stimme. Sie eilten Hand in Hand auf den Flur hinaus, öffneten die Haustür und rannten um das Haus herum. Dort stand der Baum. Der alte Runenbaum. Dahinter plätscherte ein Bach munter durch den düsteren Wald. Es war um keinen Deut heller, wie zu dem Zeitpunkt, als sie das Haus betreten hatten. Ian blieb wie angewurzelt stehen. „Der Baum ...“, murmelte er, aber Sarah zog ihn schon weiter. Sie stieg einfach in den Bach hinein und auf der anderen Seite wieder hinaus. Erst jetzt sah Ian, dass sie barfuss war. Unter dem schwarzen Umhang, den sie übergeworfen hatte, trug sie nur ihr Seidenhöschen. Trotz der Situation in der sie sich befanden, bekam er eine gewaltige Erektion. Sarah war so schön. So mutig und klug. Er hatte sich bis über beide Ohren in sie verliebt und wollte nur noch mit ihr nach Hause. Kaum hatten sie den Bach überquert, änderte sich die Umgebung abermals. Sie befanden sich in einem lichten Wald. Der Mond stand voll am Himmel und Sterne glitzerten durch das Blätterdach auf sie herab. Beide blickten sich erstaunt um. Dann fielen sie sich in die Arme und küssten sich innig.
„Ich glaube wir haben es geschafft“, bemerkte Ian schließlich.
„Das glaube ich nicht“, erklang eine tiefe Bassstimme.
Erschrocken fuhren sie herum. Dort stand ein riesiges Wesen. Es maß weit über zwei Meter. Dicke Muskelstränge zeichneten sich unter den Armen und den nackten Schenkeln ab. Seine Haut war blauschwarz und geschuppt. Das Gesicht war entfernt menschlich. Der Kopf hatte eine dreieckige Form und die Augen glühten in düsterem Rot. Auf der Stirn saß ein ganzer Kamm von Hörnern. Hinter seinen Schultern waren mächtige, lederne Schwingen zu erkennen. Ian taumelte einen Schritt zurück und hätte Sarah beinahe zu Boden geworfen, doch sie stützte ihn noch rechtzeitig ab.
„Der Teufel“, krächzte der junge Mann.
Das Wesen grinste. „Zu viel der Ehre“, grollte es. „Trotzdem ist euer Spiel vorbei.“
Ian blickte zu Sarah, küsste sie und flüsterte: „Flieh, so schnell du kannst. Ich versuche den Satan aufzuhalten.“
„Ian, nicht ...“, rief das blonde Mädchen, doch da stürzte der Mann schon vor und warf sich dem Dämon entgegen. Der lachte nur, packte Ian am Kragen und hob ihn hoch. Dann fasste seine andere Pranke zu. Ein hässliches Knirschen erklang. Ian erschlaffte in den Fäusten des Ungeheuers.
„So“, sagte der Dämon. „Nummer eins.“ Sarah stand noch an Ort und Stelle, als die Kreatur sich ihr zuwandte.
„Komm, mein Püppchen“, lockte das Höllenwesen.
Sarah warf den Umhang ab. Und ging mit wiegenden Schritten auf den Dämon zu.
„Wollen wir nicht noch ein bisschen Spaß haben?“, gurrte sie. „Ich habe gelesen, dass Dämonen fantastische Liebhaber sein sollen.“
Die dreieckigen Augenbrauen des Dämons ruckten in die Höhe.
Dann grinste er. „Warum nicht, meine Schöne.“
Er nahm die zierliche Frau in die Arme. Sie drängte sich ihm entgegen und ihre Lippen fanden sich.

Sarah richtete sich auf und blickte auf die Überreste des Dämons hinab. Sie spuckte aus. Sie fühlte sich erholt und kräftig, wie schon lange nicht mehr. Trotzdem war sie wütend. „Dämlicher Idiot“, murmelte sie und stieß die Überreste des Höllenwesens mit ihrem zierlichen Fuß zur Seite. „Jetzt muss ich mich wieder auf die Suche nach einer reinen Seele machen, die mich liebt.“

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Tag der Veröffentlichung: 12.12.2008

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