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Zwischen den Welten
Helmut Marischka

Alexander drehte sich langsam um und lauschte in die Nacht hinein. Das immerwährende Summen der nahegelegenen Stadt nahm er nicht mehr bewusst wahr. Aber da war noch etwas anderes. Ein leichtes Vibrieren lag in der Luft. Es war mehr ein Gefühl, kein hörbarer Ton. Er hatte gerade seinen Arbeitsplatz verlassen und wollte die Nacht nutzen, um sich noch etwas umzusehen. Sylvia hatte ihm das dringend angeraten. Er sollte endlich akzeptieren, dass sie wieder ihre eigenen Wege gehen wollte. Nach über fünf Jahren. Das schmerzte. Er arbeitete bei einem Hosting Center im Operating. Ausschließlich Nachtschicht. Die Bezahlung stimmte und die Arbeit war leicht. Einige Sicherungsbänder wechseln, Internet – oder LAN-Verbindungen wieder herstellen. Nichts was ihn als ausgebildeten Programmierer überforderte. Er hob den Kopf und lauschte abermals. Das seltsame Geräusch war noch immer da. Oder war er heute Nacht zu lange neben den surrenden Rack des Servers gesessen und hatte sich ganz nebenbei einen Tinitus angelacht? Er zuckte mit den Schultern und ging langsam zu seinem Auto. Ohne Auto war man hier aufgeschmissen, denn die einzige Buslinie zu dem IT-Center verkehrte nachts nicht. Er steckte den Schlüssel ins Schloss der Fahrertür. Mit einem Knacken sprang die Zentralverriegelung auf. Ein leises Knurren ließ ihn herumfahren. Irgendetwas prallte mit vehementer Gewalt gegen ihn. Sein Hinterkopf knallte gegen den Türholm. Dann wurde es dunkel.

Als Alexander erwachte, lag er nackt in seinem eigenen Bett. Sein Schädel brummte und er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Was war geschehen? Wie, zum Geier, kam er hierher? Er blickte auf den Radiowecker. 19.30 Uhr. Welcher Tag war heute? Er tastete nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Die Nachrichten gingen gerade zu Ende. Alexander erhaschte einen Blick auf das eingeblendete Datum. 15. Februar. Er hatte einen ganzen Tag verloren. Als er seinen Arbeitsplatz verlassen hatte, war es eine Stunde nach Mitternacht, am 14. Februar gewesen. Er stand auf. Sofort wurde ihm schwindlig und er fiel beinahe hin. Vorsichtig tastete er sich in die Küche. Alex war am Verdursten. Er fühlte sich vollkommen ausgetrocknet. Er öffnete den Kühlschrank, schnappte sich die erstbeste Flasche und trank sie in einem Zug leer. Der rote Saft war eiskalt und schmeckte ekelhaft, aber er fühlte sich gleich etwas besser. Dann kleidete er sich an, nahm das Telefon und drückte eine Taste. Sylvia’s Nummer. Nach zehnmaligen Läuten wurde endlich abgenommen. „Was?“, fragte eine ungeduldige Frauenstimme. „Ich bin’s“, sagte Alexander. „Das weiß ich. Was willst du?“ kam die aggressive Antwort. „Ich ...“, Alexander zögerte. „Bist du alleine?“, fragte er dann. Er vernahm leises Stöhnen im Hintergrund. „Bitte – Herrin,“ winselte eine männliche Stimme. Sylvia lachte. „Nein“, antwortete sie endlich. Alexander legte auf. „Verdammt. Die hat es aber eilig. Verdammt, verflucht“, schrie er laut und warf das Telefon gegen die Wand. In diesem Zustand konnte er nicht in die Arbeit gehen. Und nun konnte er nicht einmal mehr anrufen und sich krank melden. Dann eben per E-Mail. Er schaltete seinen PC ein und wählte sich ein. Eine Mail war im Posteingang. Von Sylvia. Was sollte das? Sie war von gestern Abend. Da stand: „Hi Alex. Irgendetwas Seltsames ist im Gange. Muss dich sehen. Morgen um Mitternacht an unserem Aussichtspunkt.“ Jetzt war er total verwirrt. Der Anruf von eben annullierte die Nachricht von gestern wohl? Oder doch nicht? Was sollte das alles? Er fasste sich ein Herz und wollte Sylvia noch einmal anrufen. Aber das Telefon war eindeutig nicht mehr zu retten. Handy hatte er keines. Also schrieb er eine Mail: „Gilt das auch jetzt noch? Anscheinend hast du schon Besseres zu tun. ILD Alex.“ Dann klickte er auf den Sendebutton. Kaum hatte er das getan, fing er wieder leise zu fluchen an. „Idiot“, schimpfte er sich lautlos. Aus alter Gewohnheit hatte er mit ILD unterzeichnet. Ich Liebe Dich.

Mitternacht. Alexander stand an einer alten Eiche, die neben den Mauern eines kleinen Friedhofes emporragte. Zum erstem Mal, stand er hier alleine. Von hier hatte man einen herrlichen Ausblick auf große Teile der Stadt. Der Vollmond warf bizarre Schatten durch die schnell ziehenden Wolken auf das Gelände. Eine leise Wehmut überkam ihn. Sylvia hatte ihn zuletzt behandelt, als wäre er ihr vollkommen egal. Aber er konnte sich noch nicht von ihr lösen. Sie fehlte ihm. In jeder Hinsicht. Würde sie kommen? Gemeldet hatte sie sich nicht mehr. Er hatte erwogen, zu ihr zu fahren, aber diesen Gedanken schnell wieder verworfen. Hier zu warten, war in Ordnung. Wenn er sich aber vor ihrer Haustüre zum Idioten machte, wäre das viel schlimmer. Ein bisschen Stolz hatte er noch immer. Er blickte auf seine Armbanduhr. 0.30 Uhr. Das konnte er wohl vergessen. „So allein, Fremder?“ erklang eine wohlvertraute Stimme hinter ihm. Er wirbelte herum. Da stand sie. Schön wie immer. Das lange, schwarze Haar umrahmte ihr engelsgleiches Gesicht, mit großen, dunklen Augen, einer spitzen, kleinen Nase und einem sinnlichen Mund. Alex gab erstaunt einen grunzenden Laut von sich. Sylvia lächelte. „Hast du deine Zunge verschluckt? Was ist? Freust du dich nicht, mich zu sehen?,“ fragte sie mit ihrer rauen Stimme. Ihre Ausstrahlung war, wie ihre gesamte Erscheinung, einfach umwerfend. „Ich hatte nicht mehr mit dir gerechnet. Nach dem Telefonat“, brachte Alex endlich heraus. „Welches Telefonat?“, fragte sie. Ihre geschwungenen Augenbrauen zuckten in die Höhe. „Wie? Ich habe dich angerufen. So gegen acht und da war ...“, er stockte, als er ihren ungläubigen Gesichtsausdruck sah. „Alex, ich habe nicht mit dir gesprochen. Ich war gar nicht zu Hause“, entgegnete sie. „Ich erkenne doch deine Stimme“, beharrte Alexander. „Verdammt, ich war bei Erasmus“, fauchte sei. „Lass uns sofort zu mir fahren. Hat die Nummer gestimmt?“ Er nickte. „Bist du sicher?“ „Ja, zum Teufel. Was geht hier eigentlich vor?“ Auch Alex war wütend und verwirrt. „Was hast du bei Erasmus gemacht?“ „Erzähl ich dir später. Wir treffen uns bei mir“, gab sie zurück und lief bereits in die helle Nacht hinein.
Als sie beide Sylvias Wohnung ergebnislos durchsucht hatten, erzählte Alexander von seinem seltsamen Erlebnis der letzten Nacht und von seinem Telefongespräch mit ihr. Besser gesagt mit ihrer Stimme. Dann berichtete Sylvia: „Erasmus hat mich zu sich gebeten, weil seltsame Fremde in der Stadt aufgetaucht sind. Wir sollen versuchen herauszufinden, wer sie sind und was sie hier vorhaben.“ „Wir?“, unterbrach Alexander. „Ja. Erasmus weiß noch nicht von unserer Trennung. Er sagte, wir sind ein gutes Team. Deswegen – wir.“ „Waren wir auch. Um was geht es genau? Habt ihr schon Informationen über die Fremden?“, wollte er wissen. „Es soll sich um einen Magus handeln. Mit Gefolge, versteht sich.“ Sylvia fuhr ihren Laptop hoch, um etwaige Nachrichten abzurufen. „Hmm“, machte Alex. „Magus. Gefällt mir nicht. Gefolge auch nicht. Was ist das für ein Gefolge?“ Sylvia zuckte mit den Achseln. „Wissen wir nicht. Noch nicht.“ Plötzlich lächelte sie. „Du kannst die alten Angewohnheiten nicht so leicht ablegen, was?“, sagte sie. Er wusste sofort, was sie meinte. Seine Mail. Sie stand auf und kam auf ihn zu. Wie durch Zauberhand glitt ihr Kleid zu Boden. „Ich auch nicht“, hauchte sie. Sie packte seine Schultern und drückte ihn nach hinten. Ihr Kuss war wild und herausfordernd.
Wieder erwachte Alexander mit brummendem Schädel. Er sah sich um. Sylvia’s Wohnung glich einem Schlachtfeld. Die Möbel waren teilweise umgeworfen und beschädigt. Das Bett war vollkommen zerfetzt. Er lag neben dem Bett, halb von einem Laken bedeckt. Schon wieder Filmriss. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern. Ihr Liebesspiel war immer wilder geworden. Sie konnten nicht voneinander lassen. Es war wie früher gewesen. Dann kam der ekstatische Höhepunkt. Und dann? Schwärze. Alex fluchte. Wo war Sylvia? Die dunkelrote Tapete des Schlafzimmers wies einige dunkle Flecken auf. Blut. So verschwenderisch waren sie noch nie gewesen. Hier war etwas oberfaul. Alex sprang auf und durchsuchte die Wohnung. Keine Spur von Sylvia. Er zog seine Klamotten wieder an und versuchte, irgendeinen Hinweis auf den Verbleib seiner Geliebten zu finden. Ihr Mantel hing noch an der Garderobe. Was war geschehen? Waren sie überfallen worden? Was war mit seinem Gedächtnis los? Es war doch nicht möglich, dass er innerhalb so kurzer Zeit eine weitere Teilamnesie erlitten hatte. Ein stechender Geruch hing in der Luft. Es roch wie ... wie ein Raubtier. Er eilte ins Wohnzimmer, riss Sylvia’s Katana mitsamt Scheide aus dem Schwertständer, zog seinen Mantel an und eilte aus der Wohnung. Er musste Sylvia finden. Irgendjemand trieb hier ein ganz übles Spiel mit ihnen. Aber wer und warum? Als er aus der Haustür trat, retteten ihn seine Reflexe und sein Instinkt für Gefahren. Blitzschnell ließ er sich fallen. Eine Eisenstange zischte knapp über seinen Kopf hinweg und donnerte gegen die noch halb offene Tür. Alex rollte sich ab und kam einen Wimpernschlag später auf die Beine. Ein Hüne von mindestens zwei Metern stand neben der Tür, glotzte ihn an und schwang die Stange erneut. Alex nahm einen ekelerregenden Geruch wahr. Moder und Verwesung. War das ein Untoter? Mit einem Knurren riss er das Schwert aus der Scheide. „Wer bist du?“ zischte er. Wie erwartet erhielt er keine Antwort. Ächzend startete der Fremde einen erneuten Angriff. Alex wich aus. Die Eisenstange knallte auf ein Autodach und hinterließ eine beachtliche Delle. Er blickte sich kurz um. Keine Passanten oder Schaulustigen zu sehen – noch nicht. „Wo ist Sylvia?“ knurrte Alexander. Der Angreifer antwortete nicht. Alex wirbelte herum und rannte davon. Schneller, als ein menschliches Auge hätte wahrnehmen können, bog er um die nächste Ecke und ließ den stinkenden Riesenkerl zurück. Einer Eingebung folgend beschleunigte er sein Tempo und umrundete den Häuserblock. Als er an derselben Strasse wieder ankam, stoppte er und blickte vorsichtig um die Ecke. Der Schläger, der ihm aufgelauert hatte, trottete mit der Eisenstange in der Hand langsam davon.
Der Hüne führte ihn zu eben jenem Friedhof, an dem ihr Aussichtspunkt lag. Alex war verblüfft. Hatte sich der Auftraggeber des Angreifers hier niedergelassen? Der Kerl war leicht zu verfolgen. Kein einziges Mal hatte er sich umgewandt. Er schritt durch die Grabreihen und verschwand schließlich in einem kleinen Mausoleum. Vorsichtig schlich Alex näher. Hier drang ihm der Geruch nach Moder verstärkt in die Nase. Er wollte nicht erneut in eine Falle tappen. Zu oft war er in den letzten Tagen einfach übertölpelt worden. Außerdem musste er herausfinden, was mit Sylvia geschehen war. Der Vorraum des Mausoleums war leer. Der riesige Mann war verschwunden. Er konnte keine weitere Tür entdecken. Weder in den Wänden, noch im Boden, noch an der Decke. Der Magus, den Sylvia erwähnt hatte, fiel Alex ein. Steckte er hinter all dem? Als Alex mit einem weiteren Schritt in die Grabkammer trat, verspürte er ein seltsames Vibrieren. Es knisterte und der Modergeruch hatte plötzlich eine seltsame Beimischung. Ozon. Alex hob das Schwert und wirbelte herum. Der Ausgang war verschwunden. Dafür erstreckte sich ein langer, düsterer Gang vor ihm. Das war Zauberei. Eine Pforte? Jedoch wohin? Wenn das eine Falle war, dann war sie bereits zugeschnappt. Fluchend betrat Alexander den Gang, das Schwert ausgestreckt. Der Gang wurde von diffusem, schummrigen Licht erhellt, dass aus den Wänden selbst zu kommen schien. Der Fels war uneben und wirkte, als wäre es ein natürlich entstandener Gang. Alex hatte ungefähr zweihundert Meter zurückgelegt, als er auf eine Gabelung stieß. Ein dumpfes Grollen drang aus der Dunkelheit zu seiner Rechten. Er zögerte. Dann wählte er genau diesen Weg. Wenn Gefahr drohte, wollte er ihr gegenüberstehen und sie nicht in seinem Rücken wissen. Der Gang endete in einer größeren Höhle. Alex spürte die Bewegung, bevor er etwas sehen konnte und duckte sich blitzschnell. Ein dumpfer Laut erklang an der Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte. Er schnellte vor, ein silbriges Schemen durchteilte die Luft. Ein Kopf kollerte zu Boden. Der Körper des Mannes mit der Eisenstange kippte nach hinten. Ein Zischen ertönte, dann lösten sich die Überreste des schweigsamen Angreifers zu brodelnden, stinkenden Fleischfetzen auf.
Alexander knurrte und fletschte unbewusst die Zähne. Das Tier in ihm drängte zur Oberfläche. Er hätte sich noch einmal stärken sollen, bevor er hier hereingestolpert war. Sein Hunger war erwacht und er wusste nicht, ob er hier Nahrung finden konnte. Er musste Sylvia finden. Er spürte, dass sie ebenfalls hier war. Auch wenn er nicht wusste, wo hier eigentlich war. Aber das Band zu seiner Geliebten, seiner Erzeugerin, war immer noch stark. Er würde sie finden. Das Klirren von Kettengliedern ließ ihn herumfahren. Es war noch jemand im Raum. Unglaublich, dass er das nicht früher bemerkt hatte. Dann konnten seine, an Dunkelheit gewöhnten Augen, einen Umriss in der hinteren Ecke des Gewölbes ausmachen. Er war riesig. Wie hatte ihm das vorher entgehen können? Eine Tarnung? Plötzlich kam Bewegung in das Ding. Ein Fauchen ertönte. Alexander wich unwillkürlich zurück. Seine Augen weiteten sich ungläubig. Was war das? Das Wesen war fast drei Meter groß, hatte zwei säulenartige Beine und einen titanischen Oberköper. Dem Rumpf entsprangen zwei deformierte Köpfe. In einer Pranke hielt es eine armdicke Metallkette. Alexander wich noch einige Schritte zurück. Das ‚Ding’ stampfte direkt auf ihn zu. Ansatzlos schwang es die Kette. Alex bog sich reflexartig nach hinten, der Fels neben ihm wurde nahezu pulverisiert. Kleine Steinsplitter surrten durch die Luft. Er hechtete zur Seite und rollte über eine Schulter ab. Das Monstrum war beängstigend schnell und kam hinter ihm her. Alexander sah in die verunstalteten Gesichter und erkannte lange Vampirfänge, von denen Geifer und rotgelbes Sekret tropfte. Er erschrak bis ins Mark. Was war das bloß? Welcher Wahnsinnige experimentierte hier mit Wesen seiner Rasse? Entstellte sie und verdammte sie zu diesem grotesken Dasein? Lodernder Zorn überkam ihn. Anstatt zu fliehen, stellte er sich dem Ungetüm. Er duckte sich unter der schweren Kette weg und schlug mit dem Schwert zu. Blitzschnell rollte er ab und kam im Rücken des Monster hoch. Er sprang. Das Samuraischwert trennte einen der beiden Köpfe vom Rumpf. Der gigantische Gegner strauchelte. Alex zirkelte herum und schlug erneut zu. Der zweite Kopf polterte zu Boden. Gleichzeitig traf ihn ein Arm und schleuderte ihn meterweit durch den Raum. Er prallte hart gegen die Felswand. Seine Rippen knackten und der linke Arm stand auf unnatürliche Weise vom Körper ab. Alexander stöhnte vor Schmerz. Das Schwert war klirrend einige Schritte weiter gerutscht. Er fletschte die Zähne und konzentrierte sich auf sein Erbe – sein mächtiges Blut. Mit einem schmerzhaften Ruck brachte er seinen gebrochen Arm wieder in die richtige Position und ließ seine vampirischen Kräfte wirken. Die Heilung seines Körpers erschöpfte ihn. Bald würde er Blut benötigen. Wenn keines zur Verfügung stand, würde es ihm immer schwerer fallen, bei klarem Verstand zu bleiben. Und genau den benötigte er in dieser Situation. Er hob Sylvia’s Schwert auf und eilte weiter. Hinein in das dunkle Höhlensystem. Er lief einige Zeit, ohne auf weitere Hindernisse oder Gegner zu stoßen. Der Gang führte nun nach oben und unversehens stand er unter freiem Himmel. Ein riesiger Vollmond war halb hinter einer dunklen Wolke verborgen. Um ihn herum standen hohe Nadelbäume. Der Boden unter seinen Füssen war mit Nadeln bedeckt. An einigen Stellen konnte er mächtige, knorrige Wurzeln erkennen. Er blickte sich um. Schräg vor ihm glomm der Schein eines Feuers durch die Schatten, die der Mond in den Wald zeichnete. Entschlossen packte er den Griff des Schwertes fester und schritt auf das Feuer zu. Bald konnte er erkennen, dass neben der Lichtquelle ein flacher Stein auf einer kleinen Lichtung stand. Darauf lag eine nackte Gestalt. Sylvia. Alexander beschleunigte seine Schritte. Als er den altarähnlichen Stein erreichte, sah er, dass Sylvia’s Augen geöffnet waren. Trotzdem lag sie reglos da. Vorsichtig sah er sich um. Es war niemand zu sehen. Ein seltsames Prickeln hatte sich über seinen ganzen Körper gelegt. Bis zur letzten Faser angespannt ging er einige Schritte weiter. Dann blieb er stehen. „Sylvia“, flüsterte er und wartete regungslos. Die schöne Frau bewegte sich nicht, aber ihre Augen weiteten sich. „Vorsicht, Alex. Er ist hier“, vernahm er ihre lautlose Stimme. Alexander wirbelte herum, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Ein großer, kahlköpfiger Mann trat lautlos aus dem Schatten einer Tanne. Sein Gesicht war mit blauen und roten Tätowierungen überzgen. Seine kleinen, schwarzen Augen blitzten auf und sein Mund verzog sich zu einem triumphierenden Grinsen. „Wer bist du? Was soll das alles?“, sagte Alexander leise, aber weithin hörbar. Das Grinsen des Tätowierten wurde noch eine Spur breiter. „Deine Herrin hier ist sehr widerspenstig. Aber nun bist ja du hier. Ich bin dein neuer Anführer, Herr ... Leitwolf. Ganz wie du möchtest“, antwortete der Glatzkopf mit rauer, kehliger Stimme. Alex hob das Schwert und schnellte herum. Der tätowierte Mann hob die linke Hand, in der sich eine Wolfspfote befand und sagte nur ein einziges Wort: „Lunae.“ Ein Zittern durchlief Alexander. Er konnte sein Schwert nicht mehr halten. Mit einem dumpfen Laut fiel es auf den weichen Boden. Schmerz durchfuhr seinen Bauch, seinen Rücken und seine Extremitäten. Der Vampir krümmte sich und sackte langsam zu Boden. Erschrocken erkannte er, dass auf seinen Händen dichtes, graues Fell spross. Seine Kleidung zeriss mit einem hässlichen Ratschen. Er hob den Kopf und wollte schreien. Nur ein langgezogenes Heulen entwich seiner länger werdenden Schnauze. Der Kahlkopf lachte lauthals. „Nein. Wehr dich, Alexander. Er darf nicht über uns beide triumphieren“ , vernahm er Sylvia’s gedankliche Stimme. Die Verwandlung schien Alexander endlos zu dauern. Dann war es vorbei. Sein ganzer Körper war mit dichten grauen Fell bedeckt. Er heulte seine Wut hilflos in die Nacht hinein. „Gut, mein Wolf. Mein Vampirwolf“, höhnte der Mann. „Brauchen wir deine Ex-Meisterin noch, oder willst du ihr kaltes Fleisch kosten? Oder besser doch nicht. Vielleicht lässt sie sich ja jetzt dazu bewegen, mit uns gegen Erasmus zu kämpfen. Für unsere neue, bessere Welt ...“ Alex, oder das was aus ihm geworden war fuhr herum und stob in irrsinnigem Tempo auf den Tätowierten zu. Er sprang, riss ihn um. Mit einem einzigen Biss zerriss er ihm seinen Hals. Eine Blutfontäne schoss heraus, die der Wolf gierig trank. Knurrend wandte er sich um. Seine Augen glitzerten wie wahnsinnig. Langsam bewegte er sich auf den Altarstein zu. Sylvia konnte sich wieder bewegen und richtete sich auf. In ihren Augen stand die nackte Angst um ihre unsterbliche Existenz. Der Wolf sprang und stieß Sylvia mit vehementer Gewalt von dem Langstein herunter. Sein geöffnetes Maul mit den fingerlangen Zähnen verharrte über ihrem Gesicht. Geifer troff auf sie herab. Die Vampirin hatte ihre Hände ins dichte Fell nahe seinem Hals gekrallt. Sie wusste, dass selbst sie seiner titanischen Kraft nicht standhalten konnte. Plötzlich wandelte sich sein Knurren in ein Winseln und seine lange Zunge fuhr über ihr Gesicht.

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Tag der Veröffentlichung: 12.12.2008

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