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Quantensprung
Helmut Marischka

Hanlon und Lukas bestiegen das Shuttle mit gemischten Gefühlen. Das Wetter war, wie erwartet, schlecht und der Sturm brauste über die weite Fläche des Flughafens. Das würde kein leichter Start werden. Das Shuttle sollte sie bis zur MX13 Station bringen, die sich im Orbit um die Erde befand und wo der Raumtransporter Newland des internationalen Handelskonsortiums ITC auf sie wartete. Dieser würde sie und die 492 anderen Passagiere dann zum Saturnmond Titan bringen, wo sie eine Anstellung als Quantenmechaniker bekommen hatten. Titan und der Jupitermond Ganymed waren die beiden Bestandteile von ITC’s ehrgeizigem Terraforming – Projektes. Titan war etwa halb so groß wie die Erde. Seine Atmosphäre bestand bis vor Kurzem noch aus Stickstoff, Methan und Argon. Jetzt sollte durch die neuen Techniken ähnliche Umweltbedingungen hergestellt werden, wie sie früher auf der Erde waren.

Der Start war unangenehm. Selbst die Servomotoren des Shuttles konnten das heftige Rütteln und das ständige Absacken des Flugobjektes nicht gänzlich kompensieren.
„Müssen wir uns eigentlich selbst um eine Bleibe kümmern, oder wird eine Unterkunft von ITC gestellt?“, fragte Lukas, um sich abzulenken. Hanlon zuckte mit den Schultern.
„Ich denke, wir bekommen eine Wohnung vom Konzern gestellt“, murmelte er.
„Nun sieh dir mal diese Suppe an. Wann konnten wir eigentlich mal den Himmel sehen? Von zuhause aus, meine ich.“ Lukas wollte das Gespräch am Laufen halten, seine Hände waren schon schweißnass und zitterten. Wenn er sich nicht ablenken würde, wäre eine Panikattacke vorprogrammiert.
„Ich konnte ihn immer sehen“, gab Hanlon brummig zurück.
„Ich meine den blauen Himmel – ohne Wolken – ohne Sturmwolken. Warst du eigentlich schon mal an einem der Orte, wo man keine Sauerstoffmaske im Freien benötigt?“, bohrte Lukas weiter.
Hanlon zog die buschigen Augenbrauen zusammen.
„Wo sollen die sein?“
„Hmm, irgendwo im Süden. Neuseeland. Oder in der früheren Antarktis. Glaube ich.“
Hanlon schüttelte den Kopf. „Ich gehe nicht viel ins Freie.“
Lukas stöhnte gekünstelt.
„Mann, interessierst du dich für nichts anderes, als deinen Job?“
„Für was denn, zum Beispiel?“
„Geschichte. Wusstest du, das der Küstenverlauf in Zentraleuropa früher anders war? Das Köln keinen Hafen hatte? Das es Länder gab Namens Holland und Belgien?“
„Nope. Wo sollen diese Länder gewesen sein?“
Lukas stöhnte noch theatralischer.
„Mann, Mann. Die lagen direkt an der Nordsee. Bevor die Klimakatastrophe und die Erderwärmung die Polkappen zum Schmelzen brachte und der Meeresspiegel drastisch stieg.“
„Echt?“
„Ja, echt. Mein Großvater hat mir erzählt, dass er, als er klein war, immer mit seinen Eltern an die Ostsee zum Baden gefahren ist. Urlaub machen, verstehst du?
„Mit seinen Eltern. Das wären ja dann deine Urgroßeltern gewesen, oder?“
Lukas nickte unwillig.
„Jetzt lenk mal nicht ab. Du warst also noch nie irgendwo in der Natur, ohne eine Sauerstoffmaske? Dich interessiert wohl auch nicht, warum die ITCler die Mondprojekte jetzt so hektisch vorantreiben?“
Hanlon blickte seinen Sitznachbarn erstaunt an.
„Doch. Wieso hektisch?“
Was einen erneuten abgrundtiefen Seufzer Seitens Lukas zur Folge hatte.
„Sie befürchten, dass der Golfstrom abreißt und eine neue Eiszeit bevorsteht. Deswegen!“
„Echt?“
„Ja echt, Mann.“
Endlich hatte der Flug sich halbwegs stabilisiert und schon kam auch die Bordbegleiterin angetorkelt.
„Ihre Tickets bitte“, flötete sie, angestrengt um ihr Gleichgewicht bemüht.
Die beiden Männer kramten ihre Tickets hervor.
„Lukas Himmelsstürmer?“, las die Dame vor.
Lukas nickte und schielte auf ihre Beine, von denen reichlich zu sehen war.
„Hanlon Einsiedler?“, lächelte sie Lukas Begleiter an.
„Jo. Lebensgroß und in Echtzeit“, gab er grinsend zurück. „Wie ist denn dein Name, hübsche Dame?“
„Jolinda. Bordbegleiterin erster Klasse. Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?“
„Tja, da würde mir einiges einfallen“, sagte Hanlon immer noch grinsend. Lukas seufzte wieder schwer und sagte: „Nein, danke Jolinda. Im Moment nicht.“
Als, die Stewardess sich wieder entfernt hatte, setzte Lukas ihr Gespräch fort.
„Hast du dich nie dafür interessiert, wie es früher war? Bei uns in Zentraleuropa war nicht immer so schlechte Luft und es gab auch nicht schon immer diese heftigen Stürme.“
„Wieso sollte ich mich für früher interessieren? Da kann ich doch sowieso nichts mehr daran ändern“, antwortete Hanlon brummig.
„Was ist mit deinen Ursprüngen? Hast du dich nicht für deine Vorfahren interessiert?“
„Vorfahren? Wieso Vorfahren? Ich bin in Munich-City geboren und mein Vater auch.“
„Kann sein, aber deine Urgroßeltern bestimmt nicht“, wandte Lukas ein.
„Woher willst du denn das wissen, du Klugscheißer?“
„Weil es vor gar nicht mal langer Zeit keine Farbigen Deutschen oder Europäer gegeben hat.“
„Ach ja. Du spielst auf meine dunkle Hautfarbe an. Und wo sind die hergekommen, die Farbigen?“, erwiderte Hanlon in gereiztem Ton.
„Aus Afrika zum Beispiel.“
„Pfft. Da kann doch niemand leben.“
Lukas gab stöhnend auf.

Der Flug zum Titan, wurde angenehm kurz, da sie die meiste Zeit in der Schlafkammer verbrachten. Als sie geweckt wurden, war jedoch die Aufregung an Bord der Newland groß.
„Was zum Geier, ist denn hier los?“, fragte Hanlon seinen, ebenso nichtsahnenden, Begleiter. Lukas zuckte mit den Schultern.
„Lass uns mal nachsehen.“
Sie gingen in die riesige Lobby, die gleichzeitig als gemeinschaftlicher Aufenthaltsraum für die Passagiere diente. Überall hatten sich Trauben von Leuten vor den großen Monitoren gebildet. Überall wurden Nachrichtensendungen gezeigt. Die Beiden drängten sich durch einige der Zuschauer, damit sie besser hören und sehen konnten.
Der Saturnmond Titan hatte in der vergangenen Nacht, als erster besiedelter, terranischer Außenposten Kontakt zu extraterristrischen Lebensformen, berichtete die Stimme einer Sprecherin, während Bilder von den Industrie- und Wohnanlagen ITC’s auf Titan gezeigt wurden. Dann tauchten am Bildschirmrand kleine kugelförmige Gebilde auf, die sich schnell über den Himmel bewegten. Nach einigen möglichen und unmöglichen Flugmanövern, setzten die wendigen Kugelschiffe zur Landung an. Nun konnte man erkennen, dass die Raumschiffe keineswegs so klein waren. Es waren sechs an der Zahl und ein jedes überragte die menschlichen Bauten um mehrere Dutzend Meter.
Die Besucher stellten sich als humanoid heraus. Sie haben sofort mit den Menschen auf Titan Kontakt aufgenommen und erwiesen sich als friedfertig und freundlich, erläuterte die Sprecherin.
Die Bilder wechselten in eine riesige Empfangshalle eines der Gebäude. Einige, in Raumanzüge gehüllte, Gestalten kamen zur Eingangspforte herein. In der Halle wurden sie bereits von einer Delegation von Männern und Frauen erwartet, die eindeutig dem Management von ITC zuzuordnen waren. In gebührlichen Abstand blieben die Besucher stehen, dann öffnete die vorderste Gestalt ihren Raumanzug. Besser gesagt, betätigte sie anscheinend irgendeinen verborgenen Mechanismus, der den Raumanzug in sekundenschnelle zu einen kleinen Tornister auf ihrem Rücken zusammenfaltete. Die versammelten Zuschauer auf der Newland stießen alle den Atem aus. Die Frauen davon erstaunt, die Männer mehr als erstaunt. Einige Pfiffe wurde ausgestoßen. Zum Vorschein war eine Frau in hautengem Dress gekommen, der mehr erkennen ließ als verbarg. Die Frau sah atemberaubend gut aus. Der einzige Unterschied zu einem menschlichen Wesen war die grüne Haut- und Haarfarbe der Fremden. Sie trat einige Schritte vor und lächelte.
„Wow“, entfuhr es Lukas, während Hanlon mit offenen Mund auf den Bildschirm gaffte. Die Fremde berührte ein kleines, silberfarbenes Plättchen auf ihren Kehlkopf und nickte.
„Seid gegrüßt, ich bin die erste Abgeordnete von Zeta 13. Ophelidra ist mein Name. Wir sind gekommen, um Gedanken und Wissen auszutauschen“, sagte die himmlische Erscheinung vollkommen verständlich. Im gleichen Augenblick entledigten sich ihre Begleitpersonen ihrer Raumanzüge. Fünf weitere wunderhübsche Frauen in Grün standen plötzlich in der Empfangshalle.
Dann wurde die Nachrichtensprecherin eingeblendet. Wie die weiteren Verhandlungen verlaufen sind, werden sie in Kürze erfahren. Nun zu den neusten Meldung aus der Polarregion ...
Einige der herumstehenden Männer schimpften enttäuscht.
Hanlon schlug Lukas hart auf die Schulter.
„Mann, das ist doch mal eine gute Neuigkeit. Lauter tolle Mädels. Wann landen wir?“

Hanlon legte besitzergreifend seinen Arm um Samantras Schulter. Die grünhäutige Schönheit ließ es mit einem Lächeln geschehen. Lukas schüttelte leicht den Kopf, grinste aber, als er sich zu Lizirda umdrehte. Diese Dame war seine ‚Eroberung’. Sie trafen sich bereits zum vierten Mal und heute Nacht wollte Hanlon, wie er behauptet hatte, endlich Nägel mit Köpfen machen.
Die Besatzung der Raumschiffe von Zeta 13 bestand ausschließlich aus Frauen. Alle waren überdurchschnittlich gutaussehend und kommunikativ. Die beiden Männer hatten sofort Anschluss gefunden und wollten, wie Lukas es ausdrückte, eine kosmologische Beziehung aufbauen. Dem schien nichts im Wege zu stehen. Lizirda und Samantra willigten am ersten Abend schon ein, sie wieder zu treffen.
„Das ihr gekommen seid, ist ein wahrer Quantensprung für uns und die restliche Menschheit,“ nahm Lukas das Gespräch mit Lizirda wieder auf. Wie immer, wenn sie antwortete, drückte die hübsche Frau zuerst auf das silberne Plättchen an ihrem schlanken Hals.
„Findest du? Ich meine, dass wir beide von einander lernen können.“ Ihre Stimme war sanft und trotz des Translators wohl moduliert.
Lukas nickte. „Das hoffe ich auch, denn ich will ja auch etwas zurückgeben“, antwortete er verschmitzt lächelnd. Das Gespräch dauerte noch lange an, bis Lizirda schließlich sagte:
„Ich denke, wir kennen uns jetzt gut genug, Lukas. Wollt ihr – dein dunkelhäutiger Freund und du – uns auf unsere Quartiere begleiten?“
Lukas verschlug es fast die Sprache, aber er fasste sich schnell wieder.
„Ganz meine Meinung. Natürlich,“ antwortete er, bis zu den Ohren strahlend.

Die Appartements der beiden außerirdischen Frauen, waren durch eine Schiebetür verbunden, was Lukas zuerst als etwas störend empfand. Er wollte schließlich nicht Hanlon bei seinen Balzversuchen lauschen. Als Lizirda nur mit einem Handtuch bekleidet aus der Dusche trat, waren alle Bedenken vergessen.
„Diese Wasserduschen sind eine echte Wohltat,“ sagte die Schöne und öffnete langsam das flauschige Handtuch. Lukas Mund wurde trocken. Diese Frau war einfach perfekt. Er zog seine Hemd aus, als plötzlich ein schrilles Quietschen aus dem Nachbarzimmer die Idylle störte.
Mist. Was hat dieser schwarze Holzklotz jetzt wieder angestellt?, dachte Lukas.
Samantra kam in Lizirdas Zimmer gerauscht, sie war noch zur Hälfte bekleidet, soll heißen, sie trug noch ein knappes Höschen. In der rechten Hand hielt sie einen seltsamen Stab, über den kleine Pünktchen flirrten. Sie kreischte Lizirda etwas Unverständliches zu. Lukas hielt sich unwillkürlich die Ohren zu. Auch seine Partnerin kreischte etwas zurück und verfiel in eine untypische Hektik. Sie ließ das Handtuch fallen und schnappte sich ihren Dress. Im Nu war sie wieder angezogen.
„Was ist denn los? Lizirda, bitte sag mir, was passiert ist. Was hat dieser Trottel gemacht?“, rief Lukas. Hanlon tauchte in der Türöffnung auf. Er war noch vollständig bekleidet. Er blickte sich verwirrt um.
„Was ist denn los?“, rief er Lukas, über das auf – und abschwellende Kreischen der Frauen zu.
Doch bevor Lukas antworten konnte wirbelte Lizirda zu ihm herum, drückte auf das Plättchen und sagte: „Sie haben uns gefunden. Unsere Verfolger haben uns gefunden.“
„Was? Welche Verfolger?“, stotterte Lukas.
Die grünhäutige Dame antwortete nicht auf seine Frage, sondern stellte selbst eine: „Willst du mit mir kommen? Wir können zu einem anderen Planeten flüchten.“
Lukas zögerte, dann jedoch nickte er.
Er und Hanlon folgten den beiden Frauen zu einem ihrer Raumschiffe.
„Was ist mit Raumanzügen? Wir haben keine“, rief Lukas.
„Braucht ihr nicht,“ antwortete Samantra. „Die waren nur für einen effektvolleren Auftritt gedacht.“
Lukas runzelte die Stirn, sagte aber nichts mehr.
Alles ging blitzschnell. Sie kamen an Bord. Einige andere der Frauen von Zeta 13 hatten ebenfalls menschliche Männer mitgebracht. Die Frauen schienen sich wortlos untereinander zu verständigen, dann startete der Kugelraumer.
Lukas und Hanlon ergatterten einen Platz an einem Bildschirm, der offensichtlich die Außenwelt zeigte. Schnell wurden die Gebäude auf der Oberfläche des Titan unter ihnen kleiner. Kurze Zeit später befanden sie sich in der Leere des Alls. Plötzlich tauchte die Silhouette eines riesigen Objektes am Bildschirmrand auf. Es war mindestens zehnmal so groß, wie das Raumschiff der Frauen und hatte eine Form, die an eine überdimensionale Zigarre erinnerte. Trotz der immensen Größe des Objektes kam es rasch näher. Es schwenkte zur Seite und dann entließ es einen gleißenden Energiestrahl, der den Titan traf. Hanlon und Lukas rissen erschrocken die Augen auf, als sie sahen, dass der Saturnmond in einer lautlosen Explosion verging.
Lizirda und Samantra standen plötzlich hinter den beiden Männern.
„Verdammt“, sagte Samantra. „Sie werden uns, mit ihren Traktorstrahlen kriegen und einfangen.“
„Da haben Tausende von Menschen gelebt. Die haben einfach den ganzen Mond weggepustet. Wer ist das? Wer verfolgt euch?“, stieß Lukas zornentbrannt hervor. Die beiden Frauen blickten sich an, dann zuckten beide mit den Schultern.
„Das sind unsere Väter. Sie wollen, dass wir wieder nach Hause kommen. Jetzt haben sie uns wohl auch. Aber sie können uns nicht für immer festhalten.“
„Und was ist mit uns? Die werden uns bestimmt auch umbringen“, sagte Hanlon mit zittriger Stimme.
Lizirda zog eine Schnute. „Da hat er wohl recht. Es sei denn ... warte mal.“ Sie ging zu einem Schaltpult und berührte einige Punkte. Dann kam sie mit einem seltsamen tropfenförmigen Gegenstand in der Hand zurück.
„Wir behalten euch einfach“, sagte sie und grinste schelmisch.
„Was? Wie?“, entfuhr es Lukas. Doch die schöne, grünhäutige Frau hatte schon einen Schalter betätigt und Lukas und Hanlon wurden in warmes blaues Licht getaucht. Die Umgebung schien sich zu verändern. Sie wurde größer. Nein, erkannte Lukas, sie wurden kleiner. Er konnte die beiden Frauen kichern hören. Das Lachen wurde immer dumpfer, die beiden Schönheiten immer riesiger. Irgendwann endete der Prozess. Die titanische Lizirda und die ebenso gigantische Samantra kamen auf sie zu und hoben sie auf. Lizirdas Handfläche war zu einem riesigen Platz geworden, auf dem ein Fußballfeld Platz gefunden hätte.
„Da werden sie nicht wagen, uns zu durchsuchen“, hörte Lukas eine tiefe, rollende Stimme. Dann wurde er gepackt, herumgeschwenkt und am Rücken der Riesin unter dem Gürtel in das Höschen des Anzugs gequetscht. Warme, weiche Dunkelheit umgab ihn.

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Tag der Veröffentlichung: 12.12.2008

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