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Das dritte Leben

Das dritte Leben

La troisième vie

 

Sie waren alle sehr konzentriert. Die Angestellten standen am Pass, in der Reihenfolge der seit Jahrhunderten tradierten Hierarchie. Sie lauschten Justin Mauvieux, dem Chef der Küche und der Patisserie, einem charismatischen und erfolgreichen Meister seines Fachs.

 

„Ich begleite Pierre Gagnaire nach London und Tokyo. Die nächsten zehn Tage bin ich nicht vor Ort.“ Er nickte in Richtung seines Stellvertreters. „Sie werden die Küche leiten. Teilen Sie sich alles gemeinsam mit den Jungköchen ein. Jedes Gericht muss ein Feuerwerk sein. Unsere Küche ist eine Cuisine de surprise. Marc Josmeyer, Sie übernehmen die Patisserie. Noch Fragen?“

 

Marc Josmeyer wusste wie alle anderen, dass Mauvieux Fragensteller nicht besonders schätzte. Marc ging an seinen Arbeitsplatz zurück, ein kleiner Küchenabschnitt, den er sich zu Stoßzeiten mit zwei weiteren Patissiers teilte. Marc lehnte seinen hoch aufgeschossenen, hageren Körper an die schwere Tür, hinter der sich die Kühlräume und der Froster befanden. Er strich sich über die mit schwarzem Stoff bezogenen Knöpfe seiner weißen Kochjacke. Er sollte zehn Tage lang die Aufsicht über die Patissierie in einem der angesagten Luxushotels in Berlin haben. Dabei hatte er erst vor zwei Jahren seine Gesellenprüfung bestanden. Marc rückte seine große Brille auf dem Nasenrücken zurecht. Das dunkle Gestell betonte sein schmales Gesicht, die Wangenknochen schienen noch stärker hervorzutreten, seine Lippen wirkten dadurch noch dünner. Er wusste, warum Mauvieux ihm diese Aufgabe übertragen hatte. Marc arbeitete zuverlässig, präzise, verstand sein Handwerk und überraschte seinen Chef immer wieder durch ungewöhnliche, spontane Kreationen. Er schien zu spüren, wann welches Dessert, welche Torte, welches Gebäck bei welchem Gast angebracht war. Auch Sternekoch Pierre Gagnaire war schon auf Marc Josmeyers Gabe und seine handwerkliche Perfektion aufmerksam geworden. Mauvieux hatte Marc freundlich auf seine knochige Schulter geklopft und ihm eine rosige Zukunft in der Sterne-Gastronomie dieser Welt prophezeit.

 

„Nun freu dich doch mal, Junge!“ hatte er zu Marc gesagt, aber Marc konnte sich nicht freuen, Fröhlichkeit lag ihm nicht. „Ich bin so, lasst mich doch“, sagte er, und mittlerweile hatten sich alle Kollegen an seine ernste Art gewöhnt.

 

„Marc, du bist doch Marc?“

Vor ihm stand eine junge Kellnerin aus dem Romanischen Café, das sich an der spitz laufenden Nord-Ost-Seite des über 100 Meter hohen Hotelgebäudes befand. Als Patissier war Marc auch für dieses Café zuständig. Er hatte die Kellnerin noch nie hier gesehen.

„Ich komme vom Hilton rüber. Helfe aus für zwei

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Petra van Laak, Potsdam, www.petravanlaak.de
Bildmaterialien: Karoline Wolf, www.bildhaus-potsdam.de
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2014
ISBN: 978-3-7368-2193-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
1. Preis des Literarischen Wettbewerbs "Romanisches Café" 2014, Waldorf Astoria Berlin

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