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Kai Hollger




Foreigners – The Quest


Ende und Anfang


(Teil I, zweites Kapitel)




Roman



– zweites Kapitel –



Der Colonel war sichtlich sehr erregt. Sein Gesicht, das aus der Streng geschnittenen aber trotzdem bequemen Uniform mit den vielen Abzeichen und Auszeichnungen herausguckte, war purpurrot angelaufen. Auf seiner doch sehr hohen Stirn traten kleine Äderchen hervor, die im Takt seines deutlich erhöhten Herzschlages pulsierten. Er konnte es absolut nicht ertragen, wenn jemand seine Pläne durchkreuzte oder sich seinen Ansichten entgegenstellte, doch das war Senator Gibbson in diesem Fall egal. Ihm war es wichtiger, mit allen nötigen Mitteln die Rechte einer bisher noch relativ kleinen Gruppe von Menschen zu verteidigen, der sonst aufgrund der persönlichen Meinung eines gewissen Mannes, der gerade vor Wut zu platzen drohte, das gesellschaftliche Aus drohte.
Gibbson konnte sich bei diesem Gedanken trotz der ernsten Lage ein breites inneres Lächeln nicht verkneifen. Mit einem Gesichtsausdruck, der sein vorübergehendes Amüsement nicht verriet, sprach er weiter:
»Natürlich wäre das eine Katastrophe. Doch müssten Sie eigentlich wissen, dass diese Organisationen sehr wohl auch innerhalb der Kolonien agieren. Wie stellen Sie sich eigentlich das weitere Vorgehen in dieser Angelegenheit vor? Sie auf einen der besiedelten Planeten oder Monde abzuschieben ist nicht minder riskant.«
»Aber es ist immer noch sicherer, als sie hier auf Terra zu behalten, wo alle wichtigen Einrichtungen und ebenso wichtige Persönlichkeiten der Solaren Föderation

, seien sie militärisch oder zivil, ansässig sind! Sie hier zu behalten hieße, dies alles in Gefahr zu bringen!!« schrie der Colonel den Senator an, der davon allerdings unbeeindruckt schien. Seine gelassene Haltung zwang Brightman sogar dazu, die Lautstärke etwas herunterzuschrauben, nachdem sein Benehmen keine Wirkung zeigte.
Als sich Colonel Brightman scheinbar wieder beruhigt hatte, offenbarte ihm Senator Gibbson eine andere, mehr ver­spre­chen­de Lösung für das vorliegende Problem.
»Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass es auch Vorteile haben könnte, wenn man diese Leute hier behält?« fragte er in eindringlichem Tonfall, und leitete damit wahrscheinlich eine Kette von Ereignissen ein, die für den weiteren Verlauf der Geschichte von immenser Bedeutung waren…


1




»He! Hallo, Sylvia!«
Sylvia Bentstein drehte sich um, als sie eine vertraute Stimme ihren Namen rufen hörte. Fabienne, eine Freundin aus der Schule kam auf der anderen Straßenseite angelaufen und winkte.
»Sylvia, warte 'mal!«
Sylvia blieb stehen und winkte zurück. Wegen des geringen Verkehrs an diesem Abend hatte ihre Freundin die Straße zügig überquert.
»Hi, Fabienne. Was machst du denn hier?« fragte Sylvia, während sie mit ihrer rechten Hand ihre leuchtenden roten Locken nach hinten kämmte.
»Ich wollte mich gerade mit meinem Freund treffen und vorher noch ein wenig durch die Schaufenster bummeln«, antwortete Fabienne und strich sich zwei Strähnen, die seitlich unter ihrer Mütze hervor hingen, hinter die Ohren – eine typische Geste. »Und du? Wie geht's dir? Das am Freitag in der Schule sah ja richtig unheimlich aus.«
»Ach, das war nichts – nur ein kleiner Blackout. Mir geht's gut…«


2



Sie saßen im Physikunterricht. Es war zu Anfang der letzten beiden Stunden an diesem Tag, und Herr Wallunger, der Lehrer, wiederholte gerade die für den heutigen Versuch wichtigen Formeln des Elektromagnetismus. Er wollte vorführen, welche Auswirkungen die starke Unterkühlung der Spulen auf das Magnetfeld hatte.
»Ich bin sicher Sie können sich alle noch an unseren theoretischen Ansatz von letzter Stunde erinnern. Welchen Effekt wird eine Kühlung in flüssigem Stickstoff auf die Leiter haben, und wie nennt man sie dann?«
Sylvia, die sich sehr für Physik interessierte und deren Noten immer im oberen Durchschnitt lagen, meldete sich, um die Frage zu beantworten.
»Bitte, Fräulein Bentstein.« sagte der Lehrer in der Erwartung, eine korrekte und knappe Zusammenfassung der letzten Stunde zu bekommen. Doch Sylvia blieb ihm die Antwort schuldig. Sie saß einfach nur da, mit erhobenem Arm und leerem Blick.
» Fräulein Bentstein?« – keine Reaktion.
Fabienne stieß sie von der Seite an. »Sylvia!« flüsterte sie harsch.
»Was hat sie denn?« fragte der Lehrer und kam durch die Reihen auf ihren Platz zu.
Fabienne schüttelte ihre Freundin sachte an den Schultern und wandte dann deren Gesicht ihrem eigenen zu.
»Sylvia?« Die blinzelte. »Sylvia!«
Sylvia schloss für einige Sekunden ihre Augen, und als sie sie öffnete, war ihr Blick wieder klar wie immer – nur etwas verwirrt.
»Wa-wa-was…«, stammelte sie.
»Was ist passiert?« vervollständigte Fabienne den Satz. »Das möchte ich auch gerne wissen.«
»Sie waren beinahe eine Minute wie weggetreten, Fräulein Bentstein. Ist ihnen nicht gut?«
»D-doch…es…es geht schon…mein Gott«, murmelte sie vor sich hin.
»Sie sehen ein wenig blass aus«, sagte Herr Wallunger, »vielleicht ist es ja nur der Kreislauf. Sie sollten sich zum Schularzt begeben und sich dort ein wenig ausruhen, bis…«
»Nein, nein, es geht schon wieder. Machen Sie ruhig weiter – wie war die Frage doch gleich?«
»Er hat recht!« unterstützte Fabienne den Standpunkt des Lehrers. »Komm mit, ich bringe dich hin.«
»Aber wieso denn? Ich fühle mich großartig.« Sylvia richtete sich auf, streckte den Rücken durch und nahm einen tiefen Atemzug. »Mir fehlt…«
Plötzlich legte sich wieder ein grauer Schleier um ihre Sinne. Sie sackte in sich zusammen, wobei sie die eingeatmete Luft keuchend wieder ausstieß und eine Hand vor die Augen schlug. Mit der anderen versuchte sie, sich auf dem Tisch abzustützen, und stieß versehentlich ihr Physikbuch und einige Stifte zu Boden.
Fabienne und Herr Wallunger zuckten unwillkürlich zusammen, und auch die Mitschüler, die in der Nähe saßen und zuschauten, gaben leise Geräusche des Erschreckens von sich.
»Kommen Sie, Fräulein Marçeau, wir bringen sie am besten jetzt sofort zum Arzt.« Er griff Sylvias linken Arm und schlang ihn sich um den Hals. »Nehmen Sie den anderen.«
Sie nahmen sie zwischen sich und stützten sie, während sie auf die Tür zugingen. Herr Wallunger wies die Klasse an, sich ruhig zu verhalten und noch mal über seine eingangs gestellte Frage nachzudenken. Dann stieß er die Tür auf. Nach wenigen Metern 'wachte' Sylvia wieder auf.
»He – was…?«
Sie hielten an.
»Wir bringen dich jetzt zum Schularzt«, sagte Fabienne. Sie drehte das Gesicht ihrer Freundin zu sich herum und suchte nach einem Hinweis, der etwas über deren augenblicklichen Bewusstseinszustand verraten hätte. Es sah seltsam blass aus, und ihre Augen irrten einen Moment lang umher, als würde sie ihr Gegenüber nicht sofort erkennen.
»Fa-Fabienne?« Ihr Blick fixierte sich, sie zog ihre Arme zurück und steckte die Hände in die Hosentaschen. Sie zitterte fast unmerklich, schien ein wenig zu frösteln. Fabienne nahm den Pullover, den sie sich um die Taille geknotet hatte und hängte ihn Sylvia um.
»Meinst du, du kannst alleine gehen?« – Schweigen. Fabienne lief ein Schauer den Rücken hinunter; fing das jetzt schon wieder an? »Sylvie…?«
»Ja, ja, klar«, stieß Sylvia hervor, »Ich kann – bin ja schließlich kein kleines Kind mehr.«
Ein erfreutes Lächeln, beinahe ein Grinsen, machte sich auf Fabiennes Gesicht breit – Sylvia schien wieder die Alte zu sein.
Herr Wallunger, der diese Szene aufmerksam beobachtete, kam nun zu demselben Schluss wie Fabienne. Es schien alles wieder – relativ – in Ordnung zu sein.
»Na, dann werde ich mich mal wieder um meinen Unterricht kümmern, was? Fräulein Marçeau, Sie bringen Fräulein Bentstein jetzt endlich zu Dr. Fink und bleiben bei ihr. Wenn der Doktor grünes Licht gibt, können Sie ihre Mutter anrufen, damit sie ihre Tochter abholt. Ich glaube immer noch, dass es nur eine Kreislaufschwäche war, die mit ein wenig Ruhe behoben werden kann.«
Er drehte sich um und ging die paar Schritte zur Tür zurück. Als er wieder im Klassenraum verschwunden war, setzte sich Fabienne in Bewegung, wobei sie Sylvia, die noch zu benommen war, um sich ernsthaft dagegen zu wehren, den Gang entlang dirigierte.

Dr. Fink konnte nichts feststellen, und da Sylvia nicht sehr gesprächig war, blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr ein schwaches Aufbaupräparat zu verabreichen und sie von ihrer Mutter abholen zu lassen. Seitdem waren sich die beiden Freundinnen nicht mehr begegnet.


3



»Ach komm, sei ehrlich«, sagte Fabienne. »Das wahr nun wirklich kein alltägliches Ereignis. Da muss doch ein besonderer Grund dahinter stecken. Ich bin deine Freundin, mir kannst du's ruhig verraten.«
»Mmmh … na schön«, antwortete Sylvia sehr zögernd. »Aber du behältst es für dich, ja?«
Sie schwieg eine Weile, schien einen Anfang zu suchen.
»Ich war, äh, nicht hier… Nein! Ich weiß nicht, wie ich's sagen soll.«
»Versuch's doch wenigstens.«
»Ich weiß nicht. Ich war – war nicht ich … Ja, so könnte man es vielleicht beschreiben. Ich war nicht ich und ich war auch nicht hier.«
»Das verstehe ich nicht. Wie soll das gehen?«
»Keine Ahnung! Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, was genau passiert ist. Ich glaube es hatte etwas mit mir zu tun; und mit noch jemandem, den ich nicht kenne.«
»Na, lass uns erst mal losgehen, sonst verpasse ich noch meinen Freund.«

Sie überquerten gemeinsam die Straße und legten gemütlichen Schrittes die knapp hundert Meter bis zur Fußgängerzone der Innenstadt zurück.
»Wo wolltet ihr euch denn treffen?« wollte Sylvia dann wissen.
»Am 'Le Perroquet'. Das ist …«
»Ja, ich weiß. Neben dem Shopping-Center«, unterbrach sie ihre Freundin.
»Genau«, fuhr diese fort, als hätte sie den Satz selber zu Ende gesprochen. »Das liegt quasi direkt auf dem Weg. Ich wollte mal schauen, ob sie schon die Schuhe haben; die aus der Werbung. Das war nicht das erste Mal, oder?«
»Hm? Was?« Sylvia stoppte abrupt ab und hob den Kopf. Sie war von dieser Frage, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf sie niederfuhr, dermaßen überrumpelt worden, dass sie einen Moment lang nicht in der Lage war, sie in irgendeinen Zusammenhang einzuordnen. Es war, als wäre ihr Körper gegen einen Laternenpfahl gelaufen, aber ihr Geist weitergegangen.
»Na das in der Schule; das war nicht das erste Mal, hab' ich recht?«
Jetzt dämmerte es ihr. »N-…nein – ich glaube nicht.«
Jetzt war Fabienne etwas verwundert. »Du glaubst?«
»Naja, ich bin mir da nicht absolut sicher, aber es kann sein, dass in den letzten zwei Wochen schon zwei- oder dreimal etwas ähnliches passiert ist. Sicher bin ich mir allerdings nicht; mir kam es eher so vor, als wenn ich mit meinen Gedanken abgeschweift wäre oder einen Tagtraum gehabt hätte. Das war bei weitem nicht so heftig wie am Freitag.«
Sylvia verstummte. Sie hatten das Café schon fast erreicht, und Fabiennes Freund Roger hatte sie bereits erblickt.
»Salut, mein Schatz«, begrüßte Roger seine Freundin, umarmte jedoch zunächst Sylvia kurz und gab ihr einen relativ flüchtigen Kuss. »Es tut mir leid, aber ich kann im Moment leider nicht mitkommen. Ein Bekannter will sich unbedingt mit mir treffen. Er sagt, er hätte da eine tolle Idee, von der er mir heute noch erzählen müsse.« Während er so sprach, machte er Anstalten, die gleiche Begrüßung nun auch Fabienne zukommen zu lassen – nur um einiges inniger.
Fabienne zog die Augenbrauen zusammen und die Mundwinkel nach unten. Gleichzeitig ging sie einen kleinen Schitt von Roger weg, wobei sie mit einem Fuß auf den Boden stampfte, wie ein kleines Kind. Offensichtlich war sie über diese Neuigkeit sehr verärgert. Sylvia konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Zum Glück konnte ihre Freundin das nicht sehen, die sich gerade halb von ihrem Freund abwandte und den Blick auf die Pflastersteine zu ihren Füßen richtete.
»Schatz, bitte…« versuchte Roger sie zu beschwichtigen. Er streckte eine Hand aus, um nach ihrem Oberarm zu greifen, doch sie schlug sie weg.
»Ich weiß nicht, was in letzter Zeit los ist!« keifte Fabienne ihn an. »Irgendwie spielen langsam wohl alle verrückt. Unsere Verabredung stand seit fast einer Woche, aber wenn dir deine Bekanntschaften wichtiger sind – bitte…! Komm, Sylvia, ich habe plötzlich Lust, allein Spaß zu haben – nur mit meiner besten Freundin. Frauenspaß so zu sagen.«
Mit diesen Worten und einem äußerst giftigen Blick in Rogers Richtung schnappte sie nach Sylvias Arm und marschierte los. Während sie mitgerissen wurde und versuchte nicht zu stolpern, sah Sylvia aus dem Augenwinkel nur noch den resignierenden Gesichtsausdruck von Fabiennes Freund und die dazu passende Geste: Die Arme inklusive der Schultern seitlich angehoben, die Handflächen fragend nach oben gerichtet, und das Ganze dann einfach schlapp und kraftlos herunter fallen lassen.

Impressum

Texte: (c) Text by Benjamin Hollerung (Author) Cover-Artwork by the Author himself. In-Book pictures and drawings by the Author himself.
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2009

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