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Es war schon später Nachmittag an einem kühlen, grauen Novembertag. Clark Stevens verließ gerade seine Wohnung in der North Park Avenue. Er schloß die Tür hinter sich ab, nachdem er sich vergewissert hatte, daß niemand in der Nähe war. Dann ging er mit raschen Schritten die Treppe hinunter, die in die Eingangshalle hinabführte. Bevor er hinausging, überprüfte er noch ein letztes Mal, ob er auch alles Nötige mithatte. In seiner Brieftasche befanden sich neben anderen Dingen sein Ausweis und etwa achthundert Pfund.
›Das muß reichen,‹ dachte er und steckte sie wieder in die Hosentasche zurück. Aus der anderen holte er ein Stofftaschentuch, mit dem er sich ein paar Tropfen nervösen Schweißes von der Stirn wischte. Seine Hände zitterten ein wenig als er nach seinem hinteren Hosenbund tastete. ›Alles klar.‹ Er trat vor die Haustür, atmete noch einmal tief durch, stieß sie auf und ging hinaus.
Draußen sah er sich wieder um, doch er konnte keine verdächtigen Personen entdecken. Er entschied sich, nach rechts zu gehen, Richtung Westen. So würde er die Autos auf dieser Straßenseite gut erkennen können, und nach hinten boten ihm hoffentlich die Bäume genug Schutz.
»Verdammt, verdammt,« murmelte er und dachte weiter: ›Das hätte alles nicht soweit kommen müssen. Wär’ ich vorher nur ein wenig vorsichtiger gewesen, müßt’ ich's jetzt nicht sein.‹
Im Laufe des Tages hatten sich große Pfützen in den Unebenheiten des Gehweges angesammelt, und er mußte blinzeln, wenn die sinkende Sonne durch die auflockernden Wolken brach und sich grell in ihnen spiegelte. Hoffentlich hatten ihn Hallingworths Bluthunde noch nicht aufgespürt. Sie waren gefährlich, das hatte er einmal live miterleben können, und so wie die Sichtverhältnisse im Moment waren, konnte er die Bedrohung unmöglich früh genug erkennen. Er mußte runter von der Hauptstraße. Er bog nach rechts ab, einen Fußweg entlang, der zwischen zwei Häuserblocks hindurch zur nächsten Parallelstraße führte.

Als Clark vor etwa viereinhalb Jahren zur ‘Firma’ gekommen war, hatte er noch nichts von deren Hintergründen gewußt. Er hatte den Job nur angenommen, weil ihm ein relativ hohes Gehalt geboten worden war, und er das Geld dringend gebraucht hatte. Andernfalls währen er und seine Frau nur wenig später aus ihrer kleinen Wohnung rausgeflogen und auf der Straße gelandet. Dabei hätten sie eigentlich eine größere gebraucht, denn Gloria war mit ihrer Tochter Stella schwanger gewesen.
Clark war als Finanzberater bei der ‘Firma’ eingestellt worden, denn das war sein erlernter Beruf, und den hatte er vorher auch sehr erfolgreich ausgeübt, bevor er aufgrund einer Fusion mit einem anderen Konzern entlassen worden war. Bereits nach kurzer Zeit hatte er den eigentlichen Zweck der ‘Firma’, wie sie Mr. Hallingworth gern nannte, erkannt. Sie existierte nur, um die Unmengen von Geld zu waschen, die von den Betreibern bei ihren mafiaähnlichen kriminellen Machenschaften eingenommen wurden.

In dem Augenblick, als Clark auf den Gehweg der Parallelstraße trat und sich nach links wandte, blies ihm ein starker Wind ins Gesicht, der auf der North Park Avenue durch die vielen Bäume gemindert wurde. Er stellte den Kragen seines Mantels hoch und ging weiter.

Clarks Aufgabe in der Firma war es gewesen, die Buchführung so hinzubiegen und notfalls komplett zu fälschen, daß nach außen hin kein Verdacht auf dunkle Geschäfte aufkommen konnte. Obwohl ihm dies sehr zuwider gewesen war, hatte er keine Beschwerden oder Widerworte gegeben, denn die Chancen, in kürzester Zeit einen neuen Job zu finden, hatten mehr als schlecht gestanden. Und außerdem hätte man ihn auch nicht ohne weiteres gehen lassen. Also hatte er sich seinem Schicksal ergeben und seine Arbeit immer sauber und gewissenhaft ausgeführt. Zumindest sollte es für die höhergestellten Mitarbeiter der Firma den Anschein haben.

Nach etwa fünfzig Metern wechselte Clark die Straßenseite, ging noch ein paar Schritte und bog schräg rechts in einen weiteren Weg ein. Dieser führte bis an eine kleine Kreuzung zweier Nebenstraßen heran. Er beschleunigte sein Tempo auf dieser Strecke, da sie schlecht einzusehen war und er hier kaum die Aufmerksamkeit potenzieller Verfolger auf sich ziehen würde.

Während der gesamten viereinhalb Jahre, die Clark bei der ‘Hallingworth Lebensmittelgroßhandel Inc.’ gearbeitet hatte, war er auf der Suche nach einem Weg gewesen, der ihn aus dieser kriminellen Lage wieder herausführen würde. Er hatte relativ schnell herausgefunden, daß ihm seine Arbeit selbst die beste Möglichkeit bot. Er konnte immer wieder kleinere Geldsummen auf ein eigens dafür eröffnetes Konto überweisen und diese Transaktionen so vertuschen, daß sie quasi gar nicht stattgefunden hatten. Mit der Zeit häufte er so eine nicht gerade als gering zu bezeichnende Geldsumme an, von deren Existenz, Herkunft und Zweck außer ihm niemand wußte.

Er war an der Kreuzung angekommen und ging zur Fußgängerampel. Auf der anderen Straßenseite waren die Häuser größer und standen dichter beisammen. Die Ampel sprang auf grün und er überquerte die Straße. Während er dort auf die nächste Ampel wartete, schaute er sich immer wieder um, ohne jedoch das geringste Anzeichen für eine Verfolgung zu erkennen.
›Gut,‹ dachte er. ›Es ist nicht mehr weit – nur noch die Straße entlang.‹
Er konnte sein Ziel schon fast sehen; ein Reisebüro am Ende der Straße. Wie es aussah, konnte er einfach geradewegs dorthin gehen, seine Buchung machen und wieder verschwinden. Doch Clark entschied sich, zur Sicherheit doch noch den Weg durch die Hinterhöfe zu nehmen. Als die Ampel umsprang, setzte er seinen Weg fort.

Er hatte seiner Frau nicht sagen müssen, daß sie das mehrverdiente Geld aus seinem neuen Job nicht unüberlegt ausgeben, sondern lieber einen Teil davon zur Seite legen sollte. Ihr war seit seiner letzten Entlassung klar, daß soetwas wieder passieren konnte. Dann wäre es besser, etwas in Reserve zu haben, mit dem man eine gewisse Zeit überbrücken konnte.
Das Gesparte und das heimlich abgezweigte Geld reichten beinahe dazu aus, einfach alles hinter sich zu lassen und irgendwohin zu reisen. Dort könnten sie sich fürs Erste eine kleine Wohnung kaufen, und er würde sich um eine neue Arbeit bemühen. Mit etwas Glück könnte er sich nach einiger Zeit selbständig machen und für sich und seine Familie ein kleines Haus bauen.
Doch da das Glück in seinem Leben ein sehr seltener Weggefährte gewesen war, wollte er auf Nummer sicher gehen und zweigte bei der letzten Abrechnung einen größeren Geldbetrag auf ein zusätzlich eröffnetes Konto in der Schweiz um. Dieses Geld wollte er für eine Art Zwischenstation in ein neues Leben verwenden. Deshalb war er unterwegs zum Reisebüro. Er hatte vor, einen Last-Minute-Flug irgendwo in den Süden zu buchen, sich dort ein Hotel zu suchen und ein paar Tage später Gloria und Stella nachzuholen. Nach einem kurzen Urlaub würden sie dann gemeinsam in die Staaten reisen.

Clark schaute sich zum wiederholten Male um, konnte aber immer noch keine Verfolger entdecken. Scheinbar ließ die Entdeckung seiner letzten großen tat in der Firma doch länger auf sich warten als er gedacht hatte. Wenn er um die nächste Ecke ging war er schon so gut wie da. Er entspannte sich – nun konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen. Und falls doch, hatte er sich an einen alten Freund gewandt, dem er vertraute und der seine Frau über das Geld und sein Vorhaben informieren würde.

Plötzlich hörte er eine Stimme hinter sich: »Mr. Stevens?«
Er verlangsamte sein Tempo ein wenig.
»Mr. Clark M. Stevens?«
Er spürte, wie sich wieder Schweiß auf seiner Stirn bildete. Er blieb stehen und drehte sich langsam um, wobei er die linke Hand anhob und in die Seite stützte, damit sie näher an seiner Waffe war.
»Ja?«
Vor einige Schritte entfernt stand ein Mann, den er nie bei der Firma gesehen hatte. Er war hager, hatte schütteres Haar und trug einen schlecht sitzenden, zerknitterten Anzug. Seine Augen wirkten hinter den dicken Brillengläsern seltsam vergrößert, in einer Hand hielt er eine alte Lederaktentasche.
»Ein Glück, daß ich sie gefunden habe,« sagte der Fremde. »Ich sah Sie in die Gasse gehen, doch dann habe ich Sie verloren. Ich habe eine Nachricht für Sie.«
»Wa–…?« brachte Clark hervor.
Im selben Moment zog der Mann eine Pistole mit Schalldämpfer aus der Aktentasche und richtete ihn auf Clark. Der war so überrascht und verwirrt, daß er nicht schnell genug reagieren konnte. Der Schuß löste sich mit einem weichen, gedämpften ›Zupp‹ und Clark wurde nach hinten geschleudert. Die Hauswände in seinem Blickfeld schwenkten in einem Bogen nach unten und zwischen ihnen wurde der Himmel sichtbar. ›Keine Wolken zu sehen,‹ dachte er, das würde ein schöner Abend werden. Dann drückten sich kleine Steine, die auf dem Pflaster lagen in seinen Rücken.
Während er noch den Himmel betrachtete und sich sein Hemd und sein Mantel in der Herzgegend langsam rot färbten, hörte er noch einmal den Mann sprechen: »Niemand legt Wallace Hallingworth aufs Kreuz und kommt ungestraft davon.«
Mehr hörte Clark Stevens nicht, denn dann wurde es Nacht…

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Tag der Veröffentlichung: 01.08.2009

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