Kai Hollger
Foreigners – The Quest
Ende und Anfang
(Teil I, erstes Kapitel)
Roman
Teil I
Veränderungen
Dunkelheit…
Endlose Dunkelheit…
Nur unterbrochen von einer Vielzahl kleiner leuchtender Punkte und verschwommener Flecken, deren Licht jedoch nicht ausreicht, die ewige Finsternis zu vertreiben…
Leere…
Undurchdringbare Leere…
Diese Beschreibung trifft wohl auf den umliegenden Raum zu, denn selbst die nächstgelegenen Sterne erscheinen winzig und schier unerreichbar fern…
Stille…
Einsame Stille…
Zum einen ist niemand da, um zufällig ein eventuell entstandenes Geräusch zu hören. Zum anderen existiert im Raum ohnehin kein Medium, das dieses Geräusch an sein Ohr hätte tragen können…
…Niemand ist da – außer der Schlange…
– erstes Kapitel –
»Nein!« warf Senator Gibbson ein. Er schlug mit den Handflächen hart auf den schweren Schreibtisch und stand aus seinem Sessel auf. Mit einer hektischen Bewegung nahm er seine Brille ab: »Sie haben das gleiche Recht hier zu leben, wie Sie und ich.« Er erhob den Zeigefinger seiner rechten Hand, die die Brille hielt, drohend gegen den Colonel. »Schließlich sind sie Menschen. Selbst wenn sie sich in gewissen Fähigkeiten von anderen unterscheiden, sind sie immer noch Menschen.«
Er konnte bei bestem Willen nicht begreifen, aus welchen Gründen man Menschen wie diese nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft betrachten sollte. Außer ihrer Begabungen gab es nichts an ihnen, das sie von 'normalen' Menschen unterschied. Noch unvorstellbarer war für ihn, was Brightman zu tun gedachte, um sie von eben diesen fern zu halten.
»Aber sie stellen trotzdem eine Gefahr für die innere Sicherheit der Solaren Föderation
dar«, argumentierte Colonel Brightman unberührt. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass hier auf Terra immer noch diverse und zum Teil auch terroristische Untergrundorganisationen existieren, die mit dem Zusammen- schluss der Kolonien nicht einverstanden sind, und alles daran setzen würden, den Frieden zu zerstören und ihr eigenes kleines Reich zu gründen. Was glauben Sie, was passiert, wenn einer von 'Ihnen'
diesen Leuten in die Hände fällt?«
Sie standen in Senator Gibbsons Büro, das sich im Hauptgebäude des Regierungskomplexes in Eden befand. Dieses war gleichzeitig die terranische Hauptstadt und Sitz der obersten Regierung der Solaren Föderation
. Es lag in der Sahara, zwischen den südöstlichen Ausläufern des Ahaggar-Bergmassivs, und somit sehr zentral im Nordafrikanischen Staatenbund. Dieser Standort war zum einen gewählt worden, um die vollständige Eingliederung und Gleichstellung dieses einstigen Dritte-Welt-Kontinents zu symbolisieren. Zum anderen bildet er einen relativen Mittelpunkt der um den Globus verteilten Landmassen.
Um Eden herum erstreckte sich die größte der etwa drei Dutzend riesigen Oasen, die hier oben im sechsundsiebzigsten Stockwerk eine faszinierende Kulisse auf der anderen Seite des halb runden Panoramafensters bot. Mit diesen grünen Inseln in der Weite eines Meeres aus Geröll und Sand wurde eine schrittweise Begrünung und Rückerschließung der Wüste verfolgt. Auch in anderen Trockengebieten der Erde wurden solche Projekte durchgeführt. Im Grunde waren sie nur ein Nebenprodukt der Marskolonisation, doch gerade hier stellten sie die Entschlossenheit und Stärke der noch relativ jungen Föderation dar.
Colonel Martin Brightman war ein leicht untersetzter Nordamerikaner von etwa dreiundfünfzig Jahren und Chef der Abteilung TERRA bei der Inneren Sicherheit der Solaren Föderation
. Nubundi Gibbson, ein mit achtunddreißig Jahren verhältnismäßig junger Senator, stammte aus der afrikanischen Bevölkerung. Er war schlank und kräftig, und nur aufgrund seiner herausragenden diploma- tischen Leistungen bei der Herstellung des Friedens in und zwischen den Kolonien und der Gründung der Solaren Föderation
in den Senat gewählt worden.
Und aus diesem Grund hatte man ihn auch bei diesem neuen Problem zu Rate gezogen:
Es waren vor etwa drei Jahren mehrere Fälle von ungewöhnlichen Fähigkeiten bei Menschen auf der Erde aufgetreten…
1
Norman Farell saß in seinem Büro in einem der riesigen Gebäude der neuen Chicagoer City und bearbeitete die Versicherungsanträge einiger neuer Kunden. Er war relativ groß gewachsen, schlank und gut aussehend. Sein kurzes, blondes Haar war locker zurück gekämmt und bildete an der linken Seite einen Scheitel. Er trug eine modische randlose Brille. Zwar gab es heute mehrere Wege, seinen – wenn auch nur geringen – Sehfehler zu beheben, ohne dass er dafür irgendwelche Sehhilfen tragen musste, doch er war einer der Wenigen, nach deren Meinung so eine Brille den Charakter eines Menschen positiv unterstreichen konnte. Sein ohnehin schon markantes Gesicht war immer perfekt rasiert und strahlte eine eigenartige Sympathie aus, die es ihm oft erleichterte, selbst mit wildfremden Leuten in Kontakt zu treten.
Farell arbeitete gerne bei McLaren & Buster Insurances
, der größten Versiche- rungsgesellschaft in ganz Amerika, weil sie eine der seriösesten war und ihre Kunden nicht über den Tisch zog. William C. McLaren leitete die Chicagoer Zentrale, die die so genannte 'alte Welt' abdeckte, während George Buster im Hauptsitz in Las Vegas das Sagen hatte, der für den Bereich der USNA und EUSA zuständig war. Auch auf dem Mond und dem Mars gab es relativ eigenständige Filialen, die von den Söhnen von McLaren und Buster geleitet wurden, und hauptsächlich für Kolonien auf Monden und Raumstationen innerhalb und außerhalb des Erdorbits verantwortlich waren.
Mit seinem Boss war Farell inzwischen gut befreundet, denn er war während seiner guten fünfzehn Jahre, die er für ihn arbeitete einer der besten Vertreter des Hauses geworden. Das lag hauptsächlich daran, dass er häufig genau zu wissen schien, was seine Klienten von ihm und der Agentur erwarteten – er selbst behauptete immer scherzhaft, doch mit überzeugendem Ton, er besäße telepathische Kräfte – und sie somit stets zufrieden waren. Hinzu kam, dass die Geschäfte äußerst gut liefen, seit die Regierung plante, Australien auf dessen Antrag hin in die Vereinigten Staaten Nordamerikas einzugliedern. Eigentlich war das ein ziemlicher Unsinn, dachte Farell, da Australien durch tausende von Kilometern Pazifischen Ozeans von den USNA getrennt wurde und außerdem auch noch südlich des Äquators lag.
McLaren erwog seit geraumer Zeit, seinem besten Mann zum zwanzigjährigen Jubiläum eine Teilhaberschaft anzubieten, doch ahnte bisher weder dieser etwas davon, noch ahnte McLaren, dass es nie soweit kommen sollte...
Dass Farell Unterlagen bearbeitete, war vielleicht etwas übertrieben. Im Moment schob er nur ein paar Akten ziellos auf dem Tisch herum und schaute dabei hin und wieder verträumt aus dem großen Fenster. Er dachte an Winona, mit der er vor siebzehn Jahren eine sehr enge Beziehung gehabt hatte. Für ihn war es die große Liebe gewesen, doch sie war in dieser Sache anscheinend anderer Meinung als er. Jedenfalls hatte sie ihn nach mehr als sieben Monaten verlassen, um in die Schweiz auszuwandern. Als er sie nach einem Grund gefragt hatte, hatte sie geantwortet, er verbringe viel mehr Zeit mit seiner Arbeit als mit ihr, und sie denke, dass ihm ihre Beziehung nicht mehr wichtig sei. Soweit er es herausfinden konnte, hatte sie dort wenig später einen Mann geheiratet, den sie wohl kurz vor ihrer Abreise kennen gelernt hatte. Danach verlor sich ihre Spur und Farell hatte seit dem keine so feste Beziehung mehr gehabt.
Das Com läutete und Farell sah leicht erschrocken und mit einem Blick, als wäre er Millionen von Meilen entfernt gewesen, von den Dokumenten auf.
Als er den roten Knopf drückte, erklang eine sympathische Frauenstimme.
»Mr. McLaren will Sie sprechen, Sir. Sie möchten bitte sofort in sein Büro kommen.«
»Hmm«, machte Farell, während er seine Gedanken sortierte und versuchte, sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. »Ich hab gerade 'ne Menge zu tun. Ist es wirklich so dringend?«
»Ja«, antwortete die Stimme nachdrücklich, während er ein paar Ausdrucke sortierte, die durcheinander auf dem Schreibtisch lagen. »Er sagt, es sei äußerst wichtig fürs Geschäft.«
›Das ist es doch immer‹, dachte Farell und grinste in sich hinein. Diese geistige Bemerkung hatte ihm den nötigen Antrieb gegeben.
»Na gut«, sagte er gekünstelt widerwillig und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Sagen Sie ihm, ich stünde sozusagen schon direkt in seiner Tür. Danke, Nat.«
Im Aufstehen drückte er erneut die Taste am Com, deren Farbe beim ersten Mal nach Grün gewechselt hatte, und beendete somit die Verbindung. Er warf sich die leichte Jacke seines modisch geschnittenen Anzugs über, die über der Lehne seines großen Sessels hing. Der Bezug des komfortablen Möbelstücks bestand aus diesem seit einigen Jahren üblichen synthetischen Leder. Das Rohmaterial dieses Stoffes wurde aus genetisch veränderten Kulturen gezüchtet, und unterschied sich nur in der Herkunft von echtem Leder. Er verließ sein Büro und nickte Natalie Coley, seiner Sekretärin, freundlich lächelnd zu, während er an ihr vorbei ging. Eigentlich war sie eher so etwas wie eine Assistentin und Vorzimmerdame, korrigierte er sich; die ursprünglichen Aufgaben der Sekretärin wurden zum größten Teil von Computern erfüllt. Viele große Büros und Konzerne waren mittlerweile nahezu komplett mit diesen unpersönlichen Maschinen ausgestattet, doch bei McLaren & Buster
räumte man der zwischenmenschlichen Kommunikation und dem Kontakt zu realen Personen einen sehr hohen Stellenwert ein.
Er trat auf den breiten Gang, dessen Wände aus bruchsicherem, selbsttragendem Titanglas bestanden, und hinter denen sich die Büros seiner Mitarbeiter befanden. In regelmäßigen Abständen wurden sie von runden, marmorähnlichen Säulen unterbrochen. Der Boden war mit farblich dazu passendem Parkett ausgelegt, das mit einer dünnen, transparent spiegelnden Schutzschicht überzogen war. Er ging nach links und nach wenigen Schritten stand er vor McLarens Büro. Die schwere Tür aus künstlichem Tropenholz öffnete sich mit einem leise summenden Geräusch.
›Heutzutage wird auch alles aus diesem Synthetik-Zeug hergestellt‹, dachte Farell, als er den Durchgang durchschritt. ›Wenigstens hat der Regenwald dadurch wieder die Ausdehnung erreicht, die er vor hundertfünfzig Jahren hatte...‹
»..., Sie werden ihn mögen.« McLaren schaute von seinem HoloGolf-Spiel auf. Der ihm zugewandte flache Holo-Schirm des Com's zeigte das Gesicht eines älteren, südländisch wirkenden Herrn mit beginnender Glatze und Brille. Dieser blickte nun ebenfalls in Richtung der Tür. Auf der linken Brust seines blassroten Overalls war ein Logo aufgedruckt, das vermuten ließ, dass er mit Gentechnik zu tun hatte.
»Ah, Norman, kommen Sie 'rein«, begrüßte McLaren seinen Freund.
»Hi, Bill«, antwortete Farell, »Natalie sagte, es sei wichtig.«
»Ja, sehr sogar. Darf ich Ihnen Dr. André Hazar vorstellen?« McLaren deutete mit dem Schläger in Richtung des Schirmes.
»Norman Farell, angenehm«, stellte sich Farell dem 'Gast' vor, der ihm knapp zunickte.
»Dr. Hazar sitzt im Vorstand von Gentex
, einem privaten Gentechnik-Forschungsinstitut in der Nähe von Genf«, erklärte McLaren.
»In der Schweiz«, vermutete Farell.
»Genau«, setzte Hazar fort. »Wir haben letztes Jahr unser Forschungsgebäude erweitert, um zwei neue NanoTec-Laboratorien einrichten zu können. Nun wird die ganze Ausrüstung geliefert, unter anderem eine Reihe sehr empfindlicher und auch teurer Geräte und Apparaturen, mit deren Hilfe wir die Möglichkeit zur Behebung von Erbkrankheiten und anderen genetisch bedingten Schäden noch vor der Zeugung untersuchen wollen. Als wir hier in der Schweiz und in Europa jemanden suchten, der uns zu unseren Bedingungen versichert, hat man uns aber
mehrere Male an McLaren & Buster
verwiesen.«
»Und wir werden natürlich alles dafür tun, diesen Empfehlungen mehr als gerecht zu werden«, endete McLaren den kurzen Bericht und wandte sich an Farell. Seine dunklen Augen glänzten siegessicher unter den buschigen Augenbrauen hervor, die schon erste spuren von grau aufwiesen. »Haben Sie nächste Woche schon irgendwas wichtiges vor, Norman?«
»Ich ahne, worauf Sie hinaus wollen, William«, sagte dieser lächelnd.
»Wie oft soll ich es noch sagen? Nennen Sie mich nicht William – Sie sind schließlich nicht meine Mutter«, unterbrach ihn McLaren.
Farell konnte sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. »Na gut – Bill«, sagte er in einem nach Bestätigung suchenden Tonfall und fuhr dann fort: »Eigentlich wollte ich mit Stephanie auf das Flashback
-Konzert gehen, aber wir können uns ja auch die Holo-Übertragung in der Schweiz anschauen«, erklärte er, nun mit einem gewinnenden Grinsen im Gesicht. Es war zwar äußerst ärgerlich, dass er das Konzert nicht live miterleben konnte (Stephanie hatte sich auch wahnsinnig gefreut, als er ihr die Karten präsentiert hatte), doch bei einem Versicherungsabschluss von diesen Ausmaßen konnte er verstehen, dass McLaren ihn schickte, und er wollte ihm diesen Wunsch auch nicht abschlagen.
»Aha, du spekulierst also auf ein zweites Flugticket und ein Doppelzimmer, was?« vermutete McLaren mit erhobenem Zeigefinger und hielt Farells Blick mit ernster Miene stand. Auf Dr. Hazars Gesicht erschien für einen kurzen Augenblick ein Hauch von Verwunderung, als er bemerkte, dass McLaren plötzlich von der förmlichen in eine freundschaftlichere Anrede wechselte. Nach einer Weile erhellte sich urplötzlich dessen Gesichtsausdruck.
»In Ordnung, kannst du haben«, sagte er lächelnd. »Aber du wirst schon am Sonntag fliegen, damit du Montag pünktlich da bist.«
Auch Farell hatte bemerkt, dass McLaren die Fassade hatte fallen lassen und stellte sich darauf ein. »Geht klar, Chef«, lachte er herzhaft und wandte sich zur Tür, nachdem er sich von beiden verabschiedet hatte.
»Also, Dr. Hazar«, sagte McLaren, während er sich zum Com umdrehte, »ich schätze, Sie haben alles mitbekommen. Mr. Farell wird dann am Montagmorgen mit den entsprechenden Unterlagen bei Ihnen sein.«
»Sie hatten recht«, hörte Farell den Genforscher amüsiert sagen, während in sein Büro zurückging, um die Formulare vorzubereiten. »Ich mag ihn wirklich, und ich freue mich darauf, mit ihm zusammen zu arbeiten.«
Dann schloss sich die schwere Tür von William C. McLarens Büro hinter ihm.
2<</font> hörte, musste er an Winona denken. Sie hatte diese Musik genauso gemocht, wie er. Es war schon seltsam, dass er ihr nach so langer Zeit wieder so nah sein würde; auch wenn es sehr unwahrscheinlich war, dass er sie in Genf traf. Er erinnerte sich an den Moment, als sie sich zum ersten Mal begegneten. Das war vor achtzehn Jahren gewesen, an einem sonnig warmen Spätsommertag wie heute. Er hatte sie in der Bibliothek der Uni gesehen, an der er studierte. Sie war ihm mit ihren langen, roten Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, sofort aufgefallen. Ihre aufregende Figur wurde durch die eng geschnittene Jeans und die kurze Weste, die sie über der Bluse mit den weiten Ärmeln trug, auf anziehende Weise betont. Dann drehte sie sich in seine Richtung und … … – dieser nun entfernt war. Ein Schwindelgefühl zwang ihn, wieder geradeaus zu schauen, die Augen zu schließen und für einen Moment tief durch zu atmen. Ein leise summendes, vielschichtig moduliertes Geräusch drängte sich an seinen Ohren vorbei, – Insekten – direkt in seinen Verstand. Der überwälti- gende Duft dieses Ortes schien plötzlich alles einzunehmen. Er hob die Hände vor sein Gesicht, beugte sich leicht nach vorn und ging in eine gehockte Stellung, um dem vermeintlich sicheren Boden im Falle einer Ohnmacht ein Stück näher zu sein. Er wollte sich mit einer Hand abstützen und berührte eine warme, leicht feuchte Oberfläche – Waldboden –, die unter dem Druck ein wenig nachgab. Aus einiger Entfernung ertönte der Ruf eines Tieres (in seiner Vorstellung war dies ein großer bunter Vogel mit langem Schwanz und einer goldenen Krone auf dem Kopf, himmelblauen Augen und einem lang gezogenen, gekrümmten Schnabel), gefolgt vom sich schnell entfernenden Schlagen großer Flügel. … hallte es in Farells Geist wieder. Und wie aus einem Bodennebel formierte sich vor seinem inneren Auge eine Knospe an einem langen Stiel. Die Knospe öffnete sich und gab eine Blüte frei; ein tiefes Indigo an ihrem Ursprung, das zum Rand hin zu einem zarten Himmelblau verblasst. Die Knospe gab immer mehr Blütenblätter frei, während sich die äußeren schon nach unten rollten. Vom Zentrum der Blüte her verlief die Farbe ähnlich wie außen, nur in einem sternförmigen Muster. Venus… ja, Venus-Rosen… blaue… hin. Er war halbwegs überrascht, dass sie genommen und durch ein scheinbar gut verstecktes Lesegerät gezogen wurde. Nach einigen bestätigenden Piepsern reichte sie ihm Chen zurück, zusammen mit einer Quittung. Er steckte beides ein, ohne weiter darauf zu achten, und nahm den verpackten Blumenstrauß entgegen. Dann wandte er sich zum gehen. » F o r e i g n W o r l d s « 3 , sagte er laut und in spielerischem Tonfall, »ich will die Nachrichten sehen, Schatz.« Doch ihr Blick war ernst, und als er es bemerkte, färbte ihre Stimmung langsam auf ihn ab. ' du besitzt –, und ich denke, ich werde dich in die Schweiz begleiten.« Dann gab sie ihm einen vorsichtigen Kuss auf den Mund. Norman, der die ganze Zeit durch sie hindurch gestarrt hatte, schien dadurch aus irgendeinem Traum aufzuwachen, der Lichtjahre entfernt handelte. Sein Blick fixierte sich auf sie. 4 , die er von McLaren bekommen hatte. war die Erforschung von WSV – dem Warren-Schneider-Virus – das sich deit einigen Jahren in großen Gebieten der früheren Entwicklungsländer ausbreitete und eine langsam verlaufende, oft auch qualvolle Kombination von Immun-schwäche und Hämorrhagischem Fieber auslöste; man könnte sagen AIDS gepaart mit Lassa. In einem der beiden neuen Labors soll nun nach ähnlich wirksamen Mitteln wie denen geforscht werden, die damals zur Eindämmung und Quasi-Ausrottung des HI-Virus geführt hatten.
Als Farell nach Feierabend in seinem Hover-Car auf dem SouthCityWay stadtauswärts fuhr und im Radio die Sendung Flashback
…ein schrilles, hektisches Piepen holte ihn in die Gegenwart zurück. Auf dem Navigatorschirm blinkte grell rot eine Warnung. Der Fahrer reagierte augenblicklich und trat das Bremspedal voll durch. Die Gegenschubdüsen fuhren auf maximale Leistung hoch und stoppten den Wagen direkt über der gelben Markierung auf der Straße.
Farell erschrak erst nach einigen Sekunden Verzögerung. Er war so in seinen Gedanken versunken gewesen, dass er kaum bemerkt hatte, wie der SCW in eine normale Straße übergegangen war. An der ersten Kreuzung hatte er das Haltesignal übersehen und wäre beinahe mitten in den quer laufenden Verkehr gerast. Der halbautomatische Pilot, der erst vor einem Monat eingebaut worden war, hatte ihn im letzten Moment geweckt. Jetzt durchfuhr ein heftiger Adrenalinstoß seinen Körper; das Herz schlug ihm bis zum Hals, er schwitzte und seine Hände zitterten. Dann sprang die Ampel auf grün, und er fuhr sein Hover-Car langsam und vorsichtig über die Kreuzung und an den Straßenrand. Winona war inzwischen wieder so gut wie vergessen.
Nachdem er wieder einigermaßen klar denken konnte, fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, atmete tief durch und setzte seinen Weg durch die Chicagoer Vororte fort. Ihm fiel ein, dass er Stephanie Blumen mitbringen wollte, um ihr die Entscheidung, ihn nach Genf zu begleiten, ein wenig zu erleichtern. Er hielt also Ausschau nach einem Blumengeschäft – wohl darauf bedacht, den laufenden Verkehr nicht wieder aus dem Bereich seiner Aufmerksamkeit zu verlieren. Als er eines erblickte, hielt er darauf zu und brachte seinen Wagen im Parkbereich davor zum Stehen. Er zögerte noch einen Augenblick, um tief durch zu atmen, stellte er den Antrieb ab und schaltete auf Parkmodus um. Dann stieg er aus und ging zum Eingang.
Beim Betreten des Ladens strömte Norman Farell eine leicht süße aber keinesfalls schwere Mixtur teilweise exotischer Düfte entgegen. Der Fußboden war scheinbar mit Blüten in allen möglichen Farben, Formen und Größen übersät. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte er, dass nicht der ganze Boden betroffen war. Von der kleinen freien Fläche im Eingangsbereich schlängelte sich ein 'Pfad' aus unregelmäßigen Natursteinen durch dieses Blumenmeer. Von diesem ausgehend waren die Pflanzen stufenförmig in Richtung der Wände ausgestellt. An denen, das sah er erst jetzt, hingen weitere Behältnisse, aus denen sich die Blüten teilweise wie bunte Wasserfälle über die Stufen zu ergießen schienen. Auch die Decke war nicht verschont geblieben.
Farell sah sich noch einmal um und folgte schließlich diesem offensichtlich einzigen Pfad durch den betörenden Dschungel. Im Vorbeigehen fielen ihm verschiedene Blumen besonders auf, und er wunderte sich, dass er von einigen, mit denen er bis dato noch nichts zu tun hatte, sogar die Namen wusste.
Der Verkaufstresen stand in einer Art Lichtung. Farell wunderte sich, wie in diese dicht gewachsene grüne Hölle überhaupt Licht eindringen konnte. Da sich das Geschäft im Erdgeschoss eines älteren, mittelgroßen Wohnblocks befand, wäre die einzige Möglichkeit das Schaufenster. Allerdings war das nicht gerade eines der größten und zudem ebenfalls – so sah es zumindest von draußen aus – mit Pflanzen überfüllt.
›Künstliche Beleuchtung‹, dachte er und sah nach oben. Doch das Licht, das tatsächlich von dort zu kommen schien, wirkte wie warmes, goldenes Sonnenlicht, das sich tatsächlich durch mindestens zwanzig Meter lichte Vegetation stahl. Beleuchtungsfelder, Neonröhren oder andere Lichtquellen waren nicht zu erkennen. Er fühlte sich orientierungslos; er konnte sich nicht mehr erinnern, in welcher Richtung der Eingang lag oder wie weit – Meter, Meilen, Lichtjahre
›Wenn jetzt ich meine Augen öffne, bin in einer fremden Welt‹, dachte er und fiel auf die Knie. ›Was im Himmel passiert…‹
»Guten Tag, mein Herr. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Farell fuhr auf dem Absatz herum; er stand wieder aufrecht im Blumenladen. Der Wald war verschwunden, ebenso die Tiere. Er sah sich um. Das Licht war wieder normal – künstliche Beleuchtung – der Boden bestand wieder aus jenen unregelmäßigen Steinen. Alle Pflanzen waren wieder auf ihren Stufen und ihr Duft hatte wieder eine normale, wenn auch nicht minder betörende Konsistenz angenommen.
Vor ihm stand ein älterer Mann, etwa einen Meter sechzig groß mit asiatischen Gesichtszügen und grau meliertem, glattem Haar. Er lächelte freundlich durch eine Brille mit relativ großen Gläsern.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« wiederholte der Mann. »Ich bin Mr. Chen.«
»Wer…? Was…? Wie… ummh…« stammelte Farell. »Ich bin – ich wollte… Blumen –«
Dann bekam er einen klaren Gedanken zu fassen. Er räusperte sich, und antwortete: »Guten Tag. Norman Farell. Ich – äh – wollte Blumen kaufen.« Ein verlegenes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Entschuldigen Sie bitte, Mr. Chen, aber ich bin immer noch ganz überwältigt von Ihrem hübschen kleinen Laden hier. Er scheint von innen viel größer zu sein als man von draußen vermuten würde.«
»Ja, ja«, antwortete Mr. Chen. Er nickte zustimmend, doch sein Lächeln hatte nun etwas Wissendes an sich – ein wohl behütetes Geheimnis. »So geht es den meisten Leuten, wenn sie betreten mein Geschäft zum ersten Mal.« Er ging hinter seinen Tresen, fischte von unterhalb der Arbeitsplatte einen großen Bogen durchscheinendes Papier hervor und breitete diesen darauf aus. Rechts davon stand eine Kasse, die wie ein gut gepflegtes Museumsstück aussah. Mr. Chen griff dahinter und kam dann mit einem Messer bewaffnet wieder nach vorn.
»Was für Blumen hätten Sie denn gerne?«
»Ich… ich bin mir nicht ganz sicher.«
»Für wen sollen sie denn sein – eine schöne Frau?«
»In der Tat, ja. Ich will sie meiner Freundin schenken.«
»Aha! Die schöne Frau ist schon Ihre!? Dann rote Rosen wären zu aufdringlich. Frauen dann meistens denken, der Mann sein nicht mehr treu. Ich empfehle weiße Rosen – weiß ist Unschuld. Cremeweiß ist auch okay, vielleicht Gelb oder zartes Rosa. Oder haben Sie einen besonderen Anlass?«
Farell dachte nach. Er kam zu dem Schluss: »Ja, es gibt tatsächlich einen Anlass. Ich muss ihr mitteilen, dass ich aus beruflichen Gründen nicht mit ihr auf das Konzert gehen kann, auf das sie sich schon so lange freut. Stattdessen möchte ich sie dazu überreden, mich nächste Woche auf die Geschäftsreise nach Europa zu begleiten.«
»Oh«, machte Chen, »schwierige Situation… Sie schenken Ihrer Liebsten oft Blumen?«
»Mmh, nein… zum Geburtstag, Valentinstag und zu anderen solchen Gelegenheiten. Und zwischendurch mal welche.«
»Besondere?«
»Wie bitte?«
»Sie schenken Ihrer Liebsten besondere Blumen? Zum Beispiel, wenn sich für etwas entschuldigen oder sie wollen zu etwas überreden?«
Wieder dachte Farell kurz nach. »Nein, eigentlich nicht. Meistens gehe ich in ein Geschäft – wie Ihres zum Beispiel – und suche mir einen schönen Strauß aus. Für harte Fälle – Sie wissen schon; wenn man mal was angestellt oder einen wichtigen Tag vergessen hat – da lasse ich mir auch schon mal einen besonders großen Strauß zusammenstellen.«
»Hmm, soso, aha.« machte Chen. »Sie kennen sich nicht gut aus mit schönen Frauen und schönen Blumen, ich habe das Gefühl. Wenn Sie wollen sie überzeugen von Ihrer Liebe, dass es Ihnen leid tut, dass es nicht anders geht und dass es auch anders gut ist als erwartet, ich gebe Ihnen einen guten Rat: Sie kaufen ihr Lieblingsblumen – aber nicht zu viele, das wirkt unglaubwürdig.« Chen nickte, mit erhobenem Zeigefinger, um diese Aussage zu bekräftigen.
Lieblingsblumen
»In diesem Fall«, entschied er sich, »nehme ich ein halbes Dutzend blaue Venus-Rosen. Da hätte ich eigentlich auch schon früher drauf kommen können – dann wäre sicher einiges einfacher gewesen.«
»Sehr gute Wahl.« sagte Chen. »Ihre Liebste hat einen ausgezeichneten Geschmack.« Er verschwand auf einem Pfad, ähnlich dem, auf dem Farell gekommen war, in den Tiefen des Ladens. Wenige Augenblicke später tauchte er wieder auf. In seiner Hand hielt er sechs Blumen, die exakt so aussahen, wie die in Normans Vorstellung. Chen ging hinter den Tresen, wickelte die Rosen in dem Papierbogen ein, den er zuvor dort ausgebreitet hatte, und tippte ein paar Tasten auf der alten Kasse.
»Das macht vierundzwanzig Dollar und dreißig Cents, bitte.«
Farell hielt ihm seine UniCard
»Vielen Dank, viel Erfolg und einen schönen Abend!« rief Mr. Chen ihm nach.
Er drehte sich noch einmal um. »Vielen Dank auch – auf Wiedersehen.«
»Der Ausgang ist dort drüben.« sagte Chen und wies mit einem Augenzwin- kern zu dem Ende der Lichtung, das dem gegenüber lag, an dem Farell den Verkaufsbereich betreten hatte.
Er winkte noch einmal und ging. Er hatte sich schon auf einen weiteren Trip durch den Dschungel dieses Ladens eingestellt, doch schon nach drei Schritten stand er vor derselben Tür, durch die er auch herein gekommen war. Verwundert schaute er sich um und sah hinter sich jetzt zwei Pfade durch die ausgestellten Pflanzen – den von wo er jetzt gekommen war, dahinter gerade noch die Lichtung, und den, den er beim Betreten genommen hatte. Kopfschüttelnd öffnete er die Tür und ging hinaus.
Beim Einsteigen sah er noch den Schriftzug im Schaufenster:
– Exotische Blumen und andere Pflanzen –
Inhaber: Chen Lee Hyu
›Fremde Welten…‹ dachte Farell, startete sein Fahrzeug und fädelte sich erneut in den Verkehr ein. Laut seinem Bordchronometer hatte sein Aufenthalt in Chens fremden Blumenwelten nur etwa zehn Minuten gedauert.
Die Sonne sank schon dem Horizont entgegen, als er die Einfahrt seines Vorstadthauses in DeVille hinauf fuhr. Das Licht hatte beinahe dieselbe goldene Farbe wie in Mr. Chens Blumenladen. Stephanie kam ihm schon entgegen gelaufen. Ihre dunkelblonden, schulterlangen Haare wehten hinter ihr her und in ihrem leichten, geblümten Sommerkleid sah sie einfach phantastisch aus.
»Hi, Norm«, begrüßte sie ihn fröhlich. »Ich muss dir unbedingt was erzählen. Ich...«
»Hi, Steph«, unterbrach er sie tonlos, umarmte sie träge und drückte ihr langsam einen Kuss auf die Lippen.
Sie schob ihn ein wenig von sich weg. »Stimmt was nicht, Norm? Du bist so seltsam.«
»Nein, es ist alles OK – fast alles … Ich muss dir etwas sagen …« Er zog sie ein Stück in Richtung des Wagens.
»Was denn, sag schon«, drängte sie. Sie hörte sich leicht besorgt an.
Er zögerte etwas. »Ich kann nächste Woche leider nicht mit dir auf das Konzert gehen, mir ist was dazwischen gekommen.«
»Das ist schade. Die Dwights wollten auch mitkommen und haben uns für hinterher auf eine Party eingeladen. Melissa und Carl wollen dann auch da sein.«
Melissa und Carl waren Freunde, die Stephanie in ihrem letzten Florida-Urlaub kennen gelernt hatte. Sie wohnten zufällig in Gary, einer Trabantenstadt von Chicago, die an die Ufer des Michigansees grenzte, also nicht allzu weit weg. Sie hatten seit diesem Zusammentreffen des Öfteren gemeinsam etwas unternommen. Mit Frank und Danielle Dwight war Norman schon seit mehreren Jahren gut befreundet. Es hatte sich zwischen ihnen der Brauch entwickelt, sich gegenseitig zu kleinen Grillparties oder zu anders gearteten Abendessen einzuladen. Dies war aufgrund der geringen Entfernung kaum problematisch – die Dwights wohnten nur zwei Häuser weiter auf der anderen Straßenseite.
»Hm, das ist wirklich schade«, sagte er mit bedauerndem Blick und zog sie weiter zum Auto hin. »Dazu kommt allerdings noch, dass du auch nicht hingehen kannst.«
»Und wieso nicht?« fragte sie stirnrunzelnd, während er durch das offene Fenster ins Innere des Hover-Car griff. Ihr Blick folgte seiner Bewegung. Sie war nun sichtlich verwirrt und hatte diesen hilflosen Ausdruck in den Augen, den er so an ihr liebte. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Was ist jetzt, warum grinst du so?«
»Weil ich dich liebe«, sagte er und zog seinen Arm wieder durch das Fenster zurück. Als sie die Rosen sah, erstrahlte ihr Gesicht schlagartig vor Freude, und sie fiel ihm um den Hals.
»Ich liebe dich auch«, sagte sie und küsste ihn. »Aber warum können wir nicht auf das Konzert gehen, hm? Ich hatte mich so darauf gefreut.«
»Weil ich geschäftlich in die Schweiz muss und du mitkommst – wenn du willst.«
»Dauert das wirklich die ganze Woche?« fragte sie skeptisch.
»Wahrscheinlich nicht, aber wir können ja noch ein paar Tage Urlaub am Genfer See machen. Die Kosten trägt die Gesellschaft, und außerdem habe ich dafür gesorgt, dass wir uns die Übertragung des Konzerts in HoloVision ansehen können.«
Sie gingen hinein und Stephanie programmierte den Nahrungsbereiter fürs Abendessen. Dann füllte sie Wasser in eine schlanke blaue Kristallvase und stellte die Venus-Rosen hinein. Sie war sehr glücklich in diesem Moment. Es passierte nicht oft, dass man seine Lieblingsblumen geschenkt bekam, erstrecht nicht, wenn man so ausgefallene Vorlieben hatte. Sie fühlte, dass er sie wirklich liebte, und – so sehr sie auch nach Zweifeln daran suchte – sie liebte ihn auch.
Norman saß im Sessel und sah sich auf dem in die Wand eingelassenen Großbild-Videoschirm die Tagesnachrichten an. Die Verhandlungen zwischen der australischen und der nordamerikanischen Regierung über die Eingliederung hatten bereits begonnen. ›Dann werden wir wohl in nächster Zeit eine Menge Arbeit bekommen‹, dachte er. In der neuen Forschungsstation der Asiatischen Allianz auf Titan waren zwei der fünf Generatormodule ausgefallen, so dass viele der weniger wichtigen Experimente abgeschaltet werden mussten, um die Lebenserhaltung aufrecht zu erhalten. Man hatte Reparaturtrupps aufgestellt, die die Ursache des Ausfalls feststellen und gegebenenfalls den Schaden beheben sollen.
Als Stephanie mit der Vase auf dem Weg zum Wohnzimmertisch an ihm vorbeikam, blieb sie unvermittelt stehen, legte ihren Kopf leicht schräg und runzelte nachdenklich die Stirn. Nach einigen Sekunden schüttelte sie den Kopf und stelle hastig die Vase weg. Dann kam sie zu ihm und setze sich ihm zugewandt auf seinen Schoß.
»He«
»Was ist, Liebling?«
»Norman, woher weißt du, dass blaue Venus-Rosen meine Lieblingsblumen sind?«
Das war eine berechtigte Frage, dachte er. Er hatte ihr schon oft Blumen geschenkt, und sie hatte sich jedes Mal darüber gefreut. Aber sie hatte ihm nie gesagt, welche ihre Lieblingsblumen waren. Und er würde nicht ohne guten Grund, nur aus einer Laune heraus, blaue Venus-Rosen kaufen, da diese eher selten und dementsprechend teuer waren. Er ließ seine Erinnerung zurückschweifen und rekonstruierte im Geiste die Situation beim Blumenhändler, als er die Blumen aussuchte. Dort, in jenem Augenblick war er sich sehr sicher gewesen, dass die blauen Rosen die richtigen Blumen für Stephanie waren, was ihn jetzt im Nachhinein gewissermaßen irritierte. Seine Gedanken begannen wirr um diese eine Frage zu kreisen. Er versuchte sich zu konzentrieren, doch ihm wollte keine glaubhafte Erklärung einfallen.
»I- ich weiß nicht«, stammelte er, »vielleicht habe ich ja telepathische Kräfte.«
Er wollte gewitzt klingen, doch der Versuch misslang – das konnte er in ihren Augen lesen. Als er nach ihr griff, als wolle er ihr mit seinen Händen die Gedanken aus dem Kopf saugen, hielt sie ihn mit sanfter Bestimmtheit auf Distanz. Auf sie wirkte er eher verstört, nervös; er hatte in diesem Moment etwas Seltsames an sich – etwas, was sie bisher noch nicht bemerkt hatte und das ihr einen kalten Schauer den Rücken herunterlaufen ließ. Sie wusste wie er genau, dass sie ihm gegenüber niemals blaue Venus-Rosen auch nur erwähnt hatte.
Um das Thema zu beenden und um sie beide etwas zu beruhigen, sagte Stephanie schließlich mit einem ehrlichen Lächeln, doch mit zweifelnder Stimme: »Na ja, ist auch egal. Ich liebe dich – egal was für 'Kräfte
Sie wollte gerade aufstehen, um das Abendessen fertig zu machen, doch er hielt sie fest, zog sie zurück und schaute ihr direkt in die Augen. Sie versuchte eine Zeitlang, seinem Blick standhalten, doch sie fühlte, wie eine gewaltige, warme Woge sie durchbrandete und sie darin zu ertrinken drohte. Anstatt sich zu retten, tauchte sie in die Wärme ein und spürte die Erregung in ihr aufsteigen. Auf einmal konnte sie nicht mehr länger an sich halten. Sie begannen sich wild aber zärtlich zu küssen, und kurz darauf lagen sie beide auf dem Bett im Schlafzimmer.
Diese Nacht verbrachten sie in wilder Ekstase. Während Stephanie dann endlich am frühen Morgen im zerwühlten Bett neben Norman einschlief, holte diesen die Realität ein. Er lag noch lange wach und starrte an die Decke, als stünden dort sämtliche Antworten auf seine Fragen. Die Geschichte mit den Rosen wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Irgendwann gewann jedoch die Müdigkeit auch über ihn die Macht, und er sank in einen ruhigen, traumlosen Schlaf, der bis in den späten Vormittag dauerte.
Sehr viel später als gewöhnlich standen sie an diesem Samstag auf und 'frühstückten'. Anschließend fuhr Stephanie zu ihrer Wohnung, um noch ein paar von ihren Sachen für die Reise zu holen. Sie wohnte zwar die meiste Zeit bei Norman, doch da es eine Eigentumswohnung war, wollte sie diese nicht aufgeben und behielt sie als eine Art Hintertürchen oder Zuflucht, die sie nutzen konnte, wenn sie mal allein sein wollte. Als sie das Haus verlassen hatte, nahm Norman seine Aktentasche zur Hand und studierte die Unterlagen über Gentex
Wie man dem Namen entnehmen kann, beschäftigte sich das Unternehmen intensiv auf dem Gebiet der Genforschung. Man suchte nach Veranlagungen für Krankheiten und Anfälligkeiten für solche, sowie nach Anzeichen für zukünftige organische Defekte, die die Gesundheit und die Lebensqualität bedrohen konnten. Für die meisten gab es inzwischen wirksame Therapien oder Heilungsmethoden. Doch man verfolgte das ehrgeizige Ziel, die Anzeichen für potentielle spätere Leiden bereits kurz nach der Zeugung im Erbgut des Embryos, bezie-hungsweise schon vorher bei den Elternteilen feststellen zu können. Sollte das gelingen, hofft man effektive Verfahren entwickeln zu können um diese genetischen Unstimmigkeiten korrigieren zu können.
Ein weiteres Betätigungsfeld von Gentex
Nachdem er sämtliche Prospekte, Tabellen und Grafiken durchge-blättert und dabei besondere Sorgfalt bei den Firmenbilanzen und Aktienkursen hatte walten lassen, schwirrte Farell ein wenig der Kopf. Er schlürfte schnell einen Espresso hinunter, zog sich an und ging eine Weile spazieren um frische Luft zu schnappen und seinen Kopf wieder etwas frei zu bekommen. Zwar ging er im Geiste die wichtigsten Fakten noch einmal durch, doch seine grauen Zellen enspannten sich unter dem Einfluss der wärmenden Sonnenstrahlen auf ein erträgliches Maß.
Bereits am späten Nachmittag kam er zeitgleich mit Stephanie wieder am Haus an. Er half ihr die Sachen hinein zu tragen, anschließend nahmen sie gemeinsam das Abendessen zu sich und zappten sich durch die Programme des Holo-Kanals. Sie konnten allerdings keine interessante Sendung finden, und so schalteten sie das Gerät ab und gingen zu Bett.
5
Als er in dieser Nacht das Stadium des REM-Schlafes erreichte, sprangen die Ziffern des Chronometers auf Norman Farells Nachttisch gerade auf 1:37am…
6
Es ist sehr kühl. Ein kräftiger Wind weht, der aufgrund der dünnen Atmosphäre jedoch kaum zu spüren ist. Er wirbelt rötlichen Staub vom von Felsen übersäten Boden auf und trägt ihn mit sich, um ihn viele Kilometer entfernt wieder abzulagern. Doch er erzeugt kein Geräusch – es ist merkwürdig still. Die Luft schmeckt nach Rost. In den Schatten der größeren Steine ist etwas zu erkennen, das wie Frost aussieht, eine winzige flüchtige Spur von Wasser an diesem sonst so trockenen Ort.
Er schaut auf. Der Himmel hat eine seltsame Farbe. Ein blasses gelb, durch das einige wenige Staubwolken und vereinzelte Dunstschwaden ziehen. Die Sonne scheint, doch sie scheint unnatürlich klein und kalt.
Dieser Ort ist ihm fremd. Er war niemals hier. Doch er weiß wo er sich befindet, denn er hat schon Bilder davon im Fernsehen gesehen.
Er dreht sich um, lässt dabei den Blick über die Landschaft gleiten. Eine Steinwüste, die sich bis zu den sanft ansteigenden und abfallenden Bergen am Horizont erstreckt und überall dieselbe rötliche Färbung aufweist. Plötzlich ändert sich das Bild. In einigen Meilen Entfernung schiebt sich eine seltsame Formation zwischen sein Auge und die Linie, die das Land zu seinen Füßen von den klaren Lüften des Himmelsgewölbes über seinem Kopf scheidet. Diese hebt sich durch ihre helle Farbe und ihre Form deutlich von der Umgebung ab. Sie wirkt irgendwie konstruiert, künstlich erschaffen.
Er geht darauf zu (er hat das Gefühl, getragen zu werden, denn er spürt nicht, dass seine Beine sich bewegen, wozu er auch nicht – zumindest nicht bewusst – den Befehl erteilt hat). Nach wenigen Augenblicken ist die Konstruktion wesentlich näher gerückt. Ihre Basis ist circa eineinhalb Kilometer lang, massiv und erinnert mit ihren schrägen Seiten ein wenig an die ägyptischen Pyramiden. Auf etwa einem Drittel ihrer Höhe befindet sich ein verhältnismäßig schmaler Absatz, über dem sich ein Gebilde erhebt, das ihn trotz seiner flachen und vor allem unausgeprägten Form an das Profil eines menschlichen Gesichtes erinnert.
Während er weiter darauf zugeht / getragen wird, löst sich ein Teil seines Verstandes von ihm ab, fährt wie im Zeitraffer auf das Bauwerk zu, um kurz davor senkrecht in den Himmel zu schießen. Aus einer Schwindel erregenden Höhe offenbart sich ihm ein vertrautes Bild. Er schaut auf ein Gesicht hinab, das
'Gesicht des Mars', das unweit einer Gruppe von fünfseitigen Pyramiden in der Cydonia-Gegend befindet, und das der Wissenschaft immer noch Rätsel aufgibt. Dann löst sich das Bild wieder auf und er steht nur etwa einen halben Kilometer vor dem Monument. Trotz seiner relativ geringen Größe erscheint es gigantisch.
Auf einem sanften Hügel auf halber Strecke zum 'Gesicht' steht eine Person in einem schwarzen Overall. Ihre Haut ist blass, das Haar dunkel, glatt und kurz. Sie winkt. Es muss ein Mann sein, der Figur nach. Doch obwohl er direkt in der Sonne steht, die von irgendwo hinten die Szenerie bescheint, wirft er keinen Schatten. Er sieht an sich hinunter, auch er hat keinen, genauso wenig hinterlässt er Fußspuren, während er sich vorwärts bewegt.
Als er wieder aufsieht, steht ihm der Mann direkt gegenüber. Er hält ihm eine Hand hin, die er zögerlich ergreift. Das Gesicht des Mannes ist freundlich, und seine Augen sind dunkel und tief, sie besitzen keine Regenbogenhaut.
[Hallo], sagt der Fremde ohne dabei die Lippen zu bewegen,
[ich habe dich bereits erwartet…]
…ohne Übergang befindet er sich plötzlich in einem anderen Traum, einem sehr angenehmen, in dem er heiße Liebe mit Winona und Stephanie macht.
7
Das Chronometer sprang auf 1:42am. Norman Farell drehte sich im Schlaf auf die andere Seite, während er von einem Traum zum anderen glitt. An letzteren würde er sich später gut erinnern, doch er würde ihn niemandem erzählen. Er sollte ihm allerdings noch oft nützlich sein, wenn Stephanie wieder 'ihre Tage' oder 'Migräne' hatte. Der erste Traum dieser Nacht schaffte es nicht einmal, in Farells Kurzzeitgedächtnis hängen zu bleiben. Das Einzige, das er von ihm behielt, war ein seltsam vertrautes Gefühl, eine Art Heimweh, das immer für den Bruchteil einer Sekunde über ihn kam, wenn er das berühmte erste Foto vom 'Gesicht des Mars' sah, das in seinem Spind im Fitnessstudio der Gesellschaft hing (das Bild hatte schon darin gehangen, als er ihn von seinem Vorgänger übernahm).
8
Am Sonntagmorgen packten sie seine Koffer und verstauten das Gepäck im Wagen. Zum Mittagessen gingen sie zum Italiener zwei Straßen weiter in Richtung der Stadtmitte. 'Da Leoni' war ihr Lieblingsrestaurant, weil die Speisen hier noch von Hand zubereitet wurden und nicht vom Automaten. Sogar die Teige für Pizzas und Pasta wurden selbst hergestellt. Die natürlichen, frischen Zutaten gaben den Gerichten eine Vielfalt von Nuancen im Geschmack, der in den meisten Fällen deutlich intensiver war, als bei künstlicher Nahrung. Hierhin war Farell mit Winona auch immer gegangen. Erst jetzt fiel ihm nach und nach auf, wie viel sie und Stephanie gemeinsam hatten. Beide liebten Pasta und Flashback
-Musik und beide hatten manchmal diesen faszinierenden hilflosen Ausdruck in den Augen. Und noch etwas verband sie: die Schweiz – allerdings mit dem Unterschied, dass Winona dahin verschwand, während Stephanie von dort kam. Das war vermutlich auch einer der Gründe, weshalb sie ihn nun dorthin begleitete.
Nachdem sie gegessen und bezahlt hatten (die Preise unterschieden sich trotz der Art der Zubereitung kaum von denen anderer Restaurants, was nach Farells Meinung ein großer Pluspunkt für 'Da Leoni' war), gingen Norman und Stephanie hinaus. Obwohl der Himmel nahezu wolkenlos war und die Sonne vom klaren Blau herabschien, war es ein wenig kühler geworden, und ein leichter Wind wehte. Stephanie warf sich ihre leichte Jacke über. Eigentlich war sie froh, dass sie in die Schweiz flogen, jetzt, wo das Wetter allmählich etwas rauer wurde und der Herbst sich ankündigte. Zwar würde es dort diesbezüglich nicht gerade besser sein, doch die Vorstellung, ihre Heimat wieder zu sehen, brachte gegenüber der bevorstehenden Reise eher gute Gefühle mit sich.
Sie schlenderten Richtung Park, um noch eine Weile spazieren zu gehen – auch eine von Winonas Leidenschaften, wie sich Norman erinnerte. Unterwegs besprachen sie, wie sie die verpasste Party mit den Dwights nachholen konnten. Sie entschieden sich, die beiden für den Samstagabend nach ihrer Rückkehr einzuladen. Stephanie bestand darauf, auch Melissa und Carl Bescheid zu sagen, da sie sich seit längerem nicht mehr gesehen hatte und ihr die letzte Möglichkeit durch die Reise genommen war. Da Norman wusste, dass dies quasi seine Schuld war, willigte er ein. Er hob den Blick. Hinter den seichten Hügeln am Ende der Anlage erhoben sich in der Ferne die mächtigen Bauten der großen Stadt. In kurzer Zeit würde sich die untergehende Sonne in den Fenstern spiegeln und die Landschaft in ein unwirkliches gelbes Glühen hüllen.
Als sie circa zwei Stunden später wieder zu Hause waren, zogen sie sich um und fuhren zum Flughafen. New O'Hare war neben dem LA-Airport der modernste Flughafen in Nordamerika. Er war direkt neben den alten gebaut worden, als dessen Kapazitäten sich erschöpft hatten. Auf dem ursprünglichen Flughafengelände war ein Luftfahrtmuseum eingerichtet, und das alte Terminalgebäude war in seinem Originalzustand belassen worden. Die Hauptattraktion waren eine 747B, eine vergrößerte Version der 747 mit neuerer Triebwerkstechnik, und deren Nachfolger 'Sonic 7', die als erstes Flugzeug nach der Concorde den Überschallflug zu erschwinglichen Preisen und mit wirtschaftlichen Passagierzahlen möglich machte.
Dort angekommen, lenkte Norman das Hover-Car zum Parkhaus. Sie stiegen aus, holten ein SuitCab und beluden es mit ihrem Gepäck. Danach steuerte er das Auto auf die Plattform, von wo aus es der Parkautomat zu einem freien Parkplatz transportieren würde. Diese Art von Parkanlage war nur für Langzeitparker gedacht, weil sie weniger Platz in Anspruch nahm als herkömmliche Parkplattformen. Außerdem würde sonst der Roboter überlastet, der die Fahrzeuge an mehreren Plattformen auf verschiedenen Ebenen abholt und zurückbringt. Norman hatte diese Einrichtung schon oft genutzt, da er häufig in Europa und auch in Mittelasien geschäftlich unterwegs war.
Als er seine UniCard
in die Konsole steckte, wurde automatisch ein Parkauftrag erstellt, und im selben Moment fuhren zwei Schienen, auf denen die Räder des Hover-Car standen, lautlos vor. Der Transportarm des Roboters, der an ein Gerät erinnerte, das vor der Entwicklung der Antigrav-Lifter zur Bewegung größerer Lasten benutzt wurde, übernahm es und brachte es schnell an seinen Platz. Dann gab der Automat die Karte wieder frei. Norman steckte sie ein, und gemeinsam gingen sie zum Einchecken ins Flughafengebäude.
Die Formalitäten waren schnell abgehandelt. Die Tickets waren bereits von der Gesellschaft hinterlegt worden und die Gepäckaufgabe ging aufgrund der vollständigen Automatisation, ähnlich wie beim Parkhaus, binnen kürzester Zeit von statten.
Da sie noch etwa eine halbe Stunde Zeit hatten, bis sie ihre Plätze in der Maschine einnehmen konnten, gingen sie im Flughafen-Café noch einen Cappuccino trinken. Sie unterhielten sich gerade über die möglichen Unternehmungen, die sie während ihres Kurzurlaubs machen könnten, als Norman plötzlich mitten im Satz zusammenzuckte und beinahe seine Tasse vom Tisch warf.
Ein greller Blitz durchzuckt für den Bruchteil einer Sekunde seinen Geist, gefolgt von einer rasend schnellen Folge wirrer Bildfetzen. Er sieht Gesichter, die er nicht kennt, Orte an denen er niemals war – Erinnerungen (?), die nicht seine eigenen sind. Dann ist für einen kurzen Moment alles schwarz…
Er kam wieder zu sich, fühlte, wie er sich krampfhaft am Bistrotisch festhielt und lockerte den Griff. Dann sah er Stephanie neben sich, die zu Tode erschreckt und sehr besorgt aussah. ›Norman…?‹ Sie übte mit einer Hand einen sanften Druck auf seine linke Schulter aus, während sie mit der anderen Hand seine eigene umklammerte. ›Norman, was ist los?… Geht’s dir nicht gut…?‹ Sie bemühte sich, zu ihm durchzudringen
Er versuchte sich zu orientieren und bemerkte ein seltsames feuchtwarmes Gefühl, das sich auf seinem Oberschenkel breit machte – sein Cappuccino hatte sich fast über den ganzen Tisch verteilt und tropfte nun auf seine Hose. Er schüttelte die Benommenheit von sich ab, sah sie an und gab ihr einen Kuss.
»Kein Grund zur Sorge«, sagte er, »ich bin O.K. Es war wohl nur ein kurzer Blackout.«
»Aha«, machte Stephanie. »Nur ein kurzer Blackout. Na, wenn du das sagst.« Sie klang noch sehr skeptisch.
Er schaute sich um, ob vielleicht jemand seinen Anfall (war es wirklich einer, oder was hatte es damit auf sich?) bemerkt hatte, doch alle Menschen in der Nähe gingen ihren eigenen Dingen nach. Er suchte nach einer Erklärung für das Geschehene, konnte sich aber nicht einmal mehr an irgendwelche Details erinnern.
»Wenn es dich beruhigt«, sagte er dann zu ihr, »werde ich mich in der Schweiz einmal durchchecken lassen, hm?« Er gab ihr noch einen Kuss und begann, mit einer Handvoll Servietten das warme Getränk von seiner Kleidung zu entfernen. In diesem Moment war er froh darüber, dass er vorhin den neuen Anzug aus Schmutz abweisendem Material angezogen hatte und nicht einen der hellen, aus denen man solche Flecken nicht so schnell wieder herausbekam.
»Na gut«, stimmte Stephanie etwas erleichtert seinem Vorschlag zu. »Lass uns das vorerst vergessen und unseren Urlaub genießen.«
›Arme Steph‹, dachte Farell. ›Für dich muss das alles genauso verwirrend sein, wie für mich.‹
Denn er hatte immer noch keine plausible Erklärung gefunden; nicht einmal für sich selbst. Auch ahnte er nicht, dass es vorher schon ähnliche Vorfälle gegeben hatte, denn diese waren immer nachts aufgetreten und er hatte sie entweder als Träume abgetan oder gar nicht bemerkt.
Eine weibliche Stimme forderte sie freundlich über die Lautsprecher auf, sich zu dem ihrem Flug zugewiesenen Gate zu begeben und dort auf den Einlass ins Flugzeug zu warten, der binnen wenigen Minuten erfolgen würde.
Norman und Stephanie standen auf und folgten dem System der Wegweiser zu ihrem Gate. Durch das Fenster konnten sie die Maschine schon sehen; draußen stand eines der modernen großen Flugzeuge, die man fast schon als Nurflügler bezeichnen konnte. Durch die Fenster, die sich fast ausschließlich im Kabinendach befanden, konnte man sehr gut den freien Himmel betrachten. Auf den zwei schrägen Heckleitwerken dieser Maschine prangte das Logo der Northern Hemisphere
.
9
Farell rutschte unruhig in seinem Sitz hin und her. Ein flaues Gefühl hatte sich seit kurz nach dem Start langsam in seiner Magengegend breit gemacht. Eigentlich hatte er bis heute noch keine Probleme mit der Fliegerei gehabt, und er überlegte, was an dieser Reise anders war, das seinen Zustand erklären könnte. Ihm war jedoch bis jetzt noch nichts eingefallen, und die Pille, die er sich von einer der Flugbegleiterinnen hatte geben lassen, verfehlte ihre Wirkung; falls sie überhaupt irgendwie wirkte.
Das schwache, unterschwellige Summen, das ihm vor ein paar Minuten aufgefallen war, trug auch nicht gerade zu seinem Wohlbefinden bei. Zunächst hatte er geglaubt, dass etwas mit der Maschine nicht stimmte – heutzutage hörte man im Innenraum gerade einmal soviel, wie psychologisch nötig war, um den Fluggästen ein Gefühl der Fortbewegung zu vermitteln.
Mittlerweile war das Brummen jedoch langsam in der Tonhöhe gestiegen und hatte etwas an Lautstärke zugenommen, sodass es sich deutlicher von den 'Fluggeräuschen' abhob. Nachdem er sich mehrere Minuten lang darauf konzentriert hatte, stellte er fest, dass es ihm mehr wie eine schwache Vibration vorkam, die er im Innern seines Schädels spürte, als irgendein vom Flugzeug erzeugter Ton, den er mit den Ohren wahrnahm.
Er drehte sich zu Stephanie um, die neben ihm am Fenster saß und das Musikprogramm der Airline über Kopfhörer ausprobierte. Er tippte sie sanft an der Schulter an und sie nahm einen der Hörer vom Ohr.
»Schatz, mir ist unwohl; ich gehe kurz auf die Toilette, um mich ein wenig zu erfrischen.«
»Ja, ist gut «, antwortete sie flüchtig, setzte den Hörer wieder auf und wandte sich dem Bedienelement zu.
Farell erhob sich aus seinem Sitz, trat auf den Gang zwischen den Reihen und wandte sich nach hinten. Schon nach wenigen Schritten geriet er ins Wanken; das leise Summen hatte sich plötzlich in ein seltsam brausendes Geräusch gewandelt und begann ohne Vorwarnung sein Gehirn zu durchdringen. Sein rechtes Bein knickte unter ihm weg und er fing sich gerade noch an einer der Rückenlehnen auf, bevor er auf dem Boden landete. Ein kleines Mädchen, das gerade ein Videospiel aus dem Sortiment der Fluggesellschaft spielte, blickte sich erschrocken nach ihm um, und ihre Augen wurden noch größer, als sie Farells verwirrter Blick aus einem aschfahlen Gesicht traf, auf dessen Stirn sich kleine Schweißperlen gebildet hatten.
Während Farell nach Luft schnappend versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, bekam er am Rande mit, wie sich das Mädchen hastig zu seiner Mutter umdrehte (›Mami, der Mann da ist krank; Er sieht ganz schlimm aus…‹). Doch als diese sich nach ihm umsah, ging er schon wieder – wenn er sich auch stark darauf konzentrieren musste – aufrecht den Gang hinunter. Die Frau versuchte, ihre quengelnde Tochter wieder zu beruhigen (›Dyna, der Mann ist wahrschein- lich nur gestolpert; Es geht ihm gut, es ist nichts passiert…‹).
Plötzlich wirbelte ein leichter Wind durch seinen Verstand (so kam es ihm zumindest vor), er strauchelte und fiel gegen die Wand zum Toilettenabteil.
»Geht es ihnen nicht gut?« fragte ein älterer Fluggast links neben ihm, während sich sein Magen verkrampfte.
›Das ist nicht normal‹, dachte er, als er dem Mann antwortete, er sei O.K. Bis heute hatte er auf keiner seiner Geschäftsreisen Probleme gehabt, egal wohin er geflogen war.
Er öffnete die Toilettentür und schloss sie ganz schnell wieder hinter sich, denn sein Magen drehte sich komplett um, als das Brausen in seinem Kopf mit einem Mal zu einem Stimmengewirr anschwoll, das auf keinen Fall aus dem Flugzeug kommen konnte. Er konnte gerade noch den Deckel des WC's hochklappen, bevor er sich übergab.
Wenige Minuten später, die Farell wie eine halbe Ewigkeit vorkamen, hatte sich sein Magen soweit beruhigt, dass er wieder aufstehen konnte. Auch das Summen und der Sturm in seinem Kopf waren verschwunden. Er stützte sich auf das geschlossenen Klo (er konnte sich schemenhaft daran erinnern, gespült und den Deckel heruntergeklappt zu haben) und hangelte sich zum Waschbecken hinüber. Gebeugt und sich abstützend stellte er das Wasser an und schöpfte dann mit beiden Händen aus dem Strahl.
Nachdem er den Mund ausgespült und ein paar Schluck getrunken hatte, wusch er sich das Gesicht. Das kühle Wasser erfrischte ihn und trug sehr zu seinem Wohlbefinden bei.
Als er sich aufrichtete und sein Blick in den Spiegel fiel kehrte augenblicklich die Übelkeit zurück; doch er schaffte es, sie unter Kontrolle zu behalten, obwohl ihn das, was er sah (oder zu sehen glaubte) sehr verwirrte.
Eine Schaufensterpuppe. Sie trägt einen langen Mantel mit asymmetrischem Stehkragen, einem breiten und einem schmalen Revers, hinter dem eine Knopfreihe zu sehen ist. Auf dem Kopf trägt sie einen Hut, der analog zum Mantel geformt und aus demselben Material gefertigt ist. Um den Hals hängt ein leichter Schal, dessen Farben und Muster zur kommenden Jahreszeit passen. Das Bild gleitet nach oben (die Beine der Puppe tauchen unter dem Mantelsaum hervor) und verschwimmt in den Hintergrund. Ein Spiegelbild zeichnet sich undeutlich auf der vom leichten Regen benetzten Scheibe ab. Eine junge Frau nähert ihr Gesicht der Scheibe und überprüft den Halt ihrer Frisur, die von einem schwachen Wind durchwühlt wird. Neben ihr steht (ihre Freundin?) eine andere weibliche Person, die etwas über Beziehungsprobleme erzählt. Das Gesicht der Frau kommt Norman bekannt vor – er muss sie schon einmal irgendwo gesehen haben.
[Oh, schau nur, sind diese Schuhe nicht toll?] Der Blick gleitet nach rechts, eine Hand kommt ins Bild, die durch die Scheibe auf ein Paar Schuhe auf einem niedrigen Sockel deutet.
[Spinnst du?! Die sind bestimmt viel zu teuer.] antwortet die Frau ihrer Begleiterin.
Er blinzelte und sah wieder sein eigenes Gesicht im Spiegel der Flugzeug- toilette, sah seinen entsetzten Gesichtsausdruck und schloss sofort seinen Mund und seine Augen. Als er diese wieder öffnete, waren die Übelkeit und der Schwindel verflogen. Ein plätscherndes Rauschen drang in sein Bewusstsein, und als er erkannte, was es war, drehte er schnell den Hahn zu, trocknete seine Hände ab und verließ die Kabine in Richtung seines Sitzplatzes.
»War wohl doch etwas Ernsteres?« vermutete der ältere Herr von vorhin. »Sie waren ja ganz schön lange da drin.«
»Ja«, gab Farell verlegen zu. »Mir war nicht ganz wohl; passiert mir sonst nie… Aber jetzt geht es mir wieder besser.«
»Da bin ich aber beruhigt – ich hatte mir schon Sorgen gemacht.«
»Nicht nötig«, sagte Farell. »Alles wieder im grünen Bereich – trotzdem danke der Nachfrage.«
Er verabschiedete sich und kehrte zu seinem Platz zurück. Stephanie hatte seine lange Abwesenheit gar nicht mitbekommen (wie lange war er eigentlich weg gewesen? Er schaute auf die Uhr – ungefähr eine Viertelstunde, plusminus – und beschloss, diesen Vorfall vorerst zu vergessen). Sie hatte inzwischen die Europa-Nachrichten auf einem der HV-Kanäle eingeschaltet und verfolgte die aktuellen Geschehnisse. Am Rande bekam er mit, dass auf Titan der dritte Generator auszufallen drohte, und die Energieversorgung in den peripheren Teilen der Station kurz vor dem Zusammenbruch stand. Während man dort nun weitere Versuche abbrach und die Besatzung in die zentralen Abschnitte evakuierte, liefen auf Terra erste Vorbereitungen für den Start eines Versor- gungsschiffes. Als er sich setzte, drehte sie sich zu ihm herum und runzelte die Stirn.
»Geht es dir nicht gut?« erkundigte sie sich. »Du siehst blass aus.«
»Wirklich? Ich fühle mich prima.« log er. Dieses Erlebnis hatte sich in sein Denken eingenistet und wollte sich allem Anschein nach auch nicht so schnell von dort vertreiben lassen.
10
Circa fünfundvierzig Minuten später landeten sie auf dem Genfer Flughafen. Außer einem fahlen, ausgelaugten Gefühl im ganzen Körper, leichten Kopfschmerzen und wahrscheinlich einigen schlechten Träumen hatte der Zwischenfall bei Farell nichts zurückgelassen.
Das Wetter hier war nicht so gut wie zu Hause. Es regnete von einem fast massiven grauen Himmel herunter, und dazu wehte ein Wind, der das Wasser regelrecht durch die Kleidung hindurch drückte. Zum Glück mussten sie sich nicht allzu lang im Freien aufhalten um ein Taxi zu bekommen.
Die halbstündige Fahrt verlief relativ ereignislos. Jeder ging seinen eigenen Gedanken nach. Stephanie machte sich zunehmend Sorgen um die Gesundheit – und unterschwellig auch schon um den Geisteszustand – ihres Freundes. Norman hingegen versuchte in den seltsamen Ereignissen der letzten Tage einen Sinn zu finden. Oder zumindest eine Art Muster. Doch bei dem Versuch blieb es vorerst. Die einzige 'heiße Spur', die er glaubte gefunden zu haben, schob er auf ein gedankliches Abstellgleis. Sie war einfach zu absurd um sie im Augenblick weiter zu verfolgen.
Im Radio wurde gerade wieder über die Verhandlungen zwischen Nordamerika und Australien berichtet. Neu Seeland, das erst vor relativ kurzer Zeit dem Vereinigten Australien beigetreten war, stellte sich bei den wichtigsten Fragen quer. In der titanischen Forschungsstation war in einem der Lagerberei- che die komplette Energieversorgung ausgefallen. Inzwischen kamen die ersten Vermutungen über mechanische Sabotage oder einen Virus im Steuersystem auf. Außerdem hatte es auf dem Mars-Mond Deimos eine Explosion gegeben, die eine halbe Bohrstation zerstörte; glücklicherweise hielten sich zum fraglichen Zeitpunkt keine Arbeiter im betroffenen Bereich der Anlage auf.
Von all diesen und weiteren Neuigkeiten bekam Farell jedoch kaum etwas mit; er war zu abgelenkt, um sich auf die französische Sprache der Nachrich- tensprecher und Reporter konzentrieren zu können.
Bei der Ankunft im Hotel ging es Farell schon wesentlich besser. Nachdem sie eingecheckt, das Gepäck im Zimmer verstaut und sich etwas frisch gemacht hatten, gingen sie ins Restaurant im Erdgeschoss, um zu Abend zu essen. Beide versuchten hin und wieder, das nur schleppend verlaufende Gespräch auf die Vorkommnisse während der Reise zu lenken. Keiner von Ihnen war jedoch in der Lage seine Gedanken dem entsprechend zu ordnen, geschweige denn sinnvoll zu formulieren, und so beschlossen sie, erst einmal eine Nacht darüber zu schlafen. Sie verzichteten auf den Film, der an diesem Abend im Holo-Kanal übertragen wurde und gingen direkt ins Bett, damit sich ihre Körper an die hiesige Zeitzone und die örtlichen Wetterverhältnisse anpassen konnten. Die Nacht blieb ruhig, und weder Norman noch Stephanie wurden von unange- nehmen Träumen geplagt.
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2009
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