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L E S E P R O B E




Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden
Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.


erschienen als Taschenbuch und eBook im AAVAA Verlag


Geboren aus den Wirbeln der Zeit,
zu bringen Harmonie zwischen Chaos und Ordnung
und zu dienen der Schöpfung immerfort.

Geboren aus dem Feuer der Liebe,
das der Glaube hervorgebracht,
zu erringen den Beistand und die Zuneigung.
Doch verloren ist, was einst Hader erschuf,
und nun ist unbekannt der Ort.

Die Seele des Feuers ist erwacht.

Mächtige Geheimnisse führen durch Nebel und Dunkelheit,
getrieben in das Höllenreich des Augenblicks,
zu lernen, was es heißt – Leben und Tod.

Die Seele des Feuers brennt.

Doch geformt muss werden, was die Unendlichkeit verlor,
denn das Ende ist der Anfang,
zu führen alle gemeinsam ins Reich der Einigkeit.

Das Schwert des Feuers lebt.




Wolf im Schafspelz



Es war ein heißer Sommertag in der Hafenstadt Deir al-Bahri. Die Sonne stand im Zenit. Viele Raukarii flohen vor der ansteigenden Mittagshitze in ihre kühlen Häuser oder suchten Schatten unter den vereinzelten Bäumen. Einige Bewohner verbrachten diese Tageszeit auch gerne im Hafen. Die salzige Seeluft wehte von Westen angenehm erfrischend durch die vielen Docks, Kais und umliegenden kleinen Gassen und Häuserschluchten. An jenem Ort lungerten die finstersten Gestalten herum, vom Piraten, über Söldner, bis zum einfachen Matrosen und deren oft zweifelhaften Offizieren, sogar einige Kapitäne. Die feinen Bürger von Deir al-Bahri, die nicht sehr zahlreich waren, bewohnten das äußere Händlerviertel. Stadtwachen durchstreiften diese Gegend, doch auch unter ihnen gab es zwielichtige Zeitgenossen, deren Schweigen man sich ohne Weiteres für einige Edelsteine erkaufen konnte. So vermochten Halunken auch in der vornehmeren Gegend in Ruhe ihren Geschäften nachzugehen, ohne Gefahr zu laufen, mit einer Verhaftung – oder im schlimmsten Fall mit dem Tod durch den Strick – rechnen zu müssen.
Die beiden Kompagnons Haldnar und Iorel jedoch ließ diese Bedrohung kalt, sie hatten keine Angst vor den Stadtwachen. Sie kannten die Stadt und ganz besonders den Hafen wie ihre eigene Westentasche. Beide waren hier aufgewachsen und hatten über die Jahrhunderte eine gute Nase für spezielle Geschäfte entwickelt. Das war auch der Grund, warum sie in der glühend heißen Mittagshitze durch die Straßen zogen und eine ganz bestimmte Taverne ansteuerten.
Haldnar und Iorel waren Raukarii. Die Raukarii waren ein langlebiges Volk mit spitzen Ohren, brauner Haut, roten Haaren und bernsteinfarbenen Augen. Angehörige jenes Volkes waren in Zanthera als äußerst ausdauernd, agil, gerissen und vor allem als gefährliche und geschickte Krieger bekannt, was auf ihre streitsüchtige Vergangenheit zurückzuführen war. Sie sahen sich als das einzig wahre Volk, welches das Recht besaß, Zanthera für sich allein zu beanspruchen. Daher wunderte es keinen Raukarii, dass Leven’rauka – ihre Heimat – von Übergriffen der Menschen oder ihrer verhassten Feinde, den Iyana, verschont blieb. Allerdings dachte sowieso kein Bewohner der sehr weit südlich liegenden Handelsstadt an die Feinde im Norden.
„Bist du dir auch wirklich sicher? Ich will mich ja nicht beklagen, aber Llynmeh war schon immer geizig“, meckerte Iorel leise vor sich hin, während sie die Abkürzung durch eine Seitengasse nahmen, in der sie im Schatten der niedrigen Häuser beinahe unsichtbar wurden. Iorel war Haldnars Stellvertreter und Freund und machte keinen Hehl aus seiner wachsenden Skepsis. Sie befanden sich auf dem Weg zu einem Treffen mit einem Nekromanten. Diese kleine Gruppe Magier genoss zwar großes Ansehen unter den Schurken, war aber stets mit Vorsicht zu genießen. Nicht einmal die Aussicht auf eine gute Entlohnung half dieses Mal Iorels Zweifel auszuräumen.
Haldnar blieb stehen und sah seinen Freund, der einen Kopf kleiner war als er und dessen rotes Haar ungewaschen und lang über die Schultern fiel, scharf an. In der braunen Wildlederhose und dem beigefarbenen Baumwollhemd gab Iorel eine gute Figur ab. Sein Kurzschwert prangte am Gürtel, und einige Dolche hatte er in den Stiefeln versteckt, wie jeder, der ihn kannte, nur zu gut wusste. Iorel stand manchen Dingen gerne kritisch gegenüber, neigte jedoch im Gegensatz dazu, zu euphorisch zu sein. Die Freunde kannten sich schon ein Leben lang, hatten gemeinsam viel erlebt und vertrauten daher einander blind.
„Natürlich bin ich mir sicher, Volltrottel“, zischte Haldnar und lief augenblicklich weiter. „Llynmeh hat uns … oder eher mir … ein großes Ding versprochen, den Rest schaukle ich auf meine Weise.“ Damit war die Sache für ihn vorerst erledigt.
„Schon gut, hab’s ja nicht so gemeint“, gab Iorel klein bei, da er bei Haldnars Wutausbrüchen oft den Kürzeren zog, eilte ihm hinterher, schnaubte noch einmal beleidigt und beobachtete den anderen aus den Augenwinkeln.
Sein Freund bot mit den kurzen Haaren und dem stattlichen Körperbau ein beeindruckendes Bild. Er war geschickt im Umgang mit Waffen, besaß Köpfchen und hatte immer einen Plan in der Hinterhand. Im ledernen Waffengürtel um seine Hüfte steckte ein prächtiges Langschwert aus vielfach gehärtetem Stahl, verziert mit einem blauen Edelstein im Knauf. Es war Haldnars wertvollster Besitz, den er vor zwanzig Jahren einem tapferen Raukariikrieger bei einem brutalen Überfall vor den Toren der Stadt gestohlen hatte. Das war auch ein Grund, weshalb er es stets bei sich trug und selbst im Schlaf nicht ablegte.
Haldnar achtete nicht auf seinen Stellvertreter und marschierte unbeirrt weiter, diesmal einen Schritt schneller. Schon alleine sein Stolz ließ die Bemerkung nicht gelten, dass er sich in einem Geschäft geirrt haben könnte. Immerhin war er der Anführer der größten ansässigen Räuberbande Deir al-Bahris, und keiner seiner Schurken war bisher geschnappt worden. So sollte es auch künftig bleiben. Sie konnten zurzeit keinen Ärger gebrauchen, aber genau dieser war seit einigen Wochen ein ständiger Begleiter, was den Dieben noch den letzten Nerv raubte. Die Gruppenstärke der Stadtwache, die auf jeden Fingerzeig der Bewohner achtete und sofort zuschlug, war aus einem ihnen noch unbekannten Grund vergrößert worden. Das bedeutete für die Diebe, noch vorsichtiger vorgehen zu müssen als sie es ohnehin schon taten.
Der Nekromant, mit dem sie sich treffen wollten, war zwar ein guter Sozius, und die beiden Schurken trafen sich nicht zum ersten Mal mit ihm um Geschäfte abzuwickeln, aber Llynmeh war und blieb ein merkwürdiger Zeitgenosse, der keinerlei Späße verstand. Er gehörte dem geheimnisvollen Nekromantenzirkel der Stadt an. Dort wurden abnorme Dinge getan, von denen niemand etwas Genaueres wissen wollte. Aber dieser Geheimbund entlohnte außerordentlich gut für gestohlene Ware und nur das zählte letztendlich.
Die Hafenstadt Deir al-Bahri war nicht nur die erste Anlaufstelle für Banditen, sondern besaß auch die beste Magierschule des Landes. Raukarii aus weit entfernten Ecken von Leven’rauka kamen hierher, um Bannzauber, Beschwörungen, Illusionen, Verwandlungen oder ganz besondere Bereiche der Magie bis zur Perfektion zu studieren. Nur eine Form der Zauberkunst wurde nicht gefördert und vor allem nicht geduldet: Nekromantie, die Kunst Leben zu manipulieren, zu erschaffen und zu zerstören. Unablässig und mit aller Härte wurden jene Magier, die diesen dunklen Pfad betreten hatten, aufgespürt und bestraft, entweder mit lebenslanger Verbannung oder mit dem Tod. Jedoch gingen einige bei ihrer entarteten Kunst so geschickt vor, dass man ihnen kaum etwas nachweisen konnte. Genau diese Nekromanten hielten sich bevorzugt und in aller Heimlichkeit im Hafenviertel auf. Die hier vor Anker liegenden Koggen, Schoner und Dreimaster kamen vom Norden und von den Inseln im Süden Leven’raukas und brachten außergewöhnliche Dinge für spezielle Experimente oder den täglichen Gebrauch mit, hin und wieder sogar billige Sklaven, die zuweilen unerlässlich für ihre Arbeit waren.

Nach einigen Minuten Weg durch die Gassen saßen Haldnar und Iorel dem Nekromanten an einem kleinen Tisch in der hintersten Ecke der Taverne Zum Spielmannsfluch gegenüber. Trotz des Sonnenscheins draußen waren die Fenster verhängt und der Raum aufgeheizt durch das Küchenfeuer. Sie kauerten über drei Bechern billigen Weißweins, und Llynmeh berichtete leise, weswegen er die beiden hergebeten hatte.
„Die alte Hexe Myrvoda ist diesmal zu weit gegangen“, informierte sie Llynmeh. „Sie hat unserem Anführer einen kostbaren Gegenstand gestohlen und mit Vergeltung gedroht, wenn jemand aus unserem Zirkel dieses Objekt zurückholt. Doch hat sie nichts dazu gesagt, was passieren würde, wenn jemand anderes ihn ihr wieder unter der Nase wegstiehlt. Das bringt mich nun zu euch.“ In Llynmehs Stimme lag eine gewisse Anspannung. Die Kapuze seiner dunklen Robe hatte er tief ins Gesicht gezogen, sodass seine Verhandlungspartner das spöttische Lächeln nicht sahen.
Llynmeh war ein Raukarii mittleren Alters und für sein Volk von außergewöhnlich hoher Statur, größer noch als Haldnar. Er hatte lange dürre Finger und stets einen grimmigen Gesichtsausdruck, welcher ihm frühzeitig tiefe Falten um die Augen herum beschert hatte und seinen Blick noch jähzorniger erscheinen ließ. Nur wenige kannten sein wahres Gesicht, denn meistens starrten nur zwei arglistig funkelnde Augen aus dem Schatten seiner Kapuze sein Gegenüber an. Ein eigenartiger Geruch von Moschus und Weihrauch begleitete ihn ständig.
„Wenn ich das richtig verstehe, soll dieser Gegenstand zurückgeholt werden, und zwar von einem Raukarii, der kein Magier ist?“, hakte Haldnar nach.
„So ist es“, entgegnete Llynmeh kühl. „Myrvoda ist unserem Anführer schon länger ein Dorn im Auge, obwohl ihre Macht unserer weit unterlegen ist. Aber mit Hexenmeistern sollte man dennoch vorsichtig sein, wie uns der jüngste Vorfall gezeigt hat. Myrvoda ist verschlagen und kramt in Dingen herum, von denen sie besser die Finger lassen sollte. Und wie ich schon sagte, hat sie diesmal ihre Nase zu tief hineingesteckt.“
„Dafür muss aber einiges für mich und meine Jungs rausspringen“, gab der Bandenführer sofort zu verstehen und erhaschte in den Augenwinkeln ein bestätigendes Kopfnicken Iorels.
„Ihr besorgt mir das Artefakt und erhaltet vom Zirkel zwanzig Säcke Edelsteine. Keine Halbedelsteine, sondern die kostbaren. Das müsste als Belohnung genügen“, erklärte Llynmeh ohne Umschweife. „Außerdem könnt Ihr euch nehmen, was ihr bei der alten Hexe findet, solange ihr mir das Artefakt bringt.“
Was Haldnar und seine Männer dort finden würden, konnte ohnehin kaum von Belang für den Magier sein, und Edelsteine besaß der Nekromantenzirkel reichlich, nur der gestohlene Gegenstand musste dringend wiederbeschafft werden. Am Ende würde eine große Belohnung seines Meisters auf ihn warten und alleine das zählte.
„Die Bezahlung klingt vernünftig“, befand Haldnar, schaute dabei zu Iorel und erinnerte ihn mit einem Fußtritt unter dem Tisch an ihr vorangegangenes Gespräch. Sein Freund nickte und blickte anschließend beschämt in den Weinbecher. Die Entlohnung war mehr als ursprünglich angedacht und absolut ausreichend.
„Jetzt sagt mir aber zuerst, um was für ein Artefakt es sich handelt, bevor ich mich auf Euer Geschäft einlasse!“ Haldnar verspürte kein großes Verlangen danach sein eigenes Verderben heraufzubeschwören. Immerhin raubten er und seine Männer nicht jeden Tag eine Hexe aus, die den Gerüchten zufolge sehr viel Macht besaß.
„Es handelt sich um einen Ring, aber nicht irgendeinen x-beliebigen. Er besteht aus Silberarcharid, welches in den Minen des Brin-Krian Gebirges abgebaut wird“, erklärte Llynmeh und beobachtete den Bandenführer, der selbstverständlich nicht wusste, was daran so außerordentlich war. Um die Wichtigkeit des Ringes noch weiter hervorzuheben, fügte der Magier verschwörerisch hinzu: „Silberarcharid sieht aus wie Silber und ist doch härter als Stahl. Dieses Metall eignet sich gut für Beschwörungen aller Art und wird häufig für starke Magie benutzt. Unser Anführer hat dieses Schmuckstück mit einem Zauber belegt, der für uns Nekromanten sehr wertvoll ist. Zu erkennen ist er an den eingravierten Runen rundherum, und im Dunkeln leuchtet er leicht grünlich. Mein Führer will ihn wieder, koste es, was es wolle. Das heißt für euch, ihr steigt in Myrvodas Haus ein, findet das Artefakt und bringt es anschließend auf schnellstem Weg zu mir. Sind wir uns einig?“
„Die restliche Beute gehört mir?“, fragte Haldnar vorsichtshalber noch einmal nach.
„Ja“ Der Magier nickte und seine funkelnden Augen blitzten unter seiner Kapuze hervor.
„Dieses Ding scheint euch Nekromanten tatsächlich sehr wichtig zu sein. Mir sind die Edelsteine wichtig. Daher denke ich … wir sind uns einig. Maleas Hände sind begnadet für Diebstähle aller Art“, scherzte Haldnar und prostete Iorel zu, worauf beide ihre Becher in einem Zug leerten und der Nekromant sich ihnen anschloss.
„Wie geht es der hübschen jungen Dame eigentlich?“, erkundigte sich Llynmeh nach Malea. Heimlich hatte er ein Auge auf das viel jüngere Mädchen geworfen, das er schon einige Male mit Haldnar und seinen Männern angetroffen hatte.
„Sie ist groß geworden und ähnelt von Tag zu Tag immer mehr einer erwachsenen Frau, dabei ist sie erst zwanzig Jahre alt. Ihre Mutter scheint wohl einst eine attraktive Raukarii gewesen zu sein, und meine Naynre bringt Malea alles bei, was sie wissen muss.“
„Vielleicht ergibt sich ja bald eine günstige Gelegenheit sich mit ihr alleine und in meinem Schlafzimmer zu treffen“, sagte Llynmeh und sein Lachen klang dabei kalt und berechnend.
Iorel schluckte. Die anzüglichen Worte ließen ihn automatisch verkrampfen, denn er wusste, der Magier meinte es todernst.
„Ich glaube nicht …“, warf Iorel ein, brach jedoch abrupt ab, als Haldnar ihm einen heftigen Tritt gegen das Schienbein verpasste und böse anstierte.
„Meine Kleine wird sich bestimmt freuen“, meinte Haldnar und lächelte. Ob er mit diesem Angebot nur einen Scherz gemacht hatte oder sich doch gewisse Vorteile ausmalte, konnte keiner der anwesenden Raukarii in jenem Moment sagen. Aber eines wussten sie: Haldnar konnte genauso skrupellos und unberechenbar sein wie der Nekromant.
„Ich habe noch einen Rat für Euch“, meldete sich Llynmeh zu Wort und kam zurück zu ihrem Geschäft. „Schlagt in drei Tagen zu. Dann ist Neumond. Kein verräterisches Mondlicht wird Euch bei eurem Auftrag behindern.“
„Ich werde es mir merken“, bestätigte Haldnar und bestellte mit einem Wink bei einem Schankmädchen nochmals drei Becher des billigen Weins. „Die Rechnung geht auf mich, denn wir sollten feiern. Und vielleicht können wir uns ja im Bezug auf Malea einigen.“
Die Antwort des Nekromanten bestand in einem versöhnlichen Grinsen und anzüglichen Gedanken, während Iorel unter dem Tisch die Hände zu Fäusten ballte.

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„Niemals wird mich dieser ekelhafte Kerl anfassen!“, schrie Malea aufgebracht. Vor Wut zitterte sie am ganzen Körper und starrte Haldnar an, als würde sie ihn auf der Stelle mit ihrem Kurzschwert aufspießen wollen.
„Du wirst tun, was ich dir sage und nichts anderes!“, gellte Haldnar zurück und kam bedrohlich einen Schritt auf Malea zu. Seine Stimme echote von den Felswänden der Höhle, die der Diebesbande als Unterschlupf diente.
„Niemals!“, tobte die junge Raukarii, stapfte dabei trotzig mit dem Fuß auf und hielt dem Blick des Bandenführers stand. Sie war immer noch Malea und ließ sich von niemandem, nicht einmal von Haldnar, vorschreiben, wen sie zu treffen hatte und wen nicht.
„Wir werden noch sehen, Mädchen“, entgegnete er streng und verpasste Malea eine schallende Ohrfeige, die ihr die Tränen in die Augen trieb.
Zuerst entsetzt, dann wutentbrannt und enttäuscht spuckte sie ihm ins Gesicht, drehte sich um und rannte in Richtung Ausgang davon. Ihr Weg führte Malea an fünfzehn verdutzten Gesichtern vorbei, die den Streit unauffällig aber aufmerksam verfolgt hatten. Manche unterdrückten ein Schmunzeln. Sie tranken weiter ihren billigen Fusel, saßen um mehrere Feuerstellen herum, erzählten oder spielten Karten miteinander. Malea achtete auf keinen von ihnen, sie benötigte dringend frische Luft, um das Gesagte überhaupt begreifen zu können. Sie wollte einfach nur weg, weg von Haldnar, der sie zu etwas zwingen wollte, was sie verabscheute, aber vor allem weg von ihm, weil er sie geschlagen hatte.
„Du bist so ein Idiot!“, schimpfte eine Frauenstimme. Naynre trat aus einem Seitengang in die Haupthöhle und funkelte ihren Geliebten böse an. „Was hast du dir dabei eigentlich gedacht?“
Haldnar wollte bereits antworten, wurde aber von einem warnenden Zeigefinger zurückgehalten. „Du hast überhaupt nicht gedacht, das ist es! Malea ist noch viel zu jung und außerdem werde ich nicht zulassen, dass du unsere Tochter einfach an irgendwen verschacherst und ganz besonders nicht an so einen widerlichen Möchtegern, der dem Schatten dient. Beim nächsten Mal sauf nicht zu viel und versuch dein Gehirn einzuschalten, bevor du sprichst. Ich lasse es nicht zu, dass Malea diesem Magier auch nur einen Schritt näher kommt als nötig. Und wenn es dir nicht passt, dann kannst du was erleben!“
„Sie ist deine Tochter“, korrigierte Haldnar sie. „Du hast sie adoptiert, nicht ich. Trotzdem ist Malea ein wertvolles und vollwertiges Mitglied unserer Bande, und weil ich der Anführer bin, wird sie tun, was ich ihr sage. Punkt.“
„Dann werde ich dir jetzt mal etwas sagen“, schnaubte Naynre, kam näher und verpasste ihm eine Ohrfeige, die ihn verdutzt innehalten ließ. „Bevor du weiter mit diesem Llynmeh Geschäfte machst, habe ich in Zukunft ein Wort mitzureden. Du entschuldigst dich später bei Malea und wenn nicht, dann werde ich eigenhändig deine Männlichkeit den Wölfen zum Fraß vorwerfen, verstanden?“
Anschließend machte Naynre auf der Stelle kehrt und folgte ihrer Tochter verärgert in die sternenklare Nacht hinaus.
Zurück blieb ein sprachloser Haldnar, der keine Widerworte fand und seiner Frau deshalb mit offenem Mund nachschaute. Auf der einen Seite sah er seine Vorteile, wenn er sich mit dem Magier auf das Geschäft mit Malea einließ, auf der anderen Seite wusste er auch, dass seine geliebte Naynre nur Recht hatte. Das jüngste Mitglied seiner Bande war äußerlich eine junge Frau, aber innerlich immer noch ein Kind. Erst in achtzig Jahren würde sie als erwachsen gelten, ganz egal wie sie auf andere wirkte. Mit diesen Gedanken ging er schließlich zu Iorel, um gemeinsam den genauen Ablauf des Überfalls zu planen und vielleicht in Bezug auf Malea noch eine andere Lösung zu finden. Die lachenden Bandenmitglieder ignorierte er geflissentlich.

Naynre trat ins Freie und das leise Schluchzen drang an ihre Ohren, bevor sie Malea unweit auf einem Felsen sitzend vorfand, die Hände schützend vor dem Gesicht und zitternd. Als Malea Naynres Schritte wahrnahm, hörte sie sofort auf zu weinen und wischte sich das nasse Gesicht mit ihrem Hemdsärmel trocken. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter sie so sah, doch noch mehr Tränen suchten sich einen Weg in ihre Augen.
„Hier bist du, ich habe dich schon gesucht“, sagte Naynre sanftmütig, setzte sich neben Malea und legte ihr einen Arm um die Schultern, um sie fest an sich zu drücken.
„Ich werde niemals tun, was Haldnar sagt, vorher springe ich ins Meer…“, ließ die junge Raukarii ihrem Kummer freien Lauf.
„Das wirst du schön bleiben lassen. Und wenn einer Ärger bekommt, dann ist das Haldnar, und zwar mit mir. Das wird er nicht riskieren, glaub mir.“
Maleas Kopf ruckte nach oben und starrte überrascht in das Gesicht ihrer Mutter, in dem sich ein liebevolles Lächeln abzeichnete.
„Wieso verlangt Haldnar so etwas?“, fragte Malea schluchzend.
„Weil er mal wieder nicht nachgedacht hat“, beruhigte Naynre sie und beobachtete die leuchtenden Sterne am Nachthimmel. „Vergiss die Sache mit Llynmeh einfach, und für ihn wird es auch gesünder sein, wenn er nicht mehr daran denkt, dafür sorge ich. Doch in letzter Zeit war es nicht leicht für Haldnar. Er ist angespannt. Die Lage in der Stadt hat sich sehr zu unserem Nachteil entwickelt. Das verkraftet er nicht so leicht, fürchte ich. Weißt du, er liebt dich als Tochter genau so sehr, wie du ihn als deinen Vater liebst. Er kann nur seine Gefühle nicht zeigen. Nicht, wenn alle zusehen und er verzweifelt ist.“
„Verzweifelt?“ In Maleas Traurigkeit mischte sich plötzlich Neugier.
„Ja, verzweifelt.“ Naynre nickte. „Von Llynmeh hat er heute erfahren, warum die Stadtwachen sich verdoppelt haben. Der Stadtrat ist intensiv auf der Suche nach dem Nekromantenzirkel, dabei gehen sie unter anderem verschärft gegen Diebe wie uns vor, weil sie annehmen, dass wir gemeinsame Sache mit ihnen machen. Leider haben sie damit genau ins Schwarze getroffen. Wenn einer von uns gefangen genommen wird, sind die anderen auch nicht mehr sicher. Erst gestern hat Haldnar mit ansehen müssen, wie man einen Taschendieb gefasst und ihm auf der Stelle beide Hände abgehackt hat, um ihn dann im eigenen Blut auf der Straße liegen zu lassen. Haldnar glaubt, wenn er mit Llynmeh und den anderen Nekromanten eine gute Beziehung aufbaut, wäre es für uns alle sicherer und auch einfacher. Wir würden dann unter ihrem Schutz stehen.“
Das hatte Malea nicht gewusst. Dennoch traf sie die Erklärung mit voller Wucht. Hass flammte in ihr auf. Hass gegenüber den Mächtigen und Reichen der Stadt. Sie brauchte keinen Reichtum, um glücklich zu sein, aber darauf lief es immer hinaus, auf Macht und Vermögen.
„Ich glaube, ich verstehe langsam“, entgegnete Malea und versuchte gleichzeitig ihren Widerwillen mit einfließen zu lassen. „Aber er darf so etwas nie wieder tun. Ich weiß ja nicht einmal wie …“
„Du musst gar nichts, mein Engel“, unterbrach Naynre ihre Tochter und zog sie fester in eine mütterliche Umarmung. „Vergiss die Sache einfach, und wenn er doch etwas tun sollte, dann kommst du gleich zu mir, dann wird er mindestens einen Kopf kürzer. Es könnte allerdings sein, dass wir in nächster Zeit von hier fortziehen müssen, wenn sich die Situation in der Stadt weiter verschärft. Darüber haben wir schon vor Längerem diskutiert, obwohl dein Vater davon nichts hören will. Ich persönlich habe aber nicht vor, mein Leben in die Hände des Zirkels zu legen. Daher wäre die Flucht immer noch die beste Lösung für uns alle. Deir al-Bahri ist nicht die einzige Stadt in Leven’rauka.“ Sie löste ihre Umarmung und schob ihre Hand unter Maleas Kinn, und das Mädchen sah sie mit großen geröteten Augen an. „Außerdem bist du noch jung und meinen zukünftigen Schwiegersohn wirst du ganz alleine finden, sobald die Zeit dafür reif ist. Bei deiner Schönheit werden dir sicherlich bald die Männer zu Füßen liegen. Du bist meine Tochter und für dich würde ich selbst durch Zevenaars Feuer gehen.“
Anschließend lächelten beide und Malea beruhigte sich allmählich. Sie legte den Kopf auf Naynres Schoß. Die Finger ihrer Mutter strichen liebevoll über ihre langen roten Haare, während sie Malea weitere Ratschläge mit auf den Weg gab.

Drei Nächte später, in der verabredeten Neumondnacht, brach die Diebesbande von ihrem Höhlenversteck auf und lief über die breite Hauptstraße durch das Stadttor nach Deir al-Bahri hinein. Die junge Raukarii bildete die Vorhut. Sie kannte sich bestens in den dunklen Gassen aus. In den letzten Tagen hatte sie Haldnar mit Nichtbeachtung bestraft, aber jetzt mussten sie wieder zusammenarbeiten.
Malea wuchs frei und ungezwungen auf – ohne Regeln und Bestimmungen. Sie war wie eine wilde Raubkatze, die man kaum zu zähmen vermochte und gleichzeitig so unschuldig wie ein Jungtier. Auch mutig, aufbrausend, unerschrocken und lustig konnte sie sein, und doch war sie in vielen Dingen einfach noch unerfahren. In solchen Momenten benötigte sie die Unterstützung der Älteren, auch wenn sie es nur ungern zugab. Gleichwohl war sie eine forsche und selbstbewusste Jugendliche, die ein ungezügeltes Temperament an den Tag legte. Möglicherweise, so vermutete ihre Familie, waren dies alles Eigenschaften ihrer leiblichen Mutter, die das Mädchen nicht kannte. Von ihrer wahren Herkunft wusste sie nichts, nur dass Naynre sie vor knapp zwanzig Jahren bei einem Überfall gefunden hatte, als ihre Mutter sie zuvor einfach in einer Decke eingewickelt auf der Straße zurückgelassen hatte. Aus diesem Grund wollte Malea auch niemals wissen, woher sie wirklich kam. Wenn ihre Mutter ihre eigene Tochter mutwillig einem unsicheren Schicksal übergeben hatte und nicht haben wollte, dann wollte sie auch nicht deren Tochter sein.
Eines ließ sich jedoch nicht leugnen. Malea war eine atemberaubende Schönheit. Lange rote Haare fielen glänzend über ihren Rücken, ihre bernsteinfarbenen Augen leuchteten klar und betrachteten die Welt neugierig. Ihr äußeres Erscheinungsbild war ganz das einer schlanken, attraktiven jungen Frau. Dies unterstrich sie noch mit ihrer Kleidung. Malea trug schwarze Lederhosen und dazu braune Stiefel. Darüber zierten eine weiße Bluse und eine schwarze kurze Tunika ohne Ärmel ihre weiblichen Reize und ließen sie wild und anziehend erscheinen. Um die Hüfte prangte ein Ledergürtel mit einem Kurzschwert und im Stiefel steckte eine verborgene Scheide mit einem versteckten Dolch.
Nach einer halben Stunde Fußmarsch sahen sie das Haus der Hexenmeisterin Myrvoda. Es stand abseits der anderen in der Nähe des Hafens und war kein großes oder gar auffälliges Gebäude, dennoch hielten sich die Bewohner der Stadt lieber fern. Es hatte lediglich zwei Stockwerke, doch wie sie alle von Llynmeh wussten, sollte die Raukariihexe einen großen Keller und ein dazu gehöriges Labor besitzen. In jenem letzten Raum, hatte der Nekromant erklärt, würde sie den magischen Ring aufbewahren.
„Iorel, Naynre“, flüsterte Haldnar, als sie in der mondlosen Nacht vor der Hintertür standen und winkte sie zu sich. „Iorel, du, Raban, Lezir und Gaan, ihr geht nach oben“, befahl Haldnar und sah, wie die Männer nickten und ihre Waffen zückten. Anschließend wandte er sich an Naynre. „Du, Mareth, Brumar und Fiso schaut euch im Erdgeschoss um.“ Auch diese nickten und zogen ihre Messer und Dolche. Fiso umklammerte seinen kleinen Speer, während Haldnar sich nun zu Malea umdrehte. „Wir zwei werden den Keller durchsuchen. Wäre doch gelacht, wenn wir dieses Labor nicht finden.“
Maleas Augen glühten bei den Worten neugierig auf, denn nicht der Ring interessierte sie, sondern die Gegenstände, die sie auf ihrem Weg dorthin finden würde. Sie hoffte, dass etwas Außergewöhnliches und Wertvolles in ihre Hände geriet, und bei diesem Gedanken verpuffte ihr Ärger auf Haldnar.
„Dann auf, Jungs“, sagte Haldnar leise, klopfte Iorel auf die Schulter, gab Naynre einen Kuss und stupste Malea in Richtung Tür.
Die junge Raukarii lächelte und fischte einen kleinen Eisendraht aus ihrer Hosentasche. Mit ihren geschickten, schlanken Fingern und dem Draht hatte sie im Nu das Schloss an der Hintertür geknackt, was mit einem leisen Klicken einherging. Berauscht sah sie zu Haldnar, der zückte sein Langschwert und legte die Hand auf die Türklinke. Llynmeh hatte sie auf magische Fallen aufmerksam gemacht, aber seiner Meinung nach waren diese wohl eher im Inneren zu finden. Da nichts geschah, schlich der Anführer der Diebesbande mit wachsamem Blick in den dunklen Raum hinein. Die anderen folgten ihm. Malea schloss als Letzte die Tür. Niemand sollte von der Straße aus sehen, dass sich jemand nachts Zutritt zum Haus verschafft hatte.
Zusammen fanden sie sich in einer geräumigen Küche wieder, in dessen Kamin niedergebrannte Kohlestücke glommen. Der Geruch von geräuchertem Schinken und duftendem Brot stieg ihnen in die Nase, als sie an der Vorratskammer vorbei kamen. Sie beschlossen auf dem Rückweg die Speisekammer zu plündern. Vorsichtig huschten sie hintereinander von der Küche in einen Flur und fanden dort einige Kostbarkeiten, die augenblicklich den Besitzer wechselten. Anschließend trennten sich die Gruppen. Iorel und seine Männer suchten den Weg nach oben, Naynre ging mit ihren Leuten weiter und Malea folgte Haldnar.
Nach einigen Metern fanden sie eine Tür. Seltsam gemalte Runen zierten die Oberfläche. Mit einem zufriedenen Lächeln kramte Haldnar in der Hosentasche nach einem kleinen verzauberten Edelstein, einem Tigerauge, und zog ihn hervor. Der Stein stammte von Llynmeh, für den Fall, dass sie magischen Fallen begegnen sollten. Vorsicht war bekanntlich besser als Nachsicht und bei einer Hexenmeisterin konnte man nie vorsichtig genug sein. Haldnar löste nun die erste Blockade, wie er es von seinem Geschäftspartner beschrieben bekommen hatte. Er hielt den Edelstein in der hohlen Handfläche, fixierte die Holztür und sprach nur ein einziges Wort. Sofort spürte er den Stein warm werden und sah ihn umgehend in einem blauen Licht schimmern. Plötzlich glühte auch die Tür blau und binnen eines Sekundenbruchteils verschwand das Leuchten und alles war wieder dunkel.
„Llynmeh hatte recht“, murmelte Haldnar und öffnete den Weg zum Keller, denn die magische Falle konnte ihnen nun nichts mehr anhaben.
„So wie es aussieht“, flüsterte Malea und spähte über ihre Schulter zurück, um ein mögliches Anzeichen der Hexe zu erhaschen.
Doch es blieb ruhig. Neugierig stiegen die beiden die Treppe nach unten. Dort angekommen standen sie vor einer weiteren Tür, die Haldnar ebenfalls mit dem Tigerauge von magischen Fallen befreite. Dann erreichten Haldnar und Malea einen lang gezogenen Flur. Brennende Fackeln säumten den Gang und die Luft war erfüllt vom Duft unterschiedlicher Kräuter. Noch immer gab es kein Lebenszeichen der Hexenmeisterin. Mit gezückten Waffen setzten sie ihren Weg fort und hielten vor einer breiten Doppelflügeltür. Doch kaum dort angekommen, wehte plötzlich ein eiskalter Wind an ihnen vorbei. Erschrocken hielten Haldnar und Malea inne, sie wirbelten herum und ein zischendes Geräusch fesselte ihre ganze Aufmerksamkeit.
Überrascht riss Malea die Augen auf und sah in ein grelles weißes Licht, das sie kurzzeitig blendete. Eilig wandte sie ihren Blick ab, aber es dauerte einige Sekunden, bis die blinkenden Sternchen vor ihrem inneren Auge wieder verschwanden. Neben sich hörte sie Haldnar alarmiert aufkeuchen und das Tigerauge zu Boden fallen. Nach den Worten „Auf geht’s!“ drangen Kampfgeräusche an Maleas Ohr. Als sie endlich wieder etwas sehen konnte, kämpfte Haldnar mit einem schwebenden Etwas, dessen Augen bedrohlich rot glühten, was ihr die Kälte in die Glieder trieb. Doch sie empfand keine Angst, lediglich Verwirrung.
„Malea, nimm den Stein und suche im Labor nach dem verdammten Ring. Ich kümmere mich so lange um das hier“, rief Haldnar und schwang die Klinge immer wieder in Abwehrhaltung hin und her. Er war sich selbst nicht sicher, gegen was er antrat und ob er sich das alles nicht nur einbildete, denn dieses Etwas war durchscheinend.
Die junge Raukarii ließ sich nicht lange bitten, bückte sich nach unten, schloss ihre schlanken Finger um den warmen Edelstein und wandte sich zur Doppelflügeltür um. Diese war über und über mit bizarren Symbolen verziert. Einen Moment überlegte sie panisch, welches auslösende Wort Haldnar zum Ausschalten der Magie benutzt hatte, doch fast wie von selbst kam es über ihre Lippen. Augenblicklich wurde der Stein heiß und immer heißer. Erschrocken zuckte Malea zusammen und biss sich vor Schmerz auf die Lippen. Obwohl er ihr die Haut verbrannte, wollte sie ihn keinesfalls loslassen. Gerade, als sie glaubte es nicht mehr länger aushalten zu können, glühte die Labortür bläulich auf und der Stein wurde auf der Stelle wieder kalt. Verdutzt musterte sie ihre Handfläche, die trotz der Hitze keine einzige Brandblase oder Rötung aufwies. Aber darüber konnte sie sich später noch ausreichend Gedanken machen. Sie machte einen Schritt auf die Tür zu, als diese plötzlich wie von Zauberhand aufschwang.
„Beeil dich, Mädchen“, hörte sie Haldnar rufen, ließ sofort den Gang hinter sich und betrat einen dunklen Raum.
Doch kaum hatte sie das Labor betreten, flackerten an den Wänden zahlreiche Fackeln auf. Mit klopfendem Herzen schweifte ihr Blick durch das Laboratorium der alten Hexe. Zur Rechten der Tür erstreckten sich mehrere Bücherregale, voll mit Folianten und Schriftrollen. Auf der linken Seite entdeckte Malea Schränke, deren Türen offen standen und somit ihr grauenhaftes Inneres präsentierten. In den Fächern standen Gläser mit eingelegten deformierten Extremitäten, sogar die Köpfe einiger Raukarii schauten sie mit verzerrten Fratzen und aufgerissenen Augen an und jagten ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Angewidert wandte sie sich ab, um gleich darauf über Knochenreste am Boden zu stolpern, an denen noch immer einige Hautfetzen hingen. Ein widerlicher Fäulnisgeruch stieg ihr in die Nase und ihr Magen begann dagegen zu rebellieren. Eilig zwang sie sich, weiter in den Raum hineinzulaufen, im Moment konnte sie sich keine Schwäche erlauben. In einer der Ecken sah Malea einen langen Tisch, auf dem Flaschen in allen Formen und Farben aufgereiht waren, daneben lag ein offenes Buch. Doch nirgendwo sichtete sie auch nur annähernd ein Schmuckstück und vor allem keinen Ring, der grünlich schimmerte.
„Das könnte länger dauern, als ich dachte“, seufzte Malea und lauschte den Kampfgeräuschen im Flur, um Haldnars unflätige Verwünschungen zu vernehmen. Das entlockte ihr ein Lächeln, denn es bedeutete, dass er offensichtlich seinen Spaß hatte. Auf sie wartete allerdings eine beschwerliche Suche. Sie durchstöberte alles, was sie sich traute anzufassen, öffnete Schubladen, wühlte in den Schränken und in den verborgensten Winkeln.
Nach etlichen Minuten, die Malea wie Stunden vorkamen, verstummte plötzlich Haldnars Stimme und die darauf folgende Stille traf sie härter als jeder Hilferuf, und sie wurde sich dessen so unerwartet bewusst, dass sie zusammenfuhr.
„Haldnar?“, wagte die junge Raukarii nach ihm zu rufen, aber eine Antwort blieb aus. „Haldnar, komm schnell hier her!“, rief sie ein weiteres Mal, aber es schlug ihr nur Schweigen entgegen.
„Verdammt“, fluchte Malea und wollte bereits zur Tür rennen, als ihr in den Augenwinkeln ein grünliches Leuchten auffiel. Ihr Kopf ruckte zur Seite und auf einem kleinen Beistelltisch, der ihr zuvor nicht aufgefallen war. Dort ruhte der silberne Ring mit den eingravierten Runen.
„Haldnar, ich habe ihn!“ Rasch lief sie zum Tisch hinüber.
Malea wollte schon nach dem kostbaren Artefakt greifen, da wurden ihre Glieder unerwartet schwer und alles um sie herum leuchtete in einem roten Nebel auf. Ihr Herz schlug schneller und sie spürte das dringende Bedürfnis so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Doch bereits beim nächsten Atemzug wurde ihr schwarz vor Augen und sie fiel ohnmächtig zu Boden.
Als Malea wieder erwachte, wusste sie im ersten Moment weder, was passiert noch wie viel Zeit vergangen war. Die Steinmauern um sie herum kamen ihr vage bekannt vor, als schlagartig ihre Erinnerungen zurückkehrten. Ein wenig benommen und schwerfällig rappelte sie sich von dem kalten Steinboden auf, schüttelte die Verwirrung ab und ergriff den Ring aus Silberarcharid, der vor ihr auf dem kleinen Tisch lag.
„Meine Warnung scheint wohl nicht ihren gewünschten Zweck erfüllt zu haben“, krächzte jäh eine alte Frauenstimme durch das Labor, und jetzt bekam es Malea zum ersten Mal tatsächlich mit der Angst zu tun. Sie musste sich gar nicht erst umdrehen, um zu wissen, wer hinter ihr aufgetaucht war. Wider besseren Wissens tat sie es doch und stand einer sehr alten Raukarii gegenüber. Alt beschrieb nicht annähernd das Erscheinungsbild der Hexenmeisterin. Myrvodas Augen glommen gefährlich rot, ihr Lächeln entblößte goldene Zähne und als wäre das nicht bereits ungewöhnlich genug, fehlten ihr sämtliche Haare. Sie hatte eine Glatze, die überall verschlungene Tätowierungen aufwies. Der kleine, schlanke Körper steckte in einer schwarzen Robe und mit der runzligen Hand zeigte sie auf die junge Raukarii.
Malea wich rücklings aus und stieß gegen den Beistelltisch. Verzweifelt kämpfte sie gegen ihre Furcht und fühlte dabei das kalte Metall des Ringes an den Fingern.
„Wie du dir wohl denken kannst, ist mein Name Myrvoda, aber wer bist du, außer einer dreisten Diebin?“ Die Stimme der Hexe klang heiser, während sie langsam näher kam.
„Ich … ich …“, stammelte Malea und hatte keine Ahnung, was sie überhaupt sagen sollte.
„Dein Name genügt mir“, entgegnete Myrvoda mit einem goldenen Lächeln.
„Ich bin Malea“, erklärte die junge Raukarii angewidert, obwohl sie gar nicht hatte antworten wollen. Ihr fielen die anderen wieder ein. Waren Haldnar, Naynre, Iorel und die restliche Bande vielleicht auch erwischt worden? Ging es ihnen gut?
„Dann gehe ich wohl richtig in der Annahme, dass die anderen Diebe zu dir gehören“, sprach Myrvoda sachlich, als hätte sie Maleas Gedanken erraten. „Was wollt ihr hier? Oder lass mich meine Frage anders formulieren, was genau sucht ihr hier, Malea?“
Die junge Raukarii schluckte und eine schlimme Vorahnung ergriff von ihr Besitz. Die Hexe mit ihrer gefährlichen Aura jagte ihr eine Heidenangst ein. Die Gedanken an ihre Familie und dass ihnen etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte, brachte sie zum Zittern. Trotzdem hielt sie den Ring, der sie erst hierher geführt hatte, fest umklammert. Er verlieh ihr wieder ein wenig mehr Selbstverstrauen, welches durch das plötzliche Auftauchen der Hexe zuvor verschwunden war.
„Wo sind die anderen? Ich warne Euch, wenn ihnen etwas zugestoßen ist …“, drohte Malea nun, doch ihre Worte waren nicht mehr als ein Flüstern, und die Hexe unterbrach sie mit schallendem Gelächter.
„Vielleicht ist ihnen ja etwas zugestoßen“, teilte Myrvoda unbekümmert mit, „oder auch nicht. Vielleicht sind einige auch schon tot oder auch nicht. Doch wisse eins, ich lasse mich ungern bestehlen.“
Malea schluckte. Sie ertrug den Gedanken nicht, dass Naynre, Iorel und Haldnar etwas zugestoßen sein könnte. Vermutlich gerade deswegen keimte in ihr neuer Mut auf. Tapfer machte sie einen Schritt nach vorne, während sie den Ring unauffällig in einem kleinen Lederbeutel verschwinden ließ, während ihre Hand schließlich zu ihrem Kurzschwert wanderte. Dank der Diebesbande war sie im Umgang mit Waffen gut geschult.
„Ich warne Euch, alte Hexe“, begann Malea selbstsicher und verengte ihre bedrohlich dreinblickenden Augen zu Schlitzen. „Wenn ihnen wirklich etwas passiert ist, dann kostet Ihr meine kalte Klinge.“
Während sie sprach, zog Malea das Kurzschwert aus der Scheide, bemerkte dabei jedoch, dass ihre Glieder plötzlich wieder schwer wurden und sie sich einen Augenblick später nicht mehr bewegen konnte. Die Waffe glitt ihr aus den Fingern und landete laut klirrend auf dem Boden. Fassungslos starrte sie Myrvoda an, die mit dem Zeigefinger auf sie deutete.
„Schweig, du verdammte Göre! Außerdem, wen nennst du hier alte Hexe?“, fragte die Raukarii mit der tätowierten Glatze kalt. In ihrem Tonfall lag eine unterschwellige Gefahr, die Malea innerlich noch mehr zum Beben brachte. „Ich bin eine Hexe“, erklärte Myrvoda und lächelte listig. „Aber ich bin keine alte Hexe. Was versteht schon so ein junges Ding wie du vom Alter? Nichts! Meine künftigen Lebensjahre werden noch ewig währen. Doch ich könnte dich eine kleine Lektion lehren, junge Malea, und aus diesem Grund wirst du von nun an diese Erfahrung am eigenen Körper spüren.“
Unversehens schoss ein weißer Blitz aus Myrvodas Zeigefinger und raste auf Malea zu, die überrascht die Augen zusammenkniff. Ihr wurde schwindlig, ein heißer Schauer erfasste sie und ihr Magen verkrampfte sich. Abermals wurde ihr schwarz vor Augen und im Unterbewusstsein fühlte sie einen ungezügelten Zorn auflodern. Irgendwo zwischen den Wellen ihrer aufsteigenden Wut vernahm sie noch seltsam gemurmelte Worte, dann glitt sie in eine tiefe Ohnmacht.

Mit hämmernden Kopfschmerzen und schlaffen Gliedern schlug Malea die Augenlider auf. Sie fühlte sich schrecklich, so als wäre sie eine ganze Nacht ohne Pause gelaufen. Ein mondloser Nachthimmel begrüßte sie, das Labor war spurlos verschwunden. Doch wenn sie sich nicht mehr im Haus der Hexenmeisterin befand, wo war sie dann? Vorsichtig setzte sich Malea auf, wobei ihr sofort wieder dermaßen schwindlig wurde, dass sie die Augen erneut schließen musste. Ihr Schädel pochte heftig und nur langsam spürte sie Besserung eintreten. Als sie sich schließlich umschauen konnte, erschrak sie. Myrvodas Haus war verschwunden, stattdessen befand sich Malea in einer kleinen Seitengasse. Wie war sie hierher gelangt? Wo waren Naynre, Haldnar und Iorel? Was war nur geschehen? Diese und viele weitere Fragen drängten sich ihr auf, ohne dass sie Antworten darauf fand. Sie hob den Blick und ließ ihn über die nähere Umgebung schweifen. Um sie herum herrschten ausnahmslos tiefe Schatten und von Weitem hörte sie zwei betrunkene Matrosen grölend ein Lied trällern. Der salzige Geruch des Meeres stieg ihr in die Nase. Sie war scheinbar im Hafen. Aber wie war sie hierher gekommen? Und wo war ihre Familie? Maleas Angst wuchs schlagartig an. Das alles ergab für sie keinen Sinn. Sie musste die anderen suchen, sofort!
Wacklig auf den Beinen lief sie planlos die Gasse hinauf und erreichte nach ungefähr hundert Metern eine schmale Straße, die sie auf Anhieb erkannte. Sie führte direkt zur Taverne Zum Spielmannsfluch, dort wollte sich Haldnar nach dem Einbruch mit Llynmeh treffen. Erleichtert wusste sie nun, was zu tun war. Womöglich warteten dort schon alle auf sie. Während Malea zielstrebig auf die Taverne zuging, glitten ihre Finger in den kleinen Lederbeutel, in den sie den Ring gesteckt hatte. Er war noch da. Dies deutete sie als gutes Zeichen. Dennoch wurde sie das bedrückende Gefühl, das sich in ihr Herz schlich und sie frösteln ließ, nicht los. Was war nur in dem Keller geschehen?
Nach ewig langen Minuten erreichte sie endlich die finstere Spelunke. Doch ihre Hoffnung, irgendwen aus der Bande anzutreffen, wurde mit jedem Schritt kleiner, da der Platz vor der Taverne menschenleer war. Lediglich der Magier wartete nervös an der gegenüberliegenden Häuserecke. Wie so oft hatte er die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
„Da bist du ja endlich!“, hörte Malea den Nekromanten zischen, als sie vor ihm zum Stehen kam. „Hast du den Ring?“, fragte Llynmeh und streckte fordernd seine bleiche Hand aus.
„Ja.“ Der moschusartige Geruch, gemischt mit einem Hauch von Weihrauch, stieg ihr in die Nase, worauf ihr Magen heftig rebellierte.
„Dann gib ihn mir!“, forderte der Magier drängend.
„Wo sind die anderen? Ich dachte, sie wären bei Euch“, erkundigte sich Malea und fischte den Ring aus ihrer Tasche, hielt ihn jedoch noch zurück.
Was nun folgte, würde die junge Raukarii noch lange Zeit in Erinnerung behalten.
Llynmeh zog urplötzlich seine Hand zurück, als wäre er vom Blitz getroffen worden und wich einen großen Schritt zur Seite aus. Ungestüm schüttelte er den Kopf, wobei seine Kapuze ein kleines Stück verrutschte und Malea einen Blick auf seine weit aufgerissenen Augen offenbarte. Er wirkte verängstigt – was sie sich bei ihm niemals hätte vorstellen können – und eilig holte er einen blauen Edelstein hervor und hielt ihn unmittelbar vor ihr Gesicht.
„Komm mir bloß nicht zu nahe“, drohte er und rezitierte anschließend einige unverständliche Silben in einer anderen Sprache.
Malea sah ihn verständnislos an.
„Lass den Ring auf der Stelle fallen und dann verschwinde von hier“, verlangte Llynmeh mit eiskalter Stimme und herrischen Unterton.
„Was ist denn los? Ist etwas passiert? Wo sind die anderen geblieben?“, fragte sie eindringlich und beobachtete den Magier, dessen blauer Edelstein in der hohlen Handfläche stetig heller aufglühte.
„Lass diesen Ring auf der Stelle fallen und geh mir aus dem Weg“, fauchte der Raukarii ein weiteres Mal unnachgiebig.
Verwirrt tat sie, wie ihr geheißen und sah zu, wie er das Schmuckstück mit der freien Hand geschwind vom Boden aufklaubte und fest in der Faust hielt.
„Du bist verdammt, weiche von mir und verschwinde von hier“, sprach Llynmeh, dann war er augenblicklich im Nichts verschwunden.
„Halt!“, rief sie ihm noch hinterher, doch es war bereits zu spät. Dort, wo der Nekromant gestanden hatte war nichts weiter als Luft. „Was ist denn nur los?“, fragte sie verzweifelt in die stille Leere der Nacht. Doch sie erhielt keine Antwort.


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www.annette.eickert.info


Impressum

Texte: Annette Eickert
Bildmaterialien: www.bigstockphoto.com
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2012

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