Aus der Gehässigkeit entspringen: Missgunst, Neid, Übelwollen,
Bosheit, Schadenfreude, spähende Neugier, Verleumdung, Insolenz,
Petulanz, Hass, Zorn, Verrat, Tücke, Rachsucht, Grausamkeit, usw. ...
Im Menschen sitzt ein Verräter, der „Eitelkeit" heisst
und die Geheimnisse gegen Schmeichelei preisgibt.
(Paul Valêry)
Nervös fuhr sich Ryan Tavish mit den Fingern durch seine schwarzen Haare und versuchte sie in eine ansehnliche Frisur zu bringen, doch irgendwie wollte es ihm heute Morgen nicht gelingen. Dabei verriet ihm ein flüchtiger Blick auf seine Armbanduhr, dass allmählich die Zeit davonlief. Aufgeregt hielt er in seinem Vorhaben inne und beobachtete sich selbst noch einmal im Spiegel. Sein Konterfei zeigte einen attraktiven siebzehnjährigen jungen Mann mit hellblauen Augen, welche den Himmel vor seinem Fenster widerspiegelten. Dann sah er kurz aus dem Fenster, wo graue Wolken das Blau über Irland durchbrachen, während die ersten warmen Sonnenstrahlen ihr Licht ausbreiteten und der grünen Wiese unterhalb seines Zimmers neues Leben schenkten. Ryan starrte hinaus und die Angst kroch zurück in seine Glieder.
Heute, am 24. August 2009, war ein großer Tag für ihn, ein großer Tag für den gesamten Orden. Dennoch kam er nicht umhin, sich deswegen große Sorgen zu machen. Würde alles gut gehen? Würde er seine Sache richtig machen? Diese und viele weitere Fragen spukten bereits seit Tagen durch seinen Kopf und steigerten umso mehr seine Ängste.
Vor über einem Jahr hätte er nicht daran gedacht, jemals in diesem Zimmer zu stehen. Seitdem waren ihm viele Dinge offenbart worden, die er noch vor zwölf Monaten als Unsinn abgetan hätte. Doch sie waren wahr, so real wie sein Herzschlag und die Luft, die er atmete. So wirklich wie der Himmel und die Erde und die Vielfalt des Lebens um ihn herum.
Vor diesem aufregenden Jahr war er noch ein ganz normaler Teenanger gewesen, aufgewachsen bei seinem streng irisch-katholischen Onkel und dessen Familie. Ryan liebte Mysterien und Geschichten in alle Arten und Formen. Vorzugsweise verschlang er deshalb eine Unmenge an Büchern mit Mythen und Sagen und sein Wunsch war es einmal Geschichte und Archäologie zu studieren.
Wieder richtete Ryan seinen Blick auf die Uhr. Der kleine Zeiger rückte näher zur Acht. Spätestens in zwei Stunden musste er in der irischen Provinzhauptstadt Galway sein, doch mit jeder vorrückenden Minute wurde er sichtlich nervöser. Die Erinnerungen an den schrecklichen Überfall bescherten ihm nachts immer noch Albträume. Mit Gänsehaut wandte er sich vom Fenster ab und kehrte dem Chaos seines Zimmers schließlich den Rücken zu. Er schnappte sich noch seinen Glücksbringer – eine silberne Kette mit dem Abbild einer in sich selbst verschlungenen Katze – vom Nachttisch, bevor er zur Tür marschierte. Er hatte die Kette vor einem Jahr von seinem Urgroßvater bei seinem Eintritt in den Orden geschenkt bekommen. Die Katze symbolisierte den Hüter seiner Seelenkräfte und war zugleich sein Beschützer in schwierigen Situationen. Genau dies brauchte Ryan nun.
Draußen im Flur wirkte das Internat wie ausgestorben. Gegenwärtig waren Sommerferien und die Renovierungsarbeiten noch im vollen Gange. Während Ryan sich der hinunterführenden Treppe näherte, malten die verspielten Strahlen der Morgensonne fantasievolle Gebilde auf den Fußboden und er fragte sich, wieso es überhaupt erst so weit kommen musste. Vor zwei Monaten hatte sein Urgroßvater Colin Donnan noch gelebt. Colin, der Großmeister des irischen Ordens Druida Lovo – dem Druidenorden des Lichts. Immer gerecht, verschroben und rätselhaft, aber dafür der liebenswerteste Mensch, den Ryan bisher kennenlernen durfte. Er mochte ihn von dem Augenblick an, als er sich bei einem unerwarteten Besuch als sein Urgroßvater vorgestellt hatte. Colin war es auch gewesen, der ihn über seine Abstammung aufgeklärt und ihn hierher nach Omey Island gebracht hatte.
Zuvor wusste er nichts von der Existenz der Bruderschaft, welche über all die Jahrhunderte hinweg überdauerte hatte. Aber es gab sie, gut gehütet, hinter stillen Mauern verborgen, mit ihren eigenen archaischen Regeln, Sitten und Gebräuchen und keinem Außenstehenden wurde jemals ein Einblick gewährt. Der Orden war ebenso sagenumwoben wie die feenhaften Erzählungen und phantasievollen Mysterien der immer grünen Insel. Irland, das Land der grünen Hügel, der Schafe, Moore und weitläufiger Dünen. Irland, eine Insel der Traditionen, des Whiskys und eigensinniger und lebenslustiger Menschen.
Ryan dachte an seine Eltern, die ebenfalls den Druida Lovo angehört hatten, bevor sie bei einem verheerenden Hausbrand ums Leben kamen; dem Ryan nur deshalb nicht zum Opfer fiel, weil er an diesem Wochenende bei seiner Tante und seinem Onkel gewesen war. Vielleicht würden sie jetzt bei ihm sein und ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen, vermutlich gemeinsam mit ihm um seinen Urgroßvater trauern, aber das war nur einer seiner vielen Wunschträume.
Inzwischen hatte er über die Treppe den Haupteingang erreicht und war ins Freie getreten. Sofort kitzelte die Sonne seine Nase und in jenem Moment fühlte er sich ein wenig ruhiger. Dennoch nagte die Nervosität weiter an seinen Nerven und er hoffte, dass seine beste Freundin Kimberly ihm helfen konnte. Auch sie war nach Galway eingeladen worden. Er wandte sich ein letztes Mal um und betrachtete das fünfstöckige Gebäude, welches sich in Form und Aussehen wie eine Burg in die Höhe hob. Im Inneren strotzte die Moderne, es war mit hellen und bequemen Möbeln, Strom, Telefon, Satellitenfernsehen, Computern und einfach mit allem ausgestattet, was ein normaler Hausstand im 21. Jahrhundert eben zu bieten hatte. Lediglich mit der Ausnahme, dass der Orden zusätzlich den Luxus von Hausangestellten hatte.
Ryan seufzte, dann machte er sich auf den Weg zum Anlegesteg, vorbei an dem kleinen, malerischen See, der zum Internat gehörte. Omey Island war gerade einmal drei Kilometer breit und maß höchstens vier Kilometer in der Länge. Sie war im Privatbesitz des Ordens und bei gutem Wetter konnte man weit übers Meer hinausblicken und die orangerote Sonne am Horizont untergehen sehen. Ein kleiner Wald rundherum schütze das heilige Zentrum vor unliebsamen Beobachtern. Doch mit einem kleinen Motorboot konnten die Inselbewohner jederzeit die steile Westküste Irlands anfahren.
Nur eine halbe Stunde später erreichte er mit Hilfe des Bootsführers die Küste und sah von weitem bereits seine Freundin Kimberly Callahan auf ihn zukommen.
„Oh man, Ryan“, begrüßte sie ihn mit rügender Stimme, als er vor ihr stand. „Ich dachte schon, du wolltest gar nicht mehr kommen. Du hast verdammtes Glück, fast wäre ich ohne dich losgefahren.“ Dann umarmte sie ihn herzlich und schenkte Ryan ein aufmunterndes Lächeln. „Du siehst gut aus.“
„Danke, du aber auch“, gab er lächelnd zurück. Kimberly hatte eine schlanke Figur und ihr langer, schwarzer Rock und die helle Bluse betonten diese noch. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ihr Gesicht war durch ein wenig Make-up fast makellos. Kimberly war eine besonders attraktive junge Frau und das sagte Ryan ihr auch gerne, doch tief in ihren Herzen waren sie wie Bruder und Schwester. Mit rosa Wangen bedankte sie sich und dann liefen sie gemeinsam zum Wagen, der sie in die Provinzhauptstadt Galway bringen würde.
„Wie war es gestern bei deinen Eltern?“, erkundigte sich Ryan neugierig. Ihre Eltern wohnten in der nächstgrößeren Stadt Clifden, wo sie die letzte Nacht geschlafen hatte.
„Sie machen sich immer noch Sorgen. Aber ich soll dich ganz lieb grüßen“, antwortete Kimberly und sah ihn traurig an. „Inzwischen verstehen sie die Maßnahmen des Ordens besser, obwohl sie immer noch dagegen sind. Als mich Mrs. Buckley gestern Abend zu meinen Eltern brachte, erklärte sie ihnen, wieso uns Mr. Hinthrone zur Gerichtsverhandlung eingeladen hat. Außerdem steht ihr Entschluss, nach Amerika zu ziehen, endgültig fest. Das Krankenhaus in Boston hat ihre neuen Arbeitsstellen vorgestern bestätigt.“
Ryan nickte. Mrs. Buckley war eine ihrer Lehrerinnen und ein geachtetes Ordensmitglied, die nach dem Tod seines Urgroßvaters die Leitung auf Omey Island übernommen hatte. Sie war zwar streng, aber eine sehr vertrauenswürdige Seele.
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Nach zwei Stunden Autofahrt hatten Ryan und Kimberly den Ordenshauptsitz in Galway erreicht und standen vor dem großen Versammlungssaal. Eigentlich wurde dieser für Ratsversammlungen genutzt, würde jedoch während der nächsten zehn Tage als Gerichtssaal dienen. Zu dem bevorstehenden Prozess hatten sich zum Auftakt der Verhandlungen viele Mitglieder eingefunden. Alle wollte mit eigenen Augen sehen, wie die Rebellen ihre gerechte Strafe erhielten.
Über Kimberlys Schulter hinweg beobachtete Ryan nervös Rossalyn McGrath, die leise auf ihre Schwester Kendra O’Neill einredete. Das einzige in Freiheit lebende Familienmitglied der McGraths wirkte am heutigen Morgen sehr besorgt, was ihr keiner übel nahm. Ihr Ehemann Lawren und einziger Sohn Aidan McGrath würden in ein paar Stunden von dem neu gewählten Großmeister verurteilt werden. Seit der Gefangennahme ihres Mannes und Sohnes hatte sie an Gewicht verloren. Rossalyns einfaches, dunkles Stoffkleid schlackerte um ihren dünnen Körper, ihre einst glänzenden blonden Haare waren stumpf und zu einem Zopf gebunden, ihr Gesicht war blass und die blauen Augen wirkten, als hätte sie jeden Lebensmut verloren.
Zwei Monate waren seit dem blutigen Angriff auf den Orden vergangen. An diesem Tag hatten die selbst ernannten Feinde der Datla Temelos - die Versammlung der Dunkelheit – Omey Island fast dem Erdboden gleichgemacht und dabei viele Unschuldige ermordet. Ohne Rücksicht auf Verluste waren sie über Omey Island hergefallen und hatten Ryans Großvater vor eine unmögliche Wahl gestellt. Ihr Anführer Ramon MacDermot forderte, entweder gebe Donnan sein Amt und den Orden gänzlich auf, um sich seiner Gemeinschaft anzuschließen oder er würde auf der Stelle sein Leben verlieren. Das Unvermeidliche geschah: Colin Donnan gab sein Leben bei dem Versuch, seine Brüder und Schwestern zu schützen. In diesem fürchterlichen Blutbad starben aber nicht nur Ordensmitglieder, sondern auch der Anführer der Datla Temelos. Er und seine Männer hinterließen eine Welle der Trauer und ein stark in Mitleidenschaft gezogenes Ordenshaus.
Bisher wusste niemand, wieso es überhaupt so weit gekommen war, es gab lediglich Mutmaßungen, wobei eine haarsträubender war als die andere. Aber das Ungeheuerlichste war die Beteiligung des bis dahin angesehenen Mitgliedes Lawren McGrath und dessen Sohn Aidan. Sie tauchten an jenem Tag und ohne Vorwarnung neben dem Anführer der Datla Temelos auf. Dieses Mysterium konnte sich keiner erklären, zumal beide beharrlich über ihre Absichten schwiegen. Vater und Sohn wurden zusammen mit den verbliebenen Rebellen zuerst in die Höhlen unter dem Landsitz auf Omey Island eingesperrt, später auf die private und sehr geheime Gefängnisinsel Llŷr gebracht. Kurze Zeit später hatte der Druidenrat beschlossen, Lawren, Aidan und die übrigen Gefangenen nach altem Recht abzuurteilen. Dazu benötigten sie keine moderne Rechtsprechung, die ohnehin nicht mehr an ihre uralten keltischen Wurzeln glaubte.
Kimberly folgte Ryans Blick und stellte sich neben ihn. Sie schluckte merklich und meinte leise: „Sieht aus, als hätte Kendra ihrer Schwester ein Beruhigungsmittel gegeben.“
„Hm … bevor du es wieder aussprichst, ich weiß, dass sie unschuldig ist und was sie anschließend für die Verletzten und mich getan hat“, kam Ryan seiner Freundin zuvor. „Ohne sie wären vielleicht mehr Menschen gestorben und ich hätte meinen Arm verlieren können, aber Lawren hat seine Strafe verdient. Mehr als verdient, er hätte eigentlich …“, dann stockte er und biss sich auf die Unterlippe. Er spürte die zu Schlitzen verengten Augen Kimberlys auf sich ruhen und behielt die restlichen Worte für sich, denn dieses Gespräch hatten sie schon oft geführt. Daher wusste er genau, was nun folgte.
„Ryan!“, erklang Kimberlys eindringliche Stimme, und obwohl sie wusste, dass Lawren absolut kein Unschuldslamm war, sträubte sie sich gegen die härteste aller Strafen, die bereits im Vorfeld gefordert wurde. Ryan zuckte kurz bei der Nennung seines Namens zusammen und hörte ihr pflichtbewusst zu, doch sein Blick richtete sich weiterhin auf die mit Tränen kämpfende Rossalyn McGrath. „Vergiss nie, dass Lawren die letzte Welle der Angreifer noch aufgehalten hat, sonst würde das Ordenshaus nicht mehr stehen. Hätte er nicht im letzten Moment seinen Fehler eingesehen und die anderen in die Irre geführt, wären sie und wir gestorben. Ohne ihn hätten wir am Ende nie den Hauch einer Chance gehabt und … und …“, sie brach ab.
„Ja, ich weiß, aber er ist verantwortlich dafür, dass mir einer der Rebellen die Spitze seiner Axt in die Schulter rammen konnte … das waren Höllenschmerzen, wenn ich das einmal nebenher erwähnen darf“, unterbrach Ryan ihren plötzlich stockenden Redefluss, griff sich an die gut verheilte Wunde, und wusste, dass sie durchaus im Recht war. Doch all seine Erlebnisse mit der Familie McGrath waren bisher für ihn negativ verlaufen, ganz besonders mit Aidan. Aidan zeigte gerne, dass er reicher war als der Rest des Ordens. Abgesehen von Ryan Tavish selbst, der nach der Testamentseröffnung seines Urgroßvaters sein Vermögen und das bis dahin von ihm verwaltete Vermögen seines Vaters zugesprochen bekam. Um Geld musste er sich niemals wieder Sorgen machen, denn sein Bankkonto war bis zum Rest seines Lebens gut gefüllt mit achtstelligen Zahlen. Zugleich stieg ein ungeheuerlicher Zorn in Ryan auf, wenn er an Lawren McGraths rücksichtslosen Verrat zurückdachte. Um seinem angestauten Ärger weiter Luft zu machen, sagte er laut und trotzig: „Und dann gibt es noch sein feiges Muttersöhnchen. Er darf von mir aus in einer stinkenden Müllgrube verrotten!“
„Aidan sollte noch weniger hart bestraft werden“, erwiderte Kimberly prompt.
Ryan verstand sie einfach nicht. Seit dem Angriff war immer wieder dieselbe Diskussion aufgeflammt und besonders Aidan nahm sie immer wieder in Schutz. Kimberlys Sichtweise unterschied sich überhaupt sehr von Ryans, was stets zu weiterem Zwist in der Diskussion über die McGraths führte.
„Schon gut, bei diesem Thema scheiden sich die Geister, das wissen wir“, flüsterte seine brünette Freundin diesmal und atmete tief durch. „Ich habe es dir schon mehrmals gesagt und irgendwann wirst du es auch verstehen, hoffe ich.“
„Auch das wissen wir schon“, antwortete Ryan leicht gereizt, denn diesmal wollte er nicht nachgeben. Er drehte sich zu Kimberly um. „Aidan hat mit seinem Vater die Seite gewechselt und das kann nichts und niemand ändern. Das ist eine Tatsache! Der verfluchte Schnösel dachte doch schon immer, er wäre besser als alle anderen. Und vergiss nicht, er hätte an diesem Tag beinahe jemanden getötet ... außerdem konnte er meinen Urgroßvater noch nie wirklich leiden.“
„Ryan, jetzt übertreib nicht“, schnaubte Kimberly, sie war verärgert und fühlte sich absolut missverstanden. „Du kennst die Wahrheit ganz genau und ich hoffe, dass du sie eines Tages verstehst und auch akzeptieren kannst. Ich verstehe, dass du wütend bist und einen Schuldigen suchst, doch das sollten weder Aidan noch Lawren sein. Du hast deinen Urgroßvater verloren und ich weiß auch nicht, was ich in deiner Situation machen würde, aber umgebracht hat ihn letztendlich MacDermot. Ich gebe ja zu, Aidan hat nicht immer alles richtig gemacht, aber du hast ihm trotzdem letzten Winter das Leben gerettet, als er bei eurem Streit in den See fiel, weil selbst er das nicht verdient hatte. Ja … er hat mich … also, er hat zu mir … ach, du weißt schon …“
„Er hat dich eine nervige Besserwisserin genannt … immer und immer wieder“, half Ryan aus und konnte Kimberlys Argumentation einfach nicht begreifen.
„Ja, genau“, sprach sie weiter, als wäre es das Normalste auf der Welt. „Aber denke daran, du hast dir bereits die Antwort selbst gegeben. Aidan ist feige, das ist er, seit wir ihn kennen. Er hat stets den bequemsten Weg gesucht, aber warum er das gemacht hat, wissen wir nicht. Ich glaube, es war wegen seines Vaters. Ich denke auch, Ramon MacDermot hat die Familie McGrath unter Druck gesetzt, sonst wäre es nie soweit gekommen. Vielleicht … aber nur vielleicht … hätte ich in seiner Position genauso gehandelt, wer weiß.“
„Kimberly!“, platzte es empört aus Ryan heraus. Mit großen Augen musterte er seine Freundin.
„Ich meine es ernst“, bedeutete sie ruhig.
„Ich auch … denn du spinnst! Aber es liegt wohl daran …“, erklärte Ryan aufgebracht und ballte die Hände zu Fäusten, „… du glaubst, weil ich keine Eltern habe, kann ich es nicht nachempfinden. Hab ich recht?“
Die Antwort blieb Kimberly ihm schuldig, denn in jenem Moment schrillte ein hohes Klingeln durch den Gang und kündigte den Beginn der Verhandlung an. Abrupt wandten sich beide um und liefen zu Kendra und Rossalyn hinüber.
Ryan seufzte verzweifelt und kämpfte vorerst seine Wut nieder. Streit konnte er am heutigen Vormittag – und beim Gedanken an seine Zeugenaussage – überhaupt nicht gebrauchen. Er wusste genau, dass er sachlich bleiben musste, und durfte sich keinesfalls von seinen Gefühlen leiten lassen. Dennoch war die Sache für ihn noch lange nicht beendet und er würde spätestens am Abend ein ernstes Wort mit Kimberly wechseln. Ganz egal, woher sie ihre plötzlichen Sympathien für die Familie McGrath nahm, er war nicht der gleichen Meinung.
Mit schnellen Schritten folgte er Kimberly und den beiden Frauen in den Verhandlungssaal. Zusammen setzten sie sich in die zweite Stuhlreihe. Kendra nahm neben Rossalyn Platz und hielt ihre Hand fest, während sie beruhigend auf ihre jüngere Schwester einredete und Ryan flüchtig ein begrüßendes Lächeln schenkte. Kendra O’Neill war ein älteres Ordensmitglied und früher oft bei seinem Urgroßvater zu Gast gewesen. Sie wohnte, genau wie ihre Schwester, in Clifden. Rossalyn schaute ängstlich zum Richterstuhl, und anschließend zwischen den zwei Protokollanten und den Anwesenden hin und her. Kimberly saß neben ihr und tadelte Ryan mit stechendem Blick. Doch er reagierte nicht, lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und beobachtete die Zuschauermenge. Kim würde schon noch sehen, was sie von ihrer neuen Einstellung hatte, dachte er sich.
Die Frauen und er befanden sich weit vom Eingang entfernt. Für die Verhandlungstage hatte man zusätzliche Stuhlreihen an den Wänden aufgestellt und jede war bis zum letzten Platz besetzt, denn niemand wollte sich die heutige Verhandlung entgehen lassen. Es dauerte nicht lange und Richter Hinthrone kam mit strengem Gesichtsausdruck herein, setzte sich auf seinen ledernen Richterstuhl und machte mit lauter Stimme auf sich aufmerksam.
„Wir haben uns hier im Namen des Druida Lovo von Irland eingefunden, um über folgende Angeklagte Recht zu sprechen …“ Er klappte eine dicke Mappe auf und strich sich anschließend fahrig durch sein schütteres graues Haar. Seine braunen Augen sahen müde aus, denn auf seinen Schultern lag seit seiner Ernennung zum Großmeister eine große Last. Ruhig las er fünfzehn Namen vor, darunter auch die von Lawren und Aidan McGrath. Als er geendet hatte, wurden augenblicklich fünf der eben genannten Angeklagten durch eine kleine Seitentür in den Saal geführt, flankiert von zehn bulligen Ordensmitgliedern, die mit Schlagstöcken bewaffnet waren, bereit, sie jederzeit einzusetzen.
Die Aufrührer von Datla Temelos wirkten allesamt von ihrem Gefängnisaufenthalt gezeichnet, teilweise unterernährt und alles andere als rebellisch. Viele hatten Probleme mit ihren schweren Hand- und Fußfesseln überhaupt einen Schritt nach vorne zu machen. Ihre Haltung war gebeugt und ihre ungewaschenen Körper wurden von alter, abgetragener und grauer Einheitskleidung bedeckt – eine Hose und ein Hemd. Ihre Füße waren nackt und wie ihre Gesichter dreckig.
Und dies alles im 21. Jahrhundert, dachte Ryan und schluckte. Denn mit solch einem Anblick hatte er nicht gerechnet. Die restlichen Zuschauer schienen keineswegs überrascht zu sein. Der Orden hielt an seiner mittelalterlichen Rechtssprechung fest und behandelte die Täter entsprechend. Es gab sogar eine Gefängnisinsel, sie lag irgendwo im Norden Irlands, umgeben vom Atlantischen Ozean. Kein Schiff verirrte sich dorthin. So zumindest hatten es ihm andere Mitglieder erzählt, aber selbst dorthin reisen wollte er nie. Auf Llŷr Island – nach dem irischen Meeresgott Llŷr benannt – wurden seit jeher Verbrecher, die sich am Orden schuldig gemacht hatten – bestraft, was oft durch lebenslange Haft mit dem Tode endete. Die Haftbedingungen waren grausam und unmenschlich.
Durch einen lauten Aufschrei schreckte Ryan blitzartig aus seinen Gedanken auf, als ein Gefangener wild um sich schlagend und schreiend das Urteil ‚Lebenslänglich Llŷr’ hörte. Schnell und rücksichtslos wurde er von den Wachen zur Räson gebracht. Es brach nervöses und hauptsächlich zustimmendes Getuschel in der Menge aus, als die Abgeurteilten zurück durch die Seitentür und von dort in den angrenzenden Kerker gebracht wurden, der im Keller des Gebäudes untergebracht war.
„Entschuldigung“, flüsterte Kimberly unerwartet in Ryans Ohr, und er wusste, wofür sie sich entschuldigte. Doch er war auch nicht wirklich unschuldig an ihrem vorangegangenen Streit und spürte gleichzeitig, wie seine Wut sich in Rauch auflöste.
Ryan lächelte Kimberly versöhnlich an, drückte ihre Hand und sie erwiderte sichtlich dankbar diese Geste.
„Die Verhandlung des Druida Lovo gegen Aidan Kendrik McGrath soll beginnen“, schallte die Stimme des Richters durch den Saal und in die Versammelten kam schlagartig neues Leben.
Rossalyn McGrath seufzte herzzerreißend und wischte sich verstohlen Tränen aus ihrem blassen Gesicht. Doch nun saß sie nicht mehr wie ein Häuflein Elend auf ihrem Stuhl, sondern streckte ihre schmalen Schultern und schaute gebannt hinüber zur Tür, die sich just in diesem Augenblick öffnete. Auch Kendra, Kimberly und Ryan erwarteten nervös, was nun geschehen würde.
© Annette Eickert (www.annette.eickert.info)
ISBN-Nr. 978-3-8459-0244-9
Taschenbuch 311 Seiten
Auch als eBook im Format PDF, Mobipocket, ePup und kindle edition erhältlich
ISBN-Nr. (PDF) 978-3-8459-0247-0
ISBN.Nr. (ePub) 978-3-8459-0246-3
ISBN-Nr. (Mobipocket) 978-3-8459-0246-3
erschienen im AAVAA Verlag (www.aavaa-verlag.com)
Texte: Annette Eickert
Bildmaterialien: Annette Eickert
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2012
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