Draußen auf den dunklen Straßen Londons, mitten des neunzehnten Jahrhunderts, lief der berühmte Alchemist, Puppenmacher und Zauberer Harry Potter spazieren. Das tat er in den vergangenen Wochen öfters und am liebsten schätzte er die Schwärze der Nacht und die abgelegenen Seitengassen der Großstadt. Angst vor einem Überfall besaß er nicht, denn er wusste sich durchaus zu wehren. Die Straßenlaternen brannten und spendeten ihm genug Helligkeit, um auf dem holprigen Asphalt seinen Weg zu erkennen, als er plötzlich an der nächsten Straßenecke wie angewurzelt stehen blieb. Von der gegenüberliegenden Ecke drang lautes Stimmengewirr zu ihm herüber, ein reger Menschenstrom kam und ging und alle wollten nur zu einem Platz: das neu eröffnete Café Tea Cup.
Er erinnerte sich, dass er heute Morgen in der Zeitung von diesem Café gelesen hatte, welches von einen japanischem Ehepaar gekauft, neu gestaltet und eingerichtet worden war. Die gesamte Londoner Bevölkerung, vom ärmsten Arbeiter bis zur Oberschicht, sprach seit der Bekanntmachung des Tea Cups von nichts anderem mehr. Denn angeblich sollte dort nicht nur der beste Schwarze Tee der ganzen Welt serviert werden, sondern jeder der das Café mit Sorgen betrat, würde es mit einer Lösung seines Problems wieder verlassen.
Was für ein Schwindel
, dachte Harry und schüttelte amüsiert darüber den Kopf. So konnte man die Gäste natürlich locken, vor allem die gut betuchte Londoner Gesellschaft, dessen Gerüchteküche besser funktionierte, als jede aufwendige und teure Werbeaktion. Es in den noblen Kreisen ohnehin ein Muss, nach dem abendlichen Diner sein Hab und Gut der Konkurrenz in allerlei Varianten zu präsentieren, und welcher Ort eignete sich am Besten, als der Ort von dem momentan alle sprachen.
Welch eine Ironie. Noch vor Wochen war er – Harry Potter - das Gesprächsthema Londons gewesen. Er hatte eine Erfindung gemacht, die ihm Reichtum, Ansehen und ein riesiges Anwesen mit einer noch größeren Dienerschaft gebracht hatte. Selbstverständlich blieb die Herstellung seiner Schöpfung streng geheim, nur er kannte die notwendigen Chemikalien und Zutaten, um am Ende die perfekte Puppe herzustellen. Er war Harry Potter, der bekannte und geschätzte Puppenmacher, der Puppen erschuf, die nicht nur wie Menschen aussahen, sondern sich auch wie Menschen bewegen konnten.
Allerdings war er auch sehr einsam, eine Tatsache, die er nur zu gerne lösen würde, wenn er es denn könnte. Vielleicht gerade aus diesem Grund überquerte er nun mit schnellen Schritten die Straße und blieb am Eingang des Cafés stehen. Durch meterhohe und –breite Fensterscheiben fiel das Licht der glänzenden Kristallleuchter von der hohen Stuckdecke bis nach draußen, während drinnen fast jeder Tisch voll besetzt war und Kellner und Bedienungen mit silbernen Tabletts der Kundschaft frisch aufgebrühten Tee servierten. Überall lachten die Menschen fröhlich.
Was soll’s
, sagte er sich. Einen Tee kann ich ja trinken und die Luft riecht sowieso nach Regen.
Eilig nahm er seinen Hut vom Kopf, der seine eigensinnigen schwarzen Haare in Zaum halten sollte, allerdings meist vergebens. Harry klemmte seinen Sparzierstock mit einem Elfenbeinlöwenknauf unter den Arm und betrat das anheimelnde Café Tea Cup. Mit seinem feinen Anzug wirkte er genauso edel wie die restlichen Gäste, mit denen er allerdings nur geschäftlich zu tun haben wollte. Daher schaute er sich aufmerksam um und fand an einem der hinteren Tische einen freien Platz, an dem nur ein Mann saß. Äußerlich sah der Fremde mindestens zehn Jahre älter aus als Harry, und er war gerade heute fünfundzwanzig Jahre alt geworden, doch seine Geburtstage feierte er schon lange nicht mehr. Der Mann trug einen dunklen Anzug mit Krawatte, genau wie Harry, besaß schulterlanges schwarzes Haar und trank eine Tasse Tee, während sein Blick in ein aufgeschlagenes Buch gerichtet war, welches er in der Hand hielt. Das war für ihn der richtige Tisch.
Harry lief zu dem Gast hinüber, deutete eine Verbeugung an und fragte höflich, ob hier noch ein Platz für ihn frei wäre.
Der Mann sah ein wenig überrascht auf, doch gleich darauf zierte ein Lächeln seine bis dahin emotionslosen Gesichtszüge. „Sind Sie nicht der berühmte Puppenmacher, Harry Potter?“
„Ja“, antwortete Harry knapp und folgte der galanten Einladung des Mannes, sich ihm gegenüber zu setzen.
„Wahrhaftig der berühmte Harry Potter, dessen Puppen wie echte Menschen aussehen und sich auch so bewegen?“
Ein weiteres Ja von seitens Harry folgte und nachdem der heraneilende Kellner seine Bestellung aufgenommen hatte, beobachtete er sein Gegenüber fragend. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Oh … verzeihen Sie mir“, schmunzelte der Gast und straffte seine Schultern. „Mein Name lautet Sirius Black und ich bin ein Freund der Familie Parkinson. Ihre Verlobte ist doch die wunderschöne Gräfin Pansy Parkinson, nicht wahr? Es stand zumindest so in den Zeitungen.“
„Nachrichten verbreiten sich in London leider viel schneller als ein Lauffeuer“, seufzte Harry ergeben. Selbstverständlich hatte Sirius Black mit seiner Vermutung recht. Harry Potter war seit zwei Monaten mit der Grafentochter verlobt, in die er sich vor einem Jahr Hals über Kopf beim ersten Blick verliebt hatte, genau an jenem Tag, als er seine erste menschliche Puppe dem Publikum vorgestellt hatte. Pansy saß damals mit dem Graf und der Gräfin Parkinson in der ersten Reihe, während er ihr sein Herz schenkte. Anschließend war Harry bei der Grafenfamilie ständiger Gast gewesen, bis irgendwann die Verlobung bei einer Dinerparty bekannt gegeben worden war. Er liebte Pansy über alles und zusammen lebten sie seit einiger Zeit auf seinem großen Anwesen, aber das war gleichzeitig auch sein Problem und sein Problem des Alleinseins.
„Verzeihen Sie mir meine Impertinenz, Mr Potter“, sprach ihn Sirius Black an, klappte das Buch zu und legte es zur Seite. Der Titel dieses Buches lautete ‚Tarot und seine Bedeutung’. „Wenn ich Sie so beäuge, dann sehen Sie aus, als würden Sie jemanden begehren, der keinerlei Gefühle besitzt.“
„Verraten das Ihnen die Tarotkarten, Mr Black?“, antwortete Harry mit geknicktem Seufzen und deutete auf das Buch. Er war über die Dreistigkeit nicht verärgert, sondern eher beeindruckt, dass jemand in seinem Gesicht die Wahrheit lesen konnte, ohne dass er etwas zuvor dazu gesagt hatte.
Bevor Sirius die Frage mit einem Ja oder Nein beantworten konnte, kam der Kellner und brachte Harry eine heiße Tasse Schwarzen Tees mit einem Kännchen Sahne und Zucker. Der Tee duftete sofort anders als all die anderen, die Harry kannte und neugierig nippte er auch sogleich daran. Dabei erfasste ihn ein wohliger Schauer und mit einem Mal fühlte er sich besser. Lag es wirklich an dem Getränk, oder weil er plötzlich vor sich jemanden zum Reden hatte, der seltsamerweise jetzt schon einen vertrauenserweckenden Eindruck machte? Keine Ahnung woran es letztendlich wirklich lag, er lehnte sich jedenfalls auf dem bequemen Stuhl zurück und sah Sirius Black mit trübsinniger Miene an.
„Wenn Sie reden möchten, ich habe ein offenes Ohr für Sie, Mr Potter“, sprach Sirius und gab keine Antwort auf die vorangegangene Frage von Harry. „Eigentlich habe ich schon Feierabend, aber bei Ihnen würde ich eine Ausnahme machen. Denn Sie müssen wissen, ich bin Psychiater und höre mir im Vertrauen oft Probleme anderer Menschen an.“
„Das nenne ich wohl Glück“, schmunzelte Harry und trank einen weiteren Schluck Tee.
„Oder es ist Fügung des Schicksals“, bedeutete Sirius kryptisch, räusperte sich und meinte: „Nur zu, ich kann Ihnen vielleicht am Ende helfen.“
Harry dachte kurz darüber nach und seine Einstellung zu seinem Gegenüber veränderte sich nicht. Sodann sah er Sirius eindringlich an und fing an. „Ich dachte immer wieder, ich könnte sie glücklich machen, müssen Sie wissen. Aber meine Prinzessin lacht nicht, weint nicht und ärgert sich auch über nichts. Ich glaube manchmal … Gott hat ihr das Herz gestohlen … weil sie einfach so absolut vollkommen ist. Ihr müsst auch wissen, es war bei mir wirklich Liebe auf den ersten Blick und nun ist sie meine Verlobte. Pansy ist meine eiskalte Verlobte.“
„Hmmm“, seufzte Sirius Black und legte seine Stirn in Falten. „Ihr sprecht von der atemberaubend schönen Pansy. Dachte ich mir bereits, denn vor langer Zeit hegte auch ich dieselben Gefühle für sie, wie Sie zu ihr heute. Doch ich besaß niemals das Ansehen und die Mittel um überhaupt den Gedanken wagen zu dürfen, sie jemals zu ehelichen. Aber Sie besitzen beides und ich weiß, Sie haben noch nicht alles erzählt, habe ich recht? Das alleine bedrückt sie nicht.“
Harry nickte und seine anfängliche Neugier auf dieses Geständnis wich dem Wunsch, seine inneren Ängste endlich frei und ungezwungen zu erzählen und womöglich Hilfe zu bekommen. „Als wir nach unserer Verlobung erst kürzlich zu mir zogen, veränderte sich an Pansy rein gar nichts. Sie saß und tat einfach alles ohne Spur von Emotionen. Daraufhin gab ich ihr das Versprechen ihr alles zu geben was sie wollte, Hauptsache ihr würde es gut gehen.“ Harry machte eine kurze Pause und sah sein Gegenüber angestrengt überlegen, bis Sirius ihn bat fortzufahren, was er auch augenblicklich tat. „Pansy antwortete mir auf mein Versprechen … ich sollte sie zum Lachen bringen, sie wollte immerzu nur lachen und erst dann würde die Hochzeit stattfinden, vorher nicht. Was sollte ich also tun.“ Harry schüttelte verzweifelt den Kopf und nahm einen weiteren Schluck des köstlichen Tees, der ihm neue Kraft verlieh, ohne es richtig zu merken. „So habe ich mich wirklich sehr bemüht meine Prinzessin zum Lachen zu bringen“, erzählte er weiter und spielte nervös mit den Fingern. „Aber egal was ich tue … es hat versagt … sie weint nicht, sie lacht nicht und ärgert sich nicht, sondern sieht mich nur mit ihren eisigen, schönen Augen an. Doch ich wollte irgendwie ihr Herz erobern.“ Nun stockte Harry und schluckte merklich. Für einen kurzen Moment wanderte sein Blick durch eines der großen Fenster hinaus in die Dunkelheit. Der helle Mond schien und erhellte die Straße, wo viele Menschen und einige Kutschen vorbei huschten. Schließlich schaute er wieder zu Sirius, der verstehend nickte. „Weil ich ihr Herz unbedingt wollte …“, sprach Harry jetzt leiser, „… hatte ich beschlossen eine ganz besondere Puppe zu erschaffen. So erschuf ich den Clown, der sie zum Lachen bringen sollte. Genau dieser Clown war und ist mein Meisterwerk, ich war sogar selbst von mir überrascht.“
„So … warum denn das?“, fragte Sirius Black interessiert und lehnte sich mit dem Oberkörper ein Stück nach vorne.
„Er ist wunderschön“, gestand Harry und sah den Clown vor seinem inneren Auge. Er war nur einige Zentimeter größer als er, schlank und trotzdem leicht sportlich gebaut. Sein blondes Haar reicht ihm bis zu den Ohren, darüber hinaus besaß er einfach wunderschöne, glänzende, sturmgrauen Augen und schmale, zarte Lippen. Er trug die Kleidung, die ihm Harry gegeben hatte, eine schwarze Lederhose mit schwarzen Lederstiefeln, ein halbgeschlossenes weißes Hemd, welches die unbehaarte Brust präsentierte und dazu eine dunkle, offene Lederweste ohne Ärmel darüber. Auf seiner linken Wange waren Lachtränen zu sehen und er lächelte fröhlich. „Ich sagte zu ihm … ich habe dich erschaffen, um meine geliebte Prinzessin zum Lachen zu bringen. Du bist hier, weil du sie erfreuen sollst. Und er lächelte mich umso freudestrahlender an und antwortete mir mit einer hellen und einfach nur schönen Stimme ‚Wie Ihr befehlt, Meister’
.“
„Und was haben Sie anschließend gemacht?“, wollte Sirius wissen und bestellte für sich und den Puppenmacher eine neue Tasse des herrlich duftenden und wohlschmeckenden Schwarzen Tees. „Die Leute übertreiben nicht, wenn Sie das Angebot hier loben, finden Sie nicht auch?“, frage er beiläufig.
Harry nickte und wartete mit seiner weiteren Erzählung, bis er und Sirius wieder alleine waren, dann fuhr er fort. „Rasch habe ich den Clown, dem ich persönlich den Namen Draco gegeben habe, meiner Prinzessin zum Geschenk gemacht. Doch mir schien schon von Anfang an, als wäre dies nur ein zeitweiliger Erfolg … es war wie eine Art Vorahnung. Draco versuchte es mit Akrobatik, Jonglieren, Kartentricks und tat alle möglichen verrückten Dinge, nur um sie ein einziges Mal zum Lächeln zu bringen. Doch nichts geschah … leider. Aber mir gegenüber versicherte sie inständig, sie wollte den Clown behalten. Das wiederum hat mich sehr glücklich gemacht und ich beschloss etwas zu erfinden, was Pansy laut zum Lachen bringen sollte. Von da an verbrachte ich fast die ganze Zeit in meinem Labor, während ich beide viel zu oft alleine ließ.“ Er seufzte kurz. „Anfangs fiel es mir nicht auf, doch irgendwann bemerkte ich, wie seltsam Draco manchmal war.“
„Inwiefern seltsam?“ Sirius runzelte die Stirn. „Übrigens, sind Sie sich bewusst, wenn man Dingen einen Namen gibt, dann sind es am Ende nicht einfach nur Dinge, sondern dem Menschen liegt etwas daran. Es ist wie eine Art stillschweigende Freundschaft, wussten Sie das?“
„Wenn Sie es so sagen …“, erwiderte Harry verstehend und kaute nervös auf der Unterlippe herum, „… dann könnten Sie womöglich richtig liegen. Denn was in den letzten Wochen passiert ist, ist für mich wie ein Albtraum.“ Er schluckte einen wachsenden Kloß im Hals herunter und erinnerte sich noch gut, was passiert war. Wie in Trance begann er schließlich weiterzureden, gedanklich war er bei Draco.
„Wenn Pansy den Clown mal nicht beachtete … und das kam öfters vor … versteckte sich Draco ab und zu heimlich in meinem Labor. Er beobachtete mich interessiert und brachte in manchen Augenblicken mein Herz heftig zum Klopfen … und nur, weil er mich mit diesen schönen sturmgrauen Augen anschaute. Ich sah ihn wirklich gerne einfach nur an und es tat mir einfach richtig gut in seinem Sturmgrau zu versinken und die Welt um mich herum einige Minuten vergessen zu können. Er lächelte mich dann immer liebevoll an und ich bekam Angst … ich weiß nicht einmal wovor ich Angst habe … und deswegen spielte ich ihm Desinteresse vor. Ich vertiefte mich förmlich in meine Arbeit.“
„Manchmal kennen die Menschen ihre eigenen Gefühle nicht, Mr Potter“, warf Sirius Black ein und fixierte sein Gegenüber teilnehmend, als wüsste er mehr als Harry selbst. „Vergessen Sie nicht, ich kenne Pansy Parkinson. Und Sie glauben, sie war so, wie Sie Pansy kannten?“
„Seltsam“ flüsterte Harry und zuckte die Schultern. „Ich habe es Ihnen bereits gesagt … ich habe mich in ihre Schönheit verliebt. Allerdings erkannte ich erst mit der Zeit und sehr langsam die ganze Wahrheit.“
Sirius war sich bei diesen Worten ganz sicher, dass ihm Harry Potter etwas ganz wichtiges verschwieg. Gleichzeitig versank Harry tief in seine Gedanken und merkte gar nicht, dass er diese plötzlich laut aussprach.
Harry wusste inzwischen, Pansy war nur äußerlich schön, in ihrem Inneren lebte jedoch ein Monster. Alles was er ihr bis zu diesem Tag geschenkt hatte (und das war nicht wenig gewesen) langweilte sie. Immer wieder sagte sie, alles würde ihr keinen Spaß machen. Er wiederum wusste, dass Draco seine Prinzessin unbedingt glücklich machen wollte, bis die grauenhafte Realität ans Licht kam.
Wieder arbeitete Harry im Labor, als er Draco überraschend in einer Ecke fand, der ihn fragend und mit trauriger Miene ansah. Sein stets so fröhliches Lächeln war verschwunden. Sofort wollte er wissen, warum er nicht bei Pansy sei, da erstaunte ihn Draco.
„Meister … spüren Puppen nichts und haben sie überhaupt keine Gefühle?“, fragte er unschuldig und kam Harry einige Schritte näher.
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte Dracos Schöpfer, der diese Frage äußerst seltsam fand. „Die Puppen, welche ich erschaffe können lachen, sich ärgern und auch reden, aber sie besitzen keine Gefühle. Hörst du, das gilt auch für dich.“
Dracos Blick wurde trauriger. „Doch wenn mein Herz klopft … dann glaub ich jemanden zu mögen. Ist das kein Gefühl?“
Harry war verwirrt.
„Wenn ich den Meister sehe, dann klopft mein Herz ganz schnell, dann habe ich das Gefühl zu fliegen … und … und … und in der Luft riecht es nach Rosen. Es ist immer soooo schön.“
Der Puppenmacher seufzte. „Aber du darfst so nicht fühlen, hast du mich verstanden?“ Harry starrte Draco beinah flehentlich in die Augen und spürte ein ungewöhnlich starkes Kribbeln im Bauch. Er versuchte es geflissentlich zu ignorieren und meinte mit leiser Stimme: „Du bist nur eine Puppe, Draco. Ich habe dich erschaffen und gleichzeitig bist du mein Meisterwerk.“ Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, hob er die Hände und umklammerte Dracos Oberarme. Doch plötzlich stockte er, etwas stimmte ganz und gar nicht und als er auf seine Hände blickte, waren sie blutig und Dracos weißes Hemd blutbefleckt. Erschrocken zog Harry die Hände zurück und riss ängstlich das Hemd samt Weste herunter.
Der ganze Rücken und die Arme waren mit frischen blutigen und tiefen Striemen übersäht und zeugten von Peitschenhieben. Dracos sturmgraue Augen füllten sich dabei mit echten Tränen und beschämt ließ er den Kopf hängen.
„Was ist nur passiert? Wer hat dir das angetan?“ Harry war bestürzt und mit leicht zittriger Stimme wischte er behutsam die herabkullernden Tränen von Draco ab. Schließlich schob er einen Finger unter dessen Kinn und forderte ihn sanft auf ihn anzuschauen.
Zögerlich, mit niedergeschlagenen Wimpern hob Draco den Kopf und stierte seinen Meister ängstlich an. Aber er schwieg und konnte einfach keine Antwort geben.
Seufzend nahm Harry Dracos Hände in die seine und drückte sie tröstend. Dabei tat es ihm in der Seele weh seine liebste Puppe so sehen zu müssen. Darüber hinaus brauchte er auch keine Antwort mehr, er kannte die Person, die Draco das angetan hatte. „Hab keine Angst. Solange ich in deiner Nähe bin, musst du nie mehr Angst haben. Ich werde das sofort reparieren.“
Abermals blickten sich Meister und Puppe tief in die Augen und beide spürten mit einem Mal eine starke, kaum begreifliche Zuneigung füreinander. Für einige Momente gab es nur sie und zusammen versanken sie in der Herzenswärme des anderen.
„Sie denken einfach zu gradlinig“, riss Sirius Black seinen unbewussten Erzähler aus den Gedanken und trank einen kräftigen Schluck Tee.
Harry schreckte auf und bemerkte erst jetzt, dass er laut nachgedacht hatte. Und obwohl es ihm peinlich hätte sein sollen, fühlte er sich erleichtert und hatte gleichzeitig ein merkwürdiges Gefühl, weil er Draco mit Pansy wieder alleine in dem großen Haus gelassen hatte.
„Verzeihen Sie, Mr Potter“, meldete sich Sirius erneut zu Wort, „aber Sie ziehen Ihre persönlichen Grenzen an einem Punkt, worüber Sie keinen weiteren Schritt hinaus machen können.“ Harry sah ihn ein wenig verständnislos an. „Lassen Sie mich Ihnen eine kleine Legende erzählten, sie handelt vom Bildhauer namens Pygmalio. Denn einst hatte er sich in seine schönste Skulptur verliebt und zu den Göttern gebetet, sie mögen seine Angebetete zu einem Menschen machen. Sein sehnlicher Wunsch wurde tatsächlich erhört und am Ende hat er zufrieden und glücklich mit der Liebe seines Lebens zusammen gelebt.“
Nachdem Sirius geendet hatte verfielen beide in grüblerisches Schweigen. Harry fand als erster seine Sprache wieder und fragte: „Warum erzählen Sie mir diese Geschichte? Was hat sie mit mir zu tun?“
„Ganz einfach“, lächelte Sirius und nahm sein Buch in die Hand, als würde er daraus neue Kraft ziehen. „Sie sollten es am besten wissen, besser als ich. Das Schicksal hat Sie zu mir geführt und ich weiß, dass noch etwas passiert ist. Es ist wie eine unsichtbare Dunkelheit die auf Ihnen liegt.“
„Ja … ich wusste doch nicht … ich ahnte es nicht einmal, dass sie so etwas Schreckliches tun würde, aber sie hat es getan“, platzte es aus Harry heraus, froh endlich einen Menschen von der Gräueltat berichten zu können, ohne befürchten zu müssen, dass Pansy es mitbekam.
„Was hat Sie getan?“ Sirius Blacks Frage und sein Tonfall verrieten aufrichtige Anteilnahme.
„Ich musste aus meinem Speziallager neue Chlorsäure holen“, begann Harry betroffen zu erzählen. „Als ich auf dem Rückweg zu meinem Labor war … da … mitten auf dem Boden lag Draco in seinem eigenen Blut. Ihm fehlte vom linken Knie abwärts das Bein und er sah mich weinend an. Erschrocken brachte ich zuerst die ätzende Säure in Sicherheit und kehrte eilig zurück. Draco zitterte am ganzen Körper und beruhigte sich erst, als ich ihn in den Arm nahm. Auf meine Frage, wer es gewesen war, starrte er mich einfach nur verletzt an … es war eine tiefe Wunde in seinem Inneren, verstehen Sie?“ Sirius nickte. „Draco sagte mir ‚Für Euch werde ich alles für die Prinzessin tun … Für Euch kann ich alles tun.’ Danach konnte ich nicht anders, mir kamen selbst die Tränen und ich nahm ihn ganz fest in den Arm und schenkte ihm all meine Zuneigung, die ich für ihn empfand. Und er erwiderte Sie mit einer mir nie gekannten Intensität.“
Ein weiteres Mal schwiegen beide Männer. Diesmal machte Mr Black den Anfang. „Was ist mit dem abgetrennten Bein geschehen?“
„Ich habe es erschaffen“, bedeutete Harry traurig, „und es ist für mich ein Leichtes es zu reparieren. Aber ich glaube, sein Schmerz war sehr groß.“
„Spüren Puppen überhaupt Schmerz?“ Dabei umspielte ein zaghaftes Lächeln Sirius Mundwinkel. Diese Frage hatte er nicht umsonst gestellt.
„Keine Ahnung, warum?“, Harry zuckte mit den Schultern und musterte seine Teetasse auf dem Tisch, „Draco ist anders. Draco war schon immer anders als alle anderen Puppen.“
„Ach wirklich?“ Nun wollte Sirius Black den Puppenmacher aus der Reserve locken, damit er endlich die unumstößliche Wahrheit erkannte, bevor es irgendwann zu spät sein würde. „Wissen Sie was Sie sind … ein Lügner, Mr Potter! Sie belügen sich und andere Menschen.“
„Nein! Nein, ich belüge niemanden, auch nicht mich selbst“, schnaubte Harry zurück, ließ sich jedoch betrübt gegen die Stuhllehne fallen.
„Manchmal gehen die Gefühle und die Vernunft getrennte Wege“, versuchte es Sirius Black erneut, diesmal auf einem anderen Weg. Nebenher zog er einen Stapel Tarotkarten aus seinem Jackett und forderte den Puppenmacher auf wahllos eine Karte auszuwählen. Zum Schluss hielt Sirius eine Karte in der Hand, drehte sie herum und legte diese mittig auf den Tisch. „Das ist der Teufel“, erklärte er dabei und achtete nicht auf Harrys konsterniertes Gesicht und fuhr unbeirrt fort. „Er bedeutet, dass jemand gebunden ist. In diesem Fall könnte es sich um diesen jemand direkt um Sie, die Prinzessin oder auch um Draco handeln. Oder aber um sie alle drei zusammen.“
„Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?“
„Machen Sie das, was Ihr Herz Ihnen sagt“, lächelte Sirius und packte die Karte wieder weg.
~~OO~~
Drei Tage später stand Harry Potter wieder in seinem Labor und dachte öfters an Sirius Blacks Worte zurück. ‚Machen Sie das, was Ihr Herz Ihnen sagt’, hatte er ihm geraten. Es war ein sehr guter Rat, nur wusste er noch nicht, wie er diesen befolgen sollte und wann.
„Harry!“, rief es plötzlich hinter ihm und Pansy Parkinson kam so eiskalt und wunderschön wie eh und je mit ihrem neuen, blutroten Kleid auf ihn zu, beide Hände in die Hüften gestemmt. „Wo ist der Clown, Harry?“ Ihre Stimme war so kalt wie ihre Schönheit. „Wir haben schon lang nicht mehr gespielt und ich finde ihn nirgends.“
Bevor Harry antworten konnte kam Draco fröhlich mit einem angenehm duftenden Strauß Wildblumen ins Labor gerannt. Doch beim Anblick der Prinzessin blieb er erstarrt auf der Stelle stehen und der Blumenstrauß fiel ihm aus den zittrigen Fingern. Mit furchtgeweiteten Augen sah er zwischen seinem Meister und der Prinzessin hin und her.
„Wie ich sehe …“, lachte Pansy daraufhin und trat absichtlich auf die am Boden liegenden Blumen, „… ist dein abgeschnittenes Bein wieder da. Wurde es feinsäuberlich repariert?“ Es folgte von keinem eine Antwort und keiner benötigte eine. Stattdessen fixierte Pansy Draco mit stechendem Blick und befahl: „Los … wir gehen, Clown. Wir müssen noch unser Spiel zu Ende spielen. Warte es ab … diesmal schneide ich dir den Kopf ab. Ritsch – Ratsch!“
Draco zuckte bang zusammen und sah seinen Meister mit nackter Angst an. „M … Mei … Meister! Bitte, helft mir!“
Harry schluckte merklich und die Furcht nahm auch von ihm Besitz. Schließlich kam er auf Pansy zu und wusste was er zu tun hatte. Mit energischer Stimme sagte er: „Lass den Clown in Ruhe! Draco wird nie wieder mit dir spielen. Er hat Angst vor dir, siehst du das denn nicht? Ich werde dir eine neue Puppe machen, also lass ihn in Ruhe. Draco hat dir nichts getan, dass er deine Grausamkeit verdient.“ Dabei nahm Harry Draco beschützend in den Arm und spürte, wie ganz langsam dessen Zittern abflaute.
Pansy lachte markerschütternd. „Das ist mir egal!“, spie sie und begann ärgerlich im Labor auf- und abzulaufen. „Dieser Clown war ein Geschenk von dir an mich. Hast du gehört! Ich kann mit ihm machen was ich will. Ich will keinen anderen. Das macht sonst keinen Spaß.“
Pansy schnappte sich Draco anschließend am Hemdsärmel und zerrte heftig daran, aber Draco klammerte sich Hilfe suchend an Harry fest und konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
„Stell dich nicht so an, wir gehen jetzt spielen!“, befahl Pansy schroff und zog nun stärker am Ärmel.
„Meister!“, rief Draco verzweifelt und versuchte dem plötzlich stärker werdenden Griff der Prinzessin stand zu halten. „Harry! Hilfe!“, schrie Draco panisch. „Harry, ich will nicht sterben!“ Dann konnte Draco nicht mehr und schluchzte völlig hoffnungslos auf.
Harry wiederum glaubte sich in einem schlimmen Albtraum und zerrte nun seinerseits an Dracos anderen Arm. „Hör auf!“
„Der Clown gehört mir!“, keifte Pansy und riss ein weiteres Mal an Dracos Hemdsärmel. In jenem Augenblick gab der Stoff nach, das Hemd zerriss an dieser Stelle und mit einem kräftigen Ruck verlor Pansy das Gleichgewicht und stieß mit dem Rücken gegen den hinter ihr stehenden Schrank. Es ertönte ein schmerzgetränkter Schrei und Harry und Draco sahen, als das von Harry zuvor in Sicherheit gebrachte Laborglas mit der Chlorsäure in Pansys Gesicht spritzte. Pansy schrie und schrie und schrie, während sie unter furchtbaren Qualen um sich schlug und mit verätztem Gesicht plötzlich aus dem Labor rannte.
Von diesem Tag an wurde die Gräfin Pansy Parkinson nie mehr wieder gesehen, aber seitdem lebte in Londons Straßen eine Bettlerin, deren Gesicht stets von schwerem Stoff verhangen war.
~~OO~~
Zwei Wochen später trat Sirius Blacks Diener am Abend in den geräumigen Salon ein. Sein Herr saß mit einem Buch auf dem Schoß in der Nähe des brennenden Kamins und las bei einer schöne Tasse heißen Tees. „Verzeihen Sie Sir, aber im Flur warten zwei Gentlemen, die mit Ihnen sprechen möchten“, sprach der Butler mit nasaler Stimme. „Einer behauptet der berühmte Puppenmacher zu sein.“
„Ahhh … Harry Potter“, lächelte Sirius, sah vom Buch auf und wirkte kein bisschen überrascht. „Bring Sie zu mir, Riff“, bat er und erhob sich vom Sessel.
Kaum war der Butler verschwunden, kam er mit den zwei männlichen Besuchern zurück und schloss nach einem Abwinken seines Herrn eilig die Tür zum Salon.
Dann stand Sirius Black Aug in Aug Harry Potter gegenüber, dessen zuvor leicht niedergedrückten Gesichtszüge sich in ein inneres Strahlen verwandelt hatten. Seine smaragdgrünen Augen glänzten munter und lächelnd begrüßten sich die beiden. Schließlich wandte sich Sirius an den blonden, über alle Maßen attraktiven jungen Mann an Harrys Seite, der ebenso glücklich wirkte.
„Darf ich Ihnen Draco Malfoy vorstellen, Mr Black“, sagte Harry und nahm dabei Dracos Hand in die seine. „Draco ist seit Pansy Parkinsons spurlosem Verschwinden ein Mensch … ein wahrhaftiger Mensch und ich liebe ihn.“
„Guten Abend, Mr Black“, sprach darauf Draco zum ersten Mal mit einem zufriedenen Tonfall. „Ich bin Draco Malfoy. Er hat mir alles über Sie erzählt und ich freue mich Sie endlich persönlich kennen lernen zu dürfen.“ Er streckte seine menschliche Hand aus, während in seinen leuchtend sturmgrauen Augen deutlich seine gefühlvolle Seele zu erkennen war.
„Es ist mir eine Ehre, Mr Malfoy“, gab Sirius Black zurück und beide reichten sich die Hand. „Kann ich Sie und Mr Potter zu einem Tee oder einem Glas Wein einladen?“
„Danke … das Angebot klingt verführerisch, aber wir zwei sind nur kurz vorbeigekommen, um Ihnen zu danken“, erwiderte jetzt Harry und rückte Draco ein Stück näher. Die Liebe zwischen den beiden war sehr deutlich zu spüren und auch zu sehen. „Wir haben für heute Abend Karten fürs Theater und wenn wir rechtzeitig eintreffen wollen, müssen wir uns langsam beeilen.“
„Ich verstehe“, nickte Sirius Black. „Es freut mich auf jeden Fall zu wissen, dass es Ihnen gut geht und dass Sie, Mr Potter, meinen Rat gefolgt sind. Ihr Herz hat richtig entschieden und Ihnen wurde das Wunder geschenkt. Ich wünsche Ihnen für Ihre Zukunft nur Gutes.
Anschließend bedankten sich Harry und Draco herzlich und gaben Sirius Black das Versprechen, bald auf einen erneuten Besuch vorbei zu kommen. Dann verabschiedeten sie sich und der einstige Puppenmacher Harry Potter – er hatte seinen Beruf unwiderruflich an den Nagel gehängt – und der frühere Clown Draco Malfoy, stiegen eilig in ihre wartende Pferdekutsche ein, die sie zum Theater bringen würde.
„Harry?“, fragte Draco ruhig, als beide nebeneinander in der Kutsche saßen und über Londons Pflasterstraßen ihrem Ziel entgegen fuhren.
„Ja, Draco?“, gab Harry lächelnd zurück und versank dabei tief in den wunderschönen, sturmgrauen Augen, die ihn sanftmütig ansahen.
„Sirius Black ist ein sehr netter Mensch“, erklärte der Blonde und beugte sich langsam aber betont zu Harry hinüber. „Ohne ihn gäbe es mich heute nicht, hab ich recht?“
„So oder so“, antwortete der Schwarzhaarige leise und kam seinerseits dem Gesicht seines Liebsten näher. „Er hat mir nur gezeigt, wie ich mein Herz öffnen konnte, um dir ein sicheres und liebevolles Zuhause zu schenken.“
„Das hat er tatsächlich geschafft“, schmunzelte Draco.
Einen Augenblick später lagen sich beide in den Armen. Ihre Lippen trafen sich zu einem sinnlichen und süßen Kuss. Die Welt um sie herum verschwamm zu einem Nebelschleier, der nichts und niemanden hindurch ließ. Es gab nur sie beide. Schließlich existierten nur ihrer beider schneller schlagenden Herzen, der betörende Duft des anderen und die sanfte Berührung des Menschen, den sie mit all ihrer Kraft, mit Herz und Verstand, liebten.
„Ich liebe dich, Harry“, flüsterte Draco ihm ins Ohr, als sich ihre Lippen voneinander lösten und bettete seinen Kopf auf Harrys Brust. „Da drinnen pocht es schnell und friedlich zugleich und ich habe noch nie etwas Schöneres gehört.“
Harry lächelte glücklich und streichelte mit den Fingerspitzen über Dracos warme Haut. „Es stimmt und ich werde in Zukunft alles tun, damit es immer so bleibt“, versprach er und hauchte dem Blonden ein Küsschen auf dessen weiches, blondes Haar. „Ich liebe dich auch, Draco, mit jeder Faser meines Seins!“
T H E E N D
Texte: Coverbild: Copyright by www.magicwork-orange.com
Genre: Mystik, Drama (Non-Magic)
Alter: ab 16 Jahre/Slash
Pairing: Harry x Draco
Tag der Veröffentlichung: 09.05.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Diese Geschichte ist meiner Freundin Sandra zum Geburtstag gewidmet