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Lange verschwunden...



Ich saß am Esstisch und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Schon fünf. Zwei Stunden! Das reichte. Ich schnappte mir das Telefon.
Ein nervtötendes Tuuut ertönte als es in der anderen Leitung klingelte.
„Jared Bruck“, seine Stimme klang gelangweilt, genervt und monoton. Wie sehr hatte ich mich nach dieser Stimme gesehnt.
„Ich bin’s, kommst du runter?“, fragte ich möglichst locker.
„Aber ich dachte…“, er klang verblüfft, hatte offensichtlich nicht mit einem Anruf von mir gerechnet.
„Na ja, wenn sie nach zwei Stunden nicht kommt hat sie Pech gehabt“, jetzt färbte eindeutig Ärger meine Stimme.
„Okay, bin sofort unten.“
Ich musste nicht lange auf ihn warten. Es klingelte. Ich lief zur Tür und lehnte mich an den Türrahmen.
„Hi, Kleines“, er grinste, lehne ebenfalls am Rahmen.
„Mensch Jared, ich bin nicht KLEIN.“
Er zog mich an der Taille zu sich heran und küsste mich. Ich genoss seine Nähe. Nichts war so wertvoll. Ohne ihn? Niemals.
„Also warum bin ich hier?“, noch immer grinste er schief.
„Siehst du Tim hier irgendwo? Sie hat ihn nicht hergebracht!“, ich ballte die Fäuste und versuchte die aufkeimende Wut hinunterzuschlucken.
„Warum?“
„Das wüsste ich auch gern! Erst macht sie mir Vorwürfe und jetzt…“, ich deutete in die leere Wohnung.
„Und deine Mutter hat gar nichts gesagt, sich nicht gemeldet?“, er klang noch immer ungläubig, dabei sollte man doch meinen, dass gerade er nicht ein gutes Wort für meine Mutter übrig gehabt hätte.
„Nein.“
„Tut mir Leid Kleines.“
„DU kannst ja nichts dafür!“, bemerkte ich unwirsch und wischte seine Worte mit der Hand beiseite.
„Hi, Kleines, lachen!“, er grinste.
„Jared, ich bin nicht klein.“
„Aber kleiner als ich“, er schenkte mir ein schelmisches Lächeln.
„Ist doch egal“, jetzt musste ich doch lachen.
„Na also, du hast soo ein schönes Lachen“, sacht strich er mit der Hand kurz über meine Wange.
„Ja, ja“, versuchte ich abzulenken, aber ich lächelte noch immer.
„Ist noch was?“, fragte er leise und sah mich fest an.
„Nein“, glatte Lüge, ich war eine gute Lügnerin, nur Jared wusste immer wenn ich log und ich wusste immer, dass er es wusste.
„Aha.“
„Ja.“
„Nein jetzt mal ehrlich. Alexa, was ist los mit dir?“, Alexa, mein verhasster Name, da war sogar Kleines noch besser.
„Jared…“
„Ja, ja ist ja gut du hasst den Namen.... Warum auch immer“, er strich meinen Hals entlang schob sie unter mein Haar und streichelte sanft meinen Nacken.
„Diese Diskussion hatten wir schon oft!“, sagte ich scharf. Jared war erstaunt über meinen Tonfall und zuckte zurück.
„Schon gut, entschuldige“, sagte er und hob die Hände vor die Brust, ich konnte hören, dass ich ihn verletzt hatte. Verdammt! Was konnte er schon dafür?
„Können wir jetzt BITTE über was anders reden?“, versuchte ich einen Themenwechsel ohne mich zu entschuldigen.
„Worüber?“, er sah mich an gespielt ernst und ich wusste, dass er verstand. Ich musste über seinen Gesichtsausdruck lachen.
„Ich glaube, das ist einfach nicht mein Tag heute“, sagte ich trotzdem versuchsweise. Er lächelte und nahm meine Hand.
„Zum Park?“, er verflocht seine Finger mit meinen und betrachtete unsere ineinander verschlungenen Hände.
„Immer.“
„Na dann lass und gehen“, mit diesen Worten stieß er sich vom Türrahmen ab und wartete lässig vor der Tür währen ich mir meinen Schlüssel von der kleinen Garderobe schnappte.Die Tür fiel hinter mir zu und wir verließen das kleine Mietsgebäude. Jareds Finger tasteten wieder nach meinen und hielten sie fest umschlungen, als wir die Treppen hinab liefen und ins Freie traten.
Wir schlenderten die Straße hinab. Schweigen lag zwischen uns. Ich bemerkte dass ihm etwas durch den Kopf zu gehen schien, doch er sagte nichts. Wir betraten den Park und setzten uns auf die alte Bank, die inmitten von Buschwerk versteckt war.

„Okay was?“, durchbrach ich schließlich die friedliche Stille.
„Wie was“, er musterte mich.
„Was willst du wissen?“
„Nichts.“
„Komm schon, du kannst mir nichts vormachen, also was willst du wissen?“
„Was empfindest du für mich?“
Ich hatte schon lange Angst vor dieser Frage. Die Antwort war klar für mich, aber ich war niemand der seine Gefühle gern aussprach, ich hatte immer das Gefühl wenn man zu oft sagte das man den anderen liebte, würden diese Worte an Bedeutung verlieren und irgendwie konnte ich es einfach nicht sagen, selbst wenn ich wollte.
„Das weißt du doch.“
„Du hast es mir noch nie gesagt“, sagte er leise und strich über meine Finger.
„Ich dachte das bräuchte ich nicht, weil du es sowieso weißt“ antwortete ich ausweichend.
„Tue ich das?“, er sah mich an, die Augenbrauen hochgezogen.
„Etwa nicht?“, ich hob ebenfalls eine Augenbraue, versuchte zu verbergen, dass ich dieses Gespräch eindeutig nicht führen wollte.
„Du hast es mir noch nie gesagt…“, er sah wieder auf unsere Hände.
„Ja und?“, so locker es rüberkam, innerlich zitterte ich davor wohin dieses Gespräch führen würde.
„Ich sage es auch nicht gerne zu oft, ist ja auch nicht gut. Das will ich auch gar nicht, aber einmal ist doch wohl nicht zu viel verlangt?“, er suche meinen Blick.
„Und du? Du hast es das letzte Mal gesagt als du 18 warst, auf der Party wo wir uns zum ersten Mal geküsst haben. Das ist jetzt 6 Jahre her“, der letzte Versuch, des Opfers von sich abzulenken und den Jäger zu verjagen, okay, Notiz: Sarkasmus fehl am Platz.


„Gut wie du willst: Ich liebe dich mehr als mein Leben.“, er sagte es ganz schlicht als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, aber mir bedeutete es mehr als ich gedacht hatte. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich hatte ein undefinierbares Gefühl im Bauch, dass langsam meinen Hals hinaufwanderte. Es war irgendwie beklemmend und doch… nicht zu beschreiben, am nächsten kam noch: reines Glück. Ich wollte, dass er es auch fühlen konnte. Doch ich brachte es einfach nicht über die Lippen. So sagte ich nur:
„Dasselbe könnte ich von meinen Gefühlen zu dir sagen.“
Er schaute weg, musterte einen Busch und sah mir nicht in die Augen, doch etwas flatterte durch seinen Blick. Schmerz? Ich hatte es ihm nicht sagen können wie ich wollte.
„Dann sag mir wenigstens was mit dir los ist.“
Wenigstens…


Ich zog den Brief aus meiner Hosentasche und reichte ihn Jared.
„Den hab ich heute Mittag in meinem Zimmer gefunden.“
„Und?“, jetzt klang er verwirrt.
„Er ist von meinem Vater“, sagte ich leise
„Von deinem Vater!?“, er sah mich verwirrt an.
Ich nickte.
„Was…“
„Lies ihn einfach.“
Er faltete das zerknitterte Blatt auseinander und begann zu lesen, dann ließ er das Blatt sinken und sah mich entgeistert an.
„Ist das ein Witz?“, sagte er ungläubig. Fast musste ich lachen.
„Genau das war auch das erste was ich gedacht hab…“
„Woher weiß er von MIR?“
„Noch so etwas was mich selbst verwirrt, meine Mutter schwört seit Jahren, dass sie seit meinem zweiten Geburtstag nichts mehr von ihm gehört hat und auch nicht probiert hat Kontakt aufzunehmen. Ich meine…. Ich weiß ja nicht einmal wirklich wie er aussieht!“
„Gehst du hin?“, er las sich den Brief noch einmal kopfschüttelnd durch.
„Ich weiß nicht… Wenn nur mit dir aber… nein ich gehe nicht hin! Ich hasse ihn!“
„Bist du kein bisschen neugierig… ich meine er hat den Brief IN dein Zimmer geschmuggelt!“, er nahm mich in den Arm und strich mir tröstend über den Rücken.
„Nein! Ich bin nicht im Geringsten neugierig! Es ist mir egal, ich weiß nicht was er von mir will, oder ob das was auch immer ist, einer von Tims Scherzen… Wenn es von ihm ist… ich will ihn nicht sehen!“, vor Wut zitterte ich am ganzen Leib.
Jared legte den Kopf schräg, „Kleines du weißt, dass du mich nicht belügen kannst.“
„Ja, ja also gut, ich bin neugierig, aber wenn es nicht dich einer von Tim Scherzen ist… Ich kann ihm einfach nicht verzeihen und wenn er sich das Blaue vom Himmel hinunter redet!“, nicht einmal Jareds sanften Hände an meinem Rücken konnten mich beruhigen.
„Das musst du doch gar nicht, aber willst du nicht einmal hören was er zu sagen hat?“, versuchte er es dennoch weiter.
„Ja, aber meinst du nicht, dass du dich den Rest deines Lebens fragen wirst was er sagen wollte, ich meine… IN deinen Zimmer!“
„Ja, verdammt! Aber ich will ihn nicht sehen! Ich kann das nicht, er war nie da, wenn ich ihn gebraucht habe, da werde ich bestimmt nicht auch noch antanzen, wenn er pfeift!“, ich hatte mich aus seinen Armen gewunden und war aufgesprungen, stand jetzt hilflos da. Tränen quollen ungehindert aus meinen Augen, ich versuchte sie wütend wegzuwischen und zu unterdrücken und biss mir auf die Lippe um sie zu unterdrücken. Es kamen immer nur neue. Jared machte einen Schritt auf mich zu und legte seine Arme erneut um mich.
„Nicht weinen Kleines, es ist alles gut…“, ich ließ den Tränen freien Lauf und legte den Kopf an seine Brust.

Wir saßen schweigend auf der Bank, ich lehnte gegen Jared und er hatte die Arme um mich gelegt. Schließlich fragte ich: „Ich muss hingehen, was?“
Jared lachte.
„Ich schätze schon“, sagte er und strich mir eine Strähne hinters Ohr.
„Du kommst doch mit“, ich drehte den Kopf um ihm ansehen zu können.
„Sicher, wenn du das willst“, wieder strich er die Strähne hinters Ohr, die war aber auch zutiefst widerspenstig. Nun ja, mir sollte es recht sein.
„Ohne dich gehe ich definitiv nicht hin…“sagte ich leise.
„Na dann komme ich natürlich mit“, er lächelte, beruhigt setzt ich mich wieder zurecht.
Ich strich den zerknitterten Brief glatt, den ich in zusammengeknüllt umklammert hatte.

Meine geliebte Tochter,
ich weiß nicht wo ich anfangen soll, deswegen lasse ich es. Ich muss dringend mit dir reden. Ich weiß, dass du nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen bist, doch es gibt ein paar Dinge du wissen solltest, über mich, deine Mutter und vor allem über dich selbst.
Ich bitte dich deinen Groll gegen mich zu überwinden und heute Abend um fünf zu dem kleinen Cafe zu kommen, in dem du immer mit Jared bist.

Dein, dich liebender Vater



Wütend knüllte ich den Brief wieder zusammen.
„Was soll das? Wie kann er mir nur so einen Brief schreiben… Ich meine als… als…“, ich wusste nicht wie ich es beschreiben sollte und schwieg resigniert.
„Schon gut, ich weiß was du meinst“, Jared küsste meinen Scheitel.
„Er ist ein Mistkerl, ich meine, er schreibt so, dass ich hinkommen muss, wenn ich mich nicht den Rest meines Lebens fragen will, was er wollte! Das ist doch unfair! Wenn er mich nur damit anlocken will, dann dann…“, hilflos rang ich mit den Händen.
„Dann gehen wir einfach wieder“, antwortete er ruhig.
„Ich bin so froh, dass du mit mir kommst“, ich schmiegte mich ein wenig mehr an ihn und er strich sanft mit einer Hand über meine Schulter.
„Was kann er nur von mir wollen?“, fragte ich leise.
„Ich weiß es nicht.“
Ich seufzte leise und schloss die Augen. Die Sonne schien in unser kleines Versteck.
„Ich liebe diesen Ort“, murmelte ich mit geschlossenen Augen.
„Ich auch“, sein Atem strich sanft über meine Haare.
„Jared?“, ich hielt die Augen geschlossen, doch mein Herz raste, ich wollte es ihm sagen!
„Hm?“
„Ich… Verlass mich niemals“, ich konnte es einfach nicht! Warum bloß nicht? Enttäuschung über meine eigene unsinnige Feigheit breitete sich in mir aus.
„Warum sollte ich?“, ich konnte an seiner Stimme hören, dass er genau wusste, was ich hatte sagen wollen und dass er es so akzeptierte. Erleichterung breitete sich in mir aus, mir war gar nicht aufgefallen, dass ich tatsächlich Angst gehabt hatte er könnte mich verlassen, weil ich… ihm nicht sagen konnte was ich für ihn empfand.
„Vielleicht, weil ich eine absolute Katastrophe bin? Und du…“, ich rang mit den Händen, drehte mich wieder und blickte ihn an.
Er lachte leise.
„Du bist keine absolute Katastrophe“, meinte er dann sanft.
„Doch und wie ich das bin, wenn ich dich nicht hätte würde ich vermutlich sogar vergessen die Türen zu öffnen bevor ich raus gehe“, jetzt lachte er wirklich.
„Wie hast du das denn gemacht bevor du mich kennen gelernt hast?“, gluckste er und durch seine ruhige und ausgelassene Art in diesem Moment breitete sich in mir eine unendliche Wärme aus.
„Okay, das war ein schlechtes Beispiel“, räumte ich grinsend ein.
„Allerdings“, er nickte gespielt ernst.
„Aber es stimmt trotzdem, ohne dich wüsste ich nicht was ich machen sollte“, sagte ich leise und wirklich ernst.
„Und ohne dein… Chaos… wäre mein Leben schrecklich langweilig“, ich verkniff mir ein Grinsen, Chaos war die pure Untertreibung. Und damit war nicht meine Ordnung gemeint, nur wer mich kannte würde bei meiner ordentlichen Fassade wissen was Jared meinte.
„Du? Langweilig?“, ich sah ihn verblüfft an. Jared mit seiner ganzen Geschichte ein Spießer?
„Sicher, ich bin der letzte Spießer“, er grinste.
„Hmm, okay in manchen Sachen mag das Stimmen, immerhin bügelst du Socken!“, ich lachte.
„Stimmt doch gar nicht, dass war nur weil…“, versuchte er sich sofort zu verteidigen.
Ich stöhnte. „Ist ja schon gut! Nicht noch mal die Geschichte mit der Katze!“
„Was kann ich denn dafür? Ich hab halt verrückte Nachbarn“, er lachte und strich sich durch die Haare.
„Mrs. Schick ist nicht nur verrückt… Sie ist einfach seltsam.“
„Wo genau ist da der Unterschied?“, er hob die Brauen.
„Ähm also… keine Ahnung“, wir lachten.

„Wir haben halb. Willst du vor… also vorher noch mal in die Wohnung?“, sagte er mit einem Blick auf die Uhr.
„Ja.“
„Na dann. Mach Platz und lass mich aufstehen“, gespielt genervt schob er mich sanft von der Bank.
„Hey!“, rief ich empört.
„War was?“, er sah mich unschuldig an.
„Idiot“, ich war meine Schlüssel nach ihm. Lachend fing er sie gekonnt auf.
„Na warte!“, er sprang auf und bevor ich ausweichen konnte hatte er mich von hinten gepackt und hochgehoben. Ich strampelte mit den Beinen.
„Jared! Lass mich runter!“, lachte ich und versuchte vergeblich empört zu klingen.
„Wenn du versprichst mich nicht mehr mit Schlüsseln zu bewerfen“, sagte er todernst.
„Okay versprochen“, antwortete ich genauso ernst, er setzte mich wieder ab und gab mir meine Schlüssel wieder und ich grinste: „Aber ich finde bestimmt was anderes.“
Dann lief ich davon bevor er mich wieder packen konnte.
Lachend verfolgte er mich bis vor meine Wohnungstür. Dort fing er zwischen den Armen ein und sah mich an.
„Waffenstillstand?“, fragte er mit glitzernden Augen.
„Zwischen uns?“, mein neckender Tonfall ließ ihn schmunzeln.
„Okay, stimmt… Waffenruhe?“
„Einverstanden“, nur unser keuchender Atem war zu hören, einzig wichtig war der feste Blick seiner Augen.
„Gut“, murmelte er beiläufig, dann beugte er sich vor und küsste mich leidenschaftlich. Meine Finger gruben sich in seine Haare. Eine seiner Hände legte sich in meinen Nacken, er zog mich näher zu sich. Hinter uns erklang ein Räuspern.
Wir sprengten auseinander und sahen gerade noch wie Mrs. Schick, die eine Etage über Jared wohnte, mit einem Korb die Treppe hinunter ging. Sie murmelte noch irgendwas von der ordinären Jungend und dann viel die Tür hinter ihr zu. Jared sah mich verdutzt an und wir beide fingen an laut zu lachen. Wir bekamen uns gar nicht mehr ein.
„Ich glaube nächstes Mal warten wir, bis wir in der Wohnung sind“, bemerkte Jared prustend.
„Warum, steht irgendwo, dass knutschen im Treppenhaus verboten ist?“, fragte ich, sperrte die Tür aber trotzdem auf und ging in meine Wohnung. Jared folgte mir und setzte sich an den hellen Küchentisch, während ich ins Schlafzimmer ging. Die kleine, aber helle Wohnung bestand nur aus Schlafzimmer, Bad und einem Raum mit Küche in dem auch noch Platz für ein Sofa und einen kleinen Küchentisch war, sowie einem Bücherregal und einer Kommode.
Ich öffnete meinen Schrank und schloss ihn dann entschlossen wieder. Ich würde mich nicht für diesen Idioten umziehen! Ich musterte mich im Spiegel. Blaue Augen, eigentlich ungewöhnlich dunkeltürkis, blasse Haut und schwarze Haare die sich nicht entscheiden konnten ob sie glatt oder lockig sein sollten und irgendwie dazwischen um meine Schultern bis auf Brusthöhe fielen. Ich betrachtete das türkise Sommerkleid, das ich trug, meiner Meinung nach fiel es nicht optimal, aber annehmbar. Jared trat plötzlich hinter mich, beugte sich zu mir herunter und schlang die Arme von hinten um meine Taille. Er hatte dunkle Haare, olivgrüne Augen und war mindestens 15 Zentimeter größer als ich. Er trug ein rotes T- Shirt und eine beige ¾ - Hose, die ihm einfach super standen. Er hatte eine klasse Figur.
Zum tausendsten Mal fragte mich, wie ausgerechnet wir beiden uns gefunden hatten, denn genauso wie wir optisch verschieden waren unterschied sich auch unsere Vergangenheit. Es war eine verrückte Geschichte, die mit Sicherheit nicht jeder in seinem Leben wieder fand. Wir verstanden uns einfach unglaublich gut und ich kannte niemanden so gut wie Jared, selbst meine Kindergartenfreundin Jodie nicht. Im ersten Moment war jedoch niemand auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet wir beiden einmal ein Paar werden würden. Wir hätten nicht unterschiedlicher sein können, inzwischen zweifelte jedoch niemand mehr daran, dass wir zusammengehörten, uns gab es einfach nur zusammen, im übertragenen Sinn. Er bedeutete mir einfach alles.
„Weißt du theoretisch könnten wir auch zusammenziehen… Ich meine inzwischen bezahlst du deine Wohnung selbst, da hat deinen Mutter gar nichts mehr zu melden“, sagte er plötzlich leise. Er klang fast schüchtern. Jared!
Ich lächelte ihm im Spiegel zu. Meine Mutter hatte damals nicht gewollt, dass ich mit Jared zusammenzog, sie meinte ich müsste nicht gleich beim Ausziehen mit ihm zusammenziehen, obwohl wie bereits zweieinhalb Jahre zusammen gewesen waren und es letztendlich keinen Unterschied machte. Ich hatte mich damals viel mit meiner Mutter über das Thema gestritten, aber letztendlich hatte sie am längeren Hebel gesessen wegen der Miete und die hatte ich Jared nicht alleine überlassen wollen. Sie hatte damals allerdings eingewilligt, dass ich in dasselbe Mietshaus zog, was die Sache meiner Meinung nach noch unnötiger machte.
„Gerne… Aber in welche?“, ich schmiegte mich an ihn und legte meine Hände auf seine, die mich noch immer umschlungen hielten.
„In deine, weniger Treppe“, sein Lächeln vertiefte sich.
„Gut, okay.“
„Ich glaube wir müssen los“, sagte er mit einem Blick auf die Uhr. Ich seufzte.
„Ja, du hast Recht“ seufzte er.
„Dann los“ ich drückte entschlossen die Schulten durch.

Rebell




Liéna schreckte aus dem Schlaf, ihre Mutter hämmerte an die Tür.
„Wach auf, mein Schatz!“
„Ja, ja…“, murmelte sie verschlafen, ihr Blick wanderte zu dem kleinen Fenster ihres Zimmers. Sie unterdrückte ein Stöhnen, der Himmel war grau verhangen und die Bäume am Waldrand wurden nur so hin und her geschleudert vom Wind. Sie stand auf und zog sich schnell an. Nicht auszudenken, wenn sie wieder zu spät käme. Sie hastete in die Wohnstube, schnappte sich ein Stück Brot, drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, verabschiedet hatte sie sich am Abend zuvor, und hastete nach draußen. Sofort schlug ihr der Wind hart ins Gesicht. Eilig zog sie ihre Jacke fester um ihren schmalen Körper und beeilte sich zur “Schule“ zu kommen. Alleine schon die Bezeichnung war ein Witz. Das einzige was die “Schüler“ dort lernten war Arbeit und zwar harte Arbeit. Jedes “Schuljahr“ war in vier Abschnitte geteilt, Minenarbeit, Feldarbeit, Kleidung und Stoffe waschen und herstellen, zu guter letzt: Waldarbeit. Das ganze war so aufgeteilt, dass man die erste und die letzte Stunde am Tag leidlichen Unterricht bekam und den Rest des Tages in dem gerade zu geteilten Abschnitt arbeitete. Man war gezwungen vom achten bis zum 18. Lebensjahr zur Schule zu gehen, so dass immer mehrere Altersstufen zusammen in einem Abschnitt arbeiten. Im Unterricht waren allerdings immer drei Jahrgänge zusammengefasst. In den letzten beiden Jahren sogar vier, im ersten Jahr dagegen hatte man gar keinen Unterricht.
Liéna rannte auf den kleinen Platz des Dorfes und stellte sich neben ihre beste Freundin Ramena.
„Morgen.“
„Morgen…“, Ramena wirkte resigniert. Der Feldarbeitabschnitt lag hinter ihnen und nach drei Tagen Ferien warteten jetzt Planwagen darauf alle Schüler aufzusammeln und wieder zurück zum Schulgelände zu fahren, wo der nächste Abschnitt beginnen würde. Die Mine war jetzt dran. Liéna hasste nichts mehr als die dunklen Minenschächte, ein beengendes Gefühl machte sich jedes Mal in ihrer Kehle breit, wenn sie hinab in die dunkle Tiefe stieg. Ein Schaudern überkam sie nur bei dem Gedanken daran. Aus ihrem eigenen Dorf warteten lediglich 36 Kinder darauf abgeholt zu werden. Aus ihrer Familie war sie die einzige, ihr Bruder war vorletztes Jahr das letzte Mal mitgegangen, jetzt war er zu alt, und ihre Schwester noch zu jung. Zwei Planwagen kamen die bucklige und vom Regen aufgeweichte Straße hinunter geklappert und hielten vor den Kindern an. Neben dem Kutscher saß eine Frau mit eisgrauen, strengen Augen. Lady Daren. Ihre ebenso eisgrauen Haare waren zu einem strengen Knoten zurück gebunden. Sie trug schwarze eng anliegende Kleider, ihre Hände steckten in grauen Handschuhen und um ihre rechte Faust war eine Peitsche ohne Stiel gewickelt. Sie begann, kaum dass die Wagen hielten, eine Liste von Namen abzulesen um die Anwesenheit zu überprüfen. Wehe den Familien, deren Kinder nicht kamen. Der zwölfte Name war ihrer.
„Liéna Penhaglion.“
„Anwesend.“
„Juléna Rederet.“
„Anwesend.“
„Salar Dorent.“
„Anwesend.“
„Justus Klement.“
„Anwesend.“
„Jêren Mahne.“
„Anwesend“, Liénas Blick zuckte in Richtung der samtenen Stimme. Sie zwang sich nicht weiter nach ihm Ausschau zu halten und starrte auf ihre Füße. Ramena hatte es jedoch bemerkt, warf ihr einen viel sagenden Blick zu und grinste. Liéna streckte ihr die Zunge raus. Gleichzeitig sagte Lady Daren:
„Josua Mahne.“
Keine Antwort.
„Josua Mahne!“, die Stimme schnitt kalt durch die plötzliche Stille. Wo vorher vielleicht ein zwei leise Worte oder das Rascheln von Stoff zu hören waren, hörte man nur noch das Pfeifen des unablässig schneidenden Windes.
„Er…“, Jêren setzte an etwas zu sagen, wurde allerdings schneidend unterbrochen.
„Ruhe! ...Also? Ich warte!“, plötzlich drangen schmatzende, schnelle Schritte aus einer kleinen Gasse. Ein kleiner, gerade acht Jahre alter Junge rannte durch den Matsch auf den Platz. Schlitternd blieb er vor Lady Daren stehen.
Erleichtert atmete Liéna aus, ohne gemerkt zu haben, dass sie überhaupt die Luft angehalten hatte.
„Entschuldigt Lady. Ich musste noch etwas holen.“ Genau wie ich letztes Jahr.

Bei der Erinnerung verkrampften sich sämtliche Muskeln in Liénas Körper. Armer Josua. Acht Jahre! Das ist erst sein zweiter Abschnitt.


„So, so“, Lady Daren ließ die Peitsche von ihrer Faust abrollen. Liéna wandte den Blick ab.
„Wartet!“, sie blickte wieder zu dem kleinen Jungen. Sein Bruder stand vor ihm und hob abwehrend die Hände, „Lady, es war meine Schuld, ich habe ihn gebeten zurück zu gehen und etwas zu holen, das ich vergessen hatte.“
„Deine Schuld also?“, das Lächeln auf Lady Darens Gesicht war gefährlich und unsagbar kalt.
Jêren nickte knapp und blickte ihr fest in die kalten Augen.
„Dreh dich um“, ihre Stimme war leise und irgendwie… genüsslich, ein Schaudern rann Liéna über den Rücken, die Lady lächelte noch immer.
„Entblöße deinen Rücken und leg dich auf den Boden“, das Lächeln wollte einfach nicht verschwinden, im Gegenteil. Mit jedem Wort schien es breiter zu werden. Mit zusammengekniffenen Lippen, zog Jêren seine Jacke und das Hemd aus und drückte beides seinem Bruder in die Hand, der ihn nur entsetzt anstarrte. Er ging in die Knie. Liéna richtete ihren Blick fest auf eine klapprige Hütte hinter den Planwagen, ein dicker Klos saß in ihrer Kehle. Die Peitsche sauste sirrend durch die Luft und… knallte schmerzhaft in den Ohren. Bei dem scharfen Geräusch mit dem Jêren nach Luft schnappte presste sie die Zähne fest aufeinander. Jeder einzelne Schlag hallte durch die Stille, sie zählte, hoffte, dass sie andlich aufhörte. Fünfzehn Schläge. Fünfzehn! Sie hatte nur fünf bekommen. Allerdings widersprach niemand Daren ungestraft. Stille senkte sich wieder ungebrochen über denn Platz.
Jêren lag auf dem Boden, als Liéna endlich wagte wieder den Blick von der Hütte anzuwenden, aber er hatte nicht geschrien. Ein kleiner Triumph… Fast wertlos bei dem Anblick des Blutes, das auf den Boden sickert und sich mit dem braunen, zu Schlamm zerflossenen Boden vermischte.
Als wäre nichts geschehen verlas Daren die letzten Namen. Liéna konnte den Blick nicht von dem Jungen am Boden abwenden. Dann sagte die Lady kalt:
„So und jetzt steigt endlich ein, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“
Nacheinander stiegen die Schüler in die Planwagen. Liéna rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Ihr Blick hing an Jêren, der sich nicht rührte. Sie erinnerte sich an die Hand, die ihr letztes Jahr vom Boden aufgeholfen hatte und sich nicht an dem Schlamm an ihren eigenen Fingern gestört hatte - es regnete jedes Jahr um diese Zeit - die warmen braunen Augen und das ermutigende Lächeln, das Jêren ihr zugeworfen hatte, der kurze Augenblick, als ihre Blicke sich getroffen hatten. Er hatte verhindert, dass sie liegen geblieben war. Der Himmel wusste was passiert wäre, hätte er es nicht getan. Seitdem war es um sie geschehen.
„Wird’s bald dahinten?“, die Lady musterte sie scharf. Ramena zog an ihrem Arm. Leicht benebelt setzte Liéna sich in Bewegung. Neben Jêren blieb sie unschlüssig stehen. Vor dem Planwagen, in dem noch Platz war hatte sich eine kleine Traube von Leuten gebildet die nacheinander einstiegen, die Lady stand noch immer abwartend daneben, schaute wieder in eine andere Richtung. Liéna wollte sich schon bücken und ihm aufhelfen, als er sich leise stöhnend rührte und sich aufrichtete. Er war schneller und sicherer wieder auf den Beinen als sie es für möglich gehalten hätte, sie erinnerte sich noch gut daran wie ihre Beine gezittert hatten und wie Jêren sie gestützt und ihr auf den Wagen geholfen hatte. Als er sie fragend ansah senkte sie peinlich berührt den Kopf und hastete zum Wagen wo die Lady sie bereits wieder ungeduldig musterte. Josua war bereits eingestiegen, nicht weil ihm Jêren egal wäre, auch Liénas Bruder hatte ihr immer eingeschärft falls es bei ihm passieren sollte, sofort einzusteigen und die Lady nicht noch mehr zu verärgern, das führte zu nichts, außer weiteren Verwundeten. Dass Jêren ihr letztes Jahr geholfen hatte, war die absolute Ausnahme gewesen. Vor dem Planwagen standen sich die beiden plötzlich gegenüber unschlüssig blieb sie stehen, er nickte ihr auffordernd zu. Wieder senkte sie den Blick und kletterte auf den Planwagen. Sie setzte sich schnell neben Ramena, die sie bereits ungeduldig und gleichzeitig besorgt ansah. Liéna sah gerade noch, wie Jêren leicht das Gesicht verzog, als er beim Einsteigen seinen Rücken durchbog. Er setzte sich neben seinen Bruder, der Eingang wurde zugezogen und die Planwagen setzten sich ruckelnd und schmatzend in Bewegung. Ramena tippte sie von der Seite an und hielt ihr auffordernd einen Salbentiegel hin. Aus ihrer eigenen Tasche… Sie war wohl tiefer in Gedanken versunken als sie gedacht hatte. Erschrocken schüttelte Liéna nur mit geweiteten Augen den Kopf.
„Na los!“, zischte ihre Freundin und drückte ihr den Tiegel in die Hand. Ergeben seufzend kroch Liéna zu Jêren und hielt wortlos den Tiegel hoch. Sein Blick richtete sich von irgendetwas am Eingang zu ihr. Er nickte und legte sich auf den Bauch. Ein paar Leute steuerten saubere Leinentücher und Wasser in Wasserschläuchen bei und Liéna selbst kramte als Tochter der örtlichen Heilerin in ihrer Tasche noch nach Verbandszeug. Sie erinnerte sich noch gut, wie ihre Mutter ihr die Sachen im ersten Jahr und danach bei jedem neuen Abschnitt eingepackt hatte. Auf ihre Frage warum sie das bräuchte, hatte sie bloß gemeint, sie werde schon sehen. Und das hatte sie. Mochte auch keiner helfen, solange man sich dabei selbst in Gefahr brachte – sobald sie im Wagen saßen und man es bis dort geschafft hatte, wurde geholfen, das war ungefährlich. Man durfte eben nur nicht die Abfahrt verzögern und was Jêren für seinen Bruder getan hatte – na ja man hatte ja gesehen, was das für Folgen hatte. Sie begann sanft Jêrens Rücken von Blut und Dreck zu reinigen und auf jeden langen Striemen Salbe aufzutragen. Er zuckte zusammen, als sie die einzelnen Schnitte berührte. Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf, die sie ihm hätte sagen können. „Das war sehr mutig, wie du dich vor deinen Bruder gestellt hast.“ Oder: „Es ist unmöglich was sie mit uns anstellen wegen so was!“, oder irgendetwas anderes, hoffentlich intelligenteres. Aber sie schwieg, war zu feige. Als sie fertig mit einreiben war, berührte sie ihn an der Schulter, damit er sich aufrichtete. Er setzte sich und sie wickelte Verband um seinen Rücken, bis alle Striemen abgedeckt waren.
„Du solltest das noch ein paar Mal erneuern lassen, das waren viele… Schläge“, sagte sie leise.
Er nickte, „Danke.“
„Ach was“, sie senkte wieder den Blick und kroch zurück zu Ramena.

„Du bist so ein Feigling!“, flüsterte Ramena ihr zu.
„Ach? Was hätte ich den sagen sollen, hm?“
„Was weiß ich denn? Irgendwas halt, das kann doch nicht so schwierig sein!“
„Ist es aber…“, zischte Liéna trotzig und blickte woanders hin. Sie sah aus den Augenwinkeln, dass Jêren sich wieder Hemd und Jacke übergezogen hatte und auf seinen Bruder einredete, er legte ihm die Hände beruhigend auf die Schulter.
„Du beobachtest ihn schon wieder! Aber reden kannst du nicht mit ihm!“, Liéna reagierte nicht auf die geflüsterten Worte und blickte durch eine kleine Spalte nach draußen, der leichte Landregen, so typisch für diese Jahreszeit hatte wieder eingesetzt. Jêren war ein Jahr älter als sie, es war sein letztes Jahr. In dem letzten Abschnitt dieses Jahres würde er 19 werden und danach nicht noch einmal wiederkommen. Was sie traurig fand und sie gleichzeitig freute. Er hätte es hinter sich. Schon immer hatte sie ihn, den Sohn des Schmiedes attraktiv gefunden, mit den warmen braunen Augen, dem schwarzen Haar und dem verschmitzten Lächeln, das sich ganz selten mal auf seine Lippen stahl. Besonders nach dem Tod seiner Mutter. Aber seit letztem Jahr… Dabei hatten sie nicht einmal wirklich miteinander zutun, noch nie ein Wort gewechselt, wahrscheinlich kannte er nicht einmal ihren Namen und wenn, dann nur wegen der Anwesenheitskontrolle. Er faszinierte sie, schon oft hatte sie die kleinen Gesten beobachtet mit denen er anderen half, er war intelligent und interessiert und trotzdem so… Er war beliebt und hing überwiegend mit den interessantesten Leuten herum. Wenn man ihn nicht schon ein wenig länger “kannte“, käme man nie auf den Gedanken, dass dieser… lässige Kerl sich so vor seinen kleinen Bruder stellen würde. Es war noch nicht einmal so, dass Liéna unbedingt so schrecklich in ihn verliebt wäre - dafür kannte sie ihn einfach dann doch zu wenig – viel mehr war es so, dass sie ihn bewunderte und das nicht auf eine anhimmelnde Art. Nein, es war mehr seine Einstellung, sein Mut und die Tatsache, dass er trotzdem nicht irgendwie langweilig, perfekt oder strebsam gewesen wäre, die sie bewunderte. Sie hatte oft das Gefühl, dass er eine wichtige Rolle spielen würde. Was das hieß oder was sie damit meinte war ihr selbst ein Rätsel, es war einfach eine Ahnung. Aber eines wusste sie, es waren Menschen wie Jêren, die dafür sorgen würden, dass solche Dinge wie ihre “Schule“ irgendwann verschwinden würden.

Irgendwann kam der Planwagen zum stehen und sie konnten aussteigen. Die Fahrt dauerte eigentlich keine zwei Stunden, aber es kam allen immer vor wie ein ganzer Tag, ein langer Weg, unausweichlich.
Leichter Nieselregen klatschte in ihre Gesichter und noch immer fauchte der Wind über das Land. Die Sonne war gerade untergegangen. Sofort gingen sie in die Schlafhallen, die den unterschiedlichen Jahrgängen zugewiesen waren. Die einzige Unterscheidung der Geschlechter bestand in den beiden unterschiedlichen Bädern und der Tatsache, dass die Jungen immer auf der linken Seite und die Mädchen auf der rechten Seite schliefen. Liéna, Ramena und Juléna, die erst jetzt ihre kleine Schwester alleine gelassen hatte, die natürlich in einer anderen Halle schlief, gingen auf eines der dreistöckigen Etagenbetten in der hinteren Ecke zu. Dahinter waren zwar die Bäder, aber dafür hatte man weitestgehend seine Ruhe und es gab sogar ein Fenster, was gerade im Sommer ein riesiger Vorteil sein konnte. Liéna schlief in der Mitte, Juléna unten und Ramena oben. Unter der unteren Etage waren noch drei Schubladen, in denen Kleider und andere ähnliche Sachen verstaut waren. Liéna stopfte ihre Tasche in die mittlere und legte sich dann, nach einem kurzen Gang zum Bad auf ihre schmale Matratze. Sie lag auf dem Rücken und blickte ihre Erinnerungsstücke an Zuhause an, die sie an der Unterseite von Ramenas Etage befestigt hatte. Eine Feder, die ihre Mutter ihr einmal vom Kräutersammeln mitgebracht hatte, ein schwarzes Lederarmband, das ihr Bruder ihr geschenkt hatte bevor er in ein Nachbardorf in die Lehre gegangen war und das sie nie trug um es bei der Arbeit nicht zu ruinieren, eine hellblonde Locke ihrer Schwester und eine braune Lederkette mit einer kleinen geschnitzten Taube daran, die ihrem getöteten Vater gehört hatte.
„Ich hab’ gesehen du hast Jêren verarztet“, bemerkte Juléna.
„Das hat sie… und den Mund nicht aufbekommen“, bemerkte Ramena trocken.
„Schade.“
„Das stimmt gar nicht!“, protestierte Liéna.
„Ach nein, was hast du denn zu ihm gesagt? Ich habe nichts mitbekommen.“
„Ich… Ich hab’ ihm gesagt, dass er den Verband wechseln muss, weil…“
„Liéna… Das zählt nicht!“, bemerkte Ramena fast empört.
„Lass sie doch, wenn sie sich nicht traut wird sie ihm eben ewig hinterher starren“, beiläufig von unten, während Juléna sich räkelte.
Wütend ballte Liéna die Fäuste.
„Lasst mich doch beide in Ruhe! Und Überhaupt will ich schlafen. Morgen wartet die Mine.“
Alle waren müde, Liéna hatte den ganzen Tag geschlafen, da am Abend vorher, die Spielleute da gewesen waren und alle bis tief in die Nacht aufgeblieben waren, dennoch war sie müde und am nächsten Tag würde sie ihre Kräfte noch brauchen. Und den anderen ging es nicht anders. Es war eine Tradition, dass die Spielleute in ihrem Dorf in den Abschnittsferien kamen.

… und endlich aufgetaucht



Vor der Ecke, hinter der das Cafe lag wurden meine Schritte langsamer. Ich blieb stehen.
„Was hast du?“, Jared sah mich an. Fragend. Obwohl er es wusste.
„Ich glaube ich gehe wieder zurück… Ich lasse mich doch nicht anlocken wie ein dressierter Hund!“, stieß ich hervor, versuchte meine Nervosität zu überspielen.
„Ich glaube nicht, dass du wirklich zurückgehen willst“, sagte er und sah mir fest in die Augen.
„Ach nein?“
„Nein, dafür bist du viel zu neugierig!“, Jared lachte und stupste mit dem Finger an meine Nase.
„Kann sein, aber wenn er auch nur einen dummen Spruch oder…“, ich rang mit den Händen.
„Dann gehen wir einfach Alexa“, Jared lächelte beruhigend und legte die Hände auf meine Schultern, „In Ordnung?“
Ich nickte und blickte zu Boden.
„Hey, Kleines, Kopf hoch, DU bist diesem Mann da drin nicht in geringster Weise Rechenschaft schuldig!“, er legte einen Finger unter mein Kinn und hob es an, sodass ich ihm in die Augen sehen musste.
„Ich bin nicht klein“, sagte ich lahm.
„Na komm, bringen wir es hinter uns“, er lächelte mir noch einmal ermutigend zu.
„Na gut…“, er nahm meine Hand und zog mich um die Ecke. Das Cafe war dunkelrot angestrichen und unglaublich gemütlich. Mein Lieblingsort direkt nach dem Park. Es gab keine unbequemen Stühle nur kleine Sessel oder Sofas mit rostorangen Bezügen. Der Innenraum war gelb gestrichen. Von der Wandfarbe sah man allerdings nicht viel, da eigentlich fast alles mit alten Polaroid - Bildern zugehängt war. Auf einem war zum Beispiel ein dicker Mann auf einem Fahrrad zu sehen, der freihändig fuhr und eine riesige Torte auf den Händen balancierte. Auf einem anderen sah man einen kleinen Jungen strahlend auf einem vermutlich bunt geschmückten Elefanten sitzen und breit grinsen. Wieder auf einem anderen war ein süßes kleines Haus zu sehen vor dem in Pferd mit Blumenschmuck auf dem Kopf stand und in die Kamera zu grinsen schien. An unserem Stammplatz in der Ecke, an dem auch dieses Foto hing, saß ein Mann mit hellbraunen Haaren und schlammgrünen Augen. Kaum waren wir durch die Tür getreten, die nebenbei hellblau war - das Cafe hieß nicht umsonst “Couleur“ - blickte er auf und winkte uns heran. Ein dicker Klumpen saß in meinen Magen, der von Sekunde zu Sekunde größer wurde. Mein Vater. Ich kannte nur zwei, vielleicht drei Fotos von ihm, trotzdem erkannte ich ihn irgendwie sofort.
Steif setzte ich mich gegenüber von dem Mann an den Tisch, Jared setzte sich daneben und nahm meine Hand. Ich klammerte mich daran. Der Mann starrte mich an, mit leicht, wie vor Erstaunen, geöffneten Lippen. Ich musterte ihn und fühlte dabei… nicht viel, außer Unbehagen.
„Auch wenn du das wahrscheinlich nicht hören willst: Du bist unglaublich schön und groß geworden“, Idiot!


„Da hast du wohl Recht, das will ich nicht hören und das bräuchtest du mir auch nicht zu sagen, wenn du nicht einfach vor zwanzig Jahren abgehauen wärst! Also: Was willst du?!“, ich war wütend auf ihn und ich wollte wütend auf ihn sein.
Jared drückte sanft meine Hand.
Mein Vater seufzte.
„Wahrscheinlich ist es unsinnvoll, wenn ich dir sage, dass du wütend bist und dass es mir unendlich Leid tut.“
Ich sah ihn nur mit verschränkten Armen an. Wieder seufzte er und ich meinte ein Schatten durch seinen Blick huschen zu sehen.
„Ich wollte dir das eigentlich schonender beibringen, aber das geht nicht mehr, zu erst, was ich auch noch sagen wollte ist: Du siehst ganz genauso aus wie deine Mutter in deinen Alter“, jetzt war ich es die entgeistert starrte und nicht nur ich, Jared genauso. Meine Mutter war rothaarig und hatte undefinierbar braun-grüne Augen. Nicht die geringste Ähnlichkeit zu mir.
„Ihr solltet mal eure Gesichter sehen“, lachte der Mann freudlos, „Aber Jared, ich bin unhöflich, mein Name ist Erik“, in dem Moment fiel mir auf, dass ich ihn nicht einmal seinen Namen wusste. Verrückt. Bei meiner Mutter hieß es immer bloß: „Dein Vater…“
Er streckte die Hand aus, Jared schüttelte sie kurz und blickte unbehaglich.
„Was soll das Geschwätz? Ich sehe meiner Mutter überhaupt nicht ähnlich!“, unterbrach ich Eriks, meiner Meinung nach, aufgesetzte Höflichkeit, am liebsten wäre ich aufgesprungen und nach Hause gelaufen. Das war ja wohl alles ein schlechter Scherz! Was auch sonst! Wieder seufzte er leise und meinte dann resigniert:
„Doch das tust du. Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten… Jolanda ist nicht deine Mutter Alexa“, Was redet er da?!

Eine eiskalte Hand schien sich um mein Herz zuschließen.
„Du lügst!“, fauchte ich.
„Nein, das tue ich nicht, ich habe sie erst kennen gelernt, nachdem deine Mutter gestorben war, ein Jahr danach um genau zu sein. Deine Mutter starb kurz nach deinem ersten Geburtstag. Und ich bin nicht vor zwanzig Jahren gegangen sondern vor 17. Abgehauen bin ich schon gar nicht, Jolanda hat mich hinausgeworfen als du fünf warst“, er sprach in einem Ton, der vermittelte, dass er diese Dinge schon ziemlich lange loswerden wollte.
„Sagen wir mal ich glaube dir diesen Unsinn“, was ich tat, auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, der Klumpen in meinem Magen wurde größer, „ Dann wäre Tim auch nicht mein Bruder?“
„Nein, er ist nicht mit dir verwandt“, sagte mein Vater ruhig.
„Und warum hast du mich einfach in einer fremden Familie zurückgelassen und mich nicht mitgenommen?“, ich versuchte mit meiner herablassenden Stimme das Entsetzen über die Aussage bezüglich Tim zu überspielen.
„Das hätte ich, aber hier war es sicherer für dich. Eine fremde Familie war es auch nicht. Du hast bereits zwei Jahre dort gelebt. Außerdem: Jolanda hat dich geliebt, nein liebt dich, wie ihre eigene Tochter. Tim kam erst später dazu genau wie ihr Mann.“
„Warum hast du dich nicht gemeldet?“, fragte ich schroff, ohne auf seine Worte einzugehen.
Wieder seufzte er, er hatte wohl auf diese Frage gewartet, sie aber gleichzeitig gefürchtet.
„Weil sie es nicht wollte und es verhindert hat. Ich habe dir trotzdem jedes Jahr an deinem Geburtstag geschrieben.“
„Warum sollte sie das nicht wollen? Und selbst wenn es nicht stimmt… Jedes Jahr an meinem Geburtstag, wie großzügig von dir!“
„Wahrscheinlich dachte sie, du würdest irgendwann mit mir zurück nach Hause kommen. Ich hätte dir die Briefe geben können oder dich treffen, wenn ich gewollt hätte, aber damit hätte dich nur in Gefahr gebracht. Und der Grund warum ich dir nur einmal geschrieben habe war derselbe. Die Briefe hätten dich sowieso nicht erreicht und es hätte nichts geändert…“, wenn er gewollt hätte… Aha.
„Und du glaubst mit dieser Hanebüchenen Geschichte ist alles wieder gut? Selbst wenn es stimmt, es hätte sehr etwas geändert, wenn du mir öfter geschrieben hättest. Soll ich vielleicht noch Mitleid mit dir haben? Dem armen Kerl, der den Kontakt zu seiner Tochter von einer Frau verboten bekam, die angeblich nicht einmal ihre Tochter ist?!“, warum war ich nur überhaupt gekommen? Alles in mir wehrte sich gegen seine Worte und gleichzeitig überkamen mich Zweifel.
„Nein, das glaube ich nicht Alexa, s gibt keine Entschuldigung dafür, dass ich mich nicht gemeldet habe, alle Folgen, die es nach sich gezogen hätte und kein Hindernis rechtfertigen es, trotzdem spielen sie eine Rolle und ich hoffe, dass du eines Tages wenigstens ein bisschen verstehen kannst warum ich getan habe was ich getan habe“, sagte er ernst und sah mich mit traurigen Augen an.
„Ich glaub das alles nicht, das ist doch alles an den Haaren herbei gezogen!“
„Wart mal ab, es wird noch verrückter“, Erik grinste.
„Hör auf zu grinsen!“
„Entschuldige, nächstes Mal frage ich vorher um Erlaubnis“, er grinste noch immer.
„Ich kann genauso gut auch wieder gehen“ sagte ich scharf.
„Ja das kannst du, aber ich würde es dir nicht raten, das könnte gefährlich werden, wenn nicht jetzt, dann irgendwann später“, das Grinsen war verschwunden und er sah mich ernst, ja fast besorgt an.
„Das ist Erpressung.“
„Nein, bloß eine Warnung“, er wirkte eindeutig besorgt. Ich ignorierte das, ich wollte sauer sein, verdammt! Er hatte mich alleine gelassen, ob vor 20 Jahren oder vor 17, spielte keine Rolle! Schon gar nicht wenn stimmte was er sagte, dass meine Mutter nicht… Ach was!
„So? Warum sollte das gefährlich sein? Ich bin bis jetzt hervorragend alleine klar gekommen!“, Eis klirrte in meiner Stimme.
„Das glaube ich sofort“, ich sah ihn bloß auffordernd an, er seufzte, „also gut wo soll ich anfangen?“
„Wie wäre es mit dem Anfang?“, fragte ich spitz.
„Na schön der Anfang… Zu erst einmal solltest du wissen, dass – und jetzt haltest du mich bestimmt für völlig verrückt – du kein normaler Mensch bist“, okay, was wollte er mir jetzt damit sagen? Aber bevor ich etwas sagen konnte fuhr er fort:
„Was weißt du über die nördlichen Indianerstämme Alexa?“
Ich sah ihn bloß verdattert an, woher kam den dieser Themenwechsel?
„Nun es gibt einige Stämme, die einmal den Glauben hegten, dass es Menschen gäbe, die die Gestalten von jedem beliebigen Tier annehmen könnten, Gestaltwandler mit uneingeschränkter Macht, vor der sie unsagbaren Respekt hatten. Es heißt sie hätten sie angebetet wie Götter. Sie nannten die Gestaltwandler, Nomerra, viele denken, dass wäre ein einfaches Wort aus deren Sprache. Es gibt allerdings einige Theorien, die besagen, dass es ein Wort ist, dass aus dem Wortschatz eben jener Nomerra stammt und der Name ihres Volkes ist ebenso wie Amerikaner oder Engländer.“
Ich sah ihn schweigend an.
„Was willst du mir jetzt damit mitteilen? Habe ich irgendeine Metapher verpasst?“, fragte ich spöttisch.
„Nein, ich… Wie soll ich sagen… Du entstammst dem Volk der Nomerra, dem Volk der Gestaltwandler. Ob du selbst einer bist kann ich dir nicht sagen, es würde mich allerdings stark wundern, wenn du keiner wärst.“
Ich konnte nichts sagen, gar nichts. Jared schon:
„Alexa“, seine Stimme war ruhig, „Ich glaube wir sollten gehen.“
Eigentlich wollte ich ihm zustimmen als er mich fragend ansah, aber irgendetwas ließ mich sagen:
„Warte… ich will seine ganze Erklärung hören“, die Worte waren ausgesprochen bevor ich darüber nachdenken könnte. Am liebsten hätte ich sie ruckgängig gemacht.
„Danke“, mein Vater nickte mir zu.
„Das tue ich bestimmt nicht, weil ich dir glaube, dass ich… ein… Gestaltwandler bin. Das ich dir überhaupt irgendetwas glaube. Ich will lediglich hören was du zu sagen hast, damit ich danach ohne schlechtes Gewissen gehen kann“, sagte ich so kalt und herablassend wie ich konnte. Er sah mich an, sein Blick undeutbar.
„Also weiter: Deine Mutter und auch ich stammen nicht von hier. Nicht aus diesem Land. Oder besser gesagt: Nicht aus dieser Dimension, es gibt einen Eingang hier herüber und der liegt in der Nähe der Heimat dieser Indianerstämme. Deswegen ist Klima und andere Dinge dem dortigen sehr ähnlich. Einst war unser Land teil dieser Dimension, aber das alles zu erklären würde jetzt zu weit führen. Das Leben in Nomerra ist… anders, einfacher. Ihr würdet euch vermutlich vorkommen wie im Mittelalter, aber ganz so ist es auch wieder nicht. Nicht alle dort sind Gestaltwandler, aber alle gehören dem Volk Nomerra an, zumindest fast alle. Es sind allerdings nicht alle Gestaltwandler, dass sind nur vielleicht… zwanzig Prozent. Aber dennoch sind wir anders, wir leben länger, sind stärker und einige beherrschen Magie. Wir leben unter uns und meiden die Menschen zu unserem eigenen Schutz, genau wie ihre Technik, letzteres zumindest Großteils. Deine Mutter und ich sind beide Gestaltwandler, deswegen ist es wahrscheinlich, dass auch du einer bist. Das ist allerdings noch nicht alles. Deine Mutter entstammte der königlichen Linie und du bist ihre Erbin. Ich habe dich bisher vertreten, aber jetzt bist du seit zwei Wochen 22, du bist alt genug dein Erbe anzutreten.“
Ich starrte meinen Vater an. Wie krank konnte man eigentlich sein? Vielleicht sollte ich einen Arzt rufen? Obwohl, was wäre wenn er… Oh Gott jetzt fing ich auch schon an!
„Aha, danke für diesen interessanten Familieplausch“, sagte ich trocken, nahm Jareds Hand und stand auf, „Wir gehen jetzt.“
„Alexa“, Eriks Stimme war mild, sein Gesichtsausdruck irgendwie… verstehend, „Warte bitte. Ich habe dir noch nicht alles erzählt und du sagtest du willst meine ganze Erklärung hören.“
Seufzend setzte ich mich wieder. Jetzt bereute ich meine Worte definitiv.
„Du musst wissen, dass deine Mutter nicht einfach so gestorben ist. Sie wurde umgebracht“, ich versuchte einen gelangweilten Gesichtsausdruck beizubehalten, aber seine Worte versetzten mir eine Stich. Jared drückte sanft meine Hand und meinte dann mit fester Stimme.
„Meinen Sie wirklich, dass sie ihrer Tochter das unbedingt erzählen müssen? Ich meine, wenn sie an... diese Dinge glauben… bitte. Aber ihrer Tochter etwas über ihre getötete Mutter zu erzählen… Halten Sie sie bitte aus ihren Problemen heraus.“
Erik sah ihn beinahe belustigt an.
„Deine Worte ehren dich, Jared. Nebenbei kannst du mich ruhig duzen. Aber, ich muss Alexa das erzählen, um sie zu warnen. Der Mann, der ihre Mutter getötet hat, ist mit Sicherheit auch hinter ihr her und nach allem was ich höre, ist es möglich, dass er ihren Aufenthaltsort herausgefunden hat“, kalt lief es mir den Rücken herunter. Ich konnte es nicht fassen! Etwas in mir glaubte diesem Mann und zwar jedes Wort! Trotzdem sagt ich so herablassend wie möglich: „Und warum sollte er das tun wollen?“
Mein Vater ließ sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen.
„Weil er dich als letzte aus der königlichen Linie auf unserer Seite aus dem Weg haben möchte. Sein Großvater war der Bruder deines Urgroßvaters. Die beiden waren Zwillinge und sollten eigentlich gemeinsam herrschen, das Problem war… dass sie sich nicht ganz einig waren nach welchen Prinzipien sie herrschen sollten. Der Bruder deines Urgroßvaters, Koin war der Meinung, dass der Adel wieder mehr Macht haben sollte und mehr Privilegien. Auf seiner Seite standen einige der ältesten Adelsfamilien. Sein Bruder, Emanuel, war jedoch anderer Meinung und mit ihm der Großteil des Adels, vor allen Dingen der Teil, dem es nur durch die geringeren Privilegien überhaupt möglich war eine Mitglied des Adels, beziehungsweise der reicheren Gesellschaftsschicht zu sein. Nebenbei sind wir Nomerra keine Menschen. Es kam zum Zerwürfnis der Brüder. Nach einigen Jahren des Krieges, zweigte er einen Teil des Landes ab und unterwarf sich die dort lebende Bevölkerung. Soviel in Kurzfassung. Seitdem herrscht seine Familie über diesen Teil und unsere über den anderen. Wir haben schon öfter versucht die Bevölkerung dort zu befreien, weil es ihr nicht besonders gut geht. Koin war… radikal. Aber es ist uns bisher nie gelungen. Stattdessen hat der jetzige Herrscher, Lorin, den Entschluss gefasst sich auch den Rest des Landes zu unterwerfen. Da er dann als Sohn der königlichen Linie, dein Erbe antreten könnte, will er dich töten, bevor du selbst einen Erben bestimmen kannst oder einen Ehemann als Erben hättest, was ihm dieses Recht nähme. Bei deiner Mutter war er zu spät an. Sie hat von Anfang an verfügt, dass du ihre Erbin werden solltest, wenn du alt genug wärst und dass, falls ihr etwas zustieße, ich dich bis dahin vertreten sollte.“
„Bist du jetzt fertig?“, fragte ich so betont gelangweilt wie ich konnte. Eigentlich glaubte ich ihm jedes Wort, warum auch immer. Ob ich dieselbe Krankheit wie er hatte?
„Ja, ich…“, ich ließ ihn nicht ausreden sondern stand auf. Jared ebenfalls.
„Gut wir gehen jetzt. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich gefreut hätte dich zu sehen… Papa“, Das Wort fühlte sich falsch an und irgendwie… auch nicht. Er nickte.
„Wie du möchtest. Ich möchte dir nur noch zwei Dinge sagen. Auch wenn du es mir nicht glauben magst… Ich bin stolz auf dich und ich liebe dich“, ich starrte ihn ablehnend an, „ Und außerdem werde ich dafür sorgen, dass dir nichts passiert, falls du es dir anders überlegst… Wird jemand da sein, der dich nach Hause bringt.“
Ich nickte und ging. Tausend Dinge gingen mir durch den Kopf, als ich schweigend mit Jared nach Hause ging .Wir waren nicht einmal ein Viertelstunde in dem Cafe gewesen und trotzdem… Jared ließ mich in Ruhe meinen Gedanken nachhängen. Ich hatte schon fast mein Handy aus der Tasche genommen, um meine Mutter anzurufen und ihr von meinem Treffen mit… Erik zu erzählen, als ich es mir anders überlegte. Es würde sie nur aufregen, ich wusste, dass sie meinen Vater nicht weniger hasste als ich und zwar weil ER sie verlassen hatte, ohne ein Wort und zurückgelassen hatte mit einem 2- jährigen Kind. Von mir aus auch 5- jährig.

Zwei Tage später ging ich nachdenklich von der Uni nach Hause. Es war für Herbst ungewöhnlich warm. Doch schon bald würde es kälter werden und Jared und ich müssten statt dem Park wieder mehr in unser gewohntes Cafe gehen. Auch wenn wir uns einen neuen Lieblingstisch suchen mussten. Ich verdrängte den Gedanken an meinen Vater. Jedes Mal, wenn ich an ihn dachte schwankte ich zwischen Wut und der Frage, ob er nicht vielleicht doch nicht gelogen hatte. Auch wenn ich das nicht zugeben wollte und nicht einmal Jared gesagt hatte. Auch wenn ich glaubte, dass er es ahnte und es irgendwann auch ansprechen würde. Ich kannte ihn. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Er wusste immer, wenn etwas nicht in Ordnung war und irgendwann, wenn es sich nicht von selbst einrenkte, sprach er mich darauf an. Ich hatte jedes Mal Angst davor und jedes Mal ging es mir danach besser. Während ich so, nur noch zwei Blocks entfernt von meiner Wohnung, die Straße entlang ging begann die Sonne bereits unterzugehen. Ich seufzte. Viel zu bald würde ich wieder im Dunkeln nach Hause gehen müssen. Ich bog ab um durch den Park abzukürzen, was ich dann auch lassen würde, dann wäre es mir dort nämlich zu dunkel und verlassen dazu. Ich lief gerade durch einen sehr bewaldeten Teil. Die Schatten zwischen den Bäumen waren bereits undurchdringlich. Unwillkürlich ging ich schneller. Unter den Bäumen war es merklich kühler und Gänsehaut stahl sich auf meine Arme. Mein Nacken prickelte, Blicke schienen darauf gerichtet. Ich fuhr herum. Nichts. Vor mir ertönte ein Rascheln fast wäre ich stehen geblieben. Plötzlich fiel mich etwas von links an und warf mich um. Ich gab einen spitzen Schreib von mir, dann schlug ich hart mit dem Kopf auf den Boden auf und mir wurde leicht schummrig, alles schwankte. Ein Wolf beugte sich knurrend über mich – Ein Wolf! – Sabber lief an seinen Lefzen herab. Er beugte sich vor, heißer Atem strich über meine Kehle. Ich schauderte und keuchte angstvoll. Er öffnete das Maul, ich wollte ihn von mir Stoßen, doch ich war wie gelähmt und konnte nicht einen Finger rühren. Verdammt Alexa, was soll das, beweg dich!

Ich wollte versuchen die Arme zu heben, aber im selben Moment kam etwas von der Seite und ein schwarzes etwas schlug mit einem Krachen gegen den Wolf, er flog von mir fort. Ich schloss die Augen, in der Erwartung, dass das riesige etwas auf mir landen würde, doch nichts geschah. Ich öffnete sie vorsichtig wieder und hob den Kopf. Ein heftiges Hämmern machte sich an meinem Hinterkopf bemerkbar. Ich fasste mir an die Stirn, als alles zu schwanken begann und hielt dann inne. Ein schwarzes Pferd stand mit peitschendem Schweif vor mit, daneben ein Tiger – Es wurde immer verrückter - der den Wolf böse anfauchte. Dieser warf mir noch einen Blick zu und lief dann davon. Ich setzte mich ganz auf. Vor meinen Augen wirbelte und verschwamm die Luft um den Hengst herum. Im nächsten Moment stand dort ein junger Mann mit altertümlichen Kleidern, schwarzen halblangen Haaren, die er über Stirn zurückgebunden hatte, blauen Augen und einem drahtigen Körperbau. Ich blinzelte ungläubig. Kopfschüttelnd meinte er zu dem Tiger hin: „Lorin scheint tatsächlich gedacht zu haben Erik würde sie unbewacht zurücklassen“, der Tiger fauchte zur Antwort abfällig. Ein abfällig fauchender Tiger und ein zum Mensch gewordener Hengst, Prima, ich hatte eindeutig dieselbe Krankheit wie mein Vater. Erst jetzt schien der Mann zu bemerkten, dass ich ihn verdattert musterte. Als er sich zu mir umdrehte, mir die Hand hinstreckte um mir aufzuhelfen und meinte: „Hallo, ich bin Derren, dein Wächter“, konnte ich ihn nur stumm anstarren.

Eine schlaflose Nacht



Die Glocke ertönte. Liéna seufzte erleichtert, schnappte sich ihre Sachen und war schon bei der Leiter bevor jemand anderes überhaupt seine Sachen hätte nehmen können. Sie fühlte sich wie eingesperrt in den dunklen Schächten der Mine. Schnell hakte sie ihren Sicherheitsgurt ein und machte sich daran die Leiter zu erklimmen, dem letzten Licht der Sonne entgegen. Oben löste sie ihren Gurt und rannte aus der kleinen Vorhöhle hinaus, die verhinderte, dass im Herbst und Winter allzu viel Wasser seinen Weg in die Minen fand. Mit dem tiefen Atemzug, den sie draußen sofort nahm, verschwand auch der Druck, der den ganzen Tag auf ihrer Brust gelegen haben zu schien und der Kloß in ihrer Kehle. Sie wischte sich mit einer geschwärzten Hand über die Stirn, die natürlich genauso schwarz war, und lenkte ihre Schritte in Richtung der Schlafhallen. Der Wind schlug ihr heftig entgegen, aber immerhin hatte es heute noch nicht geregnet. In der Schlafhalle machte sie sich sofort auf den Weg zu den Bädern. In dem der Mädchen befand sich auf der linken Seite ein großes Becken, in dem mindestens zehn Personen gleichzeitig Platz hatten und in dem das Wasser über einen Schleusenmechanismus vom nahen Fluss ein und wieder ausgelassen werden konnte. Rechts befand sie ein schmaler Wasserlauf, ungefähr auf Hüfthöhe, der ebenfalls vom Fluss gespeist wurde. Das Wasser war natürlich immer kalt. Im Winter besonders, aber dann zündeten sie hinter den Hallen kleine Feuer an und erhitzten dort Steine um zumindest das Wasser in den Becken zu wärmen, da der Fluss eigentlich nie zu fror hatten sie zumindest das ganze Jahr immer frisches Wasser zum waschen zu Verfügung. So weit Liéna wusste sahen alle Bäder so aus. Die Latrinen befanden sich ganz auf der anderen Seite, am Ende des Schulgeländes - wenn man es denn so nennen konnte - was besonders im Winter ziemlich lästig und unangenehm war.
Liéna schloss die hintere Schleuse zum Ablassen und öffnete die andere, das Wasser kam sofort und nach wenigen Minuten war das Becken voll, als sie sich gerade in das kalte Wasser gleiten ließ, kamen die ersten anderen Mädchen von der Mine. Alle mit schwarzem Staub von oben bis unten bedeckt. Juléna und Ramena waren darunter, sie hatten sich längst daran gewöhnt, das Liéna immer vor allen anderen aus der Mine verschwand. Sie gesellten sich zu ihr ins Wasser und alle drei begannen sie den dunklen Staub mit Seife und Waschlappen abzuschrubben. Sie beeilten sich, damit die anderen sich auch noch vor dem Unterricht waschen konnten, außerdem war das Wasser um diese Jahreszeit schon empfindlich kalt, und redeten nicht sonderlich viel.
Als sie fertig waren stopften sie ihre Minenkleider in einen kleinen Beutel und erst dann in die Schublade, damit nicht alles andere auch dreckig wurde. Schnell zogen sie wieder andere Sachen an und kämmten sich die Haare.
„Sollen wir rausgehen solange es mal nicht regnet?“, Juléna blickte die beiden anderen fragend an.
„Warum nicht?“, die drei nahmen schon mal ihre Taschen mit den wenigen Schulsachen und machten sich dann auf den Weg nach draußen. Vor dem Unterrichtsgebäude waren viele Sitzgelegenheiten und so ließen sich die Mädchen so nah wie möglich am Waldrand, um ungestörter zu sein, auf einer Bank nieder. Man konnte sehen wie nach und nach die anderen Abschnitte eintrudelten und schwatzend auf ihre Schlafhallen zugingen. Jeder Jahrgang bekam im ersten Jahr eine Schlafhalle zugewiesen, die er bis zum letzten Jahr beibehielt, die dann frei gewordene bekamen die Neuen. Liéna konnte sehen wie Jêren mit seinen Freunden von der Waldarbeit zurückkam. Ihr eigener Bruder war auch mit ihm befreundet gewesen allerdings war der ja schon im zweiten Jahr nicht mehr da. Trotz dieser Freundschaft hatte sie rein gar nichts mit Jêren zutun, außer dass sie zusammen Unterricht hatten, was bei der Menge an Schülern nicht so besonders viel zu heißen hatte. Eigentlich nichts. Sie hatte ihrem Bruder nichts von ihrer… Zuneigung zu Jêren erzählt, bloß, dass er ihr geholfen hatte und ihr Bruder war ja vielleicht vieles, aber er war nicht der Mann, der SOWAS bemerkte, egal wie gut er seine Schwester kannte. Außerdem redete sie nicht außergewöhnlich viel von Jêren oder so etwas in der Art, sie wollte nicht, dass ihr Bruder es wusste. Warum auch immer.
„Sag mal Liéna, ich weiß, dass das jedes Jahr so ist, aber wie zum Teufel schaffst du es bloß immer so schnell aus der Mine zu verschwinden?“, Juléna sah sie an und riss sie aus ihren Gedanken.
„Ich weiß nicht, ich beeile mich eben. Wenn ich dran denke, dass das erst der erste Tag war, würde ich mich am liebsten aufhängen!“
„Na, na du wirst doch nicht, dann kannst du ja Jêren nicht mehr beobachten“, Ramena grinste sie an.
„Ha, ha, sehr witzig. Aber wo wir schon mal beim Thema Männer sind: Was läuft denn eigentlich zwischen dir und Justus?“
Jetzt grinste auch Juléna.
„Nichts, was soll da schon laufen… Er war halt vorgestern da und wir sind ein bisschen spazieren gegangen und sonst nichts“, Ramena blickte in eine andere Richtung und Liéna warf Juléna einen viel sagenden Blick zu.
„Spazieren bei dem Wetter?“, jetzt war es Liéna, die ihre Freundin neckte. Schweigen. Dann:
„Wisst ihr was? Ich habe nicht die geringste Lust auf Kohlräbchen und sein Geschwätz, ich meine die Sachen, die wir im Moment machen wissen wir schon von Liéna und was sie uns nicht beigebracht hat, machen wir sowieso nicht im Unterricht“, meinte Ramena und die anderen beiden grinsten über ihren Versuch das Thema zu wechseln.
„Ach Kohlräbchen geht doch, trotz des Themas. Ich finde Daren viel schlimmer, wenn sie irgendwelchen Müll über unsere Geschichte erzählt, der von vorne bis hinten erlogen ist!“, Liéna schüttelte den Kopf.
„Jaja wir wissen, dass du immer gebannt an seinen Lippen hängst und jedes Wissen in dich aufsaugst. Selbst wenn du über etwas mehr weißt als er. Allerdings hast du, was Daren angeht, Recht“, bemerkte Ramena trocken.
„Zum Glück zwingt sie uns ihr Gelaber nur Samstags auf“, Juléna seufzte.
Die Glocke erklang ein weiteres Mal und beendete alle weiteren Gespräche. Die Mädchen schulterten ihre Taschen und machten sich auf den Weg in ihren Unterrichtsraum. Der Raum war ziemlich groß, immerhin musste er eine große Menge an Schülern aufnehmen, ganze vier Jahrgänge. Eigentlich war es mehr eine Halle. Vorne war ein kleines Podium und eine Tafel, auch wenn man in den hinteren Reihen nicht lesen konnte was darauf geschrieben wurde, ansonsten war der Raum leer. Liéna ging auf die Fensterseite zu und setzte sich relativ weit vorne, aber auch nicht ganz, auf den Boden. Ergeben folgten ihr die beiden anderen. An dieser Stelle saß man am Rand und bekam eigentlich fast alles mit, obwohl es in der Halle eigentlich nur in den Stunden von Lady Daren vollkommen ruhig war.
Nach und nach strömten immer mehr Schüler in de Halle und suchten sich einen Platz auf dem Boden. Liénas Blick folgte unbemerkt Jêren, der sich mit einigen seiner Freunde auf der anderen Seite Halle, aber ebenfalls recht weit vorne, auf dem Boden niederließ. Mit einem weiteren Glockenschlag eilte Kohlräbchen, wie immer ziemlich zerstreut mit einem Stapel ungeordneten Pergaments in den Armen in den Raum. Seine Halbglatze war umrahmt von fransigem, grauem Haar und eine kleine schwarzgeränderte Brille saß wie immer schief auf seiner Nase. Irgendwie machte er insgesamt einen windschiefen Eindruck. Er trug eine Magistratsrobe und sogar die wirkte irgendwie verzogen, was der schief auf seiner Hüfte hängende Gürtel auch nicht besser machte. Das Beeindruckendste an dem klapprigen Mann, wenn man von seinem unglaublichen Wissen absah, das nach Liénas Meinung an dieser Schule verschwendet war, waren seine blauen klaren Augen. Sie standen im starken Kontrast zu seinem ansonsten chaotischen Äußeren, seinem zerstreuten Auftreten und wirkten ruhig und verständnisvoll. Sie waren das, was Liéna glauben ließ, dass dieser Mann mit dem System unter Lorins Herrschaft nicht so ganz einverstanden war. Kurz gesagt, er war einer der interessantesten Menschen, die sie kannte. Magistrat Polerk. Wo sein Spitzname Kohlräbchen herkam war das Rätsel der Schule. Keiner wusste es, er hatte ihn schon immer gehabt.
„Guten Abend Herrschaften“, seine Stimme wirkte genauso fest und ruhig wie seine Augen, was irgendwie immer den Verdacht aufwarf, dass jemand anderes sprach, „ Ich würde gerne mit dem Thema von heute morgen weiter machen. Wer kann mir noch einmal die fünf Pflanzen nennen, die jede Heilerin als die fünf Grundzutaten bezeichnen würde?“
Keiner meldete sich. Liéna wusste es natürlich, aber sie meldete sich nie, normalerweise hätte sie mitgeschrieben, aber da sie im Moment Heilkunde durchnahmen wusste sie darüber sowieso schon mehr als alle anderen. Die Gespräche waren zwar etwas leiser geworden als Kohlräbchen den Raum betreten hatte, aber sie hatten nicht aufgehört. Es war eigentlich noch immer ziemlich laut. Sein Blick irrte über die Reihen und als er Liéna streifte, hatte sie das Gefühl, das er einige Sekunden an ihr hängen blieb, erwartungsvoll und dann enttäuscht weiterhuschte. Sie hatte das Gefühl, dass sich hinter dem Blick noch mehr verbarg, aber sie wusste einfach nicht, was. Nur eine Handvoll Schüler hörte zu, wenn es 25 waren, waren es viele. Wie sie wusste gehörten Jêren und einige seiner Freunde dazu, Juléna und Ramena ebenfalls wobei das nicht immer so gewesen war. Es hatte sich nach einem Wutanfall Liénas geändert, als die beiden vor ein paar Jahren über Kohlräbchen hergezogen hatten. Liéna war außer sich gewesen und hatte in ihrer kleinen Küche zu Hause die beiden angeschrieen, wie sie nur so blöd sein könnten und Lorin auch noch so in die Hände zu spielen. Eine heftige Reaktion für das sonst so ruhige und schüchtern ausgeglichene Mädchen. Er wollte, dass sie dumm blieben und wie ein großer Teil der anderen hatten die beiden einfach nicht verstanden, dass der Unterricht so angelegt war um die Menschen klein und dumm zu halten. Es gelang ihm allerdings nicht bei allen. Ein paar Familien hatten immer noch alte Geschichtsbücher oder anderes zu Hause und vermittelten ihren Kindern, was sie konnten. Ihr selbst hatte es ihr Vater beigebracht und als er gestorben war hatte ihr Bruder seinen Platz eingenommen. Von ihrer Mutter hatte sie alles über Heilkunde gelernt was diese wusste, beziehungsweise lernte noch immer. Nach ihrem ungewöhnlichen Wutanfall in der kurzen Pause zwischen einem Schuljahr hatte sich Julénas und Ramenas Verhalten im Unterricht von Grund auf verändert. Nun ja, sie waren nicht dumm und Liéna war nicht einfach so mit ihnen befreundet. Letztendlich war das Lernen auch ein kleines Auflehnen gegen Lorin, das allerdings im Grunde doch fast nichts brachte.

Jêren saß da und lauschte Kohlräbchens Worten als dieser irgendwann aufgegeben und einfach einen Schüler in der ersten Reihe gefragt hatte. Die Antwort war korrekt gewesen und jetzt erklärte der Magistrat den häufigsten Gebrauch von Kapp- Kraut. Wundsalbe. Die, die er gerade jetzt auf dem Rücken hatte. Er kniff die Lippen zusammen. Die Salbe wirkte gut, eben hatte sein Bruder Kimon, den Verband und die Salbe erneuert, Kimon war fünfzehn und ein ziemlich schlaksiger Junge. Im Moment war er im Minenabschnitt. Joels Schwester hatte ihm die Salbe dafür mitgegeben, wie hieß sie doch gleich? Liéna. Eigentlich war es seltsam, dass er kaum den Namen der Schwester seines besten Freundes kannte, aber er begegnete ihr im Dorf äußerst selten und bei einem Fest oder in der Schule war sie nie bei ihrem Bruder gewesen, obwohl dieser seine Schwester über alles liebte und ansonsten alleine viel Zeit mit ihr verbracht hatte. Was das anging waren Jêren und Joel sich sehr ähnlich und das wussten sie von einander ohne häufig über ihre jüngeren Geschwister zu sprechen. Und wenn, war Liéna nur seine Schwester und die kleinste eben die kleine Schwester. Man hatte es mehr daran gemerkt mit welchen Ton er über sie sprach, besonders über die Ältere. Joel war auch der Grund gewesen, warum er dem Mädchen das letzte Jahr geholfen hatte, er wusste genau, dass Joel gegen seinen eigenen Rat genau dasselbe getan hätte, vielleicht sogar das, was er selbst gestern für Josua getan hatte.
Warum sie ihm allerdings die Salbe über seinen Bruder gegeben hatte war ihm ein Rätsel, genauso wie sie gestern unschlüssig vor ihm gestanden hatte als er… auf dem Boden gelegen hatte. Wahrscheinlich wegen Joel.
Die Tür ein paar Schritte vor ihm flog auf. Lady Daren kam mit energischen Schritten herein. Sofort herrschte Stille in der Halle. Kohlräbchen musterte sie irritiert, die Brille auf seiner Nase rutschte noch ein wenig mehr herunter.
„Magistrat Polerk, darf ich euch kurz unterbrechen?“ fragte Daren kalt.
Kohlräbchen erwachte aus seiner Erstarrung, schob die Brille zurecht, drückte den unordentlich Pergamentstapel wieder fester an seine Brust und nickte linkisch.
„Ich habe eine Ankündigung für diesen Samstag zu machen. Die Schule wird der Hinrichtung eines entlarvten Verräters beiwohnen. Findet euch nach Dörfern unterteilt morgens auf dem Platz ein und erklärt den jüngeren Jahrgängen die genauen Abläufe, ich will keine, die aus der Reihe tanzen! Verstanden?“
Zögerlich, zustimmendes Gemurmel antwortete ihr von den Schülern. Lady Daren ließ einen letzten, kalt prüfenden Blick über die Schüler wandern, nickte dem Magistrat knapp zu und verließ die Halle. Kohlräbchen wandte den Blick langsam wieder von der laut zugefallenen Tür zurück zu seinen Schülern, meinte „Äh ja…“, und fuhr dann mitten in seinem Stoff fort.
Aufgeregtes Geflüster erhob sich unter den Schülern und selbst die, die normalerweise zuhörten unterhielten sich jetzt aufgeregt.
„Was glaubt ihr, was für ein großer Verbrecher ist es diesmal?“, Justus blickte seine Freunde an.
„Vermutlich wieder ein Wilderer, wie immer. Sie machen das jedes Jahr irgendwann um alle einzuschüchtern… Oder könnt ihr euch erinnern, dass sie jemals einen tatsächlichen Verräter hingerichtet haben?“, Orans Stimme war bitter.
„Oh, ich glaube, das machen sie durch aus, aber es in der Öffentlichkeit zu tun wäre viel zu gefährlich…“, sagte Jêren leise. Die beiden und sein Bruder sahen ihn fragend an.
„Na was glaubt ihr wie würden wir reagieren, wenn sie jemanden in aller Öffentlichkeit hängen, der tatsächlich… sagen wir für Erik spioniert und ihm geholfen hat?“
„Na genau dasselbe, wie so auch, uns aufregen…“, Oran wirkte verwirrt.
„Ja, das mag stimmen, aber überleg einmal, jedes Jahr richten sie irgendwann jemanden hin, der gewildert hat, viele tun das, sonst verhungern sie. Es ist etwas, das einschüchtert, aber nicht davon abhält, es ist bloß einer irgendwann jedes Jahr, die Wahrscheinlichkeit es zu werden ist sehr gering. Spionieren tut jedoch kaum einer, wenn jemand öffentlich hingerichtet wird, der sich gewehrt hat riskieren sie es ein Gesicht zu schaffen, das niemand vergessen wird. Einer der sich gewehrt hat, der nicht alles mit sich hat machen lassen.“
Die Jungen schwiegen und dachten darüber nach. Bevor jemand etwas sagen konnte beendete die Glocke den Unterricht und damit auch das Gespräch. Alle standen auf um sich auf den Weg zu Versammlungshalle zu machen, die die Rückseite des Unterrichtsgebäudes bildete, der vordere war in die dagegen kleinen Unterrichtshallen unterteilt, während hinten alles offen war. Es gab Gerüchte, das Magie, vor allem bei den Herbststürmen, die gerade wüteten, sämtliche hallenartigen Gebäude aufrecht hielten. Jedenfalls hatte die große Versammlungshalle noch eine andere Funktion als die, die ihr Name preisgab. Dort gab es morgens vor und abends nach dem Unterricht Essen.
Jêren ließ seine Freunde vorgehen und suchte im Gang nach Joels Schwester. Sie ging neben zwei anderen Mädchen, die ebenfalls aus seinem Dorf waren und hörte den beiden stumm beim Reden zu.
„Liéna?“, sie fuhr herum, er trat direkt vor sie, sie schlug sofort die Lider nieder und senkte den Blick auf seine Brust. Ihre Freundinnen warfen ihm und Liéna einen Blick zu und gingen dann stumm weiter.
„Ich wollte dir deine Salbe zurückgeben, ich denke ich brauche sie nicht mehr. Falls doch hat jemand aus unserem Jahrgang bestimmt auch welche dabei“, sie nahm den kleinen Tiegel nickte stumm und wollte sich umdrehen, ohne ihn direkt angesehen zu haben. Das schüchterne Mädchen verwirrte ihn, war sie doch das krasse Gegenteil von Joel. Genauso hatte es ihn verwirrt, dass sie ihm überhaupt die Salbe gegeben hatte, es gab zwar nicht so viele, die welche dabei hatte, wie jemanden der Verbände oder so hatte, aber doch immer noch einige aus jedem Jahrgang.
„Sag mal hast du irgendetwas Neues von Joel gehört?“, fragte er sie und sie drehte sich noch einmal um.
„Er war am ersten Tag da und ist schon ziemlich früh wieder zurück“, sagte sie so leise, dass er sie kaum verstand, „Er hat gesagt, er wollte eigentlich noch bei euch vorbeischauen, aber Mama hat ihn ewig aufgehalten.“
Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Ihr langes kastanienbraunes Haar war zu einem langen Zopf gebunden, der über ihre rechte Schulter nach vorne floss. Ihr ganzer Körperbau war ziemlich schmal und doch weiblich. Sie war hübsch befand er und im Gegensatz zu ihrer Schwester, sah sie ihrem Bruder irgendwie sehr ähnlich. Alleine schon die hohen Wangenknochen.
„Oh, na dann, in Ordnung…“, sagte er ein wenig enttäuscht er hatte Joel lange nicht gesehen.
„Er wollte wirklich kommen, aber nachdem Mama ihn so lange aufgehalten hatte musste er zurück“, ihre Stimme war ein bisschen fester geworden als sie ihren Bruder verteidigte.
„Schon in Ordnung. Wenn du ihn noch mal siehst grüß ihn von mir.“
Sie nickte. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Dauerte an.
„Äh ja… ich gehe dann mal in die Halle was essen“, meinte er vorsichtig.
Sie nickte wieder und bevor er sich in Bewegung setzen konnte, hatte sie sich umgedreht und ging hastig mit gesenktem Kopf davon. Er starrte ihr einen Moment nach und folgte ihr dann in Richtung Versammlungshalle.

In der ersten Nacht eines Abschnittes schliefen eigentlich alle gut. In dieser Nacht jedoch gab es zwei, die kein Auge zu bekamen.
Die eine war Liéna. Sie wälzte sich hin und her, döste ein- zweimal kurz weg, trank etwas, versuchte sich zu entspannen, nichts half. Der Schlaf wollte nicht kommen. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu den Ereignissen des Abends, erst die Ankündigung der Hinrichtung, dann das Gespräch mit Jêren. Wenn man es denn so nennen kann!

, dachte sie trocken.
Juléna und Ramena hatten beim Essen verlangt, das sie jedes einzelne Wort noch einmal wiederholte und wollten ganz genau über seinen Ton und seine Mimik Bescheid wissen. Dass sie ihnen letzteres nicht sagen konnte, weil sie es vermieden hatte ihm ins Gesicht zu sehen, verstanden die beiden überhaupt nicht. Nun ja, sie selbst ja eigentlich auch nicht. Sie hatte Angst gehabt ihn direkt anzusehen, dabei strahlte seine Nähe eine gewisse Sicherheit auf sie aus. Es war einfach verrückt. Jetzt lag sie auf dem Rücken starrte auf die Unterseite von Ramenas Matratze und verfluchte sich selbst zum tausendsten Mal. Du feige Nuss!


Hin und wieder huschten ihre Gedanken wieder zu der Hinrichtung. Das Jahr zuvor hatte sie mit Ramena und Juléna ein ganz ähnliches Gespräch geführt, wie Jêren an diesem Abend. Davon wusste sie natürlich nichts, trotzdem musste sie an dieses Gespräch denken. Lorin hatte einige Familien des alten Adels auf seiner Seite, die viel Macht besaßen und oft über beträchtliche Magie verfügten, die die Grenzen schütze. Von der Akademie mal ganz zu schweigen. Das hatte verhindert, dass Erik oder seine Vorgänger, diesen Teil des Landes hätten befreien können. Allerdings arbeitete Lorin daraufhin das ganze Land an sich zu reißen. Immer öfter kam es zu Kämpfen und Unruhen. Wesentlich öfter als in der ganzen Zeit nach der Spaltung davor.
Sie warf sich auf die andere Seite. Es half nichts, sie bekam keine Ruhe. Sie beschloss eine Runde bis zum Unterrichtsgebäude und wieder zurück zu drehen. Vielleicht konnte sie danach schlafen. So leise wie es ging ließ sie sich vom Bett gleiten, die Betten waren stabil und massiv aus Holz gebaut, das fest ineinander verschachtelt war. Sie quietschten eigentlich nie, wenn dann gaben sie mal das ein oder andere Knacken von sich. Liéna schnappte sich ihre Jacke von einem Haken am Fußende des Bettes und verließ die Schlafhalle. Sie schlang die Jacke fest um sich als ihr der Wind entgegenschlug. Er pfiff um die Halle und sie atmete tief die klare und ziemlich kalte Nachtluft, dann begann sie, die Arme fest um sich geschlungen, in Richtung der Unterrichtshalle zu gehen. Auf der rechten Seite des großen Platzes davor waren viele kleine Hütten, in denen die Magistrate und Aufseher wohnten. In einigen brannte noch gedämpftes Licht. In den Schlafhallen der Schüler wurde es dagegen zu einer bestimmten Zeit gelöscht. Sie drehte eine Runde um den Platz und ging dann auf der Seite der Hütten wieder zurück als sie plötzlich Stimmen hörte. Sie duckte sich hinter einer Wand als sie hörte wie die Stimmen näher kamen. Schritte erklangen schmatzend auf dem schlammigen Boden, die vor dem Eingang der Hütte hinter deren linken Wand zum Unterrichtsgebäude hin sie sich verbarg. Sie waren von vorne gekommen und sie hatte Glück, dass sie sie im Dunkeln nicht gesehen hatte. Es war zwar genau genommen nicht verboten noch mal aus der Halle zukommen, aber spätestens als sie die Stimmen als die von Lady Daren und von Perell, der als Aufseher im Waldabschnitt arbeitete und den Ruf als strengster Aufseher innehatte, wusste sie, dass es gut gewesen war sich zu verstecken. Sie zitterte als der Wind schneidend in ihre Kleidung fuhr. Gegenüber konnte sie die dunklen Schemen des Waldes sehen, der sich kaum vom wolkenverhangenen Himmel abhob. Die Bäume peitschten hin und her, knarrzten und ächzten bis zu ihr herüber. Wenigstens regnete es nicht. Die Stimmen verklangen einfach nicht. Sie schlich vorsichtig näher an die Ecke der Hütte um wenigstens zu verstehen was gesprochen wurde. Der Wind blies ihr die Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten in die Augen.
„… er fiel hinten über und blieb liegen“, nach Perells Ton zu urteilen hatte er gerade einen Witz erzählt. Ein Lachen, das ganz eindeutig Lady Daren gehörte antwortete ihm. Liéna war dermaßen überrascht, dass sie fast um die Ecke gelugt hätte um nachzusehen ob sie sich da nicht täuschte. In all den Jahre hatte sie Lady Daren nicht einmal Lachen hören, es gehörte definitiv nicht zu den Dingen, mit denen man sie Verbindung bringen zu können schien.
„Perell, ich wusste gar nicht das Ihr so zu scherzen vermögt“, der gurrende und schmeichelnde Tonfall war noch unwirklicher als das Lachen. Liéna stand hinter der Ecke und machte ein Gesicht als sei sie gerade einem rosa Huhn mit goldener Schleife auf dem Kopf begegnet, wie Ramena zu sagen pflegte.
„Ihr übertreibt Jyselle. Sagt, darf ich Euch etwas fragen?“, Jyselle?!

„Aber natürlich, immer.“
„Würdet ihr mich am Samstag nach der Hinrichtung vielleicht noch mit eurer Anwesenheit beehren?“, Liéna beugte sich vor und tat als müsse sie sich übergeben. Wenn ich das Juléna und Ramena erzähle! Sie konnte sich bildlich deren Blick vorstellen.
„Aber sicher doch, aber vielleicht wollt Ihr mich ja vorher noch zur Ankunft, der wie ich sie nenne, Leidenszüge, begleiten?“
„Leidenszüge“, meinte Perell verwirrt und sein Tonfall passte zu dem Bild des grobschlächtigen und leicht dümmlichen Mannes, dass Liéna bei ihm vor Augen hatte.
„Ich meine die Ankunft der beiden Wagen mit den Sondersteuern zum Fest am darauf folgenden Tag in Lebensmitteln, von den Leuten von denen man vermutet, dass sie wildern, die die immer am Tag der Hinrichtung drei Stunden davor kommen?“ Was?!

„Ach ja richtig, sie werden immer gleichzeitig durch das Nord- und Südtor der Burg eingelassen.“
„Richtig, gezogen von zweien der armen Steuerzahler“, die Art wie sie die letzten beiden Worte aussprach ließ Liéna die Hände vor Zorn zu Fäusten ballen, „ so schön flankiert von zwei Wächtern. Der Anblick ist einfach Gold wert.“
„Nun, dann werde ich natürlich mitkommen“, sagte Perell schmeichelnd.
„Das freut mich, aber jetzt brauche ich doch meinen Schönheitsschlaf.“ Schönheitsschlaf?


„Aber natürlich, ruht wohl“, das Geräusch einer sich schließenden Tür und sich entfernender Schritte erklang. Sie harrte noch einige Minuten aus um sicher zu gehen, dass Perell sie nicht mehr sehen konnte. Trotz der Wut, die heiß in ihre Adern pulsierte schlich sie sich in aller Ruhe in die Schlafhalle und ihr Bett zurück. Der Gedanke, dass es endlich an der Zeit war, dass sich etwas änderte ließe sie nicht los. Bevor sie in den Schlaf hinüber glitt, traf sie einen Entschluss, der vieles verändern würde.

Der zweite, der in dieser Nacht kein Auge zu bekommen hatte war Jêren. Irgendwann hatte auch er beschlossen kurz nach draußen zu gehen und er hatte auf der anderen Seite der Hütte genau dasselbe Gespräch mit angehört, das Liéna wenige Meter entfernt verfolgt hatte. Wie bei ihr, hatte Zorn über die Überheblichkeit Lady Darens gegenüber der armen Bevölkerung in seinen Adern pulsiert und auch er hatte, bevor er endlich eingeschlafen war, eine Entscheidung getroffen, die Liénas unbestimmte Ahnung was ihn betraf bestätigen würde.


Alte Lügen



„Alles in Ordnung?“, Derren sah mich fragend an.
„Ähm, ja, ich…“, schnell stand ich auf, ohne nach seiner Hand zu greifen. Zumindest war mir schon einmal nicht schwindelig. Nachdem ich beim Abtasten meines Hinterkopfes nicht einmal ein Anzeichen für eine Beule finden konnte deutete ich fahrig in die Richtung, in die ich gewollt hatte.
„Also ich muss… da lang“, was redete ich da eigentlich?
„Ich weiß.“
„Was? Ich… Woher?“
„Na ja, wir…“, ich beschloss, dass ich das lieber nicht so genau wissen wollte und unterbrach ihn.
„Also… ich muss jetzt nach Hause. Danke für die Hilfe und auf Wied… Tschüss“, ich wollte nur noch weg hier, ich musste mir das eingebildet haben! Allerdings stand der Tiger noch immer vor mir… Nein, bloß weg hier!
Derren sah mich etwas verwirrt an und trat dann bei Seite.
„Gut… Ja, Tschüss. Falls Ihr uns brauchen solltet, wir werden da sein“, besser ich fragte gar nicht so genau, was er damit meinte. Ich ging zwischen dem Mann und dem Tiger durch, wobei ich den Tiger aus den Augenwinkeln musterte und jeden Moment damit rechnete, dass er mich anspringen würde.
„Er tut nichts“, es klang als unterdrücke Derren ein Grinsen. Ich nickte nur verwirrt und hastete dann aus dem Park. Als ich endlich wieder den Bürgersteig unter den Füßen hatte und Autos vorbeifuhren, konnte ich mich soweit beruhigen, dass zumindest meine Hände zu zittern aufhörten. An der Straße mit Verkehr und einigen Fußgängern kam mir, das was im Park passiert war vor wie ein Tagtraum, nicht wie ein tatsächliches Erlebnis. Aber mein Hinterkopf pochte noch immer leicht. Ich wollte Antworten und die konnte mir nur eine einzige Person so geben, dass ich sie glaubte. Mit spitzen Fingern fischte ich mein Handy aus dem Rucksack und tippte Jareds Nummer ein.
„Ja?“, er wusste, dass ich dran war, er hatte extra für mich einen eigenen Klingelton.
„Hey, ich komm heute erst später, ich fahr noch zu meiner Mutter“, ich versuchte ruhig zu klingen, aber meine Stimme klang nervös und gezwungen.
„Ist was passier?“, er klang besorgt, mein Herz flatterte.
„Nein… Also ja… ich… Ich erzähl’s dir später, ja?“, mit ihm zu reden wirkte ungemein beruhigend auf mich, sodass ich es hinbekam, den Satz halbwegs normal raus zu bringen.
„Soll ich mitkommen?“
„Nein, ich komme schon klar. Außerdem bleib du nur bei Josh, sonst bringt er mich demnächst noch um, weil ich dir “deine ganze Zeit stehle““, die Versuchung war groß ja zu sagen, aber ich wusste, dass ich das hier alleine machen musste.
„Das hat er gesagt?“, Jared klang belustigt und ich konnte hören, wie Josh im Hintergrund irgendetwas in protestierendem Tonfall dazu sagte.
„So ungefähr“, ich war vor unserem Mietshaus angekommen und kramte nach den Autoschlüsseln, „Ich muss dann mal Schluss machen, bis später.“
„Ja bis später Kleines.“
„Jared!“
„Jaja schon gut…“, lachend legte er auf und ein Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich Handy und Tasche auf den Beifahrersitz warf und mich hinter das Steuer setzte. Nachdem ich mich in den Verkehr eingegliedert hatte fischte ich nach einer CD und legte sie ein. Leise beruhigende Musik begann. Genau das, was ich jetzt brauchte, auch wenn es nicht wirklich etwas brachte. Was mich mehr beruhigte war die Alltäglichkeit des Autofahrens und so ließ ich mir auf dem Weg in den kleinen Ort in dem meine Mutter mit meinem Bruder und dessen Vater lebte, Zeit und fuhr gemächlich über die Landstraße. Eine Autobahn gab es hier nicht.
35 Minuten später hielt ich dann aber doch vor dem kleinen, alten Häuschen meiner Mutter. Ich atmete tief durch, schnappte mir meine Tasche und ging zur Tür. Nach einigen Versuchen schaffte ich es auch endlich das Schloss aufzubekommen.
„Mama?“, keine Antwort. Mein Blick fiel auf die Küchentür, ein kleiner gelber Zettel klebte daran.

Tim, mein Schatz, bin einkaufen und so um sieben wieder da.
Kuss Mama



Also wirklich mein Bruder war 19, da war das doch etwas übertrieben, als würde den interessieren ob meine Mutter zu Hause war oder nicht! Na ja, so war sie nun mal. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass es erst kurz nach sechs war also ging ich nach oben in mein altes Zimmer. Meine Mutter hatte hier nichts verändert, aber ich hatte jede Menge Krimskrams mit in meine Wohnung genommen, sodass irgendetwas zu fehlen schien. Mir zumindest, weil ich das Zimmer ja anders kannte. Die dunklen Dielen waren nicht einmal staubig, vermutlich saugte meine Mutter hier regelmäßig, das wäre ebenfalls typisch für sie. Das Zimmer war klein und hatte eine holzverkleidete Schräge. Der Rest war in schlichtem cremeweiß gehalten, wenn man überhaupt etwas von der Wand sah. Unter einem Dachfenster der Schräge stand ein Bett, ansonsten war das niedliche Zimmerchen mit einem Schrank zwei Regalen und einem Schreibtisch zugestellt. Möbel und Schräge waren aus rostrotem Holz und die Wand neben einem Fenster zierte die schwarze Zeichnung von ineinander gedrehten Linien. Meine kleine aber ziemlich gute Anlage, auf die ich sehr Stolz war, hatte ich samt Laptop mitgenommen. Ich legte mich mit dem Rücken auf mein altes, sogar bezogenes Bett und starrte an die Decke. Mein Blick fiel auf das kleine Herz, das Jared in einem Anflug von melancholischer Romantik an die Decke geritzt hatte, natürlich mit unseren Namen darin. Er hatte es in der letzten Nacht getan, bevor ich ausgezogen war. Warm rann ein Kribbeln über meinen Körper als ich an diesen Abend dachte. Ich verbat mir an alle Dinge zu denken, die mich an meinen Vater und die Sache im Park erinnerten und konzentrierte mich auf die Erinnerungen, die ich mit dem Zimmer verband. Lange Gespräche, leise Musik, Wind, der durch das Fenster hereinweht, zarte Finger, die über meine Wange strichen und Küsse.
Ich wusste nicht wie lange ich so dalag, als ich von unten das Geräusch der sich öffnenden Tür vernahm.
„Tim? Ich bin wieder zu Hause!“
Seufzend stand ich auf ging zur Tür und ging mit einem letzten tiefen Atemzug die Treppe runter.
„Oh, Alexa, Schatz, besuchst du Tim?“, meine Mutter lächelte mich erstaunt an.
„Nein ich…“, setzte ich leise an.
„Na ja, der scheint ja auch noch gar nicht zu Hause zu sein… Würdest du vielleicht die restlichen Sachen aus dem Auto holen, ich muss die Sachen hier in die Kühltruhe bringen“, sie wandte sich etwas abwesend zur Treppe.
„Ähm Mama, also eigentlich wollte ich mit dir über was reden…“, versuchte ich es noch einmal leicht genervt.
„Gleich, geh jetzt bitte die Sachen holen!“, damit verschwand sie im Keller. Ich verdrehte die Augen. Als wäre ich nie ausgezogen! Meine Mutter hatte die recht nervige Angewohnheit alle anderen eigentlich nie zu zuhören und schaffte riesige Probleme, wo keine waren. Die Sache mit Tim und mir zu Beispiel. Seit ich ausgezogen war hatte ich natürlich nicht mehr so viel mit meinem Bruder zu tun, einfach, weil wir beide nicht viel Zeit hatten. Ansonsten hatten wir ein super Verhältnis, meine Mutter meinte jedoch sie müsse verhindern, dass wir uns auseinander lebten und brachte Tim regelmäßig zu mir. Und zwar zu den unmöglichsten Zeiten, kurz vor meiner ersten Klausur, am Geburtstag seiner Freundin. Das Ende vom Lied war, dass sich Verhältnis zu meinem Bruder eher verschlechtert hatte, weil wir beide genervt vom anderen waren, wenn wir wieder mal etwas ganz anderes vor gehabt hatten. Natürlich verlor meine Mutter auch kein Wort darüber, dass sie vor ein paar Tagen einfach nicht gekommen war.
Ich öffnete den Kofferraum ihres Autos, jede Menge Kram. Meine Mutter vertrat die Ansicht, dass man immer zweimal gehen könnte, meist war es bei mir das direkte Gegenteil. Ich schnappte mir alles von Salat bis Eiern und hatte am Ende sogar noch eine Hand frei um den Kofferraum wieder zu schließen, ich stellte zwei Plastikflaschen auf den Boden, um sie dann damit aufzuheben und zischte: „Stehen bleiben!“ - sie fielen natürlich sofort um. Die Augen verdrehend machte ich den Kofferrum zu und versuchte die Lebensmittel auf meinem Arm so auszubalancieren, dass ich mich bücken und die Flaschen aufheben konnte. Zumindest das klappte. Dann ging ich so schnell es ging zum Haus zurück, damit nichts herunterfiel. Ich ließ die Sachen auf die Ablage fallen und wartete auf meine Mutter. Sie kam geschäftig hereingewuselt, warf einen missbilligenden Blick auf den Haufen auf der Arbeitsplatte und begann dann die Sachen wegzuräumen.
„Kannst du nicht zweimal gehen?“
„Wieso, wenn einmal auch geht?“, fragte ich spitz.
„Also, wie gesagt wenn du Tim besuchen wolltest, der ist nicht da, ich weiß nicht wo der Junge sich wieder herumtreibt!“
„Mama, Tim ist 19!“
„Ja und? Na ja wie auch immer, vielleicht ist er bei Helena, ich ruf ihn mal an, dass er kommt, wenn seine Schwester schon mal wieder hier ist und ihn besuchen will…“, sie griff nach dem Telefon.
„Mama, ich bin nicht hier um Tim zu besuchen! Ich will mit dir reden“, unterbrach ich sie mit fester Stimme. Ob sie an Amnesie litt? Sie sah mich schockiert an.
„Du willst doch nicht etwa Jared heiraten?“
„Was?! Wie kommst du denn auf die Idee? Nein, ich…“, der ungläubig schockierte Tonfall machte mich rasend, was wäre denn so schlimm daran?
„Dann hat das ja Zeit, du hast deinen Bruder in letzter Zeit doch sehr vernachlässigt!“, okay, das war zu viel!
„ICH habe meinen Bruder vernachlässigt? Wer ist denn nicht gekommen, als ich einmal Zeit hatte?“
„Alexa Smith! Ich verbitte mir diesen Tonfall! Und jetzt sei still ich rufe deinen Bruder an!“
„Ich habe mich mit meinem Vater getroffen“, sagte ich leise, vor Zorn brodelnd, meine Mutter hielt mit wählen inne, fast wäre ihr das Telefon aus der Hand gefallen. Kreidebleich starrte sie mich an.
„Wie denn das?“, fragte sie und versuchte sich an einem Lächeln, mein Bruder war vergessen.
„Keine Ahnung, ich habe eine Nachricht von ihm gefunden und dann haben wir uns eben getroffen“, ich versuchte unbeteiligt zu klingen, was für eine Herausforderung dieses Treffen für mich gewesen war brauchte sie in diesem Moment nicht unbedingt zu wissen.
„Egal, was er erzählt hat, er lügt!“, sagte meine Mutter heftig. Zu heftig.
„Dann ist Tim also mein leiblicher Bruder?“, fragte ich, es klang fast hoffnungsvoll.
Sie zögerte und blickte woanders hin.
„Das tut doch nichts zur Sache“, meinte sie, um überhaupt etwas zu sagen.
„Das tut nichts zur Sache?! Bist du meine Mutter oder nicht?!“, ich hatte keine Lust mehr auf Versteckspielchen.
„Ich…“
„Also nein!“
„Doch du bist meine Tochter, aber ich bin nicht deine leibliche Mutter…“, sagte sie und sah mir fest in die Augen. Ich schloss die Lider, okay, jetzt hatte ich es amtlich, dann war der Rest auch wahr.
„Dein Vater, hat mich verlassen, weil…“, ich riss die Augen auf und unterbrach sie.
„Ach war es nicht eher so, dass du ihn rausgeworfen hast, nebenbei zu einem ganz anderen Zeitpunkt als du immer behauptet hast?“
„Er war nie da…“, versuchte sie sich zu verteidigen.
„Und warum hast du ihm verboten Kontakt zu mir aufzunehmen?!“
„Ich wollte nicht… Alexa, ich habe ihn geliebt, ihn ständig um mich zu haben hätte…“
„Warum hast du ihn dann überhaupt rausgeworfen?“, ich versuchte die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Ich hatte es von Anfang an gewusst und nur nicht wahrhaben wollen, jetzt bestätigte sie die Worte meines Vaters, die letzten Zweifel räumte sie mit ihren nächsten Worten aus.
„Er… er war nie da, immer musste er sich um sein Königreich kümmern. Das Königreich seiner verstorbenen Frau, besser gesagt! Manchmal reicht Liebe einfach nicht Alexa…“, sagte sie in einem auf Zustimmung wartenden Tonfall.
„Und was war mit mir? Warum durfte ICH meinen Vater nicht kennen lernen?“, jetzt liefen die Tränen nur so über meine Wangen, meine Stimme war eine Mischung aus Zittern und Schreien. Überhaupt zitterte ich am ganzen Körper und blickte meine Mutter fest an, die einen halben Kopf kleiner war und mich traurig ansah.
„Ich… Alexa, ich hab dich sehr lieb, das musst du mir glauben…“, sie wollte die Hände nach mir ausstrecken, ich wich ihr aus, wollte sie nicht berühren.
„Und die ganze Sache mit Jared? Was du für ein Drama du gemacht hast, als wir zusammen kamen, beziehungsweise du immer noch machst! Dabei bist du nicht mal meinen Mutter!“, schrie ich verzweifelt.
„Alexa, ich hab es dir schon oft gesagt, Leute die aus Verhältnissen wie Jared stammen geraten eines Tages auf die schiefe Bahn“, sagte sie in mütterlich strengen Tonfall, als hätte ihr das alte Diskussionsthema wieder neue Sicherheit gegeben, „Und überhaupt will ich immer nur das beste für dich.“
Einen Moment lang konnte ich sie nur stumm anstarren.
„Sag nie wieder etwas gegen Jared! Nie wieder! Er ist das Beste was mir jemals passieren konnte. Überhaupt hast du nicht das geringste Recht, dich in mein Leben einzumischen!“, fauchte ich sie an.
„Alexa! Jetzt mach aber mal halblang!“
„Nein, ich mache nicht mal “halblang“! Du bist nicht meine Mutter und du hast es nicht für nötig gehalten mir das zu sagen, sondern mich 17 Jahre lang belogen und mir meinen Vater vorenthalten!“
„Alexa, ich…“
„Nein! Nicht: Alexa ich… Ich gehe jetzt und ich will nicht, dass du versuchst mich irgendwie aufzuhalten! Sonst noch irgendwelche Geheimnissen, von denen ich wissen sollte?“
„Ich…“
„Ja?!“
Sie senkte den Kopf.
„Es gibt Briefe von deinem Va…“
„Her damit!“
Sie verließ die Küche und kam wenige Sekunden später wieder mit einem großen Packen Briefe. Ich riss sie ihr aus der Hand, sie hatte den Kopf gesenkt, aber ich konnte trotzdem sehen, dass sie weinte. In dem Moment war es mir egal, ich war viel zu wütend auf sie.
„Sonst noch was?!“, sie schüttelte nur den Kopf.
„Schön, ich bin dann weg!“
„Alexa, bitte“, sie streckte wieder die Arme nach mir aus.
„Lass mich!“ giftete ich sie an und stürzte aus dem Haus.
Auf der Treppe vor der Tür begegnete ich Tim. Die Briefe hatte ich an die Brust gepresst und noch immer rannen unaufhaltsam Tränen über meine Wangen, ich schluchzte und lief gegen ihn.
„Alexa? Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt. Ich schüttelte nur den Kopf. Mein lieber kleiner Bruder… der gar nicht mein Bruder war.
„Ist es weil ich nicht gekommen bin? Das tut mir Leid, hör zu Helena…“
„Ach was das hat damit nichts zu tun. Ich… hör zu Tim, ich hab dich lieb, ja? Aber jetzt muss ich los“, meine Stimme zitterte.
„Wo willst du denn in dem Zustand hin?“
„Egal! Hauptsache weg!“
„Komm schon, so schlimm kann es doch gar nicht sein“, er wollte mich tröstend umarmen.
Ich schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück.
„Ich muss los“, ich brachte kaum mehr einen vernünftigen Satz mehr zustande.
„Wann kommst du wieder?“, fragte er noch immer besorgt. Ein weiterer Tränenschwall floss über mein Gesicht, in mir verkrampfte sich alles.
„Das weiß ich noch nicht“, sagte ich leise, kaum hörbar und flüchtete vor meinen Bruder zum Auto. Ich würgte den Wagen zweimal ab und alles verschwamm vor meinen Augen. Ich wischte mir energisch die Tränen aus den Augen und lenkte das Auto auf die Straße. War ich eben langsam gefahren, raste ich jetzt nur so in Richtung Stadt und hielt nur einmal kurz an um einzukaufen. Beim Kochen konnte ich immer gut nachdenken. Es kamen keine Tränen mehr und ich fühlte mich unglaublich leer. Meine Augen waren verquollen und immer mehr Erinnerungen an meine Familie überkamen mich. Glücklicher Kindergeburtstag. Alles Lüge. Kleines Grillfest. Alles Lüge. Ein Besuch im Schwimmbad. Alles Lüge. Tim beim Fahrradfahren lernen. Alles Lüge.
Als ich vor dem Mietshaus angekommen war, es war längst dunkel, immerhin war schon Herbst, stürzte ich in die Küche und begann meinen Einkäufe auszupacken. Die Briefe ließ ich auf dem Küchentisch liegen und versuchte nicht daran zu denken. Dafür hatte ich jetzt nicht mehr die Nerven. Es klingelte. Ich ging zur Tür und öffnete, wohl wissend wer dort stehen würde.
„Kleines du siehst furchtbar aus“, kommentierte Jared sachlich, ich fiel ihm um den Hals und presste mein Gesicht an seinen Brust. Er legte die Arme um mich, zog mich in die Wohnung und stieß die Tür hinter mir zu. Sanft strich er mir über den Rücken.
„Ich hab dein Auto unten gesehen… Hey, was ist den passiert, hm?“
Ich berichtete ihm von der Begegnung im Park und stockend von meinem Besuch… zu Hause. Er sagte nichts dazu und hielt mich einfach nur fest in den Armen.
„Du hast es gewusst oder? Genau wie ich“, sagte ich leise als die Tränen, die doch wiedergekommen waren, wieder versiegt waren.
„Dass Erik die Wahrheit sagt? Irgendwie ja… und irgendwie nicht“ sagte er sanft.
Ich nickte nur, das hatte ich gemeint.
„Ich hab mir das also alles nicht nur eingebildet?“, fragte ich leise, fast ein bisschen hoffnungsvoll.
„Nein ich schätze nicht“, antwortete er halb belustigt, halb seufzend.
Ich löste mich aus seiner Umarmung.
„Kochen?“, ich sah ihn fragend an.
„Du kochst, ich schaue zu. Wie immer“, bemerkte er trocken und ich musste lächeln.
„Nichts da! Du schnippelst… Wie immer“, er lachte bei meinen Worten und langsam begann die Kälte aus meiner Brust zu verschwinden.
„Gibt es auch dasselbe wie bei deinen anderen Kochorgien?“, fragte er grinsend.
„Du tust ja geradezu so, als würde ich immer dasselbe Kochen!“
„Nein, nur… in bestimmten Situationen.“
Ich sagte nichts dazu sondern schob ihm die Kartoffeln zum klein schnippeln rüber. Selbstgemachte Röstis brauchten viele kleine Kartoffelstreifen. Ich legte in der Zeit das Fleisch ein.
Das ich beim Kochen so gut nachdenken konnte grenzte eigentlich an ein Wunder. Jared meinte immer, dass Kochen, eines der wenigen Dinge wäre, bei denen man mein Inneres Chaos bemerken würde. Ich machte immer tausend Sachen gleichzeitig, brauchte ewig war nicht schnell genug mit der einen Sache fertig, während etwas anders bereits war und die Küche wirkte immer als sein ein Wirbelwind durchgefegt so viele Kochutensilien standen dort herum und sich gegenseitig im Weg. Aber Nachdenken konnte ich. Und als wir irgendwann später an dem kleinen Tisch saßen und das Essen vertilgten – die Küche war wieder blitz blank aufgeräumt - ging es mir so weit wieder ganz gut. Ich hatte eine Entscheidung getroffen, die nur noch von den Briefen und Jareds Meinung abhing. Jared war immer für mich da, da konnte kommen was wollte.
„Also, was machst du jetzt mit den Briefen?“, Jared sah mich über den Teller hinweg fragend an.
„Lesen?“
„Ha, ha“, er verdrehte die Augen und schob er mir den untersten des Stapels zu.

Meine liebe Kleine



„Noch so jemand, der glaubt ich wäre klein“, bemerkte ich trocken.
„Ja, aber guck mal auf das Datum, das war an deinem fünften Geburtstag, da warst du noch klein!“, grinste Jared.
„Genau auf den Tag?“, fragte ich irritiert und ging nicht auf den Witz ein.
„Scheinbar“, antwortete er achselzuckend.
Ich seufzte, mein Vater hatte es ja auch geschafft einen Brief in mein Zimmer zu bekommen, also las ich weiter.

Meine liebe Kleine,

Alles Gute zum Geburtstag, ich wünschte ich könnte bei dir sein. Aber ich weiß, dass du bei Jolanda wesentlich sicherer aufgehoben sein wirst, als hier bei mir. Genauso, wie ich weiß, dass sie dir den Brief nicht geben wird. Aber eines Tages, da bin ich mir sicher, wirst du diese Zeilen lesen und hoffentlich verstehen, warum ich dich verlassen habe. Ich könnte dich besuchen und weiß nicht wie ich es schaffen soll, es nicht zu tun, aber es ist sicherer, wenn keiner von uns in deine Nähe kommt.

Dein dich liebender Vater



Jared reichte mir wortlos den nächsten Brief. Ich war fast enttäuscht über den ersten, weil er nur so kurz war.

Meine liebe Kleine,

Alles Gute zum sechsten Geburtstag, ich bin ganz furchtbar stolz auf dich. Mein großes Mädchen geht in die Schule! Ich habe es einfach nicht über mich gebracht, dich ganz alleine zu lassen, ohne zu wissen wie es dir geht. Ein Freund von mir wohnt im Haus neben an, vielleicht hast du mitbekommen, dass dort jemand neues eingezogen ist, er hat ein Auge auf dich und berichtet mir wie es dir geht. Nicht, dass du denkst, er würde dich rund um die Uhr beschatten, er schnappt nur so auf, was Nachbarn eben so aufschnappen.

Dein dich liebender Vater



Wieder reichte mir Jared den nächsten Brief, aber ich ließ ihn verschlossen, den würde ich ein anderes Mal lesen, das war alles definitiv genug Information für einen Tag, trotz der geringen Länge der Briefe. Mr. Adams war also ein Freund meines Vaters, nun, das erklärte einiges, zum Beispiel, warum Erik von Jared wusste oder wie die Briefe ankamen, ohne dass er sich mir nähern wollte. Es erklärte außerdem, warum Mr. Adams immer so hilfsbereit gewesen war…
„Was wirst du jetzt tun?“, riss Jared mich aus meinen Gedanken.
„Morgen suche ich Derren.“

Das Mädchen mit der Taube und die Fackel


Liéna wurde geweckt vom morgendlichen Glockenschlag. Müde rieb sie sich über die Augen. Doch so müde sie war, so sicher und entschlossen fühlte sie sich. Als sei sie die ganze Zeit auf einer Suche gewesen, deren Ende sie jetzt erreicht hatte ohne überhaupt zu merken, dass sie etwas gesucht hatte. Verrückt. Sie wusste noch nicht genau, wie sie ihren Plan umsetzen würde, aber sie war so entschlossen, einen Weg zu finden, wie noch nie in ihrem Leben. Was danach sein würde wusste sie nicht. Es war auch völlig unwichtig, wichtig war fürs Erste nur dieser eine Erfolg. Sie stand auf und zog sich an. Ramena sah sie skeptisch an.
„Seit wann hast du es so eilig in die Mine zu kommen?“, fragte sie mit hochgezogener Augenbraue.
„Hab ich doch gar nicht, wir haben doch vorher sowieso noch Unterricht“, antwortete sie fröhlich. Ihre beiden Freundinnen sahen sie trotzdem etwas irritiert an, normalerweise verließ sie das Bett während des Minenabschnitts nur mit viel gutem Zureden, was wohlgemerkt nicht ganz ungefährlich war.
Den Rest des Tages war Liéna ziemlich abwesend, im Unterricht nahmen sie sowieso immer noch Heilkunde durch und zum ersten Mal beteiligte sie sich nicht daran, den Kleinen zu sagen, wie der Samstag ablaufen würde. Wenn ihre kleine Schwester dieses Jahr schon dabei gewesen wäre, wäre das sicher anders gewesen. Dann hätte sie ihr klar gemacht, dass sie morgens beim zweiten Glockenschlag fix fertig bei den Leuten aus ihrem Dorf auf dem Hof stehen müsste. Die Anwesenheit wurde nur vor der Abfahrt, bei der Hinrichtung am Nachmittag selbst und abends bei der Heimkehr kontrolliert, denn Rest der Zeit waren sie sich selbst überlassen. Genau das war das Schlupfloch, das Liéna noch nutzen würde…
Als sie am Abend die Unterrichtshalle betrat, war der Plan so gut wie ausgereift und wartete nur so darauf umgesetzt zu werden. Der Samstag kam unaufhaltsam näher. Eigentlich hätte sie aufgeregt sein müssen, Angst haben, aber sie war lediglich… Ziel gerichtet. Der Unterricht rauschte an ihr vorüber genauso wie das Essen. Es gab nur einen Moment, in dem Kohlräbchen sie wieder so seltsam musterte und sie plötzlich das Gefühl hatte, diesen Blick zu verstehen, es schien eine Ermutigung zu sein. Nach dem Motto, ich weiß was du tun könntest, du schaffst das. Vielleicht war es auch bloße Einbildung. Beim Essen redeten Juléna und Ramena unablässig und die anderen Mädchen genauso. Liéna saß dabei und blieb stumm. Ihren beiden Freundinnen war natürlich aufgefallen, dass sie sich komisch benommen hatte. Ohne dem allerdings große Bedeutung bei zu messen, vermutlich schoben sie es auf ihr Gespräch mit Jêren. Früher oder später würden sie nachfragen, bisher allerdings nicht. Wenn sie wüssten, was sie vorhatte! Alleine schon die Vorbereitungen waren gefährlich, sie durften auf gar keinen Fall etwas davon mitbekommen, Liéna durfte sie da nicht mit hineinziehen. Ihr Blick glitt durch die Halle zum Magistrat- und Aufsehertisch, jeder einzelne auf dem Schulgelände befand sich zu den Essenzeiten hier. Abrupt stand sie auf. Das war die Gelegenheit! Warum war ihr das nur nicht früher aufgegangen? Jetzt starrten sie die beiden anderen, sowie der Rest des Tisches verwirrt an. Himmel, ich bin heute wirklich der reinste Trampel

. Juléna setzte mit besorgt alarmiertem Gesichtsausdruck an etwas zu sagen, doch bevor ihre Freundin sie fragen konnte was los war stammelte Liéna:
„Ich… äh… muss mal wohin…“
„Ah“, die Mädchen wandten sich wieder ihren Gesprächen zu. Liéna beeilte sich zum Eingang der unglaublich riesigen Halle zu kommen. Jêren kam ihr entgegen, sie senkte schnell den Blick. Seine Aufmerksamkeit war jedoch auf den Tisch gerichtet an dem seine Freunde saßen, Liéna beobachtete dennoch aus den Augenwinkeln, wie er an ihr vorbei ging. Sie fragte sich wo er wohl gewesen war. An ihrer Stelle wäre er vermutlich sofort auf die Idee gekommen die Vorbereitungen beim Essen zu treffen sofern das möglich war, er wäre sofort gegangen nicht erst mitten im Essen, niemand würde auffallen, wenn jemand nach dem Unterricht zu den Latrinen ginge und dann ein bisschen später dazu käme, es hätte allerdings den Vorteil, das man wesentlich mehr Zeit hätte. Den ganzen Tag machte sie sich jetzt schon ihre Gedanken, aber auf die Idee diese kleine Vorbereitung beim Essen zu treffen war sie einfach nicht gekommen! Sie könnte natürlich auch noch den morgigen Tag abwarten, aber so knapp war es nun auch nicht und sie musste noch andere Dinge besorgen. Außerdem brannte es in ihren Fingern endlich etwas zu tun und nicht nur darüber nachzudenken. Als sie das Gebäude verließ und sich auf den Weg zu den Schneider- und Webhallen machte, die hinter dem Unterrichtsgebäude lagen, überkamen sie doch leise Zweifel an ihrem ganzen Vorhaben. War das alles überhaupt alleine zu schaffen? Ob sie vielleicht ihren Bruder um Hilfe bitten sollte? Er hätte ihr sicher helfen können, war auch der richtige für so etwas, aber er hätte niemals zugelassen, dass sie sich so in Gefahr brächte. Immer hatte er sie zu schützen versucht, zwar hatte er ihr beigebracht, natürlich verbotenerweise und heimlich, wie sie sich mit den verschiedensten Waffen verteidigen oder jagen konnte, aber er hatte ja nicht einmal zugelassen, dass sie tatsächlich regelmäßig Fleisch besorgte. Ihre Familie war mit dem, was ihre Mutter als Heilerin bekam gut zu recht gekommen. Zwar konnten nicht alle sie mit Geld bezahlen, aber dann gaben sie Lebensmittel oder andere Dinge, die man brauchte. Waren die Zeiten einmal so schlecht gewesen, dass sie doch auf die Jagd angewiesen waren, hatte Joel nie zugelassen, dass Liéna ging oder auch nur mitkam. Natürlich beim Üben hatte sie auch selbst einmal gejagt, aber immer zu Zeiten, die für die Bevölkerung gerade gut waren und daher wildern nicht ganz so gefährlich war. Gewildert hatte allerdings jede Familie schon mal, zumindest jede, die nicht adelig war. Joel konnte sie also nicht fragen.
Trotzdem sie war entschlossen, ihren Plan durchzuziehen, sie konnten nicht ewig auf der Stelle treten! Mit gestrafften Schultern ging sie weiter.

Sie hatte die Lagerhalle erreicht. Schnell blickte sie sich kurz um, um zu prüfen, ob sie auch tatsächlich niemand beobachtete. Keiner da. Also öffnete sie den rechten Flügel der Eingangstür und schlüpfte hindurch. Überall waren Regale mit verschiedenen Aufschriften, in denen sich Kisten stapelten. Zielstrebig ging sie in den hinteren Bereich der dunkeln Halle zu einem Regalfach mit der Aufschrift “Mine“. Licht viel nur durch ein niedriges Fenster, das sich über die gesamte Rückwand erstreckte. Sie streckte die Hand nach einer der darauf stehenden Holzkisten aus, zog sie heran und tastete dann nach deren Deckel. Vorsichtig und so leise es ging schob sie ihn beiseite, obwohl eigentlich niemand da sein dürfte, der es hören könnte. Trotzdem schien sich jeder Schatten plötzlich zu bewegen. Noch immer tastend suchte sie nach einer schwarzen Hose und einem Hemd in ihrer Größe, als sie endlich fündig geworden war und den sowieso ungeordneten Inhalt der Kiste noch mehr zerwühlt hatte, stopfte sie sich unters Hemd, in der Hoffnung, dass es nicht allzu sehr auffiel. Dann ging sie wieder nach vorne und nahm aus einem Fach anderen einen schwarzen Umhang. Bei dieser Kiste ging sie das Risiko ein die Kiste herunter zu heben, bei den Minenkleidern würde es nicht auffallen, wenn etwas fehlte, bei den Umhängen, die definitiv nicht einfach für Schüler bestimmt waren allerdings schon. Aber man musste das ganze ja nicht beschleunigen, also sorgte sie dafür, dass der Inhalt der Kiste ordentlich gefaltet blieb. Das dauerte alles zu lange… Ein Kribbeln rann über ihren Nacken, der Schweiß brach ihr aus. Die langen Schatten in der untergehenden Sonne in dem ohnehin dunklen Gebäude schienen plötzlich voller potenzieller Beobachter. Als sie die Kiste endlich wieder zurecht gerückt hatte, vernahm sie draußen Schritte. Liéna erstarrte. Schon die ganze Zeit hatte, sie so schnell wie möglich versucht an die gesuchten Sachen zu kommen. Sie zitterte als sie, nachdem die Schritte wieder verklungen waren, nach einer weiteren Kiste tastete. Adrenalin pulsierte durch ihre Adern und ein Kribbeln rann über ihren Rücken. Sie zog ein schwarzes Tuch aus der letzten Kiste stopfte Umhang und Tuch in ihre Tasche, verließ die Halle und ging so schnell wie sie konnte in ihre Schlafhalle. Dort stopfte sie mit noch immer zitternden Händen die Minenkleider samt Tasche unter die Bettdecke, die würde sie heute Nacht verstecken. Sie kehrte in die Versammlungshalle zurück und warf beim Eintreten einen unauffälligen Blick in Richtung Magistrat- und Aufsehertisch. Keiner schaute zu ihr herüber, gut so, ihr fiel allerdings auf, dass Jêrens Tisch genau davor lag, wenn man von der Tür aus hinüber sah. Ob er eben vielleicht doch nicht zu seinen Freunden gesehen hatte? Aber wenn, warum? Sie schüttelte den Kopf, das war nun wirklich kein Grund sich den Kopf zu zerbrechen.
„Du warst aber lange weg, dein Essen ist ganz kalt“, bemerkte Ramena.
„Ach… ich hab ein bisschen getrödelt, nach dem langen Tag in der Mine tut die frische Luft einfach gut“, bemerkte Liéna und verschlang den Rest ihres Essens, auch wenn es nicht mehr warm war. Ramena musterte sie skeptisch, wandte sich dann aber wieder Juléna zu, die in ein Gespräch mit Tizî, einem Mädchen aus demselben Abschnitt wie die drei Freundinnen vertieft war. Anscheinend ging es um lustige Anekdoten aus den letzten Abschnittsferien, einige Soldaten hatten sich wohl von einem Bäcker gehörig an der Nase herumführen lassen. Sogar Liéna beteiligte sich an dem Gespräch auch wenn sie im Hinterkopf den Gedanken, an die Kleider unter ihrer Bettdecke nicht los ließ.

Als sie sicher war, dass die meisten der anderen schliefen, stieg Liéna wie am Vortag aus dem Bett, zog ihre Tasche, in der sich ihre gesamte “Beute“ befand unter der Decke hervor und schlich sich dann nach draußen, durch die stille der dunklen Halle, erfüllt von dem Geräusch gleichmäßigem Atems. Auch das ein oder andere Schnarchen war zu hören. Ihre Schritte lenkte sie in Richtung Wald, sie kannte in einiger Entfernung einen alten Baum, der innen hohl war und den sich kein Tier als Lager ausgesucht hatte. Sie hatte ihn einmal zusammen mit ihrem Bruder gefunden. Sie hatten manchmal sonntags, an dem einzigen freien Tag der Schüler, und das auch nicht immer, im Wald jagen und dergleichen geübt, seit jeher waren Waffen in diesem Baum versteckt gewesen. Joel hatte sie mitnehmen wollen, damit sie “alleine keinen Unsinn machte“, wie er sich ausgedrückt hatte. Sie hatte ihn allerdings überzeugen können sie für Notfälle daulassen. Liéna würde sie ebenfalls brauchen.
Außerdem war ihr klar, dass sie, auch wenn sie Joel nicht um Hilfe bitten konnte, das alles nicht alleine schaffen konnte. Sie wusste allerdings auch schon, wen sie um Hilfe bitten würde. Allerdings würde sie das morgen Nacht erst tun. Und dann konnte sie nur beten, dass sie die Hilfe auch bekam.
Schnell stapfte sie durch das hohe Gras am Waldrand, düster senkten sich die schwarzen Äste der ersten Bäume darüber und der Wald vor ihr schien nur aus Dunkelheit und Schatten zu bestehen. Dennoch hatte sie keine Angst, der Wald war nicht so gefährlich wie das, was hinter ihr lag. Im Gegenteil, wenn man ihm vom Schulgelände aus betrachtete schien er Freiheit zu bedeuten, eine andere Welt die man von der kleinen Schulwelt aus sehen, aber nur selten betreten konnte, dabei gab es nicht wirklich etwas das verhinderte, dass man flüchtete, außer der Tatsache, dass die Verwandten dafür zur Verantwortung gezogen wurden. Außerdem konnte man theoretisch, wenn man Zeit hatte in den Wald gehen, nur dass dazu keiner Zeit hatte, voraus gesetzt, man war gerade nicht im Waldabschnitt, aber das war noch einmal anders. Warmer Wind wehte ihr sanft und bestimmt in den Rücken als sie den Wald betrat und einen winzigen Moment hatte sie das Gefühl alles erreichen zu können, die Geräusch der Nacht und des Windes umgaben sie, Dunkelheit und Schatten hatten unglaublich viele Schattierungen und dann kam der Mond hinter den Wolken hervor. Silbernes Licht wanderte mit den im Wind wiegenden Blättern umher und bildeten ein wunderschönes Schattenspiel. Etwa zehn Moment schritt sie fest und entschlossen, mit erhobenem Haupt durch den wunderschönen Wald, fast erhaben. Dann schließlich stand sie vor dem Baum und tastete mit den Fingern vorsichtig nach der verborgenen Öffnung, trockenes Laub raschelte unter ihren Fingern. Kurz beschlich sie Angst die Waffn könnten doch weg sein, dann schlossen ihre Finger sich um etwas festes, nach und nach ertastete sie die Waffen, einige hatten ihrem Vater gehört, andere hatte Joel extra für sie gemacht oder beschafft. Erleichterung breitete sich in ihr aus und vorsichtig faltete sie die Kleider zusammen und verstaute sie in dem Hohlraum, dann machte sie sich auf den Rückweg. In dem Moment als sie den Waldrand erreichte verschwand der Mond wieder und Schatten begeleiteten sie, als sie den Wald verließ.

Der nächste Tag verging wieder wie im Flug und Liéna bemühte sich ihre Aufregung vor Juléna und Ramena zu verbergen, damit die beiden nicht doch Verdacht schöpften. Vor dem Unterricht musste sie allerdings erfahren, dass es sehr gut gewesen war die Sachen im Wald zu verstecken. Gerade als die Mädchen aus dem Bad kamen, betraten Lady Daren und einige Aufseher die Halle. Sofort schnitt die kalte Stimme Darens durch die Halle, in der es plötzlich still geworden war.
„Es fehlen zwei schwarze Umhänge! Wir werden jetzt danach suchen, derjenige bei dem wir sie finden bekommt 50 Peitschenhiebe!“, ein Raunen ging bei dieser hohen Zahl durch die Halle, „Falls sich jemand lieber sofort stellen will werden es nur 40 sein“, beendete die Lady ihren Satz mit einem kalten Lächeln auf den Lippen. Während die Schubladen und Betten durchsucht wurden und die anderen zu tuscheln begannen, schnappte Liéna sich ihre Erinnerungsstücke umstopfte sie sich in die Hosentasche, die gingen Daren nichts an am allerwenigsten die Kette ihres Vaters. Im Gegensatz zu den anderen beschäftigte Liéna nicht wer die Umhänge gestohlen hatte, nein für sie gab es nur einen einzigen Gedanken: Zwei?!


Obwohl sie wusste, dass bei ihr nichts zu finden war raste ihr Herz und Schweiß rann ihr über den Rücken. Nervös tigerte sie hin und her Juléna und Ramena beobachteten sie vom Bett aus.
„Alles in Ordnung?“, Juléna musterte sie kritisch.
„Ja, ja mir geht es gut“, murmelte Liéna nur. Sie musste an das letzte Mal denken als jemand 50 Peitschenhiebe bekommen hatte. Es war der Tag nach der Hinrichtung in Liénas allererstem Abschnit gewesen, damals war jemand zu spät zur Kontrolle vor der Hinrichtung gekommen, genauer gesagt erst währenddessen. Noch am selben Abend war er bestraft worden. Der damals vierzehnjährige Junge hatte nur ganz knapp überlebt, in den Jahren danach hatte Daren ihn immer noch auf dem Kicker gehabt, es gab Gerüchte, dass er noch am selben Tag, an dem er die Schule verlassen hatte, verschwunden war. Die wildesten Spekulationen geisterten seitdem durch die Schule, dass die Lady sich seiner angenommen hatte, dass er einsam in den Bergen lebe, sogar dass er für Erik spioniere. Die Wahrheit kannte niemand, wahrscheinlich war er ganz normal in die Lehre gegangen und hatte inzwischen Frau und Kinder.

Abends lag Liéna in ihrem Bett und starrte ihre Erinnerungsstücke an, wie so oft. An diesem Abend musterte sie besonders den Taubenanhänger ihres Vaters. Ihr Vater war damals wegen Wilderei verfolgt und schließlich getötet worden, damals war sie gerade zehn. Sie verdrängte die aufkeimenden Erinnerungen an die letzten Wochen in denen er sich versteckt hatte. Der Mann, bei dem sie noch in dieser Nacht um Hilfe bitten würde, war der letzte gewesen bei dem er Unterschlupf gefunden hatte. Sie wusste nicht was damals passiert war, ob sie ihn dort gefunden hatten oder ob er sein Versteck verlassen hatte. Sie hoffte bloß das Merin noch immer vertrauenswürdig war. Um sie herum verstummten nach und nach die letzten leisen Gespräche und zurück blieb nur das leise Geräusch von gleichmäßig atmenden Menschen und dem steten Pfeifen des Windes. Liéna war müde, mit viel Mühe schwang sie die Beine über den Bettrand und nahm sich ihre Jacke. Sie trug noch immer ihre Kleider nur die Stiefel fehlten. Schnell schlüpfte sie hinein und verließ die Halle, machte sich auf den Weg in Richtung Wald. Schnell und leichtfüßig lief sie in Richtung Straße zwischen Bäumen und Gesträuch durch den Wald. Der Großteil der Bäume trug nur noch ein halbes Blätterkleid und so fand das silbrige Licht wieder den Weg zwischen den wehenden Blättern hindurch um auf dem Waldboden zu tanzen. Abgesehen vom sanften Rauschen des Windes und gelegentlichen Tiergeräuschen war es ruhig und still. Der nächtliche Wald strahlte unglaublichen Frieden aus, was im Gegensatz zu dem stand was sie gerade im Begriff war zu tun. Irgendwann hatte sie die Straße erreicht und folgte dem kiesigen Weg weiter bis zur Hauptstraße. Dort bog sie nach links ab, bis sie zu großen Waldkreuzung kam, die Richtung aus der sie kam führte in ihr eigens Dorf und geradeaus käme sie nach Imardin, der Hauptstadt, nach rechts kam man zur alten Grenze und links kam man in einen anderen Teil des Landes in dem eine weitere Stadt und einige Dörfer lagen. Sie wandte sich nach links. Es fühlte sich gut an so durch den Wald zu laufen, der zügige Schritt gab ihr das Gefühl etwas zu tun, war aber auch nicht sonderlich anstrengend obwohl sie schon gute anderthalb Stunden unterwegs war. Irgendwann lenkte sie ihre Schritte von der Hauptstraße fort und folgte einer kleinen Seitenstraße, die gerade breit genug für einen einfachen Karren war. Nach vielleicht zehn Minuten erreichte sie eine Lichtung in deren Mitte sich ein Bauernhaus befand, in dem sogar noch Licht brannte. Das alte Gebäude war recht heruntergekommen aus und das obere Stockwerk sah von außen recht unbewohnt aus. Die Scheune direkt daneben war so windschief wie Kohlräbchens Brille und schien nur noch zu stehen, weil sie sich auf das Haupthaus stützen zu können schien. Sie hob den Kopf und klopfte entschlossen gegen die eichene Haustür, des Backsteingebäudes. Nichts geschah, kein Geräusch von drinnen ließ vermuten, dass man sie gehört hatte, sie wollte gerade die Hand heben um erneut zu klopfen da öffnete sich die Tür und vor ihr stand Merin. Der Mann war bereits um die fünfzig, mit kurzen eisgrauen Haaren und einem Vollbart. Er ging kaum merklich gebeugt und wie Liéna wusste hinkte er auf dem rechten Bein. Es gab - wie zu allem - die verschiedensten Gerüchte in den Dörfern woher das steife Bein kam, von der Identität eines alten Spions bis hin zu einem Kampf mit einem wilden Eber. Liéna hatte keine Ahnung welches Gerücht stimmte, vielleicht keins. Alles was sie wusste war, dass der Mann einmal ihren Vater beschützt hatte und das er von allen geschätzt und von Lorins Leuten ignoriert wurde, weil diese ihn nicht für voll nahmen und für verrückt hielten. Natürlich gab es viele Geschichten über verrückte Dinge, die er getan hatte, so dass man leicht auf den Gedanken kommen konnte, dass es bei Merin im Oberstübchen nicht mehr ganz richtig zuging, doch schon als Kind war Liéna beim Anblick der klaren grauen Augen dieses Mannes überzeugt gewesen, dass die Verrücktheit nur aufgesetzt war und zum Selbstschutz diente.
Still musterte Merin Liéna von Kopf bis Fuß, ließ das selbe über sich ergehen und zeigte nicht die Spur von Überraschung das eine junge Frau mitten in der Nacht alleine vor seiner Tür stand.
„Liéna“, meinte er schließlich nachdenklich, „Das letzte Mal als eine Frau deiner Familie mit diesem Blick vor meiner Tür stand hatte ich drei Stunden später ihren Mann auf dem Dachboden versteckt.“
Sie zögerte einen Moment, dann meinte sie mit fester Stimme.
„Hat ja nicht viel genützt, was?“
„Was nicht meine Schuld war, dein Vater ging als er erfuhr, dass es Gerüchte gab, dass er bei mir wäre, weil er nicht wollte, dass Lorins Männer ihn bei mir fänden. So war dein Vater, stur, stark, entschlossen und überaus eigensinnig“, er zuckte mit den Schultern und runzelte dann nachdenklich die Stirn „Tja dein Bruder ist ihm sehr ähnlich und so wie es aussieht du auch.“
Nein, ich habe nicht annährend den Mut und die Entschlossenheit der beiden.

Der Mann strahlte trotz seines Gebrechens eine ungemeine Kraft und Stärke aus, die er sich aus seiner Jugend behalten haben zu schien. Zum wiederholten Mal fragte Liéna sich wie man denken konnte, dass dieser Mann verrückt wäre.
„Darf ich reinkommen?“
Merin nickte und trat beiseite, „Natürlich oder habe ich eine Wahl?“, meinte er, mehr zu sich selbst.
Sie folgte ihm durch eine kahle Diele in einen Wohnraum, in dem ein Feuer brannte, außer einem Tisch und ein paar Stühlen war der Raum leer und kahl. Merin deutete auf einen Stuhl und ließ sich gegenüber davon auf einem anderen nieder. Zögernd setzte Liéna sich. Merin schob sich eine Pfeife zwischen die Zähne und begann sie zu stopfen, dann fragte er mit Pfeife im Mund:
„Also, da ich keine Lust auf unnötiges Gerede habe: Was willst du?“
„Ich brauche deine Hilfe“, antwortete sie entschlossen, hoffend, dass es richtig gewesen war den alten Freund ihres Vaters einfach zu duzen. Er schien sich jedoch nicht daran zu stören und bevor sie fortfahren konnte gab er ein freudloses Lachen von sich und meinte:
„Tja, ich dachte das hätten wir bereits geklärt… Worum geht es denn? Hast du einen Geliebten, den ich auf dem Dachboden verstecken soll?“
„Spar dir deinen Spott! Ich habe ein ganz anderes Problem“, antwortete sie vielleicht ein wenig zu heftig. Wie war das mit dem unnötigen Gerede?

Merin hob beschwichtigend die Hand und paffte seine Pfeife.
„Was willst du dann Mädchen?“, offen blickte er ihr in die Augen.
„Ich will morgen den südlichen Steuerzug überfallen und ich brauche jemand, der mir hilft die Sachen von dort wegzuschaffen und jemand bei dem ich sie zwischen lagern kann“, sagte sie dann mit klarer Stimme und versuchte ihre aufsteigende Nervosität und ihr klopfendes Herz zu ignorieren. Jetzt hatte sie es offen gesagt, es fühlte sich fast an, als wäre es damit offiziell, ohne Weg zurück. Einen winzigen Moment lang weiteten sich Merins Augen und fast wäre im die Pfeife aus dem Mund gefallen, aber sofort fing er sich wieder und grinste.
„Du bist deinem Vater eindeutig ähnlicher als ich dachte.“
„Was meinst du damit?“, fragte Liéna, die eigentlich auf eine Antwort gehofft hatte und von dem plötzlichen Themenwechsel leicht irritiert war.
„Nun, das sollte dir vielleicht lieber jemand anders erklären als ich Liéna“, antwortete er ausweichend und das Grinsen verschwand.
„Schön…“, bemerkte sie schnippisch, „Also? Hilfst du mir oder nicht?!“
„Nun, ich hätte nichts dagegen Lorin eins auszuwischen… aber ich weiß nicht ob ich dir so eine große Hilfe bin mit meinem Bein“, antwortete er nachdenklich.
„Du sollst mir nur ein paar Packpferde mitbringen und mir helfen das Zeug zwischen zu lagern, den Rest schaffe ich allein.“
„Na ja… also gut, wann und wo?“
„Wir treffen uns morgen Mittag bei der Kreuzung. Kannst du vielleicht noch Seil mitbringen, dann muss ich in der Schule nicht noch welches stehlen?“, fragte Liéna.
„Sicher.“
„Gut dann sehen wir uns morgen Mittag“, nickte sie, stand auf und verließ das Haus ohne sich noch einmal um zu drehen.
Der Rückweg zog sich hin und Liéna war froh als sie endlich wieder in der Halle war und nach der zunehmend kalten Nachtluft unter ihre Decke schlüpfen konnte. Sie schlief mit einem Lächeln ein, es musste einfach glatt gehen.

Am nächsten Morgen war Liéna lange vor dem ersten Glockenschlag wach und konnte nicht mehr einschlafen, also zog sie sich an, nahm ihre Tasche und ging zu dem Baum mit den Kleidern und den Waffen. Den Umhang stopfte sie in ihre Tasche genau wie ihre Steinschleuder und das Jagdmesser. Den Bogen verbarg sie geschickt unter ihrer Jacke zusammen mit einigen Pfeilen, den Köcher, verschiedene Messer und das schmale Schert ließ sie in dem Versteck, die würde sie hoffentlich nicht brauchen. Die Minenkleider zog sie unter ihre andern Kleider an und das Tuch kam ebenfalls in die Tasche, ihr Herz raste, obwohl es noch ein weiter Weg bis zum Ziel war. Als sie zurück in die Halle kam ging gerade die Glocke. Juléna und Ramena sahen sie verwirrt an und Juléna fragte verschlafen:
„Warum bei Feuer und Eis bist du so früh wach?“
„Keine Ahnung… Ich konnte nicht mehr schlafen schätze ich“, erwiderte Liéna fröhlich. So nervös sie war, gleichzeitig war sie unglaublich aufgedreht.
Sie stellte sich neben das Bett und ihr Blick fiel auf die Kette, ohne wirklich zu wissen warum, nahm sie die Kette in die Hand und betrachtete sie. In den Knoten des schwarzen Lederbandes war ein roter Faden eingeflochten, was für Verbundenheit und Treue zu etwas oder jemandem stand. Deswegen hängte sie sich die Kette um und stopfte sie unter ihr Oberteil, deswegen und auch weil sie ihrem Vater gehört hatte und eine Taube für Freiheit stand.
Nachdem sich alle in völliger Stille auf dem Hof innerhalb der Dörfer versammelt hatten und die Anwesenheit überprüft worden war, stiegen sie ebenfalls nach Dörfern unterteilt in die Planwagen. Man sollte meinen es herrsche eine gedrückte Stimmung wegen dem Anlass, aber dem war nicht so. Lorin wollte dass das ganze wie ein Fest gefeiert wurde und dadurch, dass es tatsächlich ein großes Fest gab, mit Süßigkeiten und Spielleuten, kamen viele Leute zu dieser Gelegenheit nach Imardin, auch wenn sie sich dann die Hinrichtung ansehen mussten. So gab es tatsächlich viele, die sich auf die alljährlichen Hinrichtungen freuten, wegen des Festes. Es war simple Manipulation, aber es funktionierte.
Juléna und Ramena bugsierten sie so in den Wagen, dass Liéna sich am Ende direkt neben Jêren sitzend wieder fand. Ich könnte sie umbringen! Was soll das denn bringen, ich krieg doch eh wieder keine Vernünftigres Wort zustande.

Ihr Bogen drückte ihr unangenehm in den Rücken und es versprach eine unbequeme Fahrt zu werden. Sie setzte an etwas zu sagen, brachte aber kein Wort hervor. Jêren neben ihr schien gar nicht mitbekommen zu haben, neben wem er saß, er folgte dem Gespräch seiner Freunde, das sich anscheinend um die Arbeit im Waldabschnitt drehte. Wie willst du einen Steuerzug überfallen, wenn du es nicht einmal fertig bringst mit ihm zu reden?

Liéna atmete noch einmal tief ein und fragte dann, mit pochendem Herzen leise: „Und was machen die Striemen?“
Er drehte sich zu ihr herum und sah sie überrascht an, sie richtete den Blick fest auf eine Kerbe im Boden des Wagens.
„Entschuldige, was hast du gesagt, ich habe dich leider nicht verstanden. Es ist ziemlich laut hier“, fragte er freundlich.
„Ähm, also ich habe gefragt, was dein Rücken macht“, erwiderte sie kaum merklich lauter als zuvor.
„Ja also, alles wieder so weit in Ordnung, es hat sich nichts entzündet und ja…“, darauf folgte peinlich Stille, weil keiner mehr wusste was er sagen sollte. Nach ein paar Minuten drehten sich beide gleichzeitig wieder ihren Freunden zu mit dem Beschluss das peinliche “Gespräch“ zu beenden.
Der Rest der Fahrt verlief ereignislos, eine Stunde lang ruckelten sie über den Waldboden. Liéna starrte mal wieder durch einen kleinen Riss in der Plane nach draußen und fragte sich, ob sie sich darüber freuen sollte, dass sie es geschafft hatte mit Jêren zu reden oder sich ärgern sollte, weil sie nicht mehr daraus gemacht hatte.
Irgendwann hielten sie am Tor, Liéna hörte wie Lady Daren irgendetwas sagte, dann ruckelten die Wagen langsam weiter. Die Atmosphäre um die Wagen herum änderte sich schlagartig, von ruhigem Wald zu dem lauten Treiben einer großen Stadt an einem Festtag. Dabei war es noch recht früh am Tag, später würde es viel schlimmer sein und dann würde auf den Straßen so viel Betrieb herrschen, dass an ein Durchkommen mit den Wagen nicht zu denken gewesen wäre. Allerdings musste man dazu sagen, dass sämtliche Leute aus der Gruppe der Meinung waren, dass Daren selbst das irgendwie meistern würde.
Die Wagen folgten langsam der Straße, bis sie spürte wie der Wagen zu holpern begann und unter ihr das hohle Geräusch von Holz erklang, der Wagen querte offensichtlich die breite Holzbrücke am Ende der Hauptstraße Imardins, Liéna vernahm das Rauschen des Flusses. Danach begann die Straße anzusteigen und in Serpentinen wand sich die Straße den Burgberg hinauf.
Endlich kamen die Wagen zum stehen und sie konnten aussteigen. Erleichtert sprang Liéna auf den staubigen Boden des Burghofes, als endlich ihr Wagen an die Reihe kam. Die Schüler durften wagenweise aussteigen, ihre Anwesenheit wurde überprüft und dann durfte sie bis zum Abend ihrer Wege gehen. Die einzige Ausnahme war die Hinrichtung, die würde am späten Nachmittag stattfinden, auch dort herrschte Anwesenheitspflicht und die Schüler wurden in Reihen geordnet und die Anwesenheit überprüft.
Die Burg bestand aus einem großen Bergfried, Stallungen und zwei weiteren Gebäuden, deren Nutzen Liéna nicht genau kannte doch sie vermutete, dass das prächtige Gebäude auf der Ostseite, mit großen Fenstern zum Hof hin und einem stattlichen Flügeltor aus dunklem Holz, das Wohngebäude des Herrschers und seiner Familie war. Ein verächtlicher Zug stahl sich auf Liénas Gesicht. Einst war die Burg ein Quartier des Königs oder der Königin gewesen, die sie regelmäßig besucht hatten, statt nur in der riesigen und prächtigen Hauptstadt Elrysja zu leben. Nach der Teilung des Reiches hatte der Thronräuber Koin Imardin zu seiner Hauptstadt ernannt und die Burg zu seinem Sitz erklärt. Liéna war es eigentlich völlig egal, wer über das Land herrschte, sie kannte nicht wie die älteren Generationen die damals selbstverständliche Königstreue.
Aber woher auch? Lorin und auch seine Vorgänger waren in der einfachen Bevölkerung verhasst und hatten nicht das geringste Interesse daran das zu ändern. Sie verspürte nicht den Wunsch, dass Erik als Person über ihr Land herrschte, es war ihr eigentlich egal, es ging ihr nicht darum, zu den alten rechtmäßigen Verhältnissen zurückzukehren, das war unwichtig. Ihr würde ein besserer König völlig reichen und dass man die Grenze wieder überschreiten durfte und der Kontakt zu der anderen Hälfte wieder hergestellt würde, doch sie wusste, die einzige Möglichkeit auf einen gerechten Herrscher und Frieden beinhaltete die Zusammenführung des einstigen Reiches.
So hing Liéna ihren Gedanken nach, während Daren die Namen verlas, was sie nur am Rande wahrnahm. Bis ihr Name fiel.
„Liéna Penhaglion.“
Stille.
Der Blick der Lady wanderte über die Reihen, hatte es etwa jemand gewagt, zurückzubleiben?
„Liéna Penhaglion.“
Ramena stieß, der Gesuchten unsanft in die Seite, als diese trotz der plötzlichen Stille, die sich über die Gruppe senkte, obgleich es auf dem Hof nicht still war, Leute eilten geschäftig umher und in den anderen Wagen saßen weitere ungeduldige Schüler, die warteten an die Reihe zukommen, nicht reagierte. Liéna warf ihr einen bösen Blick zu, doch Ramena nickte nach vorne zu Lady Daren, die ihren eisigen Blick noch immer umher gleiten ließ. Das Mädchen schluckte, Angst stieg wie eine Wolke in ihr auf.
„Hier“, stieß sie hervor, nicht laut, aber hörbar. Lady Daren warf ihr noch einen vernichtenden Blick zu, dass ihr das Blut in den Adern gefror, dann wandte sie sich wieder ihrer Liste zu und verlas die restlichen Namen, Jêren antwortete sofort, laut und deutlich, obwohl er wie Liéna auffiel etwas abwesend wirkte.
„Was ist denn los mit dir?“, zischte Juléna ihr zu.
„Nichts… Was wollte denn sein?“, fragte Liéna so ahnungslos wie möglich.
Ihre beiden Freundinnen musterten sie nur kritisch und schüttelten dann den Kopf.
„Na los lasst uns jetzt endlich gehen, ich habe Hunger“, bemerkte Ramena mit einem Blitzen in den Augen. Im vorbeigehen lächelte sie Justus an, der mit seinen Freunden, Jêren war auch darunter, am Rande stand und die sich auch auf den Weg zu machen schienen. Liéna betrachtete Justus, er hatte kurzes blondes Haar und grüne Augen, die richtig strahlten, als er Ramenas Lächeln erwiderte. Sie mochte den warmherzigen Justus ganz gerne, auch wenn sie ihn sonderlich gut kannte, außerdem fand sie, dass er zusammen mit Ramena, die eine ähnliche Haarfarbe wie sie selbst, allerdings auch wilde Locken und grüne Augen hatte, ein hübsches Paar abgab. Ramena passte mit ihrer spritzig, trockenen Art hervorragend zu Justus mit seiner ernsten, aber gleichzeitig immer fröhlichen Art.
Als die Mädchen den Burghof verließen, fiel Liéna auf, dass Jêren seltsam steif dastand, als habe er einen Stock im Rücken, sein Blick wanderte immer wieder zum Nordtor, als könne er es gar nicht erwarten den Hof zu verlassen, dabei fand der Großteil es Festes auf der Südseite der Stadt statt. Die Hinrichtung war vor dem Südtor der Burg, wo sich ein riesiger Platz fand, am Fuß des Hügels war ein große Wiese, die von Burgberg und dem Fluss Pabnor eingegrenzt wurde. Dort standen einig alte Bäume und die Hauptstraße führte von den Serpentinen zu der Holzbrücke, die sie zuvor noch gequert hatten, auf der anderen Flussseite erstreckten sich die Häuserreihen. Liéna schüttelte den Kopf um Jêren aus ihren Gedanken zu vertreiben. Sie brauchte ihre volle Konzentration für ihr Vorhaben. Still ging sie mit ihren beiden Freundinnen den staubigen Hang hinab. Auf der Wiese bereiteten Spielleute ihren Auftritt vor, ein großes Feuer brannte und überall gab es etwas zu Essen zu kaufen. Flammkuchen, Honigbrot, Braten, Butterkuchen, der furchtbar süß schmeckte und an den Fingern klebte, gebrannte Mandeln und einige exotisch gewürzte Dinge, deren Namen sie nicht einmal kannte. Es war noch nicht viel los, aber immer mehr Leute strömten auf die große Wiese versammelten sich im Schatten unter den Bäumen um mit Bekannten zu tratschen oder die ersten Tricks der Spielleute zu beobachten. Einer hielt eine gläserne Kugel, sodass sie eigentlich hinunterfallen müsste, warf sie in die Luft und fing sie mit dem Kopf oder der Stirn auf, ließ sie über seine Arme gleiten, ein anderer jonglierte Fackeln und ein dritter führte die seltsamsten Verrenkungen vor. Als ihre Freundinnen sich in die Menge vor dem Butterkuchenstand drängten, setzte Liéna sich unauffällig von ihnen ab. Sie würden sich nicht groß wundern wo sie abgeblieben war oder sie suchen, man verlor sich schnell in der Menge und es hatte keinen Zeck sich dann zu suchen, am Nachmittag bei der Hinrichtung würden sie sich sowieso wiedersehen und sie waren nicht mehr so klein, dass sie nicht alleine klar kamen, außerdem war es nicht das erste Mal. Die beiden würden sich allenfalls wundern, dass es schon so früh passiert war und sie nicht einfach neben dem Gedränge wartete, denn noch konnte man sich schnell wieder finden.
Liéna eilte auf die Brücke zu und folgte dann der langen Hauptstraße, an deren Rändern überall Stände mit Krimskrams standen, bei dem Fest war der Markt nicht nur auf den Marktplätzen sondern erstreckte sich auch über den gesamten Teil der südlichen Hauptstraße von der Brücke an bis zum Südtor. Unterwegs kaufte sie sich etwas zu essen und aß während sie weiter zum Südtor eilte.
sSie hatte sich entschieden den südlichen Steuerzug zu überfallen, weil sie zeitlich sowieso nicht beide überfallen konnte und ihr eigenes Dorf ebenfalls im Süden lag und von dort wahrscheinlich ebenfalls einige der Steuern kamen. Das war zwar irgendwie eigennützig, aber irgendwie musste sie sich ja entscheiden, welchen der beiden Wagen sie nahm.
Sie durchschritt das Tor und sah, dass die, die Stadt betraten nach Waffen untersucht worden und ich bereits ein kleiner Haufen neben den Wachen häufte. Und das obwohl allein schon der Besitz verboten ist.


Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht auf. Wahrscheinlich konnten diejenigen, denen die Waffen gehört hatten, froh sein, dass heute so viel los war und die Strafe auf das Beschlagnahmen der Waffen beschränkte. Ein anderer Gedanke kam ihr. Wie sollte sie selbst wieder mit ihren Waffen in die Stadt gelangen? Nun, dann musste sie sie eben Merin geben. Unbehelligt verließ sie die Stadt und folgte der Straße eine Stunde lang durch den sonnigen Wald, der still und friedlich von Vogelgezwitscher erfüllt war.
Sie begegnete niemandem, da diejenigen, die aus dieser Richtung kamen, entweder schon da waren, weil es sich sonst nicht lohnte überhaupt zu kommen, oder gar nicht erst hingingen. Schließlich erreichte sie die große Kreuzung, wo Merin bereits unter einem Baum saß und seine Pfeife paffte.
„Ah da bist du ja“, sagte er, seine Augenbrauen wanderten nach oben, „Du willst einen Steuerzug überfallen und hast keine Waffen?“
„Für wie dumm haltet Ihr mich?“, erwiderte sie schnippisch und zog ihre Waffen unter den Kleidern hervor.
„Und ansonsten? Findest du es klug in den normalen Schulkleidern und ohne Tarnung vorzugehen?“
„Denkt Ihr ich will im Otakan landen? Was ist denn mit Euch? Wollt Ihr Euch so zeigen?“
„Nun ich weiß nicht ob du ins Gefängnis willst, ich jedenfalls nicht und deswegen werde ich mich gar nicht zeigen“, antwortete er gelassen.
„Was?! Aber Ihr sagtet doch…“
Barsch unterbrach er sie:
„Ich helfe dir die Sachen von ihr fortzuschaffen und zu verstecken, vielleicht auch wieder zurückzugeben. Aber beim Überfall kann ich dir nicht helfen Mädchen, dafür bin ich zu alt, dass ist deine Sache.“
„Also schön“, gab sie schnippisch zurück, „Um Eure Zweifel auszutreiben: Ich habe nicht vor meine Identität preiszugeben“, mit diesen Worten begann sie ihre Schulkleidung auszuziehen, die schwarzen Kleider und der Umhang kamen zum Vorschein, dann zog sie Jagdmesser, Schleuder und Tuch aus der Tasche und stopfte ihre Kleidung hinein. Sie legte ihre Waffen an und fragte Merin dabei:
„Habt Ihr das Seil?
„Natürlich Kleine Lady“, sagte er spöttisch. Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, nahm dann das Seil entgegen und drückte ihm ihre Tasche in die Hand.
„Hier, wenn Ihr schon nicht helft passt wenigstens darauf auf!“
Liéna nahm das Seil und stand dann auf, sie folgte der Straße in Richtung ihres Dorfes, nach Süden, und Merin folgte ihr.
Nach einer guten viertel Stunde blieb sie stehen. An dieser Stelle war der Weg von dichtem, aber durchlässigem Gestrüpp gesäumt und zwei Bäume standen sich gegenüber.
„Nehmt das ein Ende und zurrt es dort fest“, sie warf Merin das Ende des Seiles zu und nickte zu dem Baum auf der rechten Seite. Er nickte und gemeinsam spannten sie das Seil stramm über den Weg und tarnten es danach so gut es ging. Liéna stemmte die Hände in die Seiten und betrachtete ihr Werk kritisch.
Dann nickte sie.
„Also gut und jetzt warten wir“, sagte sie fest, ihr Herz raste und sie musste sich anstrengen nicht auf und ab zu laufen, aber in ihren Augen stand Entschlossenheit. Sie schob ihren Zopf unter den Umhang und band dann das Tuch bis über die Nase, dann zog sie die Kapuze hoch, sodass man fast nur noch ihre strahlenden Augen und die schräg stehenden Augenbrauen sehen konnte.
Merin schmunzelte.
„Richtig verwegen siehst du aus, kleine Lady. Dein Vater wäre stolz“, dann wurde sein Blick ernst und er fragte, „Bist du sicher, dass du das tun willst?“
„Ja“, ihr Ton hatte etwas endgültiges, es lag soviel von ihrer Entschlossenheit darin und sie spürte wie eine ruhige Kraft sie warm durchströmte und ihre Unsicherheit davon schwemmte. Ohne zu wissen warum, zog sie die Kette ihres Vaters unter ihrem Hemd hervor und ließ den Anhänger offen auf ihrer Brust. Merins Blick glitt dorthin, er betrachtete den Anhänger einen Moment nachdenklich, dann nickte er.
„So sei es denn, endlich sollen die Erben ihren Eltern folgen, Tochter Moriels kehrt zurück und der Tyriel – Bann ersteht erneut. Kinder es ist an der Zeit: Tretet euer düsteres Erbe an, das durch die Vergangenheit geprägt!“
Verwirrt musterte Liéna den Mann, vielleicht war er ja doch nicht ganz richtig im Kopf? Na ja jetzt war es zu spät.
Sie versteckten sich und Merin begann sich wieder seine Pfeife zu stopfen. Die Bäume rauschten im Wind, raschelnd huschten kleine Tiere durchs Gebüsch und sogar ein Fuchs huschte über den Weg. Liénas Blick war fest auf die Straße gerichtet und sie achtete so sehr auf jedes Geräusch, das ihr alles unnatürlich laut erschien. Die Zeit kroch langsam an ihr vorbei, während Merin vor sich hin paffte.

Da. Ein Geräusch. Liéna richtete sich auf, auch Merin spitze die Ohren. Leises Hufgetrappel näherte sich und sie spannte die Schleuder, der Bogen hing über ihrem Rücken und die par Pfeile steckten in ihrem Gürtel. So langsam kamen die Pferde in Sicht. Sie blinzelte. Es war tatsächlich der Steuerzug. Vorne ritten im leichten Trab, wie erwartet ohne Helm, den würden sie erst kurz vor der Stadt anziehen der Etikette halber, die beiden Wächter, die den Namen nicht mehr verdienten. Einst waren die Wächter, von allen geehrt gewesen und hatten die Bevölkerung im Namen des Königs geschützt. Heute wurden sie verachtet. Zumindest auf dieser Seite der Grenze

dachte Liéna bitter. Hinter den beiden dunklen Pferden kam ein Planwagen auf dessen Kutschbock zwei Männer saßen, den einen kannte Liéna sogar, es war der Schuster ihres Dorfes, den anderen hatte sie schon einmal gesehen, aber sie konnte ihn nicht einordnen. Der Wagen folgte ein wenig langsamer hinter den Wächtern und wurde von zwei Ponys gezogen. Die Pferde näherten sich dem Seil. Das eine ritt vielleicht einen halben Meter vor dem anderen, ihre Mähnen flatterten. Mit jedem Meter, den sie näher kamen, schien Liénas Herz schneller zu schlagen. Sie hob die Schleuder und zielte zur Sicherheit schon einmal grob auf den hinteren der beiden. Der Beutel mit Kieselsteinen hing leicht geöffnet an ihrem Gürtel und wartete nur so darauf ihr Nachschub zu liefern. Merin hatte die Pfeife weggepackt und beobachtete gebannt die näher kommenden Reiter, aus den Augenwinkeln nahm sie war, dass er die Hände so fest um einen Ast gekrallt hatte, dass die Knöchel weiß hervortraten. Auch sie hielt ihre Schleuder fest umklammert.
Und dann ritt der vordere in das Seil, sein Pferd stolperte und ging in die Knie, er flog, vor Überraschung ohne Halt, über den Hals. Das zweite Pferd bäumte sich laut wiehernd auf und Liéna zielte auf die Schläfe des Reiters. Mit einem leisen Zischen huschte der Stein von der Schleuder als sie los ließ. Hinter den beiden Pferden bremsten die Männer abrupt den Planwagen, die Augen der Ponys weiteten sich in Panik doch die Männer behielten sie mit Mühe unter Kontrolle.
Liénas Stein fand sein Ziel. Die Augen des Mannes huschten zu ihr, dann sank er lautlos nach vorne, sein Pferd tänzelte unruhig vor sich hin. Entschlossen sprang Liéna aus dem Gebüsch und griff dabei nach dem nächsten Stein in ihrem Beutel.
Der Mann der noch immer über dem Hals seines Pferdes gehangen, obwohl es sich wieder aufgerichtet hatte und nervös umherblickte, hatte richtete sich auf und blickte sie verwirrt an. Ihre Finger zitterten nicht, auch wenn soviel Adrenalin durch ihre Adern schoss, dass sie sich fühlte als müsse sie explodieren, gleichzeitig gab es ihr ein leichtes Gefühl, so als habe sie die Kraft alles erreichen zu können. Die weichen Knie würden später kommen. Sie ließ den Stein fliegen, gerade fest genug, dass er den Mann bewusstlos niedersinken lassen konnte. In dem Moment stieg das Pferd und der Stein verfehlte sein Ziel. Der Mann zog sein Schwert. Erschrocken weiteten sich Liénas Augen, aber bevor der Mann auch nur zucken konnte, hatte sie einen weiteren Stein geschleudert und diesmal fand er sein Ziel. Sie zog den Mann vom Sattel und beruhigte das Pferd, dann schnitt sie das Seil in Stücke und fesselte beiden Wächtern die Hände auf den Rücken. Die beiden Männer starrten sie fassungslos an. Sie wandte sich ihnen zu und musterte sie mit einem festen Blick, der sie fast einzuschüchtern schien.
„Habt ihr vor denen da zu helfen?“, sie nickte zu den beiden Wächtern. Der Schuster und der andere Mann schüttelten entschlossen den Kopf und Liéna konnte ihnen ansehen, dass das nichts damit zu tun hatte, dass sie Angst vor ihr hatten.
„Na gut, Sind das eure Ponys?“
Der Schuster schien sich von seinem ersten Schrecken erholt zu haben und musterte sie, sein Blick blieb einen Moment auf ihrer Kette hängen. Kalt rann es ihr über den Rücken, hatte er den Anhänger ihres Vaters erkannt? Nein, unmöglich es war ja nicht so, dass ihr Vater immer mit dem Anhänger herumgelaufen wäre, so dass man sich jetzt noch daran erinnern würde. Schließlich nickte er.
„Ja, dass sind unsere“, sagte er ruhig.
„Gut dann spannt sie ab und nehmt sie mit. Ihr werdet jetzt in die Stadt reiten und sobald ihr das Tor passiert habt jedem erzählen, was hier passiert ist. Verstanden?“
Die Männer nickten und machten sich daran, die Tiere abzuspannen. Liéna beobachtete sie aus den Augenwinkeln, ob sie es sich nicht doch anders überlegt hatten, während sie die beiden Wächter vor den Wagen schleifte, dort aneinander fesselte und ihnen dann aus ihren eigenen Umhängen Knebel und Augenbinden anlegte. Als sie sich aufrichtete standen die Männer neben den Ponys und sahen sie fragend an.
„Schwört mit bei den Elementen, bei Sturm und Feuer, bei Wind und Eis, dass ihr in die Stadt geht und meinen Anweisungen folgt und nicht direkt zurückkehrt!“
Sie wunderte sich selbst darüber, aber die Männer folgten sofort und ohne den geringsten Widerspruch leisteten sie den Schwur, dann ritten sie in Richtung Stadt davon. Mittag war jetzt eine gute Stunde vorbei und die Sonne brannte für späten Herbst nur so vom Himmel. Merin kam hinter den Büschen hervor und half ihr die Pferde vor den Wagen zu spannen.
„Wohin bringen wir den Wagen jetzt?“ fragte Liéna zog sich das Tuch vom Gesicht und sah Merin auffordernd an.
„In dieselbe Höhle, in die ich deinen Vater schickte, als er nicht bei mir bleiben wollte. Nur das er nie dort angekommen ist“, meinte er traurig.
„Wie weit ist das?“
„Anderthalb Stunden östlich von hier bei den ersten Ausläufern der Berge.“
„Er war nur Anderthalb Stunden von einem sicheren Unterschlupf entfernt?!“, sie musterte ihn entsetzt. Er schwieg. Sie schüttelte sich und vertrieb den Gedanken, schnell sagte sie:
„Gut, in vier Stunden muss ich zurück auf dem Südplatz bei der Hinrichtung sein. Ich gebe dir meine Waffen wieder und komme sie morgen in aller Frühe holen. Dann bringen wir die Sachen zurück zu den Leuten.“
Dann setzten sich die beiden auf den Kutschbock und machten sich in flotten Trab auf den Weg zur Hauptkreuzung, die ganze Zeit betete Liéna, dass ihnen niemand begegnen würde. In zwei Stunden würden die beiden Männer in der Stadt ankommen und wenn sie ernst genommen würde hieße das, dass in frühestens zweieinhalb Stunden vermutlich jede menge Wächter auf den Hauptwegen sein würden, dass heißt sie mussten die kleineren Waldpfade zurücknehmen oder sich verstecken, wenn jemand kam um alleine keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Als sie bereits eine gute Stunde schweigend unterwegs waren blickte Liéna plötzlich auf. Ihr war viel durch den Kopf gegangen, über ihren Vater, ihren Bruder, Jêren sogar über Juléna, Ramena und Merin. Sie drehte sich um und schlug die Plane beiseite, sie erblickte mehrere Säcke Mehl, Gewürze, Kartoffeln, Gemüse und sogar ein Schwein und drei Hühner in einem magischen Schlaf der dafür sorgte, dass sie Ruhe hielten solange sie im Wagen waren. Jeder beliebige konnte sie mit einem Schnipsen wieder wecken.
„Von den Lebensmitteln hier drin könnte man ein paar Familien über den Winter bringen“, knurrte sie wütend.
„Denkst du das kümmert Lorin?“, fragte Merin gleichmütig.
„Wie kann ihm das egal sein? Es ist sein Volk, sein Urgroßvater wollte es um jeden Preis und als er es endlich hatte, hat er es gedemütigt, gequält und verhungern lassen! Und seine Söhne folgen diesem Beispiel? Warum? Was haben sie davon?“
„Du bist jung Liéna“, bemerkte Merin lächelnd.
„Ja und? Ist Alter eine Entschuldigung dafür alles einfach hinzunehmen?“, brauste sie auf.
„Nein“, sagte er ernst, „ Aber deine Worte sprühen vor jugendlichem Idealismus und du verurteilst unseren König obwohl du ihn nicht kennst und befindest Erik für besser obwohl du auch ihn nicht kennst.“
„Ich kenne Lorin! Ich kann an seinem Volk sehen wer er ist und ich kann an Eriks Volk sehen wer er ist!“
„Dennoch waren die Absichten von Lorins Urgroßvater bis zu einem gewissen Grade ehrenhaft. Anfangs wollte er dafür sorgen, dass sein Volk es gut hat, deswegen die Steuern und die Schule und das alles, das war anders geplant, ursprünglich zumindest, aber weil sich die Menschen seinen Plänen nicht fügen wollten, beschloss er sie mit Terror dazu zu zwingen. Natürlich nur solange bis sie sich einfügen würden. Irgendwann musste er begreifen, dass das niemals passieren würde und so behielt er den Terror bei. Versteh mich nicht falsch, er war ein Tyrann, genau wie seine Nachfahren, aber ihnen fehlt der Einfluss des anderen Reiches, ihnen fehlt der letzte Funke Anstand der in ihm noch lebte. Jede Generation hat etwas davon verloren und jetzt ist nichts mehr übrig, nur noch Hass und Habgier.“
Liéna sah ihn an. Er hatte Recht, natürlich, wie immer. Aber das wohl die längste Rede, die sie je aus seinem Mund gehört hatte.

Schließlich kamen sie an den ersten Ausläufern der Berge an. Der Rest der Fahrt hatten sie wieder geschwiegen, Liéna hatte lange über Merins Worte nachgegrübelt. Merin lenkte den Wagen den Weg, der jetzt begann anzusteigen, hinauf und irgendwann bog er vom Weg ab. Rechts von ihnen, war eine Art Schlucht in der Felswand und auch wenn dort eindeutig kein Weg war, konnte man noch ganz gut darüber fahren. Sie bogen um eine Kurve hinter der noch ein kleiner Felsvorsprung war, dahinter wurde die Schlucht breiter, sie fuhren dort herum und dann hielt Merin den Wagen an. Er bedeutete Liéna abzusteigen und zusammen spannten sie die Pferde ab und Merin deutete hinter den Felsvorsprung, überwuchert von Efeu war dort der Eingang einer Höhle, in die sie den Wagen nun schoben, sie war recht weitläufig und geräumig.
„Tolles Versteck“, bemerkte sie und blickte sich um. Merin nickte.
„Außer mir, deiner Mutter und deinem Bruder bist du die einzige die davon weiß“, bemerkte er grinsend und klopfte ihr auf die Schulter.
Einen Moment lang fragte sie sich, was ihr Bruder damit zu tun hatte, dann wandte sie sich um und trat aus der Höhle, sie blickte zu Sonne.
„Verdammt, ich bin spät dran!“, Angst stieg in ihr auf.
„Das schaffst du, wir reiten zurück“ meinte Merin beruhigend.
„Und wenn jemand kommt?“, fragte sie skeptisch.
„Glaub mir, das merke ich früh genug“, sie zog die Augenbrauen nach oben erwiderte aber nichts, sie glaubte ihm sogar. Sie schwangen sich auf die Pferde und Liéna nahm aus den Augenwinkeln wahr wie Merin irgendetwas in Richtung Höhle murmelte. Seine Augen schienen zu glühen, aber das konnte sie sich auch nur eingebildet haben. Im Galopp ritten sie den Berg wieder hinunter. Unten blieb der Alte allerdings nochmal stehen, fast wäre sie in ihn hineingeritten. Sie wollte schon ansetzen sich zu beschweren, doch als sie seinen konzentrierten Blick sah, blieb sie stumm. Er musterte den Weg vor ihnen und wieder schienen seine Augen einen Moment lang zu glühen, Liéna blinzelte, doch da war es auch schon wieder vorbei und er preschte wieder los. Sie schüttelte den Kopf und ritt hinterher.
Sie preschten immer weiter bis sie wieder an der großen Kreuzung ankamen. Für den ganzen Weg Hin und zurück hatten sie mit dem Verstecken des Wagens fast drei Stunden gebraucht.
„In Ordnung Mädchen, wir reiten jetzt auf dem Waldpfad bis kurz vor Imardin, da gibst du mir deine Sachen und dann machst du, dass du in die Stadt zu dieser verflixten Hinrichtung kommst.“
Sie folgten der Hauptstraße ein paar Meter begegneten aber zum Glück niemandem und bogen dann auf den verborgenen Pfad ein. So schnell es ging ritten sie den Weg entlang. Immer wieder peitschte Liéna Äste und Zweige ins Gesicht, Dornen kratzten über ihre Beine. Als sie endlich kurz vor der Stadt waren und den Pferden Schaum vor den Mäulern stand zügelte Merin vor ihr sein Pferd. Sie band ihre Waffen an den Sattel und zog schnell ihre Kleidung wieder über und nahm ihre Tasche.
„Beeil dich.“
„Danke Merin“, sagte sie ernst.
„Schon gut! Jetzt geh endlich!“, sagte er eindringlich. Sie nickte und wandte sich mit schnellen Schritten Richtung Waldrand. Sie hörte wie Merin hinter ihr langsam davon trottete, mehr schafften die Pferde nicht mehr.
Endlich trat sie wieder ins Freie und erstarrte. Vor dem Tor stand eine riesige Traube von Leuten, die noch oder wieder hinein wollten. Unruhe machte sich in ihr breit. Wie sollte sie es schaffen in zehn Minuten auf dem Südplatz zu stehen? Selbst wenn es bei dem anderen Tor besser wäre würde es ihr auch nichts nützen, weil sie einmal um die ganze Stadt herumlaufen musste und dann noch einmal zurück in die Mitte zur Burg. Langsam ging sie auf das Tor zu, sie musste es versuchen! Sie drängelte sich so weit es ging nach vorne und blieb in der Traube neben zwei Männern stehen, die sich leise unterhielten. Vor ihr stand eine Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand. Mit großen Augen sah er zu seiner Mutter auf.
„Mama? Warum sind so viele Leute hier?“, verlangte er mit großen Augen zu wissen.
„Sie kontrollieren jeden sehr genau, mein Schatz“, sagte sie in geduldigem Tonfall, schien mit den Gedanken aber woanders zu sein.
„Warum?“, fragte er in quengelndem Tonfall.
„Sie suchen Leute die sie nicht mögen.“
„Und wieso dauert das so lange?“, trotzig verschränkte er die Arme. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre und es nicht einfach keinen Millimeter voran würde, hätte Liéna gelächelt.
„Na ja Kleiner, sie suchen eine Frau, die sie geärgert hat und sie wissen nicht wie sie aussieht, also kontrollieren sie die Kleidung und Halsketten, die kennen sie nämlich“, meinte einer der Männer, die sich zuvor unterhalten hatten, er war ein bisschen größer als der andere und sprach in gutmütigem Ton.
Liéna wurde ganz anders, sie versuchte zurückzuweichen, aber hinter ihr kamen immer mehr Menschen. Angst stieg in ihr auf, planke Panik. Sie hätte die Kleider und die Kette auch Merin geben sollen, aber auch dann hätte das hier zu lange gedauert. Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Der Mann der gesprochen hatte wandte sich zu seinem Freund und flüsterte ihm irgendetwas zu. Liéna beugte sich vor. Er schien Ahnung zu haben, was vorging, vielleicht konnte ihr das, was er sagte irgendwie helfen. Und tatsächlich:
„Remen, lass uns den anderen Weg nehmen, dass hier dauert zu lange und das andere Tor wird auch kontrolliert“, sagte er eindringlich.
„Du weißt doch, die Pfade

sind nur noch für Notfälle!“, bemerkte der, der Remen hieß.
„Glaubst du irgendjemand folgt heute zwei unscheinbaren Männern, die irgendwo anders hingehen? Die haben genug damit zutun diese beiden anderen zu suchen.“
Bei den Elementen die redeten tatsächlich über die Schmugglerpfade, die an verschiedenen Stellen in die Stadt führten. Na wenn das mal kein Glück war!
„Also gut, na los.“
„Wartet!“, sagte sie laut, die beiden wandten sich zu ihr um und musterten sie prüfend. Sie schlug schüchtern die Augen nieder.
„Was ist Mädchen?“
„Nehmt mich mit!“, sagte sie trotzig blickte aber immer noch nach unten. Wütend musterte Remen seinen Freund, das hatten sie jetzt davon!
„Warum sollten wir Mädchen?“, fragte der andere spöttisch.
„Weil ich sonst zu spät zu der Hinrichtung komme und dann bringt Daren mich um.“
„Was geht uns das an?“, fragte jetzt auch Remen, der deutlich jünger war als sein Begleiter, vielleicht sogar sein Sohn.
„Nun ja…“, sie zögerte, dann hatte sie eine Idee, „Ich weiß was ihr vorhabt, ich könnte Alarm schlagen!“ Remen blickte sauertöpfig, der andere dagegen lachte laut.
„Also schön. Wie ist dein Name Mädchen?“
„Liéna Penhaglion“, sagte sie fest und blickte auf, direkt in die Augen des Mannes. Der blickte sie nachdenklich an.
„Penhaglion, so, so… Na dann komm mit. Ich bin übrigens Gared Moak und das ist mein Sohn Remen“, er klopfte seinem missmutig dreinblickenden Sohn auf die Schulter. Liéna nickte ihm zu.
„Können wir bitte jetzt gehen?“, fragte sie dann leicht verzweifelt. Sie hatte nicht mehr viel Zeit.
„Sicher“, sie war froh über die Chance, aber es wollte sich einfach keine Erleichterung einstellen.
Mit Hilfe der beiden Männer kämpfte sie sich aus der Menge, dann folgte sie den beiden schnell ein paar hundert Meter um die Mauer herum außer Sichtweite von Tor und Wachtürmen. Dort traten sie in den Wald, hinter den ersten beiden Bäumen war ein großer Fels, auf dessen stadtabgewandten Seite war ein Brombeerbusch. Gared trat vor und hob ihn an, darunter kam ein Loch zu tage. Remen ging vor, half Liéna, unnötiger, aber netterweise, runter, dann folgte sein Vater und sie machten sich auf den Weg durch den Gang. Remen zog eine kleine Lampe aus der Jacke und pustete sie an. Eine kleine Flamme erglomm und nährte sich am Lampenöl. Liénas Augen weiteten sich.
„Du bist ein Magier?!“, stieß sie hervor, außer pustete, weil sie in einem Mordstempo den düsteren Gang entlang hetzten.
„Ja, aber wäre nett, wenn du das für dich behälst und nicht dem nächsten Wächter unter die Nase reibst“, giftete er.
„Ach was… Kannst du noch mehr?“, ignorierte sie seinen Tonfall.
„Nein, für viel mehr als ein bisschen Feuer reicht es nicht und selbst das habe ich mir selbst beigebracht“, seine Stimme war keine Spur freundlicher.
„Wieso das?“
„Na was denkst du denn?“, fauchte er.
„Mädchen du weißt doch, dass nur adelige das Recht auf Magie haben, es ist schon erstaunlich, dass er überhaupt selbst entdeckt hat, was er kann“, fuhr Gared sanft dazwischen als sie zu einer Antwort ansetzen wollte.
„Ja schon… Aber es gibt doch Gerüchte, dass es einen geheimen Zusammenschluss gibt, wo man unterrichtet wird und…“
„Ja aber die muss man erst einmal finden“, bemerkte Remen trocken, „Die präsentieren sich nicht Hey hier bin ich komm zu mir!“


„Bist du auch… Du weißt schon…“
„Ein Nomerra?“
„Ja.“
„Ich weiß es nicht“, jetzt klang er traurig. Danach war es still. Mehrere Male wurde es über ihnen ein bisschen hell, aber sie setzten ihren Weg immer weiter fort schon mehrere Minuten lang. Der Gang war feucht und kalt. Sie fragte nicht, wo genau sie hingingen, sie vertraute darauf, dass die beiden ihr wirklich helfen wollten. Trotzdem raste ihr Herz und nur mit Mühe schaffte sie es ihre aufsteigende Panik zu bekämpfen. Was war, wenn sie endlich hier heraus kämen? Wie weit war es von dort noch? Und was wäre, wenn die Straßen noch immer verstopft waren. Wie sollte sie es nur schaffen rechtzeitig da zu sein?

Schließlich blieben sie stehen. Gared kletterte einige Sprossen an der Wand hinauf und schob oben einen Deckel beiseite. Er lugte hinaus zog sich nach oben und half ihr dann nach draußen, ihre Finger zitterten. Sein Sohn kletterte hinterher und schloss den Deckel, doch Gared hatte Liéna bereits weiter gezogen, sie konnte sich nicht einmal mehr in der einsamen Gasse umsehen, zweimal um eine Ecke, dann waren sie auf der vollen Hauptstraße. Dort schoben die beiden Männer sie durch die Menge, sie waren bereits bei der Brücke, anscheinend hatten sie unterirdisch die ganze Stadt gequert. Sie schoben sie unglaublich schnell durch die Menge, schon waren sie den Hügel halb hinauf, aber Liéna wusste es war bereits zu spät. Normalerweise waren alle Schüler überpünktlich sodass noch mehr auffiel, wenn einer zu spät kam. Andererseits, wenn es schon angefangen hätte wäre auf der Straße nicht so viel los. Sie erreichten den Platz und Liéna fielen dreitausend Tonnen schwere Steine vom Herzen. Da standen die Schüler noch ungeordnet, Darens Blick ging über die Menge, sie hob ihr Klemmbrett und schickte mit schneidender, weit hallender Stimme die Dörfer an bestimmte Stellen. Sie war gerade noch rechtzeitig. Gared blieb stehen.
„Sieht so aus, als hättest du echtes Glück Mädchen“, grinste er und wirkte richtig erleichtert.
„Danke“, sie fiel ihm um den Hals und er tätschelte unbeholfen ihren Rücken. Sie ließ ihn los und fiel auch Remen um den Hals. Er wirkte noch unbeholfener als sein Vater.
„Schon gut… Jetzt geh schon“ stammelte er.
„Warum habt ihr das gemacht?“, sie blickte die beiden offen an, anfangs hatten sie ihr schließlich gar nicht geholfen. Gared lachte.
„Ach Mädchen, auch Schulden sind vererbbar. Und jetzt geh endlich sonst war die Hetzerei umsonst. Verwirrt und von der Antwort auch nicht schlauer, wandte sie sich in Richtung Schülern und hastete zu der Gruppe, die sie als ihr Dorf erkannte. Daren war begann bereits mit dem zweiten Dorf, aber es waren noch zwei vor ihnen dran. Juléna und Ramena standen am Rand und ihre Blicke wanderten suchend über die Menge, genauso die Blicke von Justus und seinen Freunden, die direkt daneben standen. Jêren war allerdings nicht dabei.
„Da! Da! Da ist sie!“, einer der Jungen, dessen Namen Liéna einfach nicht in den Sinn kommen wollte deutete zu ihr rüber, als sie aus der Menge zu den anderen trat. Juléna und Ramena stürmten auf sie zu und umarmten sie. Bestürzten sie mit Fragen.
„Wo warst du nur?“
„Was ist nur los mit dir in letzter Zeit.“
„Wo hast du deinen Kopf?
„Was hast du den ganzen Tag gemacht?“
„Ach, ich…na ja“, versuchte sie den abwechselnden Redefluss zu unterbrechen. Doch es nützte nichts.
„Hast du es schon gehört?“
„Was denn?“, fragte sie, bestimmt meinten sie den Überfall oder?
„Na die Überfälle!“
„ÜberfällE!?“, erst jetzt viel Liéna auf, dass auch Remen und Gared sowas gesagt hatten, dass die Wächter mehr Probleme mit den beiden

hätten. Ob sie Merin gemeint hatten? Nein wie denn.
Bevor Ramena und Juléna erklären konnten, was sie meinten, gab es auch ein lautes „Hallo“ bei den Jungen. Jêren war dazu gestoßen.
„Sag bitte, bitte, dass du mit ihm zusammen warst und ihr deswegen zu spät gekommen seid!“, Ramena grinste sie an.
„Er war auch zu spät?“, fragte Liéna ehrlich überrascht. Das sah ihm gar nicht ähnlich, ihr zwar auch nicht, aber bei ihr hatte es ja einen Grund. Ramena merkte, dass sie tatsächlich überrascht war und seufzte.
„Schade.“
„Also hast du jetzt schon von den Überfällen gehört?“, bemerkte Juléna aufgeregt.
„Überfälle?“, tönte es hinter Juléna. Jêrens Stimme. Sie drehte sich halb zu ihm um.
„Ja der nördliche und der südliche Steuerzug wurden überfallen“, Liéna, die bemüht gewesen war möglichst aus Jêrens Blickfeld zu verschwinden horchte auf. Beide?!

„Von wem?“, fragte Jêren ruhig.
„Ihr habt das echt noch nicht gehört?“, fragte Ramena erstaunt, „Da redet einfach jeder drüber, deswegen ist hier auch alles so spät an, weil die Menschen einfach nicht gekommen sind sogar sämtliche Schüler waren spät an. Von euch mal ganz zu schweigen.“
„Von wem wurden sie denn jetzt überfallen?“, fragte Liéna leise.
„Von einem Mädchen und einem Jungen, sie nennen sie Das Mädchen mit der Taube

und Die Fackel

, sie hat den südlichen Zug überfallen und die Wachen mit einem Seil vom Pferd geholt, mit einer Schleuder matt gesetzt und dann alleine gefesselt zurück gelassen…“
„Warum Mädchen mit der Taube

?“, unterbrach Jêren Juléna mit seiner ruhigen Stimme, die er immer hatte, wenn es um etwas Wichtiges ging.
„Sie trug einen Taubenanhänger und war ansonsten ganz in schwarz und maskiert, wie er, nur das er keine Taube hatte und dass er ganz anders vorgegangen ist.“
„Wie denn?“, jetzt war Liéna gespannt. So unglaublich es war, dass man sich diese Sachen über sie selbst erzählte und dass man ihr sogar einen Namen gegeben hatte, das alles wurde durch die Existenz Der Fackel

untergraben. Ramena begann zu erklären:
„Er hat die Pferde mit einer Fackel aufgescheucht und sie die Wächter dann auch mit der Schleuder unter Kontrolle gebracht.“
„Wow“, flüsterte sie leise.
Alle weiteren Gespräche wurden unterbrochen, denn Lady Daren kam und überprüfte die Anwesenheit.

Von der Hinrichtung und dem Rest des Tages, der in einer ausgelassenen Feier auf den Wiesen endete, bekam Liéna alles nur am Rande mit. Und das obwohl sie selbst viel lachte und sich ausgelassen an den Gesprächen beteiligte, aber alles versank in einem triumphalen Rausch. Außerdem beschäftigte sie ganze Zeit die Frage, wer bei den Elementen die Fackel

war. Was wäre passiert, wenn sie sich für den selben Zug entschieden hätten?

Impressum

Texte: elaja96
Bildmaterialien: elaja96
Lektorat: Freue mich, wenn ihr mich auf Fehler aufmerksam macht ;) Danke
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für den lila Ritter Darth Steve UABF Das Hobbi und Das Wutzel höchstselbst und natürlich meiner Büchernkumpanin, die mir beim Klappentext geholfen hat

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