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Teil 1: Lübeck

In der Fremde erfährt man mehr als zu Hause.

(Sprichwort aus Tansania)

 

So, das Wichtigste, das, was mächtig ihr Gewissen belastet hat, ist erst einmal entschärft. Hembach hat wie erhofft reagiert und beide werden über ihren gemeinsamen Toten schweigen. Aber, ob dieser Tote auf Dauer schweigen wird, lässt sich so nicht sagen. Auf irgendeiner Müllkippe unter Tonnen von Müll ruhend, wird er in Vergessenheit geraten. Dennoch befürchtet Betty, dass der Totzuschweigende sie noch oft anderweitig heimsuchen wird, bis er endgültig in Vergessenheit gerät, sofern es diese Endgültigkeit gibt.

Aber mit Hembach, ihrem Chef, darüber gesprochen zu haben, vor allem seine Reaktion, war für sie ein kleiner Befreiungsakt. Zumal sie in drei Tagen aufbrechen wird, um die verordnete REHA anzutreten, für vorerst vier Wochen. Noch ist Betty nicht so weit, als von dem heftigen Niederschlag wieder hergestellt zu gelten. Kopfschmerzen, noch leichte Sprachstörungen, Gleichgewichtsstörungen und weiterhin viel zu viel Gewicht auf den Rippen, müssen wieder ins Lot gebracht werden. Und diese vier Wochen, mit den von Professor Theissen angedeuteten therapeutischen Maßnahmen, durchzustehen, ist schon eine Herausforderung für Betty und wäre dann noch eine ungeklärte Leiche in ihrem Kopf, wäre dies eindeutig kontraproduktiv. Also hat sie mit Hembach geredet, ihm von dem Toten im Müllcontainer berichtet, der aller Wahrscheinlichkeit der Pfleger, Nicola Schroh, war.

Beide stimmten überein, ihr Wissen zu verschweigen, auch wenn dies für zwei Kriminalbeamte alles andere als korrekt ist. Wie sie mit dem wissenden Schweigen umgehen wird, werden die kommenden Wochen zeigen, aber ein Zurück kann es nun nicht mehr geben. Lebensballast, denkt Betty, ein weiterer Ballast, den sie, zusätzlich zu ihren Kilos, mit sich tragen muss. Und Hembach, da ist sich Betty sicher, wird in seinem bevorstehenden Ruhestand keinen Gedanken mehr an den toten Pfleger verschwenden, zu abgebrüht, zu viel erlebt in seinem Berufsleben, um sich von einem Toten im Ruhestand stören zu lassen.

 

Hembach ist hinter seinem Schreibtisch aufgestanden, geht auf Betty zu und, macht etwas, was er nie zuvor getan hat, er drückt Betty an sich.

„Ich freue mich, dass du wieder einigermaßen wohlauf bist und der Rest an Gesundheit, den wirst du dir die nächsten Wochen holen. Und danach wirst du, wie vorher, die Bösen in Lübeck jagen. Erhol dich gut und komm regeneriert wieder…Allerdings wirst du mich nach deiner Rückkehr nicht mehr hier antreffen…“

„…Wie? (tiefes Erstaunen bei Betty) Nicht mehr antreffen? Ich dachte Ende September wäre Schluss für Sie…“

„…Ich habe noch Urlaub und einiges an Überstunden abzuarbeiten, was heißt, in vierzehn Tagen ist der Ofen für mich aus.“

„Ja, und dann? Einfach Schluss? Aus und vorbei?“

„Ja, aus und vorbei…was meine kriminelle Zeit betrifft. Ich freue mich auf die viele Zeit, die ich haben werde und die ich sinnvoll zu nutzen gedenke. Keine Kriminellen mehr, die mir meine Zeit stehlen. Ich weiß, dass es nicht einfach werden wird, all die Jahre stecken in mir drin. Ich höre nicht abrupt auf. Du hast es bestimmt festgestellt, ich bin längst ausgestiegen, überdrüssig all diesem Scheiß. Nervende Vorgesetzte, Kollegen und düstere Personen und all dieses Elend, diese Trauer. Und unser Pfleger hat mir den Rest gegeben. Nein, das muss ich auf meine alten Tage alles nicht mehr haben. Die Welt ruft und ihrem Ruf werde ich folgen.“

„Kleine Fluchten? Trotzdem, es bleibt Ärger, den ich da heraushöre?“

Hembach lehnt sich in seinem Stuhl etwas zurück, seufzt dezent, scheint noch nicht zu wissen, wie er seine Gefühlslage beschreiben soll.

„Ich habe zu viele Enttäuschungen in meiner Laufbahn, in meinem Leben, erfahren, um noch Reserven an Zorn oder Ärger zu haben. Ich würde sagen, es ist eine resignative Gleichgültigkeit…Du weißt, ich wollte sowieso gehen, nun halt etwas früher, und eher ungewollt. Zwei Jahre wären es noch gewesen, zwei Jahre, die ich hätte mit viel Widerwillen durchstehen müssen. Die Herrschaften dort oben sagen, ich hätte einen Fehler gemacht, den Fehler, dich als leitende Ermittlerin in einem so komplexen Fall einzusetzen. Und, dass uns der Hausmeister und der Pfleger durch die Lappen gingen, schreibt man deiner Unerfahrenheit zu und die Unerfahrenheit eingesetzt zu haben, schreibt man mir zu und dem Polizeipräsidenten, der übrigens ebenfalls in Kürze das Präsidium verlassen wird.“

„Petersen auch? Was war so falsch an dem, wie wir gehandelt haben? Weder Sie noch ich wussten zu Beginn des Falles, in welchen Abgrund wir da eintauchen. Ich sehe da keine Fehler. Na ja, der vielleicht, dass ich allein in den Keller gestiegen bin. Ja, das war Unerfahrenheit, aber deswegen das Personalkarussell drehen?“

„Es ist einfacher, Bauern zu opfern als eine interne Ermittlung anzustrengen, die eventuell Staub in die Öffentlichkeit tragen und unangenehme Diskussionen zur Folge haben könnte. Ich mache mir keine Vorwürfe und du solltest dir schon gar keine Vorwürfe machen. Ohne deine Intuition hätte es ein neuntes Todesopfer gegeben, wären weiter verbotene Substanzen und Rauschmittel ins Land geschmuggelt worden und nicht zu vergessen, diesen vertrackten Mord des Typen, der seine totkranke Frau ermordet hat…Mitunter ist die Welt ungerecht, deswegen aber lasse dich nicht beirren, mache so weiter wie bisher, wobei ich hoffe, dass dein neuer Chef deine Fähigkeiten zu schätzen weiß.“

„Wissen Sie bereits, wer dies werden wird?“

„Nein. Nichts konkretes, aber Petersen deutete an, jemand aus dem LKA Niedersachsen solle meine Stelle einnehmen und wer Polizeipräsident werden wird, ist noch vollkommen offen.“

 

„Apropos neuntes Opfer. Wahrscheinlich hat mir Lusi davon berichtet, aber ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Schroh hat tatsächlich ein weiteres Opfer am Haken?“

„Am Haken ist gut. Nein, er hatte sie schon nach Berlin in Marsch gesetzt…“

„…Schon in Berlin?...“

„Ja, Ende Juli. Mytro und seine Leute hatten sie identifizieren und die Mutter der Frau ausfindig machen können und diese wusste, dass ihre Tochter für ein paar Tage nach Berlin gefahren sei. Die Mutter hatte auch die Handynummer der Tochter, so dass wir sie im Hotel erreichen konnten. Alles lief nach gleichem Muster ab, Schönheitsoperation, Briefe geschrieben, Chats geführt, Berlin-Aufenthalt und danach sollte es nach Lübeck weitergehen. Dazu kam es glücklicherweise nicht mehr. Sie hat bereits den dritten Tag im Hotel auf ihn gewartet, als wir sie erreichten. Die Berliner Kollegen haben sie dann in volle Kenntnis gesetzt. Sie habe zunächst aus Verzweiflung geweint, dann aus Ärger, schließlich vor Glück, nicht das Schicksal ihrer Vorgänger geteilt zu haben. Ich bin mit Röber zu ihr nach Berlin gefahren und ich habe lange mit ihr gesprochen. Also, wie er seine Opfer anlockte und umschmeichelte darüber haben wir genaue Kenntnisse. Aber jetzt nicht mehr relevant. Es ist vorbei und wir sollten den Fall so schnell als möglich vergessen. Wohin fährst du eigentlich zur REHA?“

Ja, das ist Hembach, ablenken, Thema wechseln, Haken machen. Gut, Betty ist ein wenig erschöpft und hätte sie weitergebohrt, Hembach hätte sicher noch das eine oder andere von seinem Wissen preisgegeben. Was sie wissen muss, wird sie frühzeitig erfahren.

„Nach Ahrenshoop. In Mecklenburg-Vorpommern…“

„…Oh, ich kenne die Gegend sehr gut. Fischland. Eine sehr schöne Gegend. Direkt an der Ostsee gelegen und dahinter der Saalener Bodden, Naturpark, kleine teils noch ursprüngliche Dörfer. Betty, du wirst, also zumindest diese Gegend, lieben lernen, glaube mir. Nutze sie, es gibt viel zu sehen, zu entdecken. Natur zu Wasser und zu Lande. Nur, warum so weit, hätte sich nicht eine Klinik im näheren Umfeld finden lassen, in Neustadt oder Malente gibt es meines Wissens auch gute REHA-Kliniken.“

„Hm, das weiß ich nicht. Ich habe nur die Empfehlung von Professor Theissen befolgt, der mir die Klinik in Ahrenshoop angepriesen hat. Er meinte, bei all den Schäden, die ich hätte, sei eine Klinik nötig, die mehr als nur ein straffes REHA-Programm durchführe, was immer das für mich heißen mag.“

Hembach hustet ein Lachen von sich.

„Du wirst es überstehen…“

„…Jetzt haben Sie mich aber neugierig gemacht. Woher kennen Sie die Gegend?“

Kurzes Innehalten bei Hembach, als überlege er, ob und wie er antworten soll.

„Eine lange Geschichte, Betty. Ich erzähle sie dir einmal, nicht jetzt, nicht heute. Du solltest dich auf den Weg nach Hause machen, entspannen, deine REHA antreten und zusehen, dass du gesundet wieder hier aufschlägst.“

Sie will ihn fragen, wann später sei, wo er doch, wie er sagte, nicht mehr hier sei, wenn sie zurück wäre, lässt es aber sein. Hembach redet nicht einfach so daher. Sie nimmt seine Aussage als Versprechen auf.

 

Ja, der Zwischenstopp im Präsidium war eigentlich nicht geplant, Mentel hätte sie von der Klinik nach Hause fahren sollen, aber Betty wollte das Gespräch mit Hembach unbedingt sofort führen.

Im Abgehen von Hembachs Büro ahnt Betty, dass hinter der von Hembach angedeuteten langen, eine eher verzwickte Geschichte steckt, wie überhaupt in Hembach viele versteckt gebliebene Geschichten schlummern. Sie weiß wenig über Hembach, sein Leben, seine Vergangenheit, seine Gegenwart und auch seine Zukunft hat er nur angedeutet, ohne zu verraten, was er konkret vorhat. Das Einzige, was sie mit Sicherheit weiß, ist, dass Hembach ihr ein guter Chef ist, und nun war.

Aber allein schon die Andeutung einer offenen Geschichte fasst Betty als Vertrauensbeweis auf und weiß, demnächst wird sie Überraschendes hören, wie auch immer das Zustandekommen mag.

Allerdings scheint Hembach davon auszugehen, dass Betty Lübeck treu bleibt, was nicht ausgemacht ist. Der Praktikumsteil ihrer Ausbildung zur Fallanalytikerin bedingt zwar noch zwei Monate Lübeck, danach aber muss sie zurück nach Hamburg, den Abschlusslehrgang absolvieren, die Abschlussprüfung bestehen. Und dann? Nun, sie ist sich noch unschlüssig, welchen Weg sie einschlagen soll und wird auch sicher noch einige Zeit benötigen, dies für sich zu entscheiden. Diese REHA, an diesem Ort, wird ihr dabei helfen, das hat sie im Gefühl.

Betty verlässt Hembachs Büro, geht vor zu Lusi, die erwartungsvoll mit leicht fragendem Blick, die ihr entgegenkommende Betty betrachtet. Vor Lusis Schreibtisch macht Betty halt, drückt ihre Kollegin, lächelt sie an.

„Ein spontanes, intimes Gespräch mit dem Chef. Und wenn ich mir dessen Miene betrachte, kein erfreuliches Gespräch. Muss ich mir Sorgen machen?“

Etwas abgeschlafft, noch die Worte von Hembach im Kopf, steht Betty vor Lusi, schüttelt leicht mit dem Kopf.

„Nein Lusi, alles in Ordnung. Es ist nur (kurzes ausschnaufen), dass ich den Chef nicht mehr sehen werde, wenn ich zurückkomme. Es war mein Abschiedsbesuch.“

Lusi ist überrascht: „Abschiedsbesuch? Ich dachte, er ist noch bis Ende September hier…“

„Nein, Lusi, noch vierzehn Tage und er ist unser Chef gewesen.“

„Das ist schade. Sehr schade. Er wird uns sehr fehlen. Und Besseres wird bestimmt nicht nachkommen. Hat er sich dazu geäußert?“

„Ja, angedeutet, dass sein Nachfolger aus dem LKA Niedersachsen komme. Mehr wusste er auch nicht…Und sonst? Hembach meinte, zurzeit nur Lübecker Kleinkram…“

„…Kleinkram? Was der so Kleinkram nennt. Einbrüche machen uns zu schaffen, Übergriffe auf Ehefrauen, Drogendelikte, aber alles Leichenfrei. Noch.“

„Die Leichenfälle warten, bis ich zurück bin.“

Kein Grund zum Lachen, Lusi verzieht die Mundwinkel nur leicht, um ein Grinsen anzudeuten. Nein, sie braucht keine Leichen. Ihr genügt der Kleinkram, der sie und die Kollegen auf Trab hält.

 

Peter gesellt sich den beiden zu, reicht Betty die Hand: „Hallo Betty. Du hattest wohl große Sehnsucht nach diesem Büro. Wir dachten, dich erst in vier oder fünf Wochen wieder hier zu sehen. Und sonst? Geht es dir gut?“

Sein Blick bleibt auf Bettys Kopf haften, die kurzen an ihr ungewohnten Stoppeln und die nicht zu übersehende etwa 4 cm lange Narbe am Hinterkopf sind neu für Peter, der Betty nicht im Krankenhaus besucht hat und deshalb erstmals den Schaden an ihr aus der Nähe sieht. Erstaunt, ahnend, mit welcher Wucht Betty der Schlag traf.

„Wären die ständigen, vibrierenden Kopfschmerzen nicht, würde ich glatt sagen, mir geht’s Bestens. Nein, der Professor sagte, ich müsste Geduld haben, mir Zeit geben. Ja, und die REHA wird mir einiges abverlangen. Mein Leben ist auf den Kopf gestellt, aber ich weiß, dass dies unabdingbar ist…Ich bin, wie Professor Theissen meint, eine einzige Baustelle, aber wie alle Baustellen werde auch ich wieder in Stand gesetzt. Es braucht Zeit, Peter, einiges an Zeit. Und, die nehme ich mir.“

Kurz, wirklich nur kurz, kommt Betty der Gedanke, beide und Mentel für den Abend einzuladen. Doch dies hätte zur Konsequenz, dass sie ihre Gäste bewirten müsste. Mit gebratenem Gemüse oder Tofu-Salat? Nein, geht nicht, geht gar nicht. Die Kollegen sind Pizza, Bürger, Currywurst und Co. gewöhnt, Bier, Wein und Softgetränke. Nein, das kann sich Betty nicht antun, wäre der Versuchung ausgesetzt. Und überhaupt, ihre Vorräte sind erschöpft und von dem Wenigen, was noch in ihren Schränken ruht, sicher einiges bereits abgelaufen. Nein. Sie fühlt sich auf gutem Weg, den sie keinesfalls verlassen will, also schnell den Gedanken versenken. Na ja, die Einladung hätte sie nutzen können, auf den aktuellen Ermittlungsstand gesetzt zu werden. Das kann warten, eilt nicht.

Sie sieht dem hinter Peter stehenden Mentel die Ungeduld an, Betty endlich nach Haus zu fahren. Ja, es wird Zeit. Also verabschiedet sie sich. Betty hat etwas Wehmut in sich, da ihr die Arbeit in diesem Raum fehlt, fehlen wird, denn das, was vor ihr liegt, ist Arbeit anderer Art, einer Arbeit, die sie nicht mag und durch die Ankündigung von Professor Theissen wirre Gedanken in ihr hervorgerufen hat, welchen Unannehmlichkeiten sie sich in der Klinik unterwerfen muss.

 

Vom Präsidium aus fährt Mentel Betty, mit kurzem Zwischenstopp am kleinen Einkaufsmarkt, nach Hause. Ihr Kühlschrank ist nach den vier Wochen Krankenhaus nicht mehr auf aktuellem Stand und die Dinge, die eine längere Haltbarkeit besitzen, sind die, die Betty in Zukunft meiden wird. Wird, nicht muss. Frau Doktor Eva-Maria Bunsen, die Diabetologin der Klinik, hat ihr sehr eindringlich die Folgen ihres Diabetes dargelegt und sie in die Ernährung einer Diabetes-Patientin eingeführt, ihr erklärt, welche Nahrungsmittel empfehlenswert und welche sie meiden sollte, letztere Nahrungsmittel sind dummerweise die, die Betty bisher so gerne goutiert hatte. Es liege an ihr, nur an ihr, an ihrem Willen, wie die Diabetologin meinte, ihr Leben neu zu justieren. Kein muss. Sie müsse nicht müssen. Sie könne. Und Betty kann.

Und so legt sie Lebensmittel in den von Mentel gedrückten Einkaufswagen, die dieser erstaunt registriert: Blumenkohl, Möhren, Selleriestangen, Vollkornprodukte, zuckerfreies Müsli, Soya-Milch, Soya-Joghurt, verschiedene Gewürze.

„Wenn ich das richtig sehe, werden wir zukünftig den Besuch beim Italiener unterlassen. Trübe Zeiten. Richtig?“

„Keine Angst Dirk, wenn es sich ergibt, werden wir unseren Italiener aufsuchen. Er hat noch andere Sachen auf der Karte außer Pizza und Pasta. Zur Not schaue ich dir zu, wie du deine Pizza verdrückst und trinke ein Glas Wasser dazu.“

„Meine Güte Betty. So schlimm?“

„Ich werde es überstehen und noch viele Kilos verlieren, das ist Zweck der Übung.“

Sie zahlt an der Kasse mit ihrer Kreditkarte, packt die Einkäufe in eine Papiertüte, die ihr Mentel zum Auto trägt, folgt, auf ihren Stock gestützt.

Die Strecke zu ihrer Wohnung ist kurz, kaum dass sie eingestiegen sind, heißt es wieder aussteigen. Sie greift sich ihre Umhängetasche vom Rücksitz, die Laptop-Tasche und die Tasche mit ihrer verschwitzten Krankenhauswäsche, klemmt sich ihren Gehstock unter den Arm. Mentel nimmt die Einkaufstüte, Haustür aufschließen, die Treppe schnaufend hochsteigen, am Treppengeländer entlanghangelnd, die Wohnungstür aufschließen und endlich betritt sie wieder gewohntes Terrain, ihre Wohnung. Ihre Atmung ist kurzatmig und beschleunigt, es kostet sie Anstrengung, den Brustkorb beim Einatmen auszudehnen, den Atem auszustoßen, in ihrem Kopf hämmert der Schmerz. Erst einmal absetzen auf der Couch. Besorgt blickt Mentel auf die um Atem ringende Betty.

„Schon gut Dirk, es war etwas zu viel für den Anfang.“

Aus ihrer Umhängetasche fischt sie die Schachtel mit den Schmerztabletten, drückt eine aus dem Blister, bittet Mentel, ihr ein Glas Wasser zu holen, aus dem Wasserhahn, was dieser tut, ihr reicht und sie die Tablette schluckt. Es werden noch mehr Tabletten werden, das Rezept, das sie von der Klinik mitbekommen hat, samt Medikationsplan, weist mehrere Präparate auf. Gut, wenn es hilft, dann wird sie sie schlucken, wie alles, was jetzt auf sie zukommt.

 

Die Wohnung, als sie sie nun endlich nach vier Wochen Abwesenheit betreten hat, riecht anders als gewohnt. Stickig, leicht muffig, wohl der Wärme geschuldet, die seit Tagen über der Stadt lastet. Ist das Abwesenheit, die so riecht oder liegt es nur daran, dass sich ihre Nase in den vier Wochen Klinikaufenthalt so an den steril hygienischen Klinikgeruch gewöhnt hat, dass der Wohnungsgeruch aus ihrem Gedächtnis getilgt ist? Und die Zeit, sich wieder des alten Geruches zu erinnern, hat sie nicht. In drei Tagen geht es in die nächste Klinik.

Sie bedankt sich bei Mentel, bietet ihm einen Kaffee oder Tee an, aber der lehnt alle Angebote ab, das Präsidium rufe.

„Ich will ja nicht unken, aber wenn ich mir betrachte, was du eingekauft hast, frage ich mich, ob du nicht schlimmer krank wirst, als du es bist.“

„Gesundheit, Dirk. Ich habe Gesundheit eingekauft. Übrigens, ich habe noch einige krankmachende Nahrungsmittel vorrätig. Willst du dir etwas davon mitnehmen?“

„Danke Betty. Danke. Ich will nicht in der REHA enden, behalte diese leckeren Sachen für dich. Damit kannst du deine Widerstandsfähigkeit testen,“ wobei Mentel ein strahlendes Lächeln zeigt.

Na ja, denkt Betty, wer den Schaden hat, dem ist Spott gewiss. Mit diesem Lächeln im Gesicht verlässt Mentel Betty, die einen Moment unschlüssig auf ihrer Couch sitzen bleibt, sich umschaut, sich schließlich entscheidet, zunächst zu lüften, reist alle Fenster auf, die in der Wohnung hängende stickige Wärme nach draußen zu entlassen. Nur, was von draußen kommt, ist nicht die wohltuende Auffrischung, sondern schwüle durch Autoabgase angereicherte feuchtheiße Luft, tropische Luft würde der Wettermann sagen, von keinem Windhauch angetrieben, der eigentlich zur Stadt gehört, wie der Lärm des vorbeifahrenden Verkehrs. Also, Fenster wieder zu und heute Abend einen neuen Versuch starten. Als nächstes die Spülung in der Toilette drücken, die Dusche kurz laufen lassen, um den Kloakengeruch auszuspülen.

Sie holt die im Flur ruhenden Einkaufstüten trägt sie in die Küche, den Laptop schmeißt sie auf die Couch, die Krankenhaustasche landet vor der Waschmaschine, in die Lusi, die in Abwesenheit Bettys deren Wohnung hütete, bereits die Wäsche abgelegt hat, die sie bei ihrem letzten Krankenbesuch mitgenommen hat.

Im Wohnzimmer nimmt sie den Blumenstrauß wahr, sonst eher eine Seltenheit in Bettys Wohnung, ohne Grußkarte, aber sicher von Lusi. Von wem sonst? Etwas wacklig steht der Strauß in einem Bierglas, nach einer Vase hat sich Lusi sicher vergebens umgeschaut, ist in Bettys Hausstand keine zu finden. Nein, Blumen sind nicht ihr Ding, duften nur kurz, dann setzt die Fäulnis ein. Diesen Strauß aber betrachtet sie nun mit einem liebevollen, irgendwie gerührten Blick. Sie wird sich bei Lusi bedanken.

Getränke, sie muss Getränke kaufen, nichts da, außer einer angebrochenen Flasche Wasser, mittlerweile nicht mehr Medium, sondern Still. Gut, da sind noch einige Flaschen Cola, die aber mit einem Tabu belegt sind, geht zu ihrer Couch und lässt sich wieder nieder. Ausschnaufen. Die Wand anstarren. Sie spürt die Anstrengung in ihren Beinen, in ihrem Körper, in ihrem Kopf, den leichter Schwindel benebelt, der Kopfschmerz nur langsam abklingend, gibt sich ihren Gefühlen hin. Alles andere dann später.

 

Alles andere sind die Anrufe, die sie tätigen will, Großmutter, Professor Giede und Harrie. Später. Jetzt einfach spüren, wie sich heimisch anfühlt. Normalität empfinden. Wieder zurück im Leben sein, das abrupt hätte enden können.

Den Hausmeister und seine Machenschaften hatte niemand auf dem Schirm, auch sie nicht, sonst wäre sie sicher nicht so arglos in den Keller gegangen. Trotzdem, es war dumm, es war unprofessionell gewesen, einfach nur dumm. Aber nicht mehr zu ändern. Der Schaden, den sie davongetragen hat, ist fast behoben und was noch offen ist, werden die REHA-Maßnahmen beheben. Meine Güte, was da wohl auf sie zukommen wird? Egal.

Das Gespräch mit Hembach hat Betty wieder vor Augen geführt, wie wenig Privates sie über ihre Kolleginnen und Kollegen weiß, dass muss sie unbedingt nachholen. Gelegenheit vertan. Hätte sie doch alle einladen sollen? Gedächtnislücken füllen? Nein später, alles später.

Irgendwie muss sie sich von der vermaledeiten Geschichte lösen, aber sie hat gesehen, wie schwer es ist, nicht darüber zu reden. Sie klebt an ihr, diese Geschichte. Von Lusi weiß sie vage (nicht von ihr), dass sie anscheinend eine Beziehung mit dem Kollegen aus Bad Schwartau eingegangen ist, und über Peter weiß sie so gut wie nichts. Und der Chef, behangen mit Geheimnissen. Oder sind es gar keine Geheimnisse? Nur Unausgesprochenes? Eher dies. Keine Gelegenheit, bei all den ermittlungsbezogenen Gesprächen, eine Lücke für Privates zu finden. Polizistenkrankheit.

Sie bleibt sitzen, verstrickt in ihre Gedanken, hat noch Zeit, bevor sie sich etwas zu essen machen wird. Essen machen. Nicht einfach die Microwelle anstellen, nein, kochen wird sie, richtig kochen. Nur, ob dies auch so von ihrer Hand geht, wie die Kochrezepte suggerieren, die Frau Doktor Bunsen ihr mitgegeben hat, muss sich erst noch erweisen. Betty und kochen, ha, zwei Dinge, die nicht zusammenpassen. Bisher!

Nicht wie üblich, langes kramen in ihrer von der Vergangenheit bereinigten Umhängetasche, sondern direkter Zugriff auf die in einer Klarsichthülle steckenden Rezepte, zieht diese aus der Hülle und beginnt, die drei Rezepte zu separieren, die sie in den nächsten drei Tagen sich vorgenommen hat zuzubereiten: Lachs mit Blumenkohl-Couscous, Auberginenpfanne mit Tofu-Streifen und eine Minestrone. Mit dem Einfachen beginnen, also für heute Mittag eine Minestrone.

War die Microwelle bisher ihr bevorzugtes Teil zur Nahrungszubereitung muss sie nun umsteigen auf Topf, Pfanne und Herd. Nur, Topf und Pfanne gibt es nur jeweils einmal und ist zudem beides nur in der Minimalversion vorhanden, wird aber vorerst genügen. Sie steht auf, führt eine Inventur durch, zu dem, was in ihrem Schrank an Kochutensilien vorhanden ist. Sie muss mächtig aufrüsten, nur heute nicht, das wird sie morgen erledigen, zumindest das Notwendigste.

 

Ihr wird bange, als sie das Rezept für die Minestrone durchliest, etwas Neues, Unbekanntes, das da auf sie wartet, andererseits auch wieder aufregend, die Erfahrung eines selbst zubereiteten Gerichtes zu machen. Sie schneidet zwei Möhren und ein Zucchino zu schmalen Scheiben, löst ein paar Röschen vom Blumenkohl, schneidet eine Zwiebel ganz vorsichtig, um ihre Finger besorgt, klein. Erbsen hat sie vergessen einzukaufen, öffnet eine Büchse mit dicken weißen Bohnen. Gibt Margarine in den Topf, die Möhren hinzu, brät sie mit den Zwiebeln kurz an, füllt den Sud mit Wasser auf, fügt Blumenkohl und Broccoli hinzu, zum Schluss die Bohnen und die Zucchini, Wort für Wort dem Rezept folgend. An Gewürzen kommen Salz und Pfeffer hinzu, die anderen im Rezept angegebenen Gewürze befinden sich nicht in ihrem Haushalt. Würzen ist etwas, was bisher nicht nötig war, ebenso wie vor dem Topf stehen, den kochenden Sud umrühren und den sich entfaltenden Duft in die Nase ziehen lassen.

Zuschauen das kennt sie, hat sie von ihrer Großmutter gelernt. Nur war dies immer ein passives Zuschauen und mehr gesprächsorientiert als auf Gerüche, sprudelndes Wasser oder den Farbwechsel der Suppenzutaten zu achten. Am liebsten hat sie Großmutter beim Backen zugeschaut, nicht um zu lernen, sondern gierig das Ende von Großmutters Vorarbeiten abzuwarten, um über die Reste in der Schüssel herzufallen, mit den Fingern den letzten Teigspritzer auszukratzen. Kein Gericht, bei dem sie zuschauend beiwohnte, hätte sie nachkochen können. Alle Versuche, ihr das beizubringen, stellte ihre Großmutter resignierend ein. Und jetzt hat Betty den Salat, also nicht direkt Salat, sondern fade Minestrone.

Der Knaller ist es nicht, was sie dann zu sich nimmt, etwas fade, das Ganze, aber gesund. Tja, Gesundheit, der Geschmack, der sie von nun an begleiten wird.

Während sie isst, geht ihr die Aussage Hembachs über den neuen Chef durch den Kopf. Wieso wird ein Beamter aus dem LKA Niedersachsen nach Lübeck berufen? Das ist nicht üblich. Oder? Schmeckt wie abgeschoben, wie weggelobt, was heißt, da kommt jemand mit Frustpotenzial. Nicht gut. Na ja, kann auch ganz anders sein. Abwarten.

Und wenn sie sich Hembachs Mimik ins Gedächtnis ruft, als er ihr dies mitteilte, zeigte sich auch bei ihm einige Skepsis. Er rafft alle Zeit zusammen, die er aufgebaut hat, um möglichst schnell alles hinter sich zu lassen. Eine Flucht? Enttäuschung? Nein, solch ein Abgang hat Hembach nicht gewollt, nicht erwartet, vor allem nicht verdient. Ja, gesagt hat er bei mancher Gelegenheit, dass er den vorzeitigen Ruhestand anstrebe, aber dies haben schon viele gesagt und dann über die Altersgrenze hinaus zur Verfügung gestanden.

Die Vorstellung, das Hembach einfach so den Schalter umlegen kann, nein, das kann sich Betty nicht vorstellen. Wie das wohl werden wird? So ohne ihn? Es war schon toll, vor dem Team zu stehen, die Ansagen zu machen, die Einsätze zu planen, sich mit den Kollegen auszutauschen und, aus den wenigen Zeilen des Notizbuches, nach und nach diese unglaubliche Mordserie aufzublättern. Da war das Vibrieren in den Adern, wenn ein neuer Fakt aufgetaucht war, das Adrenalin stieg hoch, jedes Mal, wenn sie glaubte, dem definitiven Schuldbeweis nähergekommen zu sein.

Diese Ermittlung hat sie so ausgefüllt und, ja, ihr Selbstwertgefühl kräftig angehoben. Sie weiß, wenn sie zurückkommt, wird all dies nicht mehr sein, sie eine andere als die bisherige Rolle spielen. Nur welche Rolle der Neue ihr zubilligen wird, ist schwer zu sagen, jedenfalls keine Hauptrolle mehr, das ist so sicher wie das Amen am Ende einer Messe.

 

Nach dem Essen der dünnen Suppe (eindeutig zu viel Wasser), fährt sie ihren Rechner hoch, sucht sich die Verbindung nach Ahrenshoop heraus, dreimal umsteigen und die letzte Strecke von Barth nach Ahrenshoop mit dem Bus und schließlich muss sie in Ahrenshoop noch ein Taxi in Anspruch nehmen, da die Klinik außerhalb der Ortschaft liegt. Vier Stunden unterwegs, wenn es glatt läuft und die Bahn hält, was sie auf dem Fahrplan fixiert hat. Gut, heißt, nach 13:00 Uhr eine Verbindung heraussuchen.

Sie ordert die Fahrkarte mit ihrem Smartphone, zahlt per Sofortüberweisung den Fahrpreis und speichert die Fahrkarte ab. Anschließend holt sie aus der Hülle mit den Rezepten die Unterlagen für die REHA-Klinik heraus. Da ist eine Seite, die Betty Dinge auflistet, die ein Patient für den Klinikaufenthalt unbedingt im Gepäck haben sollte und die es nun abzuarbeiten gilt.

Schon die ersten Positionen auf der Liste erzeugen in Betty bedrückende Gefühle im Magen. Bademantel. Hat sie keinen, muss sie kaufen, ebenso den Jogging-Anzug, Turnschuhe und, oje, einen Badeanzug. Hat sie nie besessen, nie gedacht, je einen zu benötigen. Und jetzt? Allein die Vorstellung, in einer Umkleidekabine zu stehen und zu versuchen, sich in so ein Ding zu zwängen, lässt Beklemmungen in ihr aufsteigen. Bei dem Gedanken, alternativ auf einen Zweiteiler zurückzugreifen, muss sie schmunzeln. Nein, geht nicht, sie würde Entsetzen auslösen.

Was bedeutet es, einen Badeanzug dabei zu haben? Wassergymnastik, oder was? Schwimmen hat sie nie gelernt, scheidet also aus. Oder etwa nicht? Kann sie sich vor so etwas drücken? Nein sagen? Geht das? Darf sie das? Und überhaupt, wo soll sie einen Badeanzug herbekommen? In ihrer Größe? Vielleicht verleiht die Klinik Badeanzüge. Wohl eher nicht. Also kaufen.

Sie grübelt, gut, was sein muss, muss sein. Sie stellt eine Liste ihrer Einkäufe zusammen, die sie morgen tätigen muss, nicht mehr heute, dazu ist sie zu erschöpft. Hätte sie mehr Zeit, wäre ein online-Shopping sinnvoll gewesen, so aber heißt es, vor Ort auswählen und nach Hause schleppen. Töpfe? Bratpfanne? Hm, da hat sie sicher einiges zu schleppen. Ihr wird klar, dass ihr Einkauf nicht einfach werden würde. Aber, für jedes Problem gibt es eine Lösung, sagt sie sich, wer auch immer das vor ihr gesagt hat, aber der muss es wissen.

Sie notiert sich die Titel und Autoren von zwei Kochbüchern, für Diabetiker, und sie wird Lektüre benötigen, für die Zugfahrt und die Abende auf dem Zimmer. Seit ihrem Studium hat sie keinen Roman mehr gelesen, überhaupt, sehr wenig gelesen und wenn, dann fachbezogene Literatur inhaliert, aber in ihrem Krankenzimmer fing sie wieder an mit Lesen, zunächst auf ihrem Laptop, eBücher. Dann brachte ihr Harrie einen Roman mit von Lea Singer, Das nackte Leben, der das Leben der Constanze Mozart erzählt.

Sie verschlang den Inhalt, roch an dem Buch, fühlte das Papier der Buchseiten, blätterte genüsslich die Seiten um und begann, Literatur wieder in ihr Leben zu lassen, recherchierte im Internet, was aktuell auf dem Markt war, ohne aber einen Impuls zu erhalten, das eine oder andere Buch näher zu eruieren. Stattdessen erinnerte sie sich der Klassiker, und sagte sich, mit Thomas Mann Buddenbrooks zu beginnen, schließlich ist ihr das Umfeld des Romangeschehens sehr nahe. Ein Heimspiel. Ein Muss für eine Lübeckerin, die sie, zumindest auf Zeit, ist.

Das Lesematerial wird sie doch noch heute besorgen, am Nachmittag, in diesem Bücherkaufhaus in der Innenstadt. Genau, so wird sie es machen.

 

Nach kurzem innehalten, rastlosen Blicken durch die Wohnung, etwas suchend, von dem sie nicht weiß was, gibt sie sich einen Ruck, doch die leichten Einkäufe zu tätigen, die auf ihrem Zettel stehen: Lesematerial und Badeanzug.

Wieder vorsichtig die Treppe hinab, sich am Geländer festhaltend, tritt sie hinaus auf die Straße, den Gehstock schwingend führen, sich aber nicht darauf abstützend. Sie muss lernen, wieder frei zu gehen. Die Haltestelle ist nur unweit von ihrer Wohnung.

Mit dem Bus fährt sie in die Innenstadt, entscheidet, zunächst in dieses Bücherkaufhaus zu gehen, was sie gemächlichen Schrittes tut. Dort angekommen, nutzt sie zunächst eine der dort angebotenen Sitzgelegenheiten, um auszuschnaufen. Sie atmet heftig, ein kurzer Weg und doch so anstrengend. Von dem ihr gegenübersitzenden Mann fängt sie einen besorgten Blick auf, wobei, es kann auch ein genervter Blick sein. Sie lächelt ihm verlegen zu und er vertieft sich schnell wieder in seine Lektüre.

Sie steht auf, schaut sich um. Drei Stockwerke voller Bücher, über alle möglichen Themen, ein Riesenangebot. Und was da so alles geschrieben wird. Die Titel, die sie im Vorbeigehen wahrnimmt, strotzen vor Absurdität, anlockenden Wortungetümen oder alles versprechenden Sätzen. Nein, nicht ihre Welt. In dem Laden war sie noch nie. Warum auch?

Früher, während ihrer Schulzeit und des Studiums, suchte sie gerne Bücherläden auf, manches Antiquariat, beide mit einem jeweils eigentümlichen Geruch nach neuen frisch gedruckten oder alten, staubbelegten, angejahrten Büchern behaftet. Hier aber, in diesem Kaufhaus, will dieser bekannte, noch in ihrem Gedächtnis haftende Geruch nicht aufkommen. Es riecht nach Menschen, nach Körperausdunstungen (zu dem sie ihren Teil beiträgt), Holzregalen und Teppichboden, der die Schritte der Umherlaufenden gedämpft hält, um die schmökernden Kaufinteressenten nicht zu stören.

An einer Informationstafel sieht sie nach, wo sie hinmuss, liest, dass im zweiten Stockwerk die Kochbücher zu finden sind, im Erdgeschoß die Belletristik und fährt zunächst die Rolltreppe hoch. Über den Bücherregalen groß und breit angeschrieben, was darunter eingestellt ist. So tastet sich Betty zu dem Regal Kochen, Backen, Braten, sucht nach Kochbüchern für Diabetiker, entnimmt sich drei Bücher aus dem Regal, geht zu einer Sitzgruppe und blättert die Bücher durch. Die Rezepte sind für mehrere, meist für vier Personen ausgelegt, was heißt, kleinere Mengen bei den Zutaten einzukaufen, nur, wer verkauft schon 50 Gramm Rucola, eine Scheibe Zitrone, eine Stange Sellerie oder andere Zutaten für ein Einpersonengericht?

Die Verfasser dieser Bücher sind keine Single und schöpfen mit ihren Zutaten aus dem Vollen. Was aber bleibt ihr anderes übrig, als eines der Bücher zu kaufen und sich von dem Autor anleiten zu lassen? Sie muss nicht nur kochen, sondern auch kombinieren, improvisieren lernen. Zwei der Bücher wählt sie aus (Eins davon nennt sich Schlemmen wie ein Diabetiker. Frau gönnt sich ja sonst nichts, denkt Betty), das dritte Buch stellt sie zurück in das Regal. Mit den Augen streift sie über die Buchrücken, ob ihr vielleicht noch ein anderes Buch auffällt oder einfällt, denn Frau Doktor Bunsen hat ihr ja Tipps für Bücher mitgegeben, die sie aber dummerweise zu Hause hat liegen lassen. Aber nein, nichts, was sie anspricht, also bleibt es bei den beiden. Schlemmen, Betty wird schlemmen, ein leichtes Kichern durchläuft sie bei diesem Gedanken. Jetzt noch Reise- und Bettlektüre.

 

Auch das kennt sie noch von früher, sich Rat holen, eine Empfehlung von einer oder einem Kundigen geben lassen. Die Buchhändler, die sie frequentierte, waren Bücherwürmer, die sich in der Welt der Bücher auskannten und nie um eine Antwort verlegen waren, für jeden Lesewunsch einen passenden Vorschlag machen konnten. Aber hier? Sind das Buchhändler oder nur Verkäufer mit eingeschränktem Literatur-Horizont? Gut, soweit kommt sie selbst klar, lässt die Damen, es sind durchweg Damen, die da hinter einem Computer stehen, agieren.

Sie erreicht das Regal mit Belletristik (von A – Z), zuvor ein Regal mit den Fächern 1 – 20. Die aktuelle Hitparade, suggerierend, hier muss der geneigte Leser zugreifen, dann ist er auf der Höhe der literarischen Entwicklung. Mit verächtlichem Blick streift Betty über die Titel und Autorennamen. Unbekannte, lauter ihr unbekannte Autorinnen und Autoren, zumindest sind sie ihr unbekannt. Sicher junge Leute, die sich erst noch nach oben schreiben müssen. Nur, wer ist da oben? Ihr fällt kein Name ein. Alles nur Kurzblüher, ein hochgejubelter Text, dann lange nichts mehr, keine Konstanz, erschlagen vom ersten Erfolg. Auffallend viele Übersetzungen. Kein Grass in Aussicht? Von dem hatte sie schon gehört, noch nichts gelesen, obwohl auch Ostseeanrainer. Na ja, Lokalpatriotismus ist kein Lesegrund.

Gleich neben der Hitliste die Romane, mehrere Reihen, meist Taschenbücher, mag sie nicht, nicht gut für die Augen. Sie sucht nach M für Mann, klar die Buddenbrooks im Hardcover stehen im Regal, aber ansonsten wenig Mann, kein Heinrich, geschweige denn eine Erika, ein Klaus. Die Buddenbrooks klemmt sie sich unter dem Arm. Sie sucht weiter geht zu Z über, entnimmt dem Regal Maria Stuart und Marie Antoinette von Stefan Zweig, setzt sich in eine Sitzecke und liest die Klappentexte, schmökert kurz in den Innenseiten und beschließt beide Zweig-Bücher mitzunehmen.

Noch ein Buch. Sie lässt ihre Augen über die Buchrücken gleiten, bei A angefangen. Entdeckt Siegfried Lenz Deutschstunde, daran hat sie noch eine Erinnerung, hatte den Roman im Deutschunterricht behandelt, über eine ganz andere Deutschstunde gelesen. Zeit, die Geschichte noch einmal zu lesen.

Neben der Belletristik die Kriminalromane und Thriller, vier Regalwände voll mit Mord und Totschlag. Betty schüttelt den Kopf, verwundert über diese unglaubliche Anzahl an ausgedachten Mordfällen und anderen Verbrechen. Blutrünstig die Titel, die Grausamkeiten ihres Inhaltes im Titel andeutend. Schon seltsam. Woher rührt diese Faszination an den Mordsgeschichten? Ihr eigener Fall wäre, wäre er geschrieben worden, sicher dort gut aufgehoben. Ob unter den Schreibenden viele Polizisten sind? Die sich ihre Erfahrung von der Seele schreiben? Als Ruheständler sich ein Zuverdienst erschreiben? Ob Hembach sich seine kriminellen Jahre von der Seele schreiben würde? Wohl eher nicht.

Doch, sie hatte eine interessante, verzwickte Story erlebt, aber, selbst wenn sie schreiben könnte, nein, veröffentlichen kann sie diese Geschichte nicht. Das würde nur schlafende Hunde wecken. Immer noch kopfschüttelnd über dieses Gemetzel auf Papier, geht sie vor zur Kasse, fragt, ob man ihr die Bücher zur Seite legen kann, da sie noch andere Einkäufe tätigen müsse und die Bücher doch recht schwer seien (hätte sie sich auch denken und erst zu Karstadt gehen können), was die Dame an der Kasse bejaht und die Bücher hinter sich in ein Regal legt.

 

Karstadt ist nur um die Ecke, noch, es wird gemunkelt, Karstadt würde schließen, wäre ein großer Verlust für Lübeck, eine Entlastung für Karstadt. Wer außer Betty kauft noch live ein? Sie schlägt den Weg zu Karstadt ein, orientiert sich neben der Rolltreppe im Erdgeschoß, wo die Badebekleidung zu finden ist, fährt ins 3. Stockwerk hoch und betrachtet sich, was da auf den Kleiderständern hängt. Ihre Größe, wie erwartet nicht zu finden, genauso wenig wie eine Verkäuferin. In Größe 64 hängen da ärmliche drei Badeanzüge, in schwarz, schüttelt den Kopf, nein, schaut sich um und sieht eine Frau, eine beleibte Frau auf sie zukommen.

„Sie suchen einen Badeanzug in ihrer Größe?“

Dabei taxiert die Verkäuferin anscheinend Betty, um die richtige Größe abzuschätzen.

„Ich würde sagen, Größe 4XL…Aber, wenn Sie mich fragen, ich würde Ihnen einen Zweiteiler empfehlen.“

„Einen Bikini? Wollen Sie mich hochnehmen?“

„Nein, verzeihen Sie. Ein Zweiteiler muss kein Bikini sein. Sie können ein spezielles Top mit einem Slip kombinieren. Das ist bequemer anzuziehen als ein Badeanzug.“

Das leuchtet Betty ein.

„Und so etwas haben Sie in meiner Größe, also ein XL mehr, als sie schätzten?“

„Mal schauen.“

Und die freundliche Dame begibt sich an das Wandregal und auf die Suche. Wie zu erwarten, fällt das Ergebnis mager aus. Drei einfarbige Tops, in Rot, Dunkelgrün und Blau. Zwei der Tops haben ab der Brust ein gerüschtes Teil, wie ein abgeschnittener Rock wirkend. Bauchkontroll-Top, wie die Verkäuferin lächelnd erläutert, das bis zum Nabel reiche. Die passenden Slips haben einen hohen Bund, so dass der Zweiteiler wie ein Einteiler wirkt. Das Material weich, dehnbar, die Schultergurte verstellbar. Gut, damit kann sie sich anfreunden. Nur die Farbe Rot ist ihr nicht geheuer, zu grell, zu auffallend, zu blickheischend und dunkelgrün ist auch nicht ihre Farbe, also bleibt nur das blaue Teil. Heilfroh, den Akt des Anprobierens nicht vollführen zu müssen, wählt sie diese Kombination aus. Jetzt noch den Bademantel.

„Oh, dies dürfte einfacher sein. Es ist nicht einfach für uns Mollige das zu finden, was uns gefällt. Wir müssen oft nehmen, was gerade so zu finden ist. Die Mode ist nicht für Dicke gemacht. Neidisch werde ich nicht, wenn ich die schlanken Dinger sehe, die im Fernsehen und auf Plakaten den neusten Modetrend vorführen, aber ärgern tut es mich schon. Es ist, als wären wir es nicht wert, aufgehübscht zu werden. Ich weiß nicht von wem, aber neulich habe ich ein Wort gehört, Gewichtsdiskriminierung, das trifft, was uns widerfährt (Gewichtsdiskriminierung? Diskriminierung ja. Aber Gewicht? Das führt vom Individuum weg. Gut, oder auch nicht, darüber will sie jetzt nicht diskutieren, hört weiter zu.).

Auch wir hier haben zu 95 % den Durchschnitt hängen. Deshalb (und dabei schaut sie sich verstohlen um, damit niemand sie höre) kaufe ich in einem Geschäft in der Breite Straße ein, das nur Übergrößen führt. Dort werden sie sicher etwas Hübsches finden.“

Dabei lächelt sie Betty verschwörerisch an. Betty verwundert es etwas, dass die Verkäuferin diese Empfehlung abgegeben hat. Solidarisches Verhalten unter Gewichtsdiskriminierten?

„Ja, sie sagen es. Wenn ich es könnte, würde ich mir meine Kleider selbst nähen, aber ich kann es halt nicht, nie gelernt und, ich glaube, mir fehlt die Befähigung.“

„Ich weiß nicht. Ich denke, wenn man etwas will, kann man es auch lernen und, ehrlich, wenn ich manche dieser Wäschestücke näher betrachte, denke ich sogar, dass hätte ich besser hinbekommen, denn dazu gehört nicht viel.“

 

Sie nimmt von einem Kleiderständer, ein T-Shirt, nicht Bettys Größe, nicht um es zu empfehlen, sondern um Betty die Umnaht am Saum des T-Shirts zu zeigen und meint, sie solle sich diese Naht einmal betrachten, zupft an einem wegstehenden Faden, würde sie an dem Faden, den sie vorsichtig zwischen zwei Finger nimmt, ziehen, löse sich im Handumdrehen die Naht am Bund. Das sei keine Qualität und keine Qualität sei der Standard heutzutage. Billig, nur billig müsse es sein. Drei Mal tragen, dann in den Altkleidercontainer und ab nach Afrika.

„Lassen Sie das mal nicht ihren Chef oder ihre Chefin hören. Aber danke, dass Sie so offen mit mir geredet haben.“

„Keine Ursache. Ich weiß, wie man sich als Mollige fühlt.“

Sie lächeln sich wissend an.

„Und wie heißt das Geschäft mit den Übergrößen?“

„Ich schreibe es Ihnen gleich auf.“

Die Verkäuferin führt Betty zur Abteilung mit den Bade- und Morgenmänteln, zeigt ihr ein paar Frottee-Bademäntel, in die Betty schlüpft. Alle leider etwas zu eng, bis auf einen, ganz in weiß, den sie nimmt, nicht weil er ihr gefällt, sondern, um einen Abschluss zu finden. Für den Jogging-Anzug hat sie nicht mehr den Nerv.

Mit den ausgewählten Teilen ihrer Kundin geht die Verkäuferin zur Kasse, legt die Teile ab, nimmt sich einen Zettel, kurzer Rundblick, und schreibt Betty Namen und Adresse des Kleidergeschäftes für Übergrößen auf, scannt die Preise ein, steckt alles in eine Papiertüte und reicht Betty den Kassenzettel. Diese bedankt sich bei der freundlichen Verkäuferin, zahlt und verlässt das Kaufhaus, geht vor zu einer Bushaltestelle in der Königstraße, will nach Hause, wartet kurz, will gerade in den Bus einsteigen, als ihr einfällt, dass sie ihre hinterlegten Bücher vergessen hat. Eiderdaus, wäre sie doch fast ohne den Lesestoff davongefahren. Vergessen. Einfach vergessen. Hm, muss sie sich Sorgen machen? War heute schon das zweite Vergessen.

Nachdenkend über die Ursache des Vergessens, geht sie in langsamen, unsicheren Schritten zurück in das Bücherkaufhaus, zeigt der Frau hinter dem Tresen ihre Quittung, bekommt die Bücher ausgehändigt, schwerer Lesestoff, setzt sich, bevor sie erneut vor zur Bushaltestelle gehen wird, in einer Sitzgruppe nieder, verspürt leichten Schwindel, atmet gleichmäßig aus und ein. Wie konnte sie nur die Bücher vergessen? Sie versteht es nicht. Nach einer viertel Stunde fühlt sie sich besser und bereit, die Bushaltstelle aufzusuchen, wartet kurz und besteigt den Bus. Nach drei Haltstellen, kurz vor ihrer Wohnung in der Kaiserstraße, steigt sie aus. Ihr Achselschweiß steigt ihr in die Nase, ja, sie wird unter die Dusche steigen, die Anstrengungen des Tages abspülen.

Sie atmet schwer, steht wartend auf dem Bürgersteig, fühlt wieder einen leichten Schwindel, spürt die verstohlenen Blicke einzelner Passanten. Der Ausstieg aus dem Bus ist ihr schwer gefallen. Eine ältere Dame hatte ihre Hilfe angeboten, aber Betty meinte dankend, es gehe schon. Selbst hilfebedürftig hatte die Dame Hilfe angeboten. Dass es so etwas noch gibt.

Auf den Beinen stehend, links und rechts die Papiertüten in der Hand, den Gehstock unter die linke Achsel geklemmt, nimmt sie alle Kraft in sich zusammen und läuft los, merkt aber, dass sie leicht abweicht, der Fahrbahn näherkommt, wieder korrigieren, indem sie das rechte Bein nach rechts und das linke Bein nachzieht, im Krankenhaus geübt.

An der Haustür angekommen, schließt sie sich diese auf, steigt, Schritt vor Schritt setzend, die Treppe hoch, betritt ihre Wohnung und lässt sich auf ihre Couch fallen. Warum ist das nur alles so anstrengend? Sie muss ihr neues Leben langsamer angehen, zu viel heute, das war eindeutig zu viel.

 

Sie bleibt auf der Couch liegen, streckt sich lang, döst ein wenig ein und wäre wahrscheinlich eingeschlafen, hätte der Klingelton ihres Smartphons sie nicht aufgeschreckt. Kurzes orientieren, wo sie das Gerät abgelegt hat, auf dem Display steht Harrie, nimmt an und begrüßt Harrie, der sie fragt, ob er sie zu Hause antrifft oder schon in der REHA-Klinik.

„Ich bin noch zu Hause. Allerdings nur ein kurzer Besuch, Energie tanken und mich für die REHA aufrüsten. Übermorgen geht es schon weiter.“

„Du kommst aber zurecht? Kommst allein klar?“

„Ja, geht noch etwas schleppend und der Kopf fängt an zu hämmern, wenn ich mich überanstrenge, was nicht viel Anstrengung braucht. Aber ich bin mit Pillen gut eingedeckt. Und du? Du hast doch jetzt Ferien? Und bist zu Hause?“

„Ferien ja, aber wir verreisen selten in den Sommerferien. Wo du hinkommst Menschenmassen oder zu viele Stechmücken…“

„…Stechmücken?“

„Stechmücken. Wenn wir verreisen, dann nach Schweden, Norwegen oder Finnland und dort wimmelt es um diese Jahreszeit von diesen Blutsaugern. Wir fahren lieber in den Winterferien in warme Regionen. Und dieses Jahr kommt hinzu, dass Miro Ende des Monats heiratet. Schade für dich. Ich hätte dich gerne mitgenommen. Eine iranische Hochzeit mit allem Schnickschnack, hätte dir bestimmt gefallen.“

„Harrie, ich bin so was von auf Diät, die Feier wäre Folter für mich gewesen. Schon gut so, aber danke für die Einladung. Ist Senjas Mutter immer noch unwissend über Senjas Umstand?“

„Seltsame Geschichte Betty. Senjas Vater und ich haben sie eingeweiht. Sie weiß es, will es aber nicht wahrhaben. Sie tut wissend, als wisse sie von nichts. Ich habe großes Mitleid mit dieser Frau. Ich kenne sonst niemand, der so sehr unter dem Verlust der Heimat und Kultur leitet und sich deshalb in der Religion versteckt. Ich denke aber, ist das Kind erst einmal in die Welt gesetzt, wird sie langsam in die Gegebenheiten zurückfinden.“

„Hm, vielleicht, vielleicht auch nicht. Wer so lange leidet wie diese Frau, hört nicht einfach auf zu leiden…Apropos leiden. Ich habe mit Hembach gesprochen und ihn in die Sache mit der Leiche im Container eingeweiht. Weißt du…“

„…Betty, du musst mir nichts erklären oder dich gar entschuldigen. Ich war es, der dich in Gewissenskonflikte brachte, ich verstehe dich, und ehrlich, mir war klar, dass du das Gespräch mit deinem Chef suchen würdest. Du bist Polizistin, du hast einen Eid geleistet und mit dieser unentdeckten Leiche im Kopf lässt es sich schwer als Polizistin arbeiten. Und deinen Chef in Kenntnis setzen, ich denke, dies ist gut so, die Last der Entscheidung liegt nicht mehr allein bei dir. Und jetzt?“

„Na ja, wir werden beide schweigen. Den Toten tot sein lassen. Alles andere würde einige Komplikationen nach sich ziehen.“

„Verstehe. Und, meinst du, du kommst mit eurer Entscheidung zurecht?“

„Das wird die Zeit erweisen. Aber es ist so, wie du sagst, das Hembach so entschieden hat, nimmt eine schwere Last von mir.“

„Und von dem, der dich niedergeschlagen hat, hast du da etwas Neues gehört?“

„Nein, nichts neues. Seine Frau wird weiterhin observiert. So wie es aussieht, hat er bisher noch keinen Versuch unternommen, Kontakt mit ihr aufzunehmen, was er aber müsste, denn er ist ja fast mittellos nach Russland geflüchtet.“

„Was meinst du, also ich habe mir natürlich Gedanken über die Geschichte gemacht, könnte es sein, dass er nicht vor euch, also der Polizei, sondern vor denen geflohen ist, die er bestohlen hat?“

„Hm, ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber wenn dem so wäre, warum nach Russland, die Drahtzieher des Schmuggels scheinen ja dort zu finden zu sein.“

„Nicht ganz, Betty, Russland ist Produktionsstandort, so habe ich es zumindest verstanden, der Auftraggeber sitzt, wenn ich mich nicht irre, irgendwo unerkannt in Deutschland.“

 

Stimmt auch wieder. Aber so richtig in den Fall eingetaucht ist Betty auch während der Klinikzeit nicht. Vielleicht, weil sie sich die Sache vom Leib halten will. Dem, was geschehen ist, will sie sich erst stellen, wenn sie wieder voll im Dienst ist und bis dahin ist, wie sie vermutet, viel Gras über den Vorfall gewachsen und der Boden immer weniger sichtbar.

„Das mag sein. Ich halte mir den Fall noch auf Distanz. Ich habe nun anderes vor und auf das muss ich mich konzentrieren. Ich bin in einem anderen Kampfmodus. Geruchs- und Geschmacksanwandlungen muss ich abwehren. Einiges ist mir nicht mehr präsent, aber der Geruch und Geschmack der Dinge, die sowas von ungesund sind, sind noch voll in meinen Kopf integriert. Bestimmte Gerüche lösen lustheischende Bedürfnisse aus. Hartnäckige Versucher…es wird ein harter Kampf, Harrie.“

Ja, das kann sich Harrie vorstellen, aber den wirklichen Widerstreit in Betty, nein, davon kann er keine Ahnung haben.

„Du hast aber doch eine gute Basis durch den Klinikaufenthalt. Du schaffst das (sagt man halt so. Was sonst?).“

„Ich hoffe es. Ja.“

Betty kommt auf die REHA zu sprechen und schildert Harrie, was da auf sie zukomme, was die REHA für sie an Einschränkungen und Umstellungen bedeutet, aber auch was für Möglichkeiten. Sie habe schon etliche Versuche unternommen, ihr Gewicht zu reduzieren, körperlich beweglicher zu werden, aber vieles sei bereits im Ansatz gescheitert. Sie sei immer dick, na ja fett, gewesen und einmal fett, immer fett, das hat sich ihr so eingeprägt. Aber jetzt durch den Klinikaufenthalt und die bevorstehende REHA habe sie ihre Einstellung grundlegend verändert und werde alles daransetzen, an sich zu arbeiten.

Doch, er glaube, dass sie es schaffen wird, bei der Stange zu bleiben, wohlwissend welche Energieleistung Betty erbringen müsste.

Den Ort, in dem die Klinik liegt, kennt Harrie, da er dreimal mit Sonja in Zingst einen Herbsturlaub verbracht hatte, sie solle unbedingt die Umgebung von Ahrenshoop erkunden, zu Wasser und zu Lande, es lohne sich. Hm, habe Hembach auch gesagt. Na ja, Betty ist nicht der Typ, der entdeckungsfreudig durch die Landschaft stapft, aber, sagt sie sich, was nicht ist, kann ja noch werden, wie so einiges noch werden muss.

Sie beschließen ihr Gespräch und Harrie meint, wenn sie zurück sei, werde sie sich selbst nicht wiedererkennen, rundum erneuert und halbiert würde sie sein.

„Ha-Ha-Ha-Ha.“

 

Nachdem sie Harrie weggedrückt hat, beginnen die Gedanken wieder in ihr zu kreisen. Der Hausmeister ist Russe, also steckt eine gewisse Logik dahinter, dass er sich nach Russland abgesetzt hat. Hat sicher dort Verwandte, Freunde, die ihm weiterhelfen können, da er ja an seine finanziellen Mittel nicht herankommt. Wobei, eine Vorsorge wird er sicher getroffen haben. Möglich, dass er bei irgendeiner Bank in Russland ein Konto hat. Ja, das ist möglich, was heißt, so schnell wird weder seine Frau noch die Polizei etwas von ihm hören.

Oh, sie hätte Hembach fragen können, ob der Hausmeister versucht habe, seine Frau, die noch überwacht wird, zu kontaktieren. Hm, nein, sie ist noch nicht schnell genug im Kopf, da klemmt noch einiges. Eigentlich wollte sie sich nicht mit dem Fall befassen, und doch ist er wieder in ihren Kopf eingedrungen. Sie muss sich ablenken, etwas lesen, Stoff hat sie ja jetzt. Dumm nur, nichts Erheiterndes dabei. Erheiterung wäre gut. Dann halt Maria Stuart.

So steigt sie lesend in das Schicksal der Maria Stuart ein, bereitet sich später zum Abendessen einen Kichererbsen-Salat zu: eine kleine Dose Kichererbsen, eine Mini-Salatgurke, von deren Existenz sie noch nie zuvor gehört hatte, eine rote Paprika, zwei Frühlingszwiebel, gewürzt und etwas Olivenöl darüber tröpfeln. Dies miteinander zu vermischen und zu essen, wäre ihr vor ein paar Wochen nicht im Traum eingefallen. Vielleicht hat der Schlag doch etwas Gutes ausgelöst.

Nachdem sie sich dieses karge Mahl einverleibt hat, liest sie noch ein paar Seiten, schaut kurz in den Fernsehen hinein, ohne bei einer Sendung, die sie interessieren könnte, zu verweilen, stellt den Kasten wieder aus, macht sich anschließend bettfertig, löscht die Lichter, zieht die Plissees herunter, begibt sich in ihr Schlafzimmer, setzt sich auf dem Bettrand ab und ist verdutzt, da die Matratze unter ihr nicht nachgibt, legt sich sacht ab und versinkt nicht wie in dem Krankenhausbett in einer Kuhle. Ein neues Liegegefühl, das eigentlich das alte ist. Seltsam! Obwohl sie nur vier Wochen ihrer Matratze fern war, ist ihr dieses Liegegefühl nun fremd. Schon merkwürdig, wie schnell sich ihr Körper an andere Umstände gewöhnen konnte. Gibt das Hoffnung? Trotz der ungewohnten Härte schläft sie schnell ein und gleitet traumlos durch die Nacht.

 

Mit den ersten Lichtstrahlen, die das dünne Plissee in ihr Schlafzimmer dringen lassen, schlägt sie die Augen auf, verwundert, dass die gewohnten Wischgeräusche unter und neben ihrem Bett und der Blick in ein abgeschlafftes mürrisches Gesicht, sie nicht aus dem Schlaf geholt haben. Keine Krankenschwester, die einen müden guten Morgen in das Zimmer ziehen lässt, die das Licht anknipst, Fieber und Blutdruck misst, ihr das Frühstück, nebst allen anfallenden Pillen, an das Bett bringt. Nichts dergleichen, keine alltägliche Routine, heute früh, dafür die frühen, störenden Verkehrsgeräusche der Straße.

Gerade mal 06:00 Uhr. Einen Wimpernschlag, länger nicht, muss sie sich an den neuen Realitäten orientieren. Was nun? Dem alten oder dem neuen Rhythmus folgen? Hm, Umdrehen, nochmals umdrehen, endlich einmal richtig ausschlafen. Sie dreht sich zur Seite. Ausschlafen? In ihr arbeitet schon alles in gewohnter Manier, die Gedanken längst unterwegs, den Tagesablauf sich zurechtzulegen, also aufstehen, duschen, Frühstück zubereiten, grünen Tee, Müsli, Vollkornbrot mit Diät-Butter und Radieschen.

Auch das anders, nunmehr allein, nimmt sie ihr Frühstück ein. Nun, Einsamkeit ist sie gewohnt, aber neben sich jemand im Bett liegen zu haben, den sie ansprechen konnte, mit dem sie sich tagsüber unterhalten, über das magere Frühstück, das pampige Diät-Mittagessen nörgeln konnte, das war schon ganz nett. Keine hochtrabenden, aber manche privaten Gespräche über Krankheiten, die Schlechtigkeit der Welt und die Versäumnisse des Lebens, die einem erst bewusstwerden, wenn das Leben auf der Kippe steht. Neue Themen, andere Töne, das Schmatzen beim Essen, das Stöhnen, wenn die Schmerzen drücken, das Seufzen beim Nachdenken, das Schnarchen in der Nacht oder, wie Frau Brenner das Furzen nach jeder Mahlzeit, die die Kontrolle über ihren Darm verloren hatte. Nie gekannte Erfahrungen, die sie gemacht hat. Ein einseitiges und hörbares Szenario, jetzt aber nur bleierne Ruhe in der Wohnung, abgesehen von den Verkehrsgeräuschen, die die Straße ihr hochschickt.

 

Als Frühstücksdessert schluckt sie ihre Metformintablette, die für den Blutdruck und den Cholesterinsenker. Dabei fällt ihr siedend heiß ein, dass sie sich gestern ihren Blutzucker hätte messen sollen. Lässt sich Vergessen therapieren? Nun, sie ist noch nicht in dem Alter, wo Senilität beginnt, also müsste Vergessen behandelbar sein. Aber selbst wenn, sie hätte sich gar nicht messen können, da sie die Voraussetzung für das Messen vergessen hatte, nämlich, in der Apotheke ein Blutzuckermessgerät zu kaufen. Vergessen, sie hat es einfach vergessen. Auch dies.

Und die Krankheit, der Diabetes hat sie auch nicht erinnert, ist eine hinterhältige, verschwiegene Krankheit. Nichts, was zu sehen ist, nichts, was zu spüren ist, nichts, was schmerzt, einfach nur ein Name, der aber irgendwann seine fiese Fratze zeigen wird. Aber dies will sie nicht zulassen und schleunigst nachholen, was sie versäumt hat.

Konzentrationsschwäche würde Professor Theissen jetzt sagen. Es ist nicht die erste Konzentrationsschwäche, die sie an sich feststellt. Hm, was, wenn auch ihr krimineller Sachverstand gelitten hat? Ihre Kombinationsfähigkeit? Der Instinkt, den Weg des Verbrechens nachzuvollziehen, eingeschränkt, gar beschädigt ist? Wird wieder, hat Professor Theissen gesagt. Aber wird es tatsächlich wieder?

Betty ist verunsichert. Geduld soll sie haben. Das sagt sich einfach für den, der sie nicht haben muss. Vor ihrem Tee sitzend, brütet sie über die Folgen einer dauerhaften Konzentrationsschwäche. Lässt sich so etwas beheben? Was, wenn nicht? Aus für die Fallanalytikerin? Zurück ins Glied? Niederschmetternde Gedanken.

Für die Einkäufe ist es noch zu früh, steht auf, stellt sich das Radio an, sucht einen Sender, der Musik ihres Geschmackes spielt, was nicht einfach ist, da sie eigentlich keinen Geschmack hat, wenn, dann hört sie gerne Oldies, siebziger, achtziger Jahre, als die Musik noch handgemacht war. Kein Techno, hasst sie wie die Pest, genauso wie Rap, Gangstermusik, meidet sie schon aus Berufsgründen, landet schließlich bei Radio Bob, geringe Lautstärke, ruft auf ihrem Smartphone die neuesten Nachrichten ab. Nichts Besonderes, nichts, was sie interessiert. Warum auch, die Welt geht sie nichts an und irgendwie ist ihr der Zungenschlag der News nicht geheuer. Kein seriös anmutender Zungenschlag. So vertrödelt sie die Zeit, bis sie, immer noch etwas zu früh, in die Stadt aufbrechen kann.

 

Ihr erster Weg wird sie zur Apotheke führen, danach zu Karstadt. Bereit? Ja, dann auf ins Getümmel. Sie schlüpft in ihre Schuhe, nimmt ihren kleinen Rucksack als Taschenersatz, stopft eine dünne Sommerweste hinein, für alle Fälle, trotz der Wärme, die wieder zu erwarten ist, lässt den Stock zu Hause, geht vor zur Bushaltstelle, wartet kurz, steigt in den gut besetzten Bus und fährt in die Innenstadt. Die verstohlen auf sie gerichteten Blicke einiger Mitfahrerinnen und Mitfahrer nimmt sie nicht wahr, ganz in Gedanken ihre Einkäufe durchgehend.

In der Apotheke lässt sie sich verschiedene Blutzuckermessgeräte zeigen, Prinzip bei fast allen gleich und entscheidet sich für das eher einfache Gerät, dazu Sensoren, eine Nadel-Lanzette liegt dem Messgerät bei. Sie löst das Rezept mit den Medikamenten ein, erhält vier unterschiedlich große Schachteln, jeweils gefüllt mit diversen Pillen. Teure Krankheit, stellt sie fest.

Als nächstes sucht sie die Sportabteilung von Karstadt auf. Der Jogging-Anzug dürfte erwartungsgemäß der schwierigste Einkauf werden und richtig, für ihre Größe hängen wieder nur zwei armselige Teile über den Bügeln, grau und dunkelblau, mit weißen Seitenstreifen. Seitenstreifen kann sie nicht ausstehen, haben was Militärisches und die Farben mag sie auch nicht. Das Erscheinungsbild, als sie sich die Hose anhält, na ja, eher eine Couchgarnitur, denn Jogging-Anzug. Der Stoff, keine Baumwolle, irgendein synthetisches Zeug, das den Geruch nach einer Fabrik irgendwo in Indien oder Bangladesch an sich heften hat, der allein schon abschreckend auf Betty wirkt. Was tun?

Sie schaut sich um, keine Verkäuferin oder Verkäufer in Sicht. An einem der Ständer auf der anderen Seite des Ganges hängen Jogging-Hosen, kann sie zur Not mit einem T-Shirt kombinieren. 4XL ist das höchste Maß, Hose in schwarz, Baumwolle, ohne seitliche Streifen, riecht aber auch nicht besser, aber dehnbar, gut so, nimmt sie.

Jetzt noch eine Jacke, nein, keine Jacke. Es ist Sommer, wozu Jacke? T-Shirt. Auch hier die Auswahl überschaubar, aber immerhin findet sie zwei T-Shirts, frisch aus China, wobei, auch denen haftet kein Frischegeruch an. Allein das ist ein Grund, Pfunde abzuarbeiten, endlich in Kleidergrößen zu schrumpfen, die eine breitere Auswahl ermöglichen, nicht alles kommt aus China, hofft sie.

Bei den Turnschuhen ist es etwas einfacher, Schuhgröße 48, da kann sie auch bei Männerschuhen zugreifen, falls notwendig, denen werden auch mehr Modelle angeboten als den Frauen. Warum eigentlich? Bei den Herren wird sie tatsächlich fündig. Orange-weiße, leichte Schuhe, Sneakers, schick. Jetzt noch ein paar Socken und dieser Teil des Einkaufes ist erledigt. Sie gibt ihre Einkäufe an der Sammelkasse ab, weil sie noch in die Haushaltsabteilung möchte.

Diese befindet sich im Erdgeschoß des Kaufhauses, in der sie einen großen Topf, vielleicht auch zwei, und eine große Pfanne kaufen will, sagt sich aber, vor den Töpfen stehend, deren Gewicht abwägend, das hat Zeit, wird sie erst nach der REHA kaufen, heute und morgen genügt der vorhandene kleine Topf. Was sie dann noch auswählt, sind kleinere Küchengeräte, mehrere Küchen-Messer mit unterschiedlicher Schneidlänge, zwei Kochlöffel, ein Schöpflöffel, ein Gemüsehobel, alles kein Gewicht. Das ist natürlich noch nicht alles, von dem, was sie sich notiert hat, aber für den Anfang das Wichtigste. Die restlichen Utensilien wird sie nach ihrer Rückkehr besorgen. Lässt sich alles zur Sammelkasse schicken, zu der sie wieder hochfahren muss, über sie tragende Rolltreppen, zahlt dort und erhält zwei Papiertüten, die sie nach Hause tragen darf.

Damit hat sie alles, schneller als gedacht, eingekauft. Die eingesparte Zeit nutzt sie, nach kurzer Abwägung, noch etwas durch die Breite Straße zu schlendern. Unwillkürlich, aus dem Hinterkopf gesteuert, in dem das Gespräch mit der Karstadt-Verkäuferin schlummert, führt ihr Schlendern vor die Schaufenster, vier an der Zahl, des Damenbekleidungsgeschäftes für Mollige.

 

Die in den Fenstern stehenden kleiderbehängten Plastikpuppen hatten nichts Molliges an sich, alle normale Konfektionsgröße, bis auf einen Torso, kopflos, mächtige Brust andeutend, der in ein Kleid gehüllt ist, gelb mit kleinen bunten Regenschirmen bedruckt, gefällt Betty auf Anhieb, also betritt sie das Geschäft. Eine junge Dame, die Verkäuferin, keineswegs in Übergröße, tritt zu ihr, fragt, ob sie helfen könne.

„Ja, ich hätte gerne das gelbe Kleid aus dem Schaufenster anprobiert. Haben Sie es in meiner Größe 4 oder 5XL?“

„Sie meinen das Kleid auf dem Torso?“

„Genau jenes.“

„Da muss ich im Lager nachschauen, dauert einen kleinen Moment.“

Sie weist Betty auf einen Sessel hin, bedeutet ihr, sich dort niederzulassen, was Betty aber nicht will, sie schaut sich lieber in den Kleiderständern um. Die Farben der Kleider, Blusen, T-Shirts auf den Ständern und den Auslegetischen wirken allesamt freundlich, fast fröhlich, empfindet Betty, keine dunklen Töne weit und breit zu sehen, das dunkelste Kleid, dass sie entdecken kann, ist in einem dunklen Blau, aber bedruckt mit weißen geometrischen Mustern. Sie schiebt die Kleiderbügel etwas auseinander, um den Blick auf die Kleider auszuweiten, alles farbig, grell bunt, frech, jugendlich gemustert, eines gar, ein weißes Kleid, ist mit Gummibärchen in allen möglichen Farben bedruckt. Schön, aber Betty ist keine Litfaßsäule, na ja, fast nicht. Nein, Reklame für die Kalorienbomben wird sie nicht laufen. Etwas für junge Mütter.

Weiter geht es, nicht um ein Kleid zu finden, einfach nur, um eine Idee zu finden, was ihr sonst noch stehen, was ihr gefallen könnte.

Schon seltsam, denkt sie, ihre Garderobe ist von dunklen Farben dominiert und hier ist alles in Farbe und Licht getaucht, positive Stimmung verbreitend. Hm, wenn so einiges bei ihr im Umbruch ist, warum nicht auch eine Typänderung? Weg von der grauen, schwarzen Umhüllung. Graue Maus, so hat sie sich immer gefühlt und verhalten. Unsichtbar sein (Klar, war unmöglich, aber die Hoffnung stirbt halt zuletzt), nicht bewusst, aber all die Kränkungen, die sie erfahren musste, haben ihr dies eingeflüstert. Nur, 210 Kilo (minus die 18 durch den Krankenhausaufenthalt) auf knapp ein Meter achtzig lassen sich nicht unsichtbar machen, nur unauffällig, wohl deshalb hat sie sich in Grau und Schwarz zurückgezogen. Graue Maus. Ja, auch das wird sie ändern. Verändern.

 

Im Spiegel an der Wand sieht sie sich, wie sie ist, schwarze Leggings, graues, abgetragenes Kleid, schwarze kleine, kaum mehr erkenntliche Blumen darauf, schwarze, kurze Haare und ein Blick, in dem nicht die Spur eines Lächelns zu sehen ist. Bist du das, Betty? fragt sie sich. Ja, zumindest, wenn sie mit sich allein ist. Schon eigenartig, wie unterschiedlich die körperliche Ausprägung der Menschen ist, obwohl sie doch am Anfang alle gleich waren. Ein weißer Haufen von Samenspritzer, aus dem sich Unterschiedlichkeit entwickelt. Warum ist ausgerechnet sie so unterschieden von den anderen, den normal gewachsenen Menschen, so wie die Verkäuferin. Und wie die Gestalt, so unterschiedlich der Lebensverlauf. Wie wäre ihrer verlaufen, wäre sie mit einer Normalfigur aufgewachsen? Wäre sie dann auch Polizistin geworden? Hätte sie das Leben ausgiebig gelebt? Es nicht verborgen?

Gut, an dieser Spiegelerscheinung muss sie arbeiten, wendet sich wieder den Kleiderständern zu, nimmt das eine und andere Kleid vom Ständer, hält es sich an, tritt vor den Spiegel, ja, mit der Farbe kommt auch das Lächeln. Führt das Kleidungsstück an ihre Nase. Der Geruch, der von dem Kleidungsstück ausgeht, erinnert Betty an den Frühlingsduft verheißenden Weichspüler, dem sie ihrer Waschmaschine vor dem letzten Waschgang hinzufügt. Gänzlich anders als der Geruch, der im Karstadt aus der Fernostware entstieg.

Hinter ihr taucht die Verkäuferin auf, etwas irritiert blickend.

„Woher beziehen Sie Ihre Ware? Sie riecht völlig anders als drüben die Ware bei Karstadt.“

„Das meiste kommt aus China, der Rest aus Indien.“

Hm, denkt Betty, auch dabei gibt es anscheinend Unterschiede.

Die junge Dame hat das Kleid über den Arm gehängt, reicht es nun Betty, die es sich anhält, an sich herabsieht, sich zum Spiegel dreht. Gut, hübsch, probiert sie an, nimmt zwei weitere Kleider mit in die Umkleidekabine, schält sich aus ihrem Kleid, schlüpft in das ausgewählte hinein, streicht es glatt, tritt vor den Spiegel, dreht sich. Ja, gefällt ihr und vor allem, es passt. Kurzer Blick auf die Naht. Einwandfrei. Anscheinend löst der Preis eine Qualitätssteigerung aus. Gleiches Prozedere mit den beiden anderen Kleidern. Sie wird sich aber nicht entscheiden, eines auszuwählen. Sie nimmt alle drei.

 

Was sie der Verkäuferin mitteilt, die freudig lächelt. Das letztprobierte Kleid, ein hellblaues knielanges Kurzarmkleid, mit weißen Kreisen, Kringel, Rauten und anderen geometrischen Mustern bedruckt, behält sie gleich an, lässt das Preisetikett entfernen und ist hochzufrieden mit ihrem Einkauf.

„Sagen Sie, hier in dem Verkaufsraum ist gefühlsmäßig eine heitere Stimmung, eine luftige Atmosphäre, ist das gewollt oder nur eine Empfindung von mir.“

Die junge Frau lächelt: „Das ist so gewollt. Frau Schröter, die Inhaberin, sagt immer, schwarze, dunkle Kleidung ist etwas für den Friedhof, nicht aber für ihre Geschäftsräume. Hier ist das Leben! Deshalb finden Sie keine dunkle Bekleidung bei uns.“

„Ist Frau Schröter auch eine mollige Frau, mit schlechter Erfahrung?“

„Nein, mollig ist sie nicht. Sie ist so etwas wie eine Frohnatur. Unerschütterlich optimistisch.“

„Erstaunlich, dass es so etwas noch gibt. Und wie ist Frau Schröter auf die Idee gekommen, Mode für Mollige anzubieten?“

„Sie dachte, sie würde in eine Marktlücke stoßen, da es doch immer mehr Mollige gibt. Nur, diese Molligen sind nicht die, die unsere Kunden sein könnten…Wir sind schlicht zu teuer für die.“

Welche Molligen meint sie? Klassifiziert sie Mollige? Klassenunterschiedliche Molligkeit? Ist das jetzt Gewichtsdiskriminierung? Lohnt es sich, jetzt in eine Grundsatzdiskussion einzusteigen? Nein, denkt Betty, lass es auf sich beruhen. Betty hat nicht auf die Preise der Kleider geschaut, will sie jetzt auch nicht mehr tun, ahnt aber, dass sie sich nicht gerade ein Schnäppchen geleistet hat.

Jetzt noch farblich passende Leggings dazu und der nächste Schritt ihrer Veränderung ist gemacht. Der einfachere Schritt. Leggings in hellem blau, weiß, beigem und hellem Gelb wählt sie aus. Die weißen Leggings behält sie gleich an. Gut, die neue Betty. So einfach geht das. Das sie gerade auf dem Weg ist, weitere Pfunde zu verlieren, ihre Kleider eventuell zu groß ausfallen, kommt ihr nicht in den Sinn.

An der Kasse hält sie ihre Karte hin, die mit einem Betrag belastet wird, der bei einem dieser Billigläden um ein Vielfaches günstiger ausgefallen wäre, aber was soll es, es geht ja um Typänderung, die kostet halt. Betty bedankt sich bei der freundlichen Verkäuferin und verabschiedet sich. Der Laden wird ihr Mekka werden, auch wenn sie dort nur eine Marktlücke ist. Mit nun vier Tüten beladen, verlässt sie den Laden.

 

Die Hitze staut sich mittlerweile in der Geschäftsstraße, schwüle Wärme, unangenehm. Betty hat das Gefühl, dass alle Menschen, die ihr begegnen, schwitzen, nach Feuchtigkeit hecheln und schlapp die Straße entlangstreben. Aber es ist nur sie, die diese Symptome zeigt. Die Balance zu halten, fällt ihr schwer, schaut sich nach einer Sitzgelegenheit um, vorne das Wiener Café, gut, strebt sie an, sucht sich dort einen schattigen Platz, schnauft durch, leichten Schwindel spürend, gibt ihre Bestellung auf, ein großes Mineralwasser und ein Kännchen grünen Tee. Langsam kehrt Ruhe in sie ein, ihr Atem wird wieder gleichmäßiger. Es ist viel Bewegung in der Straße, die gespeist wird von gemächlich, hastig, lachend, telefonierend, schwatzend, singend oder pfeifenden Touristen aus aller Herren Länder, Ausflüglern, Shoppern, Bettlern, Straßenmusikanten, Bummlern, und jenen, die am Rande der Straße vor ihrem Kaffee ihren Platz haben, dem Treiben folgen oder, wie Betty, einfach abschalten, vor einem Tee, Kaffee, einem kühlen Getränk oder einem klebrigen Eisbecher sitzend. Ach ja, denkt Betty, die das Treiben vor ihr beobachtet.

Ihr Smartphone gibt Töne von sich, ein Griff und sie hält es in der Hand. Oma Katharina! Sie hatte ihre Großmutter auf ihrem gedanklichen Zettel stehen. Gestern wollte sie sie anrufen. Hat sie nicht getan, obwohl es ihr wichtig war.

Sie nimmt das Gespräch an.

„Hallo Omi, bitte entschuldige mich tausendmal. Ich wollte gestern anrufen, aber ich war zu fertig, um ein spätes Gespräch zu führen.“

„Hallo mein Kind. Nicht schlimm, nicht schlimm. Du bist zu Hause? Und dein Befinden? Wird alles wieder werden, wie es einmal war?“

„Omi, ich bin gerade in der Stadt und auf dem Heimweg, kann ich dich in einer Stunde zurückrufen?“

„Natürlich Kindchen, lass dir Zeit. Überstürz nichts. Dir geht es aber gut?“

„Ja Omi. Soweit alles gut. Ich melde mich dann gleich.“

Betty kann es nicht ausstehen, in der Öffentlichkeit privat zu telefonieren und dass sie ihr Smartphone dabeihat, nichts als eine berufsbedingte Angewohnheit. Früher hätte sie den Tee jetzt in sich geschüttet oder einfach stehen lassen, nur um schnell zurückzurufen, aber sie hat anscheinend Gelassenheit gewonnen, denn sie bleibt sitzen, trinkt Schluck für Schluck ihren Tee, bevor sie zahlt und aufbricht.

 

Bettys Großmutter hatte sich, trotz heftigem Widerspruch ihrer Tochter, Bettys Mutter, entschlossen, in eine Residenz für Senioren, ein selbstbestimmtes Wohnen, nicht weit von ihrem jahrelangen Wohnort im Stadtteil Ottensen, überzusiedeln. Ilse Schwed, ihre alte Freundin aus der Nachbarschaft, die, nach dem Tod ihres Mannes, seit drei Jahren in dieser Senioren-Residenz wohnt, hat tätig geholfen, sie kurzfristig in der Residenz unterzubringen.

Mit ihren 82 Jahren ist sie geistig noch rege, aber ihre Beine wollen nicht mehr so, wie sie will. Arthrose in den Knien, den Fingern, setzt ihr heftig zu und vieles, was sie zuvor mit Leichtigkeit getan hat, fällt ihr zunehmend schwerer, etwa die Treppe hoch in ihr Schlafzimmer zu gelangen, eine Tortur. Deshalb ihre Entscheidung, ihr geliebtes Heim aufzugeben, aber auch, um näher bei ihrer Freundin Ilse zu sein. Dass der Übergang nun sehr flott vonstattenging, hing mit der freigewordenen Wohnung im Pflegeheim zusammen und Bettys Großmutter war dieser schnelle Umzug, vorbei an der Warteliste, recht, so musste sie nicht lange hadern, zögern und ihrer erinnerungsgefüllten Vergangenheit nachtrauern.

Die Pläne der Tochter sahen anders aus. Dieser ging es um das Grundstück und das Haus im Philosophenweg, über die Jahre an Wert stetig gewachsen, vor allem das Grundstück, gute 1200 qm umfassend. Die Mutter sollte in ein Altenheim draußen, weit draußen auf dem Land unterkommen, weil es dort kostengünstiger als in der Stadt sei, und das Grundstück sollte selbstverständlich auf sie überschrieben werden. Ihre Absicht war, es sofort zu verkaufen, nachdem es in ihren Besitz gelangt wäre. Mit dem finanziellen Zuwachs wäre sie aus der monetären Abhängigkeit von ihrem derzeitigen Ehemann entwachsen, hätte Unabhängigkeit von ihm erlangt, denn im Moment ist sie auf die Zuwendungen ihres Mannes angewiesen, dem Zweiten, den sie nach der Scheidung von ihrem ersten Mann, Bettys Vater, heiratete. Betty kennt ihn nicht, weiß nur von ihrer Großmutter, dass er ein Fabrikant von irgendetwas und Österreicher ist und ihre Mutter zwischen Salzburg und Menorca, dort hatte ihr Mann seinen Zweitwohnsitz, pendelt.

Aber Bettys Großmutter machte ihrer Tochter klar, dass sie nichts, außer ihrem Pflichtteil zu erwarten habe und den würde ihr Anwalt so klein wie möglich rechnen. Haus und Grundstück würden an Betty gehen und sie sich in ein Heim ihrer Wahl begeben wird. Es sei alles bereits geregelt und sie solle sich wieder dahin begeben, wo sie letzten zehn Jahre war, in denen sie nur gelegentlich von ihr gehört habe.

Klar, Bettys Mutter war stinksauer, drohte mit einem Anwalt, würde alles anfechten. Sie werde von ihrem Anwalt hören. Sie werde ihre Ohren aufsperren, sagte Oma Katharina, mehr aber nicht und ihre Tochter verließ wutentbrannt das Haus im Philosophenweg, in dem sie groß geworden war.

 

Dies alles hat Bettys Großmutter bei ihrem Besuch in der Klinik Betty angekündigt, nur bedingt überraschend für Betty, da ihre Großmutter immer angedeutet hatte, ihr werde einmal alles, was sie habe, zufallen. Dass sie dies nun tatsächlich und so konsequent durchgezogen hatte, verwunderte Betty dann doch.

Die Konsequenz der Entscheidung von Oma Katharina ist, Bettys Mutter würde den Kontakt zu ihr endgültig abbrechen, der allerdings seit Jahren eh nicht mehr vorhanden war; ihre berufliche Zukunft wurde ebenfalls tangiert. Bliebe sie in Lübeck, wo sie eine Stelle als Fallanalytikerin so gut wie sicher hatte, müsste sie pendeln, täglich gut eineinhalb Stunde Fahrt oder die Lübecker Wohnung behalten und nur die Wochenenden nach Hamburg fahren.

Würde sie nach Beendigung ihres Abschlusskurses zur Fallanalytikerin in Hamburg bleiben, wäre es sehr ungewiss, dort eine Stelle zu bekommen, sie müsste wahrscheinlich im Polizeidienst auf Wartestellung gehen und wo sie im Polizeidienst landen würde, ist auch ungewiss. Andererseits hatte sie das Angebot von Professor Giede, der nach einer Gastprofessur in England zum Wintersemester wieder in Hamburg lehren würde, seine wissenschaftliche Assistentin zu werden, bei ihm zu promovieren und eventuell gar zu habilitieren mit der Aussicht, Professor Giedes Lehrstuhl zu übernehmen.

Alle Aspekte gilt es abzuwägen, bis ins Detail zu bedenken, was sie allerdings auf die lange Bank, also nach der REHA aufschiebt, mit dem Anruf der Großmutter werden all diese Gedanken wieder reaktiviert. Na ja, und der Professor drängelt.

Während sie sich zur Bushaltestelle schleppt, einsteigt, Platz nimmt, geht ihr das, was ihre Großmutter für sie getan hat, durch den Kopf. Und dieses Tun ist nun fix, denn sie weiß, dass Großmutter gestern bei ihrem Anwalt war. Sie hätte nun unbedingt nach Hamburg gemusst, um in die Details einzusteigen und, wer kümmerte sich nun um das Haus, wenn Oma im Heim ist? Ach, auch dafür dürfte Oma gesorgt haben. Sie war immer eine Frau der Lösungen gewesen. Nun muss sie selbst eine Lösung finden, eine Lösung wie ihr beruflicher Lebensweg weitergehen soll.

Sie mag ihren Beruf als Polizistin. Und die Ermittlungsarbeit hat sie voll ausgefühlt, ja, sie empfand große Befriedigung dabei, hatte ihr aber auch gezeigt, wie nah der Beruf dem Tod ist, nicht nur dem eigenen. Der Gedanke, was wäre, wenn der Hausmeister fester zugeschlagen hätte, glimmt immer wieder in ihr auf. Ihr erster Fall gleich ihr letzter, überhaupt, das Letzte, was sie getan hätte. Die Konsequenz aus dem Vorfall auf ihre Arbeit kann sie sich noch nicht vorstellen, aber irgendeine Konsequenz wird es geben, nur, dies wird sie erst erkennen, wenn sie wieder voll im Dienst sein wird und wie dieser Dienst in Zukunft aussehen wird, ohne Hembach als Chef, auch dies noch vollkommen offen. Da ist einiges in Bewegung geraten. Einiges.

 

Verschwitzt und leicht angeschlagen ist sie zu Hause zurück, wirft die Einkaufstüten auf den Küchentisch, schnappt sich ihr Smartphone, geht zum Spülbecken, lässt ein Glas Wasser volllaufen, trinkt es in kurzen Zügen leer, füllt nach und geht zu ihrer Couch, setzt sich ab. Auf ihrer Stirn haben sich kleine, zum Teil winzig kleine Schweißperlen versammelt, unschlüssig noch, ob sie eintrocknen oder gesichtsabwärts rollen sollen. Die Entscheidung nimmt ihnen Betty ab, zückt ein Papiertaschentuch und wischt über ihre Stirn. Betty und heiß, dies verträgt sich nicht. Sie verschnauft und wartet einen Moment, bevor sie die Nummer ihrer Großmutter eintippt.

Eigentlich hätte sie lieber ihre neuen Kleider anprobiert, die T-Shirts müsste sie waschen, werden aber sicher nicht bis morgen trocken sein.

„Ja Kindchen. Wieder zu Hause?“ hört sie ihre Großmutter.

„Ja Omi, ich sitze auf meiner Couch. Jetzt können wir in Ruhe reden.“

Natürlich will ihre Großmutter ganz genau wissen, wie es ihrer Enkeltochter geht und Betty gibt ihr den Krankenbericht durch, erzählt, dass sie dringend ein paar Dinge in der Innenstadt hatte einkaufen müssen, die sie für die REHA brauche, sonst hätte sie bei der Hitze die Wohnung nicht verlassen.

„Du weißt, ich war gestern bei Anwalt Dewitz. Es ist jetzt alles fixiert und geregelt. Natürlich wäre es schön gewesen, du hättest dabei sein können. Es gibt noch einiges zu besprechen. Aber das hat jetzt Zeit, bis du zurück bist. Aber danach kommst du doch gleich?“

„Omi, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken kann. Ich mache aber alles wieder gut, wenn ich zurück bin. Jetzt, wo du schon im Heim bist, wer kümmert sich da um dein Haus?“

„Mein Haus? Betty, es ist jetzt deins. Und kümmern? Das macht Herr Lehhahn, der Rainer, er schaut nach dem Haus, gießt die Pflanzen und Peter Leuter ist einmal die Woche für den Garten da. Die beiden musst du dir warmhalten. Ich habe nur das Nötigste mit ins Heim genommen. Das Haus ist also noch voll möbliert. Was du brauchen kannst, musst du dann selbst entscheiden, aber ich hätte gerne noch ein paar Dinge hierher in die Wohnung geholt. Das machen wir dann zusammen.“

„Machen wir. War das jetzt nicht alles etwas überstürzt? Du hättest doch noch zu Hause wohnen bleiben können, bis ich zurück bin.“

„Darüber haben wir schon gesprochen. Was sein muss, muss sein. Weißt du schon, ob du hier wohnen wirst?“

„Ich werde Omi. Allerdings erstmals nur für ein paar Monate, bis ich meine Ausbildung beendet habe. Der Abschlusslehrgang findet in Hamburg statt. Was ich danach beruflich mache, weiß ich noch nicht. Ich denke aber, ich werde dein Haus beleben.“

Oma Katharina erklärt Betty, dass sie zusammen zur Bank müssten, damit Betty die Vollmachten über ihre Konten bekomme, was beim Anwalt für sie hinterlegt sei und dass sie nicht ins Haus komme mit ihrem Schlüssel, der sei veraltet, sie habe die Schlösser an der Hof- und Haustür auswechseln lassen, damit Bettys Mutter nicht in das Haus könne.

„Omi, du bist aber auch eine.“

„Du hast keine Ahnung, was deine Mutter für eine ist. Vorsicht ist bei deiner Mutter die Porzellankiste.“

Betty muss herzhaft lachen. Oma ist fit und okay, denkt an alles.

„Wann fährst du?“

„Morgen, um die Mittagszeit.“

„Gut, dann wünsche ich dir alles Gute. Komm bitte voll genesen zurück. Und melde dich ab und zu.“

„Klar Omi, mache ich und nochmals tausend Dank für alles.“

 

Gedanklich hat sie sich noch nicht mit dem plötzlich zugewonnenen Haus beschäftigt. Irgendwie ist es unwirklich. Betty als Hausbesitzerin? Was sie mit dem Haus vorhat, wie es einrichten, wie bewohnen, vor allem wann bewohnen, nein, keinen Kopf, darüber hat sie sich noch keinen Kopf gemacht, so fern noch, so fern und jetzt doch ganz nah. Stolz, Betty empfindet Stolz auf ihre Großmutter, eine solche Entscheidung getroffen und umgesetzt zu haben. So etwas macht nicht jede Großmutter. Nein, bestimmt nicht. Gut, nicht jede Großmutter verfügt über ein eigenes Haus, aber auch die, die eins haben, geben es nicht so einfach auf, hängt ja auch viel dran, meist ein ganzes Leben.

Mit einem Lächeln ruft sie sich die Erscheinung ihrer Großmutter vor Augen, wie sie sich immer um Betty behütend gekümmert, sie umsorgt, vor allem versorgt und gegen alle Krittelei seitens Bettys Eltern geschützt, sich vor ihr postiert, sie mit scharfen Worten verteidigt hat. Nie hatte sie ein böses Wort oder eine anzügliche Bemerkung über Bettys Leibesfülle von sich gegeben. Ohne Großmutters finanzielle Zuwendungen hätte sie ihr Studium nur unter erschwerten Bedingungen durchführen können. Ja, sie hat ihr viel, sehr viel zu verdanken und sie hat ihr viel zu wenig zurückgegeben. Muss sie ändern, auch dies muss sie verändern.

Upps, genug geträumt. Sie schüttelt sich, erhebt sich, räumt die gekauften Sachen aus den Taschen, legt die Kochutensilien im Spülbecken ab, trägt die T-Shirts und die Jogging-Hose in ihr Schlafzimmer, ebenso die beiden Kleider, zieht das neue Kleid, dass sie anhat, aus, um die beiden anderen Kleider nochmals anzuprobieren.

Zunächst zieht sie das gelbe Kleid mit den bunten Sonnenschirmen an (Regen- oder Sonnenschirme, hatte sie die Verkäuferin gefragt und die meinte, dass könne sie nach Tageslaune entscheiden, gut, heute war die Sonne dran), dreht sich, wendet sich, gefällt ihr an ihr, gefällt ihr sehr, etwas eng, aber wenn demnächst weitere Pfunde purzeln, wird das Kleid immer passender. Auch ihre Haare findet sie mittlerweile nicht mehr so schlimm, im Gegenteil, so wie die Haare sind, gefallen sie ihr, besser als die grause, gelockte Frisur vor dem Unfall. Ja, sie wird es in Zukunft kurz tragen. Ihr zweites Kleid passt ebenfalls, auch das schick, guter Kauf. Sie legt alle Zukäufe auf ihrem Bett bereit, wird am Nachmittag anfangen ihren Koffer zu packen. Für T-Shirt waschen, zu spät, muss halt so gehen.

Ihr Magen rührt sich, zwar durch den Klinikaufenthalt an kleinere als die sonst bei ihr üblichen Mengen gewöhnt, aber noch nicht ganz abgewöhnt, verlangt er mit Nachdruck eine Nahrungszufuhr. Ja, wird Zeit.

Aus dem Kühlschrank entnimmt sie ein Zucchino, sechs Champignons, eine kleine Zwiebel, ein paar Blumenkohlröschen, schneidet alles klein, würzt mit Salz, Pfeffer, Kurkuma, Oregano, brät alles in der kleinen Pfanne kurz an, gibt etwas Gemüsebrühe hinzu und fertig ist ihr Mittagessen. Langsam kauend, wie Frau Doktor Bunsen ihr eingeprägt hat, lässt sie die verschlingenden Zeiten hinter sich. Aber allein der Anblick dessen, was da auf ihrem Teller ruht, sagt ihr, damit wird mein Magen nicht zufrieden sein. Muss er aber, was heißt, sie wird mit ihrem Magen ringen müssen und das bis zum Abendessen.

 

Nach dem Essen geht sie noch einmal die Liste mit dem Aufschrieb dessen, was sie in die Klinik mitbringen muss, durch. Scheint alles zu haben, was sie braucht und was sie vergessen haben sollte, wird sicher in der Klinik oder dem Ort zu kaufen sein. Lusi wird sich wieder während ihrer Abwesenheit um die Wohnung kümmern, aber eigentlich gibt es nichts zu kümmern, keine Pflanze, die nach Wasser ruft, nur kurzes Lüften und die lästigen Werbeschriften, die Post, die spärliche Post, aus dem Briefkasten entfernen.

Nochmals in die Stadt gehen, um doch schon die Töpfe und die Pfanne zu holen, versagt sie sich, liest ihre Überweisungspapiere noch einmal durch, später dann weiter den Zweig, bei dem sie eindöst, nicht weil der Roman uninteressant wäre, im Gegenteil. Sie ist erschöpft, einfach nur erschöpft, die Hitze, der Kreislauf, der nicht so richtig laufen will, lässt sie bis in die Nachmittagsstunden hinein auf ihrer Couch ruhend dösen.

Das Summen ihres Smartphones schreckt sie auf, kurzes besinnen, orientieren, woher die Töne kommen, steht auf, etwas schwummrig im Kopf, das Smartphone wieder stumm. Im Schlafzimmer neben ihrer Tasche hebt sie es auf, schaut, wer da angerufen hat. Anscheinend Lusi, aus dem Büro. Samstag? Es ist wohl etwas passiert, also zurückrufen, drückt die entsprechende Taste und Lusi meldet sich.

„Hallo Betty, ich wollte nur hören, wie es dir geht.“

„Danke Lusi, mir geht es gut. Aber du, im Büro? Was ist los?“

„Die Einbruchserie ist gestern Nacht eskaliert. Ein Einbruchsopfer hat die Täter stellen wollen und wurde von denen schwer verletzt. Er liegt im Krankenhaus, auf der Intensivstation. Wir suchen mit Hochdruck nach den Tätern.“

„Es sind also mehrere Täter?“

„Mindestens zwei. Ja. Möglich, dass ein dritter im Auto vor dem Haus wartete. Die Einbrüche scheinen immer nur sehr kurz zu sein, so als ob sie genau wüssten, was wo zu finden ist.“

„Habt ihr schon nach Übereinstimmungen gesucht, also gleiche Landschaftsgärtner, gleiche Fensterputzer?“

„Daran hat Hembach auch schon gedacht. Wir haben bisher keine Parallelen gefunden.“

„Hm, würdest du mir bitte alles zumailen, was ihr bis jetzt ermittelt habt? Ich weiß, da gibt es wahrscheinlich nicht viel zu profeilen, aber es würde mir sehr helfen. Weißt du, ich merke, dass ich unkonzentriert, vergesslich bin. Ich habe Angst, meinen Spürsinn eingebüßt zu haben. Ein wenig Gehirnjogging kann mir deshalb nur nützen.“

„Du sollst dich doch erholen. Du solltest dich auf deine REHA konzentrieren und dich nicht schon wieder durch einen Fall wühlen.“

„Bitte Lusi. Es ist nur ein Training.“

„Gut, mal schauen.“

„Lieb von dir.“

„Wann geht es los?“

„Morgen Mittag. Drei Mal umsteigen und fasst fünf Stunden Fahrzeit. Das ist ungewohntes Terrain, das ich da betrete oder besser gesagt, befahre. Aber ich habe ja Unterhaltung, wird kurzweilig werden.“

„Du fährst in Hembachs alte Heimat. Das weißt du?“

„Er hat es angedeutet, was, wie du weißt, schon fast ein Roman ist.“

Lusi musste lachen, ja Hembach und etwas preisgeben, zwei Dinge, die nicht zusammenpassen. Sie verspricht Betty ihr die Unterlagen im Laufe des Nachmittages, spätestens morgen früh zuzumailen, wünscht ihr (mit einem süffisanten Lachen) eine angenehme Fahrt und eine gute und erfolgreiche Unterhaltung. Betty rätselt kurz, was Lusi mit Unterhaltung verstanden hat, bestimmt nicht den Zweig.

 

Der Samstag verstreicht, ebenso der Sonntagmorgen, der mit Packen und zwei Telefonaten ausgefüllt ist, nochmals mit ihrer Großmutter sprechen und mit Professor Giede hat sie geskypt. Der Professor wartet immer noch auf eine positive Antwort seitens Betty, die sich aber erst nach der REHA entscheiden will, da sie nur zusagen möchte, wenn sie körperlich und geistig vollständig genesen sei, denn die Assistenz würde ihr einiges abverlangen und dies ginge nur, wenn sie dazu in der Lage sei, was der Professor verstand, ihr alles Gute wünschte. Sie würden in Verbindung bleiben. Schwer, es wird eine schwere Entscheidung werden, egal welche Entscheidung sie treffen wird.

Kurzes Mittagessen, der restliche Blumenkohl, Erbsen, Karotten und zwei Kartoffeln, der Magen wird wieder unzufrieden sein, für mehr aber war keine Zeit mehr. Toilette, die musste jetzt noch schnell sein, weißderkuckuck wie die nächste Gelegenheit dazu aussieht. Für die Reise hatte sie sich schick gemacht, ihr gelbes Kleid, das mit den Sonnenschirmen, angezogen, dazu die weißen Leggings, freundlich, aber auffallend. Was soll’s? Ich bin Betty. Ich bin dick.

Das Taxi hatte sie vorbestellt, steht pünktlich vor der Tür, den schweren Koffer schleppt sie schwerfällig Stufe für Stufe die Treppe hinab, der Taxifahrer hievt ihn in den Kofferraum, Betty nimmt vorne Platz, muss den Sitz bis zum Anschlag zurückfahren. Der Taxifahrer, mit Migrationshintergrund, schaut sie lächelnd an, seine Augen fragen, kann es losgehen, Betty nickt, auf geht’s, zum Bahnhof.

„Lange Reise?“ fragt der Fahrer.

„Eigentlich nicht, also nicht weit, dafür aber länger als üblich.“

„Okay“ und steuert sein Gefährt entspannt durch den städtischen Verkehr.

Von Lübeck geht es mit der mit Fahrgästen gut gefüllten Regionalbahn Richtung Osten. Sie hat die Sitzbank für sich. Das übliche, der Flecken Platz neben ihr, bleibt leer, nur ihr schräg gegenüber lässt sich eine ältere Frau auf der Bank nieder, der man im Gesicht ablesen kann, was sie denkt, „Wie kann die Frau nur so fett sein?“

Indem Frau sich ungesund ernährt, hätte sie jetzt laut sagen können, macht sie natürlich nicht, zu alltäglich, dieser Blick. Sie schenkt der Frau ein Lächeln, ohne es erwidert zu bekommen. Immerhin ist die Luft im Abteil trotz der Hitze draußen erträglich, klimatisiertes Abteil. Möge diese durchhalten bis zum Reiseziel. Ihren Platz hat sie in Sichtweite, also Laufnähe, zur Toilette gewählt, die von außen geräumig wirkt, hofft aber, sie nicht in Anspruch nehmen zu müssen. Bewusst hat sie wenig getrunken, was nicht drin ist, muss auch nicht raus, so ihre Logik. Bad Kleinen ist die erste Umsteigestation. Neuland. Ostland ist Neuland für Betty. Und sicher geht es anderen Menschen genauso, warum sonst heißt es Neue Bundesländer?

 

Die Wiedervereinigung erfolgte kurz nach ihrer Geburt, zu jung, um zu verstehen, was die Erwachsenen da veranstaltet hatten. So wuchs sie mit der Tatsache der wiedervereinten Deutschen auf, ohne dass sie das weiter tangiert hätte. Die Trennung war eine Erinnerung, mit der Betty nicht viel anfangen konnte. Mancher Lehrer ihrer Schulzeit versuchte sich in Erklärungen, wie es kam, was dann kam, was, wie ein schlechter Film, an Bettys Ohr vorbeirauschte. Es ist, wie es ist, und gut so.

Später, also viel später, zog Groll in ihr auf, über das, was sie von den Nachrichten mitbekam. Da wurde demonstriert, sich beklagt, Unzufriedenheit mit diesem und jenem gebrüllt, Störgeräusche, deren Wurmfortsatz bis in den Westen schwappte, dort aber nicht so verfing wie drüben. Die Menschen dort hatten einen anderen Hintergrund als die im Westen. Das verstand Betty schon, nach dem strammen Nazi sein das stramme Kommunist sein, zwei Systeme, die so unterschiedlich gar nicht waren, aber im klein halten der Menschen sich ähnlich. Was Betty nicht verstand, war, warum so viele Leute nicht in der Demokratie mitspielen wollten. Ja, auch im Westen wurde und wird viel gejammert, das Niveau bewegte sich allerdings auf einem höheren Level. Dort drüben ist das Jammern schon fast militant. Gut, bei einer Minderheit, die lauter ist als die Mehrheit, aber alles fängt einmal klein an.

Dabei hatten die bekommen, was ihnen über Jahre vorenthalten wurde, von der Banane bis zum Braun-Rasierer, von der persönlichen Freiheit bis zur Reisefreiheit, womit aber anscheinend einige nicht zurechtkommen, gewohnt geführt zu werden, wird Selbstverantwortung zu einer Bürde. Ansonsten sind ihr die neuen Länder fern, was nichts heißen will, denn gleiches gilt auch für die süddeutschen Länder. Vor allem mit den Bayern, diesem seltsam eigenwilligen Völkchen, das mitunter tut, als gehöre es nicht zum Rest der Republik und der Anführer dort lässt Sätze aus seinem Mund, die Betty eigentlich den anderen, also den Schreihälsen aus dem Osten zugetraut hätte. Voralpentrump nennt ihn Betty für sich. Nun ja, denkt Betty, da fährst du nun hin, ins Neuland, obwohl es hier ja aussieht, wie woanders auch.

Und Bad Kleinen? Nie gehört und keine Ahnung, wo diese Stadt liegt. Klar auf der Strecke. Aber wo? Lässt sich googeln, sie klappt ihren Laptop auf, schaltet ein, ruft Google auf, gibt Bad Kleinen ein und wählt Google-Map. Die Landschaft draußen flach, Felder wechseln sich mit kleinen Wäldern und Naturlandschaften ab, na ja, halt norddeutsche Landschaft, nur in Ostdeutschland gelegen, aber dünner besiedelt als Holstein, weshalb der Regionalzug auch nicht jede Milchkanne bedient. Gut so.

Sie geht von der Google-Map auf die schriftlichen Google-Treffer und ein Aha-Erlebnis tritt in ihr Gedächtnis. An dem Bahnhof, an dem sie umsteigen muss, war es Anfang der neunziger Jahre zu einem GSG-9-Einsatz gegen RAF-Terroristen gekommen, mit tödlichem Ausgang für einen GSG-9-Beamten und einen Terroristen. Während ihrer Ausbildung an der Polizeischule hatten sie diesen Einsatz analysiert. Richtig, hat sie total vergessen. Trotzdem, der Osten ist Betty unbekannt.

Laut Plan muss sie in Bützow, Rostock, Ribnitz-Damgarten und Barth umsteigen. Von Rostock hatte sie schon gehört, wie hieß der Typ, dieser schludrige Bulle aus dem Polizeifunk? Bukow? Ja, dessen Revier war Rostock, und Hembach kam aus Rostock. Mehr aber weiß und kennt sie nicht und von den anderen Orten auf der Strecke hat sie auch keinen Schimmer und auch das Googeln der Orte hilft ihr dabei auch nicht auf die Sprünge.

Na ja, außer Hamburg und Lübeck ist da nicht viel an geografischen Erfahrungen. Warum eigentlich nicht? Weil sie sich lieber verkroch, in ihr Schneckenhaus, allein mit sich und ihren Pfunden? Ihres Körperbaus wegen? Der Angst vor den missbilligenden, abschätzigen Blicken, den Verletzungen der Sprüche, die auf sie geschossen wurden? Na ja, und der eine Flug, den sie in ihrem Leben geflogen ist, war als quälendes Detail in ihrem Kopf auf Ewig verankert. Ist sie denn so weit, mehr zu wagen? Ist diese Fahrt ein erstes Wagnis? Nein, diese Fahrt ist eine Notwendigkeit und kein Wagnis. Wagnis geht anders.

 

Noch eine halbe Stunde Zeit bis Bad Kleinen, ein Blick auf ihre eMail’s. Noch nichts, Lusi hat sicher anderes zu tun, als ihr einen Berg Daten rüberzuschaufeln. Also weiter googeln, Ahrenshoop und die Klinik. Zuvor aber den rumorenden Magen befrieden. Als Proviant für die Reise hat sie sich zwei Äpfel, fünf mittlere Möhren und zwei Selleriestangen eingepackt, handlich klein geschnitten, damit sie Platz in einer Tuperwaren-Schale fanden, aus der entnimmt sie nun zwei Möhren, beißt knackend von der ersten Möhre ein Stück ab, was die Frau im Parallelsitz ihr gegenüber erstaunt aufblicken lässt. Betty hält ihr die zweite Möhre hin, was die Frau verlegen lächelnd ablehnt und mit ihren Augen auf die vorbeieilende Landschaft flüchtet.

Ja, sollte sie auch machen, kaut auch die zweite Möhre knackend ab und sieht großflächige monotone, teilweise bereits abgeerntete Felder, vereinzelte Gehöfte, zwischen den Feldern kleinere Waldstücke, für eine dauerhafte Ablenkung zu trist und auf Googeln hat sie auch keine Lust mehr, also klappt sie den Laptop zu, versucht sich entspannt in den Sitz zu bequemen, was nicht so recht gelingen will, schließt dennoch die Augen, ein wenig zu dösen.

In Bad Kleinen muss sie umsteigen, Koffer ziehen, Treppe hoch, Treppe runter, 10 Minuten Zeit. Es sind etliche Fahrgäste, die hier umsteigen, anscheinend alle unterwegs in die Ferien an der Ostsee, wäre Betty auch lieber.

Über Bützow geht es nach Rostock und Greifswald, erneuter Umstieg, von dort nach Ribnitz-Damgarten, wo die Landschaft Charme annimmt, der Bodden sichtbar wird, die kleinen Seen mit ihrem Schilfbewuchs, Trauerweiden, vom Wind krummgebogen. Fast vier Stunden ist sie jetzt unterwegs und auf dem letzten Stück patzt die Bahn, der Bus, der sie nach Barth bringen soll, abgefahren, der nächste wird eineinhalb Stunden auf sich warten lassen. Ärgerlich.

 

Zwei weitere Frauen stehen etwas abseits voneinander an der Bushaltstelle, ebenso ratlos blickend wie Betty. Zwei Frauen, die alles andere als unauffällig sind. Die eine springt sofort ins Auge, versehen mit einer Leibesfülle, die an die Bettys reicht, wenn nicht sogar übertrifft. Allerdings, die Fülle ist sehr ungleich verteilt. Die Masse an Gewicht wuchert in der Mitte und den Beinen. Die andere Frau, das extreme Gegenteil, ist spindeldürr, nur Haut und Knochen. Nein, die beiden haben nicht vor, hier oben Urlaub zu machen.

Betty überlegt, warten oder was ist die Alternative? Sie spricht eine der beiden Frauen, die dünne Frau, die ihr am nächsten steht, an, fragt, ob sie auch nach Ahrenshoop wolle, was diese bejaht. Auch die dicke Frau, die ein sehr mürrisches Gesicht zeigt, stimmt in das Gespräch ein, ja, auch sie wolle nach Ahrenshoop.

„Dann sind wir schon zu dritt,“ stellt Betty grinsend fest.

„Wow, da kann eine, ähm, bis drei zählen,“ dröhnt die raue, pampig klingende Stimme der Frau, die ein immenses Becken zu tragen hat, verschmitzt lächelnd.

„Ich bin Lisette. Lisette Ostenhop, aus Röbel an de Müritz.“ (Beides hat Betty nicht auf dem Schirm, hat keine Ahnung, woher Lisette also kommt)

„Betty Sundberg aus Lübeck.“

„Hm, ne, ähm Wessi? Haste de dich verirrt oder sind euch die Klinike ausjegangen?“ Ein kehliges Lachen ausstoßend. Nein, denkt Betty, mit der wirst du nicht warm, auch wenn sie eine fette Leidensgenossin ist. Wobei, Genossin? Auf die Anspielung geht sie nicht ein, denkt sich ihren Teil.

„Vera Teimler (wobei Vera Betty die Hand reicht, nach kurzem Zögern auch Lisette). Ich komme aus Grevesmühlen bei Wismar (Wismar kann Betty verorten, hat sie schon einmal auf der Landkarte gesehen. Aber Grevesmühlen?)“

„Ferien oder REHA?“ fragt Betty.

Wie aus einem Mund kommt von beiden Frauen „REHA!“ Lisette, Vera übertönend.

Sich ratlos anblickend stehen sie da, jede überlegend, und nun?

„Warten wir oder bestellen wir uns ein Taxi, ein Großraumtaxi“, was Betty mit einem leichten Schmunzeln in Richtung Lisette fragt, die den Großraum aber anscheinend nicht versteht.

„Hm, wir könnten, ähm, dort drüben warten, sieht aus, wie ne Kneipe, ähm, bis n Bus kommt, also weiß der Henker, was wir zu essen kriejen, die nächsten Wochen, ähm, warten wir dort drübn?“ schlägt Lisette vor, Betty unschlüssig, Vera blickt skeptisch auf die beiden, meint dann „Gut, wir haben ja Zeit.“

 

Dort drüben, das ist ein asiatisches Restaurant, oder eher ein Imbiss, Asia Wok. Mit ihrem schweren Gepäck drücken die Damen auf das Restaurant zu, eine runde Hütte, nehmen einen Platz vor dem Restaurant ein und erwarten die Bedienung.

Betty hat nicht vor, etwas zu essen, na ja, vielleicht einen Salat, trinken wird sie einen Jasmin-Tee. Die Bedienung, eine gertenschlanke, mittelgroße junge Frau (Ob Chinesin, Taiwanesin, Japanerin oder sonst einem asiatischen Land stammend, kann Betty nicht unterscheiden, sehen alle gleich aus, wie die Mitteleuropäer, aber egal) bringt die Speisekarte, die Lisette gierig greift, aufschlägt und ihre Augen suchend über die Seiten ziehen lässt. Vera zögert noch, Betty legt die Karte zur Seite.

Lisette hat sich eine Zigarette in den Mund geschoben, schlägt die Speisekarte zu, blickt nach der Bedienung, die mit einem Notizblock ihren Tisch ansteuert. Lisette ordert eine Peking-Suppe als Vorspeise, süß-sauer scharf und Entenfleisch Chopsuey als Hauptgang und ein Bier, 0,5. „Letzte Tankstelle vor de Grenze“, meint sie zu den beiden. Betty bestellt den Jasmin-Tee ohne Essen. Lisette schaut sie streng an:

„Ähm, du weißt schon, dass es in der Klinik nischt mehr zu essen jibt. Es wird nach Achte, bis wir dort sind. Also, ähm, wir können froh sein, wenn die uns noch reinlassen.“

„Das meinst du jetzt nicht im Ernst?“

„Ähm, doch, jenau, also ähm, so steht das in de Hausordnung von de Klinik.“

„Sollten wir dann nicht doch besser ein Taxi bestellen,“ insistiert Vera.

„Also, ähm, du solltest dir was zu essen bestelln und der Rest wird sich irjendwie erjebn.“

Zwar ist Vera nicht glücklich über diese Aufforderung, aber Lisette scheint zu wissen, wie der Hase läuft, also bestellt auch sie, Hühnerfleisch mit Zwiebeln und ein Mineralwasser.

Vera ist der Kontrast zu den beiden fülligen Frauen, dünn an Armen, Beinen, Hüften, verhärmtes, schmales Gesicht, in dem sich Falten zeigen, keine des Alters, eher Rückstände einer ehemals vorhandenen Straffheit, eingefallene Wangen, leblose Lippen, die schon lange weder einen Stift noch einen liebenden Mund gesehen haben dürften, glanzlose zurückgezogene Augen, dünnes kurzes Haar, mit einer sanften, weichen Stimme versehen. Schwer einzuschätzendes Alter. Auf jeden Fall ist sie jünger, als sie aussieht. Vielleicht vierzig? Vielleicht älter? Trotz allem, etwas Erhabenes ist an ihr, sie war eine hübsche Frau gewesen. Betty vermutet eine langwierige, schmerzvolle, vielleicht überstandene Krankheit, die ihre Zeichnung zurückgelassen hat.

Sie will aber nicht nachfragen, noch nicht. Vor ihnen liegen vier, vielleicht, gemeinsame Wochen. Ihrer Frage kommt Vera selbst zuvor, die während des Bestellvorganges immer wieder nach Bettys Kopf schielte, auf die Narbe.

„Du scheints einen großen Tumor gehabt zu haben. Oder?“

„Tumor? Wegen der Narbe? Nein, kein Tumor, eine Eisenstange hätte mir fast den Schädel zertrümmert. Und jetzt ist einiges in meinem Gehirn aus dem Lot, und das wollen sie mir in der Klinik wieder einrenken.“

 

Lisette reagiert gleich interessiert: „Ähm, wie kommt ne Eisenstange an dein Kopf? Ehestreit?“ (ein höhnisches Kichern unterdrückend)

„Ich bin Polizistin und wurde bei einem Einsatz von hinten niedergeschlagen, was ein Schädel-Hirn-Trauma hinterlassen hat, Konzentrationsschwäche, Gleichgewichtsstörungen, Sprachstörungen und sonst noch ein paar Kleinigkeiten.“

„Polizistin? Du?“

Lisettes Blick haftet an Bettys Statur, erstaunte Mimik, will nachsetzen, dem Vera aber zuvorkommt.

„Wie konnte dich jemand von hinten niederschlagen, muss wohl heimtückisch gewesen sein,“ will Vera wissen.

So sei es gewesen. Und Betty erzählt in Kurzform die Geschehnisse vor und im Keller, denen Vera und Lisette aufmerksam zuhören.

„Also, ähm, und der ist euch durch die Lappen jegangen?“

„Na ja, ich lag auf dem Boden, außer Gefecht gesetzt und sonst war niemand da, der ihn hätte festnageln können und wohlweislich hat er sich dann weit genug abgesetzt, wo ihn die deutsche Justiz nicht mehr fassen kann.“

„Eine üble Geschichte. Dann kannst du froh sein, dass du heute hier bei uns sitzt.“

Was Vera ohne Ansatz eines Lächelns sagt, dabei Betty mitleidig betrachtet.

„Also, das is immer so, weißte, also, die Großen fressen den Kaviar und ähm, die Kleinen bekommen die leere Büchse zum Spielen.“

„Wie bitte?“

„Na ja, unsereins, ähm, is immer de Dumme, also, ich mein, du hast ähm, den Schade und der andere das Geld.“

„Nein, Lisette, Geld hat er nicht. Seine Konten sind eingefroren. Er hat sich nur schnell genug verdrückt, bevor wir ihn fassen konnten. Zu schnell, um seine Konten zu leeren. Und Russland ist leider nicht besonders kooperativ. Sonst säße er längst dort, wo er hingehört.“

„Früher, also in de DDR, gab es, ähm, keene Verbrechen, also keene Verbrecher un wenn, also unsere Vopos hätten den gefasst. Also, unsere Verbrecher, die warn nicht so, also raffiniert, wie die von drüben. Ähm, erst mit dem Westen kamen, ähm, die Verbrecher, die Richtige und die Andere.“

 

Vera hält sich zurück, Betty nun ebenfalls, denn sie spürt, dass sie jemand gegenübersitzt, dem mit Argumenten nicht beizukommen ist. Wäre sicher ein harter Brocken, bei einer Vernehmung, schwer zu knacken. Na ja, denkt Betty, die Zeit würde sie mürbe machen, sie redet unstrukturiert und würde sich irgendwann verheddern, nein, nicht die Intelligenz des Pflegers, trotzdem harter Brocken. Und beim dezenten Anblicken der beiden, fällt Betty auf, wie schmucklos sie alle sind. Die zwei tragen, wie sie selbst, keinerlei Schmuck, sieht sie vom Ehering, den Vera trägt, ab, weder um den Hals noch am Arm eine Kette, keine Ringe an den Fingern. Drei schmucklose Frauen. Lisette hat eine Tätowierung am Arm. Ist das Schmuck? Eine wirklich gut gestochene Rose, ansonsten nichts, was ihre triste Fassade aufhübscht. Drei schmucklose Frauen mit Körpern, die aus der Norm gefallen sind. Sie hatten also noch etwas gemeinsam, außer dem Ziel.

Da Betty nicht alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, vor allem das Thema wechseln will, fragt sie die beiden, woran es bei ihnen körperlich hapere. Lisette und Vera blicken sich an (Wer zuerst?). Vera beginnt ohne Umschweife von ihrer Krankheit zu sprechen. Sie habe einen Tumor gehabt, spät, aber noch rechtzeitig entdeckt. Mittlerweile habe sie fast alles hinter sich, Strahlentherapie, Chemotherapie und die Operation, von der sie nicht mit Gewissheit wisse, so zumindest der behandelnde Klinik-Arzt, ob der Tumor restlos beseitigt sei. Die Nachwirkungen der Operation seien den Symptomen ähnlich, die Betty aufgezählt habe, nur kämen bei ihr noch Sehstörungen hinzu, die ihr das Autofahren unmöglich machen und Kopfschmerzattacken, als hätte ihr Kopf Erinnerungen daran, dass ein schmerzhafter Fremdkörper in ihm sei. Ein hässlicher Schmerz, der immer urplötzlich aufkomme, als säße jemand in ihrem Kopf, sie zu ärgern. Na ja, bei Kopfschmerzen konnte Betty mitreden, nur jetzt nicht. Vera hofft, dass die REHA sie wieder ein Stück ihrem alten Leben näherbringen werde.

Lisettes Suppe kommt, was Betty nutzt, doch noch eine Speise zu bestellen, da sie Lisettes Befürchtung verunsichert hat und die beiden verbliebenen Äpfel sicher nicht ausreichen werden, die Unersättlichkeit ihres Magens zu dämpfen: Gebratenen Tofu mit Gemüse.

„Du bist wohl, ähm, ne ganz jenaue?“

„Ja, bin ich, seit vier Wochen.“

„Hm.“

Lisette löffelt ihre Suppe und schildert ihrerseits ihre Krankheit, einen Herzklappenersatz (Wow, hört sich nicht gut an. Nur hat Betty keinen Dunst, was diese Krankheit bedeutet. Fragen? Nein. Abwarten. Ihr schwant, dass ihr die nächsten Wochen noch einige ihr nicht bekannte Krankheit zu Ohr bringen werden) und wie sie sehen könnten, zu viel Gewicht auf den Rippen, dass sie aber nicht störe, von daher denke sie, die REHA sei für die Katz, da sie auf Verzicht keinen Wert lege, dass einzig lebenswerte, sei ein reichliches und gutes Essen.

„Hast du Diabetes?“ will Betty wissen.

„Hab ich, ähm, merks aber nich.“

„Nimmst du Medikamente oder spritzt du?“

„Ich spritze, ähm, wenn ich dran denk.“

Staunend nimmt Betty diese Ignoranz, oder ist es nur Naivität, von Lisette wahr. Ihre Fülligkeit verteilt sich nicht wie bei Betty gleichmäßig über den Körper, sondern Lisette hat einen fast normalen Oberkörper, gut, etwas fülliger als der Durchschnitt, aber ein gewaltiges Hinterteil und fett- oder wassergefüllte Beine. Elefantös.

Betty hat genügend für sich gegoogelt, um zu ahnen, dass die Herzklappe nur ein Teil der Wahrheit ist, ein derartig unproportionales Verhältnis des Körperbaus deutet auf ein Lipödem hin, einem unkontrollierten Wachstum des Fettgewebes. Schwer zu behandeln und meist nur durch eine oder mehrere Operationen oder Fettabsaugung zu mildern, allerdings nur bis zu einem bestimmten Körpermaßindex, darüber hinaus sind die Therapien fast wirkungslos.

Betty will nicht fragen, um ja nicht in den Modus Täterbefragung zu verfallen, vermutet aber, Lisette solle abnehmen, um sich anschließend einer Operation zu unterziehen. Nur, warum schweigt sie dies aus? Wahrscheinlich, weil sie keine Ahnung hat oder es gar nicht so genau wissen will, woran sie leidet. Gut, ihre Sache.

 

Ihre Essen kommen, Lisette beginnt sofort zu löffeln, wie es selbst Betty in ihrer besten Zeit nicht hinbekommen hatte. Als sie zu Vera schaut, kreuzen sich ihre, Unverständnis ausdrückenden Blicke.

Während des Essens tauschen sie sich über ihre persönlichen Verhältnisse aus. Vera ist verheiratet, wuchs in Wismar auf und vor 12 Jahren ist sie mit ihrem Mann nach Grevesmühlen gezogen, haben dort einen kleinen Hof gekauft, auf dem sie Hühner, Gänse und ein paar Ziegen halten, Blumen, Kartoffeln und verschiedene Gemüse anpflanzen.

„Ihr seid Selbstversorger?“

„Ja, unser Gemüse, das ich in meiner Küche verarbeite, muss nicht durch halb Europa fahren und das, was ich esse, von dem weiß ich, wie es gewachsen ist. Da ist alles gleich bekömmlicher.“

„Alles Bio, was?“

„Ja, Lisette, ich denke, wir wirtschaften biologisch. Wir verwenden nur natürlichen Dünger“

„Hört sich fast paradiesisch an,“ meint Betty.

„Idylle trifft es besser. Paradies geht anders. Dort wächst dir alles mühelos in den Mund. Garten ist viel Arbeit und Abhängigkeit, vom Wetter.“

Ihr Mann arbeite auf einer Offshore-Ölplattform in der Nordsee, vor Schottland, ist vier Wochen von zu Hause fort, um dann eine Woche zu Hause zu sein, was heiße, sie müsse viele Arbeiten auf dem Hof selbst erledigen, sich um alles kümmern. Die Ziegen hätten sie sich angeschafft, um Ziegenkäse herzustellen, aber das mussten sie auf später verschieben. Zu wenig Zeit. Sie ist Erzieherin, habe diesen Beruf aber des Hofes wegen aufgegeben. Solange es gesundheitlich ging, habe sie auf dem Hof drei Kinder als Tagesmutter betreut.

Die letzten Monate war aber die Arbeit auf dem Hof und die Kinderbetreuung nicht mehr möglich, so dass der Garten, der Hof auch, in keinem guten Zustand ist. Ihr Vater sei ihr eine große Hilfe gewesen, er sei aber auch nicht mehr der Jüngste, so dass einiges liegen bleiben musste.

 

Lisette ist irgendwie geschieden, kinderlos, ebenso wie Vera, lebt schon lange in Röbel, davor in Berlin, Ost-Berlin, und führe Gelegenheitsjobs aus, so richtig Arbeit gäbe es nicht in Röbel, nicht mehr. Mit ihrer schludrigen Stimme lässt sie sich über das Früher aus, da habe jeder eine Beschäftigung gehabt und selbst wenn er keine gehabt habe, sei er beschäftigt gewesen, es hätte ja keine Arbeitslosen im Arbeiter- und Bauernstaat gegeben. Das Dorf sei umgeben von Feldern, die eine LPG bewirtschaftet habe, Arbeit für Viele. Dann mit der Freiheit (was sie zynisch klingen lässt) kam der Westler, der die LPG übernahm, Polen, Ukrainer, Georgier, Bulgaren und Rumänen anheuerte, die die ersetzten, die vorher die Arbeit leisteten. Es habe eine Metallwarenfabrik gegeben, die Schrauben und so ähnliche Sachen produziert habe. Die Fabrik sei abgewickelt worden und die Menschen, die vorher dort beschäftigt gewesen seien, nun ohne Beschäftigung. Gekümmert habe das keinen, das sollten die Almosen übernehmen, die ihnen der neue Staat zukommen ließ. Und dann hätte ihnen die Merkel auch noch die Iraker, Syrer, Afghanen und die Neger in die in Röbel leerstehenden Häuser setzen wollen. Aber dagegen wären sie Sturm gelaufen, also die anderen, nicht sie.

„Du bist keine Montagsläuferin?“

„Seh ich so aus? Ich hab ne Meinung, die sag ich auch. Aber nich auf em Pappschild, wo se drauf steht. Un durch de Straßen trag ich sie schon mal jarnich. Die, die rumlaufen, schreiben ihre Meinung aufs Schild, um se nich zu verjessen, oder tun so, als hättense ne Meinung. Ne, und Montags kommt Barnaby, da bin ich zuhaus un gucke.“

Wer weggehen konnte, der machte sich auf und davon und die, die blieben, mussten sehen, wie sie klarkommen mit dem, was noch war, aber immer weniger wurde. Ihr Mann sei auch ab nach dem Westen, keine Spur von ihm. Das Irgendwie ihrer Scheidung will sagen, sie ist nicht geschieden, mangels des abwesenden Mannes. Sie bekomme keinen Unterhalt, nichts, verheiratet mit einem Phantom.

Hm, denkt Betty, harte Nuss, verbittert, hat resigniert, sich ausgeklinkt. Futter für die, die zündeln. Andererseits, diese Seite der Republik kennt sie nicht, nur die, die die Medien verbreiten. Ihre Medienzufuhr ist einseitig, die Stimmen der anderen werden sanktioniert, vielleicht sind die anderen wirklich das Volk, das vergessene Volk? Oder das festsitzende Volk? Das sich nur Montagabend bewegt?

Sie wird mit Lisette noch reden müssen, nicht jetzt, in ein paar Tagen, sie werden sich sicher oft über den Weg laufen. Doch, auch ihre Seite will sie, nein, muss sie, kennen lernen.

 

Ein kurzes Schweigen tritt ein, vier erwartungsvolle Augen sind auf Betty gerichtet, die, ob sie will oder nicht, nun ihren Teil der Vorstellung beisteuern muss.

„Bei mir gibt es nicht viel zu erzählen. Ich kenne nur Hamburg, wo ich eigentlich lebe und Lübeck, wo ich derzeit eine Ausbildung mache, ansonsten lebe ich zurückgezogen für mich.“

„Also, da, also, wenn ich das, ähm, richtig versteje, bist du nicht, ähm, verheiratet. Und warst es auch nich?“

„Richtig, nicht verheiratet, nie gewesen.“

Sie wollte gerade ein „Nie verliebt“ anhängen, bremst sich aber kurz bevor die zwei Worte über ihre Lippen gekommen wären. Das geht diese Nuss nun wirklich nichts an. Die Nuss aber hat Feuer gefangen.

„Wow, also, das geht?“

„Das geht. Ich habe mir das nicht so ausgesucht. Es hat sich halt so ergeben.“

„Und, also, da ist niemand, ähm, der nachts neben dir liegt?“

„Niemand.“

Ein entschieden genervter Ausdruck in Bettys Gesicht versteht Lisette nicht.

„Haste, also, da gibt es, ähm, im Internet Kuppelseiten, also, extra für Dicke (sie hebt die Augen, runzelt die Stirn), wenn ich ähm, recht erinner, rundeliebe oder rubensfan, also, da findste du enen…“

„Lisette, ich suche keinen.“

Das Betty Erfahrungen ganz anderer Art mit Dating-Seiten hatte, hätte sie berichten können, da der zu verschweigende Tote seine Opfer über Dating-Seiten gesucht und gefunden hatte, aber dies ist persönliche Verschlusssache, also tut sie, als hätte sie noch nie gehört, dass es solche Seiten gibt. Überhaupt geht diese Nuss ihr Sexleben, ihr nicht vorhandenes Sexleben, überhaupt nichts an. Ablenken. Hembach spielen.

„Warst du den fündig?“

War sie, was sie hemmungslos von sich gibt. Es gäbe tatsächlich Typen die voll auf Fett stehen, leider nicht auf so viel Fett, wie sie untenherum trage. Sie habe verschiedene Treffen gehabt, die alle sehr kurz gewesen seien. Sie habe halt nur ein Passfoto in ihrem Profil eingestellt, sagt sie verschmitzt lächelnd. Einmal sei sogar ein Neger (Betty hätte jetzt einwenden können, ja müssen, Neger zu sagen sei unkorrekt. Aber was hätte das geändert? Die Frau ist wie sie ist.) erschienen, der laut seinem Profil, hätte weiß sein sollen, wobei sie kurz auflachte, der sei auch gleich wieder gegangen. Betty spürt den Schmerz Lisettes, den diese überlacht. Trotzdem, sie ist unten herum dick und hat zudem einen unangenehmen Mundgeruch. Nein, die hatte keine Chance auf beste Freundin. Hm, ist das jetzt Dickendiskriminierung durch eine Dicke?

 

Vera verfolgt das Gespräch ohne erkennbares Interesse, vielleicht spürt sie auch, dass Betty das Thema unangenehm ist, weshalb sie auf das Früher zu sprechen kommt.

Die beiden sind also echte Geschöpfe aus dem Osten der Republik, Lisette dem Kinderwagen noch nicht entwachsen und Vera zählte elf Jahre, als die Mauer fiel, wuchsen auf, ohne den Ballast der Vergangenheit. Beide kennen nur das Danach, allerdings deutet Lisettes Erzählung an, dass durch die Eltern viel Früher anerzogen wurde, der Blick auf die Welt immer noch vom Früher bestimmt ist.

Vera hatte noch sozialistische Erziehung genossen, zumindest in der Schule, wie sie sagt. Zu Hause haben die Eltern das Gegenteil gepflegt. Sie seien mitgelaufen, ohne mitzuspielen. Im Wohnzimmer lebte eine liberale Gesinnung, während die Welt drumherum autoritär, nicht sozialistisch oder kommunistisch gewesen sei. Was es heißt, im Osten zu leben, auch dazu wird Betty einiges lernen, dessen ist sie sich sicher. Aber jetzt erst einmal Themenwechsel.

„Ihr hattet es nicht weit hier hoch, wart ihr schon einmal in der Gegend, habt hier Ferien verbracht?“

Lisette schüttelt verneinend, mit gefülltem Mund kauend, ihren Kopf: „Wusste bis vor n paar Tagen gar nich, dass es dieses Kaff jibt.“

Vera war mit den Eltern als kleines Kind im Sommer immer auf Rügen, mit ihrem Mann nur einmal auf Usedom, das aber östlicher liege als der Darß. Auf dem Darß Urlaub zu machen, war wie Lotterie spielen. Man musste einen Antrag stellen und mit etwas Glück bekam man den Zuschlag. War ein Elternteil oder ein Onkel für den sozialistischen Aufbau aktiv, dann war der Urlaub auf dem Darß kein Problem.

„Aber mein Vater wollte eh nicht auf den Darß, also bewarb er sich nie. Weißt du, damals liefen ständig bewaffnete Grenzer um dich herum, das hätte mein Vater nicht ertragen. Erinnert an das Gefängnis, in dem er leben musste, wenn auch mit schöner Aussicht.“

„Ehrlich gesagt, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie das war, also in der DDR zu leben.“

Wieso sie hier ihre REHA mache, drüben hätten sie doch bestimmt auch Kliniken, schönere Kliniken, will Lisette wissen.

„Der Professor, der mich operiert hat, hat mir diese Klinik wärmstens empfohlen. Natürlich gibt es auch in der Nähe von Lübeck einige Kliniken, aber ich bin dem Rat des Professors gefolgt und hoffe, dass es eine gute Empfehlung ist.“

„Also, ja, wern wir sehn. Mich, also, hat die, ähm, Kasse hergeschickt.“

Sie haben ihr Abendessen vertilgt, Lisette schiebt sich die nächste Zigarette zwischen die Lippen. Betty stellt erstaunt fest, dass sie die einzigen Gäste sind und bleiben, was sicher dem Essen geschuldet ist, dass so fade war, wie ihre Gemüsesuppe von vorgestern. Sie bestellen die Rechnung, Lisette noch eine gebratene Banane in Honig und ja, mit zwei Bällchen Vanilleeis. Nicht einfach für Betty diesem Gelage beizuwohnen, zumal ihr Magen unerfreut auf den Tofu und das Gemüse reagiert.

Mit der Banane kommt die Rechnung. Sie zahlen einzeln. Die junge, ja was? Chinesin? Vietnamesin? Egal. Die woherauchimmer Frau wirft ihrem Gepäck einen Blick zu, fragt, ob sie ihnen ein Taxi rufen solle.

„Danke,“ meint Betty, „wir fahren mit dem Bus nach Barth.“

„Bus? Geht nicht mehr. War letzter Bus vor Stunde. Ist Sonntag. Taxi rufen?“

„Was?“

Die Banane schon verputzt, springt Lisette auf und stampft gepäcklos vor zur Bushaltestelle, liest den Fahrplan, lässt resigniert die Schultern sinken, stampft zurück. Ja, sie stampft, watschelt nicht wie Betty. Ihr Gang wird unterstützt durch zwei rudernde, kräftige Arme, die sie leicht angewinkelt, links, rechts, schwenken lässt, als würde sie ein Nordic-Walking durchführen. Auch tanzen ihre Fettpolster nicht wie bei Betty hoch und runter, sondern, sie schwingen seitlich vor und zurück. So ganz anders als sie sich bewegt, denkt Betty. Na ja, nicht jeder bewegt sich gleich, wäre ja auch seltsam.

So stampft Lisette zorniger Miene den beiden noch Sitzenden entgegen, einem in der Arena irritiert irrenden Stier nicht unähnlich.

„Also, so en Scheiß, also, ähm, an Werktagn fahrn noch zwei Busse. Aber heut, ähm, fährt nichts mehr. Bloß weil, äh, Sonntag is.“

Lisette steht Groll auf der Stirn. Betty ahnt wieso.

 

Da am Bahnhof kein Taxi steht, was Betty untypisch findet, befürchtet sie eine längere Wartezeit, nickt aber der jungen Frau zu: „Ja, bitte bestellen sie uns ein Taxi, nach Ahrenshoop. Ein großes Taxi.“

Die Frau lächelt, scheint Bettys Andeutung verstanden zu haben.

„Setz dich Lisette. Es wird dauern und keine Sorge, ich bezahle das Taxi.“

Lisette wirkt erleichtert. Trotzdem, irgendwie ärgert Betty jetzt ihre schnelle Zusage. Für das Essen gibt sie Geld aus, nicht aber für ein Taxi, wahrscheinlich, weil sie Taxi nicht essen kann. Falsche Entscheidung, aber egal jetzt und ärgerlich dazu, da sie schon vor einer Stunde mit einem Taxi die restliche Fahrt hätten bestreiten können.

Vera scheint sich ihren Teil zu denken, Lisette schmollt und zieht hastig an ihrer Zigarette, keine genießende Raucherin, eher eine hektische.

Die junge Frau aus dem Restaurant schaut heraus und meldet, dass das Taxi in zehn Minuten käme. Geht ja noch.

Die Blase drückt, der Tee will schon wieder entlassen werden, Betty dreht den Kopf Richtung des Restaurants, schätzt von dessen Größe auf die Größe der Toilette und befürchtet einen engen Kabuff, muss aber sein, steht auf und watschelt auf den Eingang zu, schaut nach einem Hinweis, die junge Dame hebt den Arm und gibt die Richtung an, die Betty einschlägt. Entgegen ihrer Erwartung ist die Toilette relativ großzügig. Gut so.

Am Tisch zurück schweigen sich Vera und Lisette an, Lisette auf ihrem Smartphone herumtippend.

„Was, ähm, machen wir, wenn die uns, ähm, nich mehr reinlassn?“

„Lisette, das ist Blödsinn. Warum sollten die uns nicht mehr einlassen. Die haben sicher so etwas wie eine Nachtschwester, wobei es ja noch nicht Nacht ist. Mach dich locker.“

Schmolllippen bildend, stiert Lisette weiter auf das Smartphone vor sich, fantasiert sich wahrscheinlich eine Hotelübernachtung, die nicht in ihrem Budget eingeplant ist.

 

Das Taxi fährt vor, ein älterer Herr schält sich aus dem Großraumauto, Betty lächelt, dreht sich nach dem Restaurant um, winkt der jungen Dame kurz zu, steigt ein, der Taximann verstaut die Koffer, startet den Wagen und los geht es, am Bodden entlang, über die Meiningenbrücke, ein Schaufelraddampfer ist zu sehen, ein kleiner, Kind der großen Dampfer des Mississippi, an Zingst vorbei, auch Prerow nur gestreift, linksseitig die Dünenwälder, die See schon ahnen lassend, Hinweise auf Parkplätze und Parkverbote wechseln sich ab, wobei letztere eindeutig überwiegen. Irgendwie durchläuft Betty ein wohliges Gefühl, eine innere Freude, diese Landschaft zu erkunden, ein neues Gefühl. Noch etliche behelmte Radfahrer sind unterwegs, mal mit, mal ohne Rucksack. Gut, hier wird Urlaub gemacht.

Die Idee, sich in der Freizeit, die sie nach den Anwendungen, Therapiesitzungen und sonstigen Behandlungen haben wird, ein Fahrrad zu leihen, um die Gegend zu erfahren, kommt ihr beim Anblick der späten Radfahrer nicht. Wie auch. Radfahren kann sie nicht und einem Fahrrad ihr Gewicht aufzudrücken mutet sie keinem dieser Dinger zu. Also bleibt nur der verträumte Blick auf die still dahingleitenden Radler. Vielleicht später, irgendwann.

Vera unterhält sich mit dem, neugierige Fragen stellenden, Taxifahrer, Lisette schaut missgestimmt mal aus dem Fenster, mal vor sich hin, wahrscheinlich betend, dass ihnen die Türe aufgetan wird, bei ihrer Ankunft. Nein, nicht betend. Ihr geht etwas anderes durch den Kopf.

„Sach mal, Polizisten nennt man auch Bullen, also ähm, wie is das mit dir, wenn dich jemand Bulle nennt, bist du dann stinkig?“

„Na, sie mich an, ich bin ein Bulle, wieso sollte mich die Benennung ärgern?“

„Also, ich weiß nich, ähm, also Polizistinnen sind nich immer so kräftig wie du. Ich mein, bist du denn beweglich jenug für dein Job?“

„Ich bin im Kopf beweglich. Ich bin angehende Fallanalytikerin, da verbringe ich viel Zeit hinter dem Computer mit Recherchen und intensivem Nachdenken.“

„Ja, aber, du bist doch, also, dich hat doch jemand zusammenjeschlagen.“

„Das war die Ausnahme, eine dumme Ausnahme. Ich hätte hinter meinem Schreibtisch bleiben sollen.“

„Hättste.“

 

Von Ahrenshoop noch nichts zu sehen. Der Taxifahrer setzt einen Blinker, nach links, wo ein Parkplatz voller Autos erscheint und zwischen den Bäumen, Kiefern, Eichen und Buchen, nach und nach ein Gebäudekomplex seine Wucht ausbreitet, fünf Stockwerke hoch zählt Betty. Wenigstens nicht grau, denkt sie, die Fassade weiß verputzt, sieht neueren Datums aus. Links neben dem Haupttrakt zwei reetgedeckte Häuser, viel Grün rundum. Eine Klinik, eigentlich wie jede andere, Funktionsbau ohne Charme, aber direkt hinter dem Deich. Eine eigenartige Beklemmung erfasst sie. Sie mag solche Wucht nicht.

Auch Vera betrachtet argwöhnisch den Klotz, der sich immer deutlicher abzeichnet. Lisette, weiterhin mit Schmollmund, zeigt keinerlei Reaktion.

„Früher haben hier Görings Offiziere, die Direktoren seiner Göring-Werke, natürlich nebst Familien, die Sommerfrische verbracht. Nicht in diesem Gebäude, das ist neueren Datums, aber in dem, was hier zuvor stand. Nach 1945 haben die DDR-Bonzen und ihr Anhang hier Einzug gehalten. Im Prinzip die gleiche Klientel wie vorher. Arbeiter und Bauern hast du hier nie gesehen. Und im Dorf Ahrenshoop waren die Künstler, lange vor den Nazis, manche noch während der Nazis, dann während der Kommunisten, weshalb alle Welt vom Künstlerdorf Ahrenshoop sprach und nicht vom Bonzendorf. Nein, der Volksmund nannte die Gegend hier „Millionenhügel“. Bis zur Wende erholten sich hier in der Klinik die Kinder des Chemiekombinats Buna, natürlich unter sozialistischer Aufsicht, reinigten ihre von der Kunststoffproduktion hochbelasteten Lungen. Ja, und jetzt sind wir hier. Wir, die wir gesund werden müssen. Im Dorf sind die, die dürfen, wollen und vor allem können. Denn mit der Wende kam die Preiswende. Urlaub hier zu machen ist nichts für das kleine Portemonnaie. Tja, so ändern sich die Zeiten. Kannst du alles nachlesen, musst nur die Home-Page des Ortes aufrufen und dann gibt es noch Google.“

Betty lässt die Worte von Vera sacken. Ein Stück Land mit wechselhafter Geschichte. Interessant. Doch. Aber der Sarkasmus in den Worten Veras kommt sicher nicht von der Home-Page oder Google.

Das Taxi hält vor dem großen Eingangsportal, Betty zahlt, wie angekündigt, Vera wollte die Hälfte des Fahrpreises zusteuern, aber Betty wehrt ab. Der Taxifahrer lädt ihre Koffer aus und wünscht einen angenehmen Aufenthalt. Lisette zieht sogleich los, Koffer hinter sich herziehend, dem Eingang entgegen, die beiden anderen folgen in Abstand.

Drinnen, hinter einem hellen, freundlich wirkenden Tresen, sieht ihnen eine Dame mit üppiger Haartracht und nichts sagender Mimik entgegen. Ein Lächeln wäre durchaus angebracht.

„Guten Abend, die Damen, hat die Bahn mal wieder geschludert? Wir haben Sie schon früher erwartet. Frau Petzold, die Hausdame, (Was zum Teufel ist eine Hausdame?) ist bereits im Feierabend, weshalb die vorgesehene Hausbesichtigung erst morgen um 16:00 Uhr stattfinden kann. Das Anmeldeprozedere morgen um 09:00 Uhr in der Verwaltung, hier rechts am Empfang vorbei. Ich werde Ihnen Ihre Zimmer zeigen,“ sagt die Frau, auf deren Brust ein Schild angibt, dass sie Edvina heißt.

 

Im Erdgeschoß wird Lisette untergebracht. Bevor die Frau Lisette die Schlüssel in die Hand drückt, weist sie darauf hin, dass das Restaurant bereits geschlossen sei, aber vor dem Restaurant könnten sich die Damen bei Bedarf an einem Automaten kleine Snacks und Getränke ziehen.

Lisette schließt wort- und grußlos ihre Tür.

„Haben wir ihr etwas Falsches getan oder gesagt?“

„Sie ist, wie sie ist. Von der Sorte gibt es einige und wenn du mich fragst, wenn du mit einer so seltenen Krankheit beschlagen bist, kannst du nicht anders. Mach dir deswegen keinen Kopf,“ antwortet Vera und schaut bedauernd zu Betty.

Seltene Krankheit? Beschlagen? Betty schaut an sich herab, fragt sich, was Vera ihr damit sagen will, fragt sie aber nicht. Ob Lisette die Sache mit dem Taxi peinlich ist? Sie hätte wenigstens Danke sagen können.

Veras und Bettys Zimmer befinden sich im zweiten Stock, Edvina ruft den Aufzug auf, drückt die Zwei und hoch geht es. Ihrer beider Zimmer liegen nur wenige Türen auseinander. Aus dem Zimmer, neben dem von Vera, tritt eine Frau heraus, ein Kopftuch auf, kein religiös motiviertes Kopftuch, Vera weiß, was sich darunter verbirgt, Betty kann es nur ahnen.

Vera dreht sich, bevor Betty weitergeht, zu ihr um und fragt sie: „Wollen wir morgen Abend einen Erkundungsspaziergang in den Ort machen? Hast du Lust dazu?“

„Ja, warum nicht? Es sei denn, die lassen uns morgen schon schwitzen. Dann fürchte ich, werden meine Beine nicht so wollen wie ich,“ sagte sie mit einem Grinsen im Gesicht. „Schau‘n wir mal. Dann bis morgen Abend, ich klopfe an, wenn ich so weit bin. Gute Nacht.“

Vor der Tür mit der Nummer 221 angelangt, reicht Frau Edvina Betty den Zimmerschlüssel, wünscht noch einen angenehmen Abend und eilt zurück zu ihrem Tresen, wahrscheinlich in Erwartung weiterer Nachzügler.

Vor Betty ein kurzer Flur, rechts geht eine Tür ab, zum Badezimmer. Erster Eindruck, hell, freundliche hellgelbe Farbe an den Wänden, der Boden mit Laminat belegt, zwei Läufer am Fluranfang und vor einer Kommode, auf der ein Flachbildschirm steht. Eigentlich alles, wie im Internet gesehen, gefühlt sogar etwas großräumiger. Mitunter zeigen Hotels, oder solche Einrichtungen wie diese, nur ihre Zuckerseite, aber was sie bis jetzt gesehen hat, entspricht der Seite auf der Home-Page der Klinik. Die Klinik hatte nur Einzelzimmer, boten aber auch Doppelzimmer an, im Falle, dass eine Begleitperson dabei war.

Ihr ist ein Einzelzimmer wichtig. Noch eine Person im Zimmer zu haben, wäre Grund gewesen, erst gar nicht anzureisen. Womöglich noch so eine Dicke wie sie, welch eine Vorstellung. Nun, dem ist nicht so. Dies Zimmer wird die nächsten vier Wochen ihr zu Hause sein, sie ist Privatheit gewohnt und die braucht sie auch hier.

 

Sie greift ihren Rollkoffer fester, zieht ihn hinter sich her in das Zimmer, hebt ihn hoch und legt ihn auf dem Bett ab, geht zurück und schließt die Zimmertür. Bis jetzt alles gut. Sie öffnet die Tür zum Badezimmer, nein Duschzimmer, erfreut zu sehen, dass die Dusche keinen Vorhang, keine Kabine, nichts hat, woran sie sich hätte stoßen können, frei in der Ecke, kleiner Rand, damit das Wasser nicht das Zimmer flutet. Die Toilette luftig an der Wand. Das Toilettenpapier unerwartet butterweich (vorsichthalber hatte sie zwei Rollen ihres weichen Toilettenpapiers von zu Hause mitgenommen), kein recyceltes Altpapier, rack, rau, sondern flockig weiches Papier, wie sie es mag. Die Dusche gefliest, weiße breite Kacheln.

Nicht groß, die Dusche, aber Betty kann sich uneingezwängt umherbewegen. Schön. Jetzt noch den Bettentest, verlässt die Dusche, geht vor zum Bett, setzt sich ab, stützt sich, Fäuste machend, auf dem Bett ab und wippt leicht hoch und runter. Feste, harte Matratze. Bestens, nichts zu beanstanden. Rechts neben dem Bett ein Nachttisch, links ein Tisch, ein Stuhl davor, ohne Lehnen (Lehnen hintern sie, zwängen sie ein). Neben der Kommode ein kleines Sofa, Zweisitzer, zu klein zum Ablegen. Oder? Probiert sie später, sowie ein kleiner Beistelltisch und ein Sessel.

Über die Länge der Rückwand zum Badezimmer ein Kleiderschrank, in den Betty ihre Sachen aus dem auf dem Bett ruhenden Koffer aus- und einzuräumen beginnt, was sie zügig ausführt.

Anschließend geht sie vor zum Fenster, fast so breit wie das Zimmer, und erblickt zwischen ein paar hohen Bäumen durch den Deich, Dünengras bewachsen, etliche Sträucher, die sie nicht kennt, egal, ein Stück des Strandes und die See, die Ostsee. Der Ausblick ist ansprechend, die Lichtspiele der im Rücken des Gebäudekomplexes untergehenden Sonne tänzeln auf dem Wasser. So etwas wie Freude kommt in Betty auf. Doch, der Ausblick ist herrlich, macht Lust auf einen Spaziergang am Strand. Nicht heute, morgen, mit Vera.

Nur vereinzelt zieht ein Vogel, sicher eine Möwe, seine Kreise zwischen Himmel und See. Irgendwie enttäuschend, denn Betty glaubte, die Küstenstrände, egal wo, seien wasservögelbevölkert, so ihre Auffassung nach den Naturdokumentationen, die sie sich gelegentlich im Fernsehen anschaute. Aber hier? Nichts. Oder besser, wenig. Vielleicht sind die Vögel auch, der vielen Touristen wegen, selbst in die Ferien geflogen, in den Süden, sind ja Zugvögel, also die meisten. Oder? Nein, im Süden sind ja noch mehr Touristen. Vielleicht bin ich auch falsch gebildet, denkt Betty, und das muss sie ändern. Auch das.

Sie öffnet die Balkontür. Ein schmaler Balkon, kleiner Tisch und zwei Plastikstühle, von denen sie einen vorzieht, sich setzt, etwas unbequem, aber egal, und lauscht der abendlichen Stimmung, die aber von Zivilisationslärm aus Radio oder Fernseher gestört wird aus denen sich die Patienten der umliegenden Zimmer unterhalten lassen. Trotzdem, die Luft herrlich frisch, nun deutlich kühler geworden als noch vor ein paar Stunden, leichter Wind, der ihr das sanfte Rauschen der See auf den Balkon trägt. Schön. Zumindest der Anfang ist schön.

 

Eigentlich quengelt ein innerer Impuls in ihr, nach draußen, zum Strand zu gehen, mit blanken Füßen am Rande des Wassers entlangzuwaten, im feinstrukturierten Sand leicht einsacken, ihn zwischen den Fußzehen rieseln zu spüren, Wind in den Haaren, den Wellen folgen bis zum Horizont. Meine Güte, wie lange ist es her, dass sie sich solch einen Bummel erlaubt hat? Lang, lang ist es her.

Aber der Impuls wird von ihrer Neugier übertölpelt. Sie stöpselt ihren Laptop ein, wirft ihn an, loggt sich in das Haus-WLAN ein, ruft ihren Mail-Account auf und sieht, dass Lusi geliefert hat, sieben Dateien, der Größe wegen. Sie öffnet die erste Datei, Fotos, von den einzelnen Tatorten, Aufnahmen der Spusi. Mehrere Aufnahmen eines Innenraumes, nichts von einem Einbruch zu erkennen, keinerlei Unordnung, die Terrassentür weist ein rundes Loch auf, geräuschloser Glasschneider, wirkt alles sehr profihaft.

Das folgende Foto gleicht bis auf die Gegenstände in dem Zimmer, dem des Vorhergehenden. Gleiche Masche. Und immer nur das Wohnzimmer, in das sie von der Terrasse aus eindringen. Der Beschriftung nach, zwei Häuser in der gleichen Straße und auch die Fotos aus einem dritten Haus entstammen dem Einbruch in dieser Straße. Die Einbrüche müssen sehr schnell abgewickelt worden sein und nur aus dem Wohnzimmer wurden Dinge entwendet, laut Liste in der Regel Elektrogeräte, also Fernseher, Musikanlage, aber auch Gemälde, nur in einem Fall Schmuck, der anscheinend ungeschützt in einer Schublade lag, und sonstige ungesichert liegende oder stehende Kleinigkeiten, die einen gewissen Wert hatten. Schneller Zugriff auf gut zu veräußernde Wertgegenstände. Nur die Gemälde lassen Betty stutzen. Einbrecher mit Kunstverstand? Oder einfach im blinden Glauben abgehängte Bilder? Muss sie Lusi fragen, welchen Wert die Gemälde hatten.

Die drei Häuser stehen in der Gildestraße. Betty ruft Google-Earth auf, gibt Gildestraße, Lübeck ein, fährt die Hausnummer 27 an, zoomt bis kurz vor dem Unkenntlich werden. Ein Einfamilienhaus, Terrasse, dem sich der Garten anschließt, Rasen, die Grundstücksgrenze so wie sie aussieht, von einer Thuja-Hecke umrandet. Sie fährt auf die 32, gleiches Bild, nur die Hecke ist anders, dichter, mehr ein Gehölz als Hecke. Auch bei der 39 zeigt der Überblick das gleiche Schema.

 

Mit zusammengekniffenen Augen starrt sie auf das, was sie sieht, denkt nach. Die Täter wussten genau, was sie vorfinden würden, weshalb sie schnell zugreifen und wieder verschwinden, sogar so abgebrüht sein konnten, gleich drei Einbrüche in unmittelbarer Nähe zu begehen. Das geht nur mit vorhergehender Beobachtung. Von den Hecken aus? Wie? Sich selbst in die Hecken zu stellen, wäre zu auffällig. Sie mussten Kameras in den Hecken positioniert haben. Nein, keine Kameras. Wozu? Wohnzimmer in diesen gutbürgerlichen Wohngebieten gleichen sich, der Fernseher, die Musikanlage, Gemälde an der Wand, gut, hier unterschieden sich die Geschmäcker, Bücherregal, Bücher wurden aber keine gestohlen, na ja und hier und da, das Tafelsilber von Großmutter, in irgendeiner der Kommodenschubladen. Nein, dies mussten die Täter nicht auskundschaften, das war Erfahrung.

Egal wie, es bedeutet trotzdem, Vorbereitungen zu treffen und dies geht nur, wenn die Täter ihre Ziele vorher genau beobachtet hatten. Nicht tagsüber, nein nachts, somit geschützt von der Dunkelheit. Überwachungskameras gab es an keinem der Häuser, ebenso wie eine Alarmanlage. Ein bisher ungefährdetes Viertel, was sich sicher jetzt ändern wird. Und sie mussten vor Ort sein, also in Lübeck Quartier bezogen haben oder gar hier leben, zumindest für kurze Zeit. Dem Einbruch in der Gildestraße gingen fünf Einbrüche in anderen, aber ähnlich angelegten Wohngebieten voraus. Betty schätzt mindestens drei, vielleicht sogar vier beteiligte Personen. Einer steigt ein, zwei tragen das Diebesgut zum wartenden Auto, der vierte sitzt am Steuer, jederzeit bereit, loszufahren.

Vier weitere Dateien dokumentierten insgesamt neunzehn Einbrüche. Das Muster überall gleich. Das müssten die Kollegen alles erkannt haben. Also heißt das, Orte zu finden, wo die Täter schnell untertauchen können, Platz haben für einen Sprinter, den sie sicher brauchen, um das Diebesgut abzutransportieren, ein größerer Lagerplatz in einer alten Garage, einem alten Fabrikgebäude, Schrottplatz oder ähnlichen Orten, um das Diebesgut zwischenzulagern.

Da sind Profis am Werk, und zwar richtig gut organisierte Leute, und dies sind meist Leute vom Balkan.

Sie werden nach dem wahrscheinlich ungewollten Zwischenfall eine Pause einlegen, wohlwissend, dass die Polizei nun stärker fahndet oder den Job hier ganz abbrechen und in ihrem Heimatland abtauchen, werden vom nächsten Team abgelöst. Ihre Masche ist eindeutig.

 

Betty ruft ihren eMail-Account auf und schreibt Lusi alle ihre Erkenntnisse auf, die ihr sicher nicht neu sind, sie in ihren Rückschlüssen aber bestätigen könnten. Ob es in anderen Städten vergleichbare Einbruchserien gegeben habe, will Betty von Lusi wissen und, welchen Wert die Gemälde hatten. Sie glaube, schreibt Betty, die Typen handeln im Auftrag, nicht auf eigene Kasse. Irgendwo sitze der, der das Drehbuch schreibt. Sie mutmaßt, dass die Typen, sofern sie noch in der Stadt sind, wenn sie sich aus ihrem Versteck bewegen, irgendwo gemeinsam etwas essen oder trinken, immer zusammen ausgehen, da würde eine Befragung in Kneipen, Imbissen vielleicht von Nutzen sein. Sie tippe auf Georgier, deren Organisationsgrad höher sei als der bei Tätern vom Balkan. Gibt es in Lübeck einen Ort, wo sich Georgier treffen? Morgen Abend, schreibt sie Lusi, nach 17:00 Uhr, könnten sie skypen, wenn sie dies wolle, solle sie ihr ein WhatsApp schicken.

Betty sieht noch einmal über die Liste mit den gestohlenen Wertgegenständen. Eigentlich sehr dürftig für den Aufwand. Was bringt ein gebrauchter Fernseher, eine Musikanlage auf dem schwarzen Markt oder in Georgien? Vermutlich nicht viel. Wozu also dieser Aufwand? Da ist etwas faul. Verdammt faul. In keinem Fall wurde Bargeld entwendet. Geht es den Tätern um etwas ganz anderes? Was passiert nach den Einbrüchen? Die verunsicherten und verängstigten Opfer werden in Sicherheit investieren. Das ist immer so. Kann es sein, dass eine bestimmte Sicherheitsfirma prompt und häufig bei den Opfern in Aktion tritt? Wird das Geld mit der Sicherheit gemacht? Die Opfer nochmals zu Opfern? Das muss Lusi genau unter die Lupe nehmen. Ja, ihre Gedanken überzeugen sie immer mehr. Die Einbrüche so zu sehen, macht Sinn. Sie setzt der Mail an Lusi ihre Überlegungen hinzu und schickt sie ab.

Gut, sagt sich Betty, sie kann noch denken, kombinieren, analysieren, auch ihre Vorstellungskraft scheint ungebrochen. Um mehr ging es ihr nicht. Zugegeben, kein außergewöhnlicher, gar komplizierter Fall, trotzdem, jetzt nicht klein reden. Sie scheint noch zu funktionieren.

 

Draußen dämmert es, sie steht auf, geht vor zu ihrem Balkon und sieht hinüber auf die See, die nun farblos, schwarz vor sich hinplätschert, kein Rauschen, dass von einer See, einem Meer zu erwarten wäre, nun, die Ostsee ist halt nur See, kein Meer und ohne Wind keine Wellen, denn der Wind in dieser langsam abkühlenden Spätsommernacht hält sich anderswo auf, nicht hier. Aber selbst der Hauch von Wind trägt ihr eine angenehme Kühle auf die Wangen, frische, klare Seeluft. Sie wird bei offenem Fenster schlafen. Wann hatte sie letztmals bei einem offenen Fenster geschlafen? Keine Ahnung, musste eine Ewigkeit her sein.

Müdigkeit erfasst sie, war ein anstrengender Tag, so anstrengend, dass sie kein Gehör für ihren Magen hat. Professor Theissen hatte ihr empfohlen, den Magen verkleinern zu lassen, dass würde immens bei der Gewichtsreduzierung helfen, Betty hatte sich bewusst dagegen entschieden. Sie will ihn niederringen, nicht hälftig entfernen. Ein fairer, kein ungleicher Kampf.

Sie löst sich von der Balkonaussicht und bewegt sich zur Dusche, Wasser lassen, Zähne putzen, Gesicht abwaschen, Seife unter die Achseln verteilen, wieder abwaschen, in ihr T-Shirt schlüpfen, das sie als Nachthemd missbraucht, und ist fertig, sich im Bett breit zu machen. Sie legt sich auf den Rücken, wie immer, ihr Gewicht lässt es nicht zu, auf dem Bauch zu schlafen, was ihrer Atmung besser täte, so schnarcht sie, mit gelegentlichen Aussetzern. Nicht gut, hatte der Professor gemeint. Egal, hatte sie gedacht.

Sie aktiviert die Weckfunktion ihres Smartphones, schließt ihre Augen und fällt in einen tiefen, traumlosen Schlaf, zumindest war von Traum am Morgen keine Erinnerung mehr.

Als sie die Augen verschlafen öffnet, hat sich im Zimmer bereits der Morgen breit gemacht, noch etwas dämmrig. Eine leichte Brise zischelt durch das geöffnete Fenster. Noch früh, der Weckdienst hat noch nicht angeschlagen. Sie geht vor zum Fenster, öffnet es ganz, tritt auf den Balkon und schaut der aufgehenden Sonne ins Antlitz, die bereits das Morgenrot hinter sich gelassen hat, zeigt ein strahlendes, flimmerndes Gelb, kurz über dem Horizont liegend. Wird nochmals warm werden heute. Um den Sonnenaufgang zu erleben, wird sie noch früher aufstehen müssen. Dieser ist ihr in Hamburg oder Lübeck hinter Häusern und Bäumen stets verborgen geblieben, hier aber sichtfrei zu erleben, eine Chance, die sie nutzen wird.

Jetzt das morgendliche Prozedere absolvieren, anschließend frühstücken, wobei sie noch etwas wird warten müssen. Frühstück ab 07:00 Uhr? Sie weiß es nicht. Sie schlüpft in ihr gelbes Kleid, keine Ahnung, welcher Dress hier im Haus üblich ist. Hängt die Handtücher auf den Balkon, die Sonne wird sie trocknen. Hat noch gut eine Stunde Zeit, setzt sich auf dem Balkon ab und lauscht in die still daliegende Landschaft, rüber zur See, die Laubbäume rascheln eher schüchtern mit ihren Blättern, vereinzelte Vogelstimmen dringen an ihr Ohr, eine friedlich anmutende Welt, die sie leider nicht ist.

 

Um den Frühstücksraum zu finden, folgt Betty ihrem Instinkt, also mehr ihrer Nase, nach der sich der Raum im Erdgeschoß befinden müsste und ihrem Geruchssinn (Wo es nach Kaffee riecht, ist ein Frühstücksraum nicht weit). Sie steigt die Treppenstufen hinab, den Fahrstuhl, ihm einen verächtlichen Blick zuwerfend, links liegen lassend, folgt sie den spärlichen Hinweisen, die sie in den gewünschten Raum geleiten. Sie dachte, zu den ersten Patienten im Frühstücksraum zu gehören, aber, Fehlannahme. Der Frühstücksraum ist bereits gut besucht mit Menschen, Patienten, Leidensgenossinnen und -genossen. Ein dumpfes Summen hängt im Raum, nicht laut, fast so, wie wenn ein Bienenschwarm seinem Stock flüchtet und sich irgendwo an einem neuen Platz um die Königin versammelt. Das hatte Betty tatsächlich schon einmal erlebt, damals als Großvater noch lebte und ganz aufgeregt aus dem Garten ins Haus gestürmt kam, um die Feuerwehr zu alarmieren, weil sich ein Bienenschwarm in seinen Kirschbaum verirrt hatte. Sie eilte hinaus, um dieses wilde Spektakel näher zu schauen, wurde aber, kaum dass sie draußen war, vom besorgten Großvater eingefangen und ins Haus zurückgeholt.

Die Königin? Ihr wird plötzlich bewusst, dass sie die Königin ist, in diesem Bienenstock. Alle Augen sind auf sie und ihr leuchtend gelbes Kleid gerichtet, die Frühstücker in diversen grauen, blauen oder schwarzen Jogging-Anzügen steckend, eine dunkle Masse, kurz davor in ihr Heilprogramm einzusteigen und sie, aussehend, als wäre sie hier zur Sommerfrische. Fehler. Da hat sie wohl eine Fehlentscheidung getroffen. Für die Korrektur ihrer Fehlentscheidung ist es zu spät. Da muss sie jetzt durch.

So steht sie am Eingang, will sich einen Überblick verschaffen, verwirrt durch die auf sie gerichteten Blicke. Mit geübten Augen erkennt eine Pflegerin, den Orientierung suchenden Neuling, begrüßt Betty, erklärt ihr den Ablauf. Sie könne zwischen drei verschiedenen Tellervariationen auswählen, normales Frühstück, also Käse und Wurst oder Diätfrühstück, Vollkornbrot mit Frischkäse und Rohkostsalat., die dritte Variation sei für Diabetespatienten vorgesehen. An dem Tisch neben der Essensausgabe könne sie sich am hausgemischten Müsli, Obst und Joghurt oder Quark bedienen. Für Getränke gäbe es den Kaffeevollautomaten, an dem auch das Wasser für Tee zu entnehmen sei, ferner Mineralwasser mit und ohne Kohlensäure aus einer Zapfanlage. Ihren Platz könne sie sich aussuchen.

 

So informiert, marschiert Betty auf die Essensausgabe zu, nimmt sich den Teller für die Diabetespatientin, Vollkornbrot, fettreduzierter Streichkäse, Rohkostsalat, steuert einen Tisch an, wird allseitig freundlich angelächelt und mit einem „Guten Morgen“ begrüßt, was Betty angenehm überrascht, wobei, freundlich kann auch belustigt sein. Natürlich gibt es auch Tischgesellschaften, die nicht grüßen, zu tief in ihr Gespräch vertieft, wobei die Worte die Betty im Vorbeigehen aufnimmt so trostlos sind wie das Frühstück. Es geht anscheinend nur um Krankheit, irgendwelche Therapeuten und das Essen, niedriges geistiges Niveau. Egal, sie ist es eh gewohnt, ihr Frühstück allein und schweigsam einzunehmen, an diesen Bienenstock muss sie sich erst gewöhnen. Ja, ist gewöhnungsbedürftig die Atmosphäre.

Sie findet einen freien Tisch, vier Plätze drumherum, alle unbesetzt, stellt ihren Teller ab und macht sich auf, einen Tee zu zapfen. Zurück am Tisch startet sie ihr mageres Frühstück.

Kurz danach fliegt sie ein „Guten Morgen“ an und „Du hast eine Leuchtkraft, die nicht zu übersehen ist.“

Lachend steht Vera vor dem Tisch, in einem rosa Jogging-Anzug, stellt ihr Tablett ab und nimmt Platz.

„Dir sieht man den Neuling an, also den Neuling in so einer Einrichtung. Oder hast du etwa keinen Jogging-Anzug mitgebracht?“

„Wahrscheinlich war ich noch zu müde, um mir Gedanken über mein heutiges Outfit zu machen. Aber ja, ich habe Sportkleidung dabei. Wird die denn heute schon gebraucht? Wenn ich das Schreiben der Klinik richtig verstanden habe, geht das Programm erst morgen los.“

„Läufst du zu Hause in der Wohnung morgens auch in einem Kleid herum?“

„Nein.“

„Siehst du. Du bist jetzt hier zu Hause. Auf Zeit. Aber mach dir nichts draus. Es ist richtig, es geht erst morgen los.“

Sie tauschen sich über die verbrachte Nacht aus, über das spärliche Frühstück und das Programm des Tages, das bei beiden ähnlich aussieht. Zunächst die Verwaltung, die Anmeldung, das Abgeben der Überweisungspapiere, das Vorgespräch mit dem Chefarzt und alles, was danach noch kommen könnte, als auch Lisette grußlos aufschlägt.

„So ein Leuchten am frühen Morgen. Willste ausjehn und uns im Stich lassen?“

„Das Thema haben wir schon abgeräumt. Bist spät dran.“

Lisette steckt in einer abenteuerlichen Baumwollhose, die wohl so nicht zu kaufen ist, die muss sie sich selbst erarbeitet haben und einem schmuddeligen langarmigen Shirt, gleich zwei Frühstücksteller auf dem Tablett.

„Darf man das?“ fragte Vera, auf das Tablett deutend.

„Weiß nich. Mir auch egal. Ich hab Hunger.“ Womit sie beginnt, Wurst und Käse auf die Brotscheibe zu legen, mit der zweiten Brotscheibe abzudecken und in Hamburgeressmanier zuzubeißen. Betty nutzt die Gelegenheit sich zu verdrücken, müsse sich umziehen, unauffällig machen, was Lisette zu einem Lachen veranlasste: „Schaffst du nie.“

 

Sich der Masse dressmäßig angepasst, mit ihren, von Professor Theissen ausgestellten Papieren in der Hand, begibt sie sich zur Anmeldung, vor der sich bereits weitere Patienten angesammelt haben. Sie gesellt sich zu Vera, die ihr sagt, sie müsse sich drinnen anmelden, damit sie aufgerufen werden könne. Gut, macht sie und dann heißt es, warten. Betty sucht sich einen freien Sitzplatz, ohne Lehnen, nimmt Platz. Da neben ihr ein Stuhl frei ist, setzt sich Vera um.

„Eine Menge los hier.“

„Verständlich. Es ist Montag. Frische Nahrung für die Therapeuten.“

„Warst du schon einmal in einer REHA?“

„Nein, nur in Kliniken und REHA ist nichts anderes als Klinik, nur ohne Operation.“

Die Anmeldung verläuft zügig, eingespielter Betrieb, so dass, kaum dass sich Vera gesetzt hat, ihr Aufruf kommt. Betty versucht abzuschätzen, wie lang sie noch warten muss, bestimmt zehn Personen vor ihr, mindestens eine halbe Stunde, wenn nicht mehr. Sie steht auf und wandelt im Flur, betrachtet sich die Schildchen neben der Zimmertür, anscheinend alles Verwaltungsbüros, keine Sprech- oder Therapiezimmer. Sie schlendert zurück, wo sie eine mürrisch dreinschauend Lisette erblickt, ausweichen nicht mehr möglich also geht sie direkt auf sie zu, sagt ihr, dass sie sich drinnen anmelden müsse, was Lisette wortlos hört, ausführt und neben Betty schwerfällig Platz nimmt.

„Ich hass warten.“

Vera kommt aus der Anmeldung, ein Papier in der Hand, hebt es an, winkt damit und meint, jetzt gehe es auf Rundkurs, messen, wiegen, Blut abgeben und zieht von dannen.

„Haste gesehn, da vorn ist ne Cafeteria, da kriegste, was beim Frühstück gefehlt hat.“

„Nein habe ich nicht gesehen. Es liegt mir auch fern, deren Angebot zu nutzen.“

„Wenn das Mittagessen so is wie das Frühstück, werd ich dort Stammkunde.“

„Lisette, das ist keine gute Idee. Du bist hier zum Ab- und nicht zum Zunehmen.“

„Hm.“

Betty wird aufgerufen, betritt das Zimmer, wird gebeten, auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen, reicht der Damen dahinter ihre Papiere und die CD mit den CT-Aufnahmen ihres Kopfes. Die Frau schaut sich alles an, gibt etwas in ihren Computer ein, druckt einen Zettel aus, erklärt Betty, dass sie die verschiedenen aufgeführten Zimmer aufsuchen solle. Alle Zimmer befänden sich im Erdgeschoß. Um 14:00 Uhr sei Besprechung bei Doktor Peters und um 16:00 Uhr würde Frau Kahlmann die Hausführung nachholen. Mit dem Laufzettel erhält Betty einen Speiseplan für vierzehn Tage. Sie könne wählen, zwischen vegetarisch und leichte Vollkost ohne Schwein. Warum ohne Schwein, hätte sie fragen können, ahnt aber, dass die Antwort sie nicht zufrieden stellen würde, also lässt sie die Frage in ihrem Kopf ruhen. Betty bedankt sich, verlässt das Zimmer, lächelt Lisette zu und startet zu ihrem Rundgang, beginnend mit Zimmer 116, was immer sie dort erwarten wird.

 

Betty wird, gewogen und vermessen. Muskelmasse, Körperfettanteil, Wassermenge und viele weitere Messwerte via Körperanalyse festgestellt. Blut wird ihr entnommen, ein EKG erstellt, mittels einem EEG die Gehirnströme gemessen. Alle Ergebnisse und Erkenntnisse wandern säuberlich aufgeschrieben in ihre im Computer abgelegte Patientenakte. Mit warten und Datenerheben verbringt sie den Vormittag. Sie hat das halbe Erdgeschoß durchwandert, schaut sich die Türbeschriftungen der restlichen Räumlichkeiten an, Therapieräume, Sprechzimmer und mehrere Räume für die Physiotherapie. Im Eingangsbereich gibt es eine Bibliothek, ein Fernsehzimmer, ein Lesezimmer, bestückt mit aktuellen Tageszeitungen, drei Shops, einen für Sanitärartikel, einen für Sportartikel und einen kleinen Einkaufsshop, der überwiegend Hygieneartikel im Angebot hat und natürlich die Cafeteria, die Lisette erwähnt hat. Um die Ecke dann noch ein Friseurladen. Im Prinzip alles da, um das Haus nicht verlassen zu müssen, aber Betty steht der Sinn nach anderem.

Die grauen Mäuse beleben bereits den Speisesaal, als sich Betty dazugesellt. Laut Plan gibt es für die Vegetarier, Vollkornbrätling auf Käsesauce, Dampfkartoffeln und Chinakohlsalat, zum Nachtisch Obstsalat. Sie nimmt ein Tablett in Empfang, nachdem sie ihren Wunsch geäußert hat, sucht sich einen Platz, sieht eine winkende Hand, der sie folgt und an dem Tisch, an dem Vera sitzt, einen Platz findet. Kurzer Austausch über den Ablauf des Vormittages, der bei Vera ähnlich dem von Betty verlief.

„Ich habe denen alle Daten mitgebracht, alles schon einmal untersucht und festgehalten, sogar erst vor kurzer Zeit, aber nichts da, Plan ist Plan. Wie einst.“

„Ist eine Klinik, Vera, da zählt der Standard und nicht die individuellen Bedürfnisse.“

Auf Veras Teller ruht ein Hirtensteak in Knoblauchsauce, Reis und Krautsalat, von dem ein betörender Duft ausgeht. Vollkost, Vera durfte zunehmen, musste dies sogar. Schlecht für Betty, Anblick und Duft vermiest ihr die eigene Mahlzeit. Egal, wird sie sich daran gewöhnen müssen.

Nach dem Essen kurze Verschnaufpause, bevor sie zur Besprechung mit diesem Doktor geht. Doktor Peters stellt sich vor. Im Zimmer sitzen zwei weitere Herren und eine Frau, die Herren in Sportkleidung, die Frau in bequemer Alltagskleidung und diese Herrschaften stellt Doktor Peters nun vor.

Zu den Anwesenden gewandt: „Das ist Frau Sundberg. Kriminalpolizistin mit einem Schädel-Hirn-Trauma. Üble Sache, aber Frau Sundberg scheint ein Dickschädel zu sein, der ihr vermutlich das Leben gerettet hatte. (Zu Betty gewandt) Und dies, Frau Sundberg, ist unsere Victoria Seelmann, unsere und Ihre Ernährungsberaterin. Ihre Gesundheitswerte sind katastrophal, dass wissen Sie sicher. Ihr Körperfett ist ungleich verteilt, ebenso die Muskelbildung. Ihr Cholesterinwert zu hoch, ebenso ihr Langzeitblutzuckerwert. Sie haben einen zu hohen Blutdruck und zu viel Wasser in Ihrem Körper. Die gute Nachricht ist, das bekommen wir hin und Victoria hilft Ihnen dabei, in dem Sie ihnen nicht nur erklärt, wie Sie sich richtig ernähren, sondern auch Ihnen praktisch in unserer Küche zeigt, wie Sie Ihr Essen richtig zubereiten. Kerstin Hemhold, leider im Moment verhindert, wird Sie als Physiotherapeutin betreuen und Ihnen das Wasser aus dem Leib treiben. Herbert Heinz (deutet auf ihn) wird Ihnen dabei helfen, unfallfrei zu laufen oder anders ausgedrückt, er wird Sie wieder ins Gleichgewicht bringen. Doktor Hinrichsen ist unser Chefarzt für die Neurologie. Er wird Sie wöchentlich untersuchen und Ihr Trainingsprogramm dem Genesungsfortschritt angleichen. Meine Herrschaften ich danke Ihnen.“

Womit er die Anwesenden in ihre Wirkungsfelder entlässt.

„Unsere Logopädin hätte ich fast unterschlagen, auch sie leider verhindert, Franziska Pleuel. Sie sehen also, Sie werden rundum bestens versorgt. Haben Sie Fragen?“

 

Nein, Betty hat keine Fragen, ist mit allem einverstanden, weil sie eh nicht versteht, was die einzelnen Herrschaften mit ihr anstellen werden. Doktor Peters überreicht ihr einen Plan, der ihre Behandlungen und Therapien nach Ort und Stunden auflistet. Sie überfliegt den Plan. Die Einzelheiten wird sie sich später auf ihrem Zimmer ansehen. Der Doktor wünscht ihr einen angenehmen Aufenthalt und mahnt Betty an, der Erfolg der Behandlungen hänge auch entscheidend von ihr ab (Hat sie schon einmal gehört.). Ihr Wille sei alles. Damit verlässt Betty, leicht geblättet, das Sprechzimmer des Doktor Peters. Bis zur Hausführung hat sie noch Zeit, geht vor zur Caféteria und ordert einen grünen Tee, mit Stieraugen beäugt von Lisette, die an einem Tisch im Hintergrund sitzt und von Betty zunächst nicht bemerkt wird. Also balanciert sie ihren Tee zu Lisette, die vor einem Pott Kaffee und einem halb vernichteten Croissant sitzt.

„Wie war das? Du wollst das Angebot von hier nich nutzen?“

„Tue ich auch nicht.“

„Und was is das vor dir?“

„Ein grüner Tee.“

„Willst du mich verarschen?“

„Nein. All das hier nutze ich nicht, werde ich nicht nutzen, bis auf den Tee, also kannst du nicht von Angebot nutzen sprechen.“

„Was is das für ein Quatsch? Versteh ich nich.“

„Macht ja nichts. Und wie sieht dein Programm für diese Woche aus?“

Der Themenwechsel zu abrupt für Lisette und ihr Programm, eine Zumutung. Woher soll sie die Kraft nehmen, das durchzustehen, was man von ihr verlange und helfen würde dies sowieso nicht. Sie habe schon so viel durch und nichts habe geholfen. Mit Stöcken solle sie durch die Gegend laufen, im Wasser Übungen machen, Fahrrad fahren, auf so einem Apparat, keine Ahnung was so etwas bringen solle.

„Ich kenne das auch. Ich habe zig Ärzte und zig Diäten hinter mir, bin immer wieder in alte Gewohnheiten zurückgefallen. Die Klinik, habe ich mir gesagt, ist meine wohl letzte Chance und die werde ich nutzen, so hart es auch werden wird. Doktor Peters sagte mir, der Wille sei alles. Du musst an den Erfolg der Behandlung glauben und wollen, dass dein Zustand sich verbessert, und du schaffst das.“

„Das hat die Angie auch jesagt und was hahm wir geschafft? Nichts hahm wir geschafft. Es kommen immer mehr.“

Nein, Lisette ist ihre eigene Welt. Die Therapeuten werden sich an ihr abmühen. Und sie ist keine Therapeutin, keine Psychotherapeutin, denn so eine bräuchte Lisette. Die Frau ist ohne jede Hoffnung, ohne Ziel, ihr Kopf verschlossen gegen alle Vernunft. Argumentenresistent. Betty hat ihren Tee schnell getrunken, zu heiß getrunken, aber egal, bevor sie hier gegen eine Mauer spricht, zieht sie sich auf ihr Zimmer zurück, hat aber Lisette noch im Kopf. Ihr Aussehen eine Bürde, die ihre Persönlichkeit beherrscht. Durch das sich gehen lassen, fällt sie immer tiefer in die Ausweglosigkeit. Wo führt dies hin? Wäre sie geworden, wie sie ist, wenn sie im Westen gelebt hätte? Wahrscheinlich ja. Sie hat resigniert, sich abgeschrieben, das hat weder mit Ost noch mit West zu tun. Oder doch nicht?

 

Die Sonne lugt ab und zu zwischen den Wolken hervor, leichter Wind, von der See herkommend und eine angenehme Temperatur, gut. Betty nutzt die Wetterlage, sich auf ihren Balkon zu setzen, hinüber zu See zu schauen, Lisette aus dem Kopf zu bekommen und sich den Abendspaziergang mit Vera auszumalen, was eine gewisse Vorfreude in ihr auslöst. Allein der Gedanke, barfuß durch den Sand, umspült von kühlem Wasser, zu laufen, lässt ihre Laune ansteigen. Eine neue Erfahrung machen. Der Tee drückt auf ihre Blase, also entleeren, wieder zurück auf den Balkon, liest sich ihren Ablaufplan durch. Die Tage starten mit Nordic-Walking, gut bekommt sie hin. Propriozeptionstraining? Was das? Physiotherapie, drei Mal die Woche Wassergymnastik (von Schwimmen nichts zu lesen, gut so), und drei Mal die Woche Ernährungstherapie, Krankengymnastik. Die Tage von 08:00 Uhr bis 16:00 Uhr gut ausgefüllt, kurzweilig. Noch kurz, bevor sie Vera abholen wird, ein Telefonat mit ihrer Großmutter, der Betty mitteilt, dass sie sich hier wohl fühle, ein volles Programm habe, sogar eine Ernährungsberatung bekomme, die Landschaft hier herrlich sei, sie gleich einen Gang an den Strand entlang unternehmen werde, mit einer Frau, Vera, die sie auf der Herfahrt habe kennengelernt.

Ihre Großmutter freut es, dass sie alles so positiv aufnehme, mahnt aber Betty an, das Programm gemächlich anzugehen, vor allem anständig zu essen.

„Omi, ich habe ein paar gesundheitliche Probleme und die hängen mit meiner bisherigen Ernährung zusammen, da ist nichts mit anständig, nur mit vernünftig.“

„Ach was, der Mensch muss essen, und zwar, das wonach ihm ist.“

Nun ja, Omis Einstellung zum Leben, hat auch leicht reden, hatte weder Gewichts- noch gesundheitliche Probleme gehabt.

Vera klopft bei Betty an, holt sie ab für die Hausführung, die Frau Kahlmann für die verspäteten Neuankömmlinge durchführt. Am Treffpunkt von Lisette nichts zu sehen. Als Betty Vera fragt, ob sie Lisette holen solle, antwortet diese mit einem klaren Nein. Sie sei alt genug, ihre Entscheidungen selbst zu treffen. Nur nicht reif dazu, denkt Betty. Frau Kahlmann erklärt die Einrichtungen, Schwimmbad steht zur Verfügung, wenn keine Trainings durchgeführt werden, ebenso der Fitnessraum mit seinen diversen, seltsam aussehenden Geräten, nennt Öffnungs- und Schließzeiten, führt zu den Shops, erklärt grob, was dort zu kaufen sei und weiter zu den Therapieräumen. Ein kleiner Rundgang außerhalb des Hauses folgt, zu sehen, die Kneipp-Anlage, den Ruhepunkt, eine rundliche Sitzgruppe aus massivem Holz, rundum von hohem Bambus umwachsen. In einem der rietgedeckten Häuser ist die Wäscherei untergebracht, wo die Herrschaften ihre schmutzige Wäsche waschen lassen können, gegen Gebühr selbstverständlich. Sie wünscht allen einen gesunden Aufenthalt und stehe jederzeit für Fragen und Anliegen zur Verfügung.

Damit ist auch dies erledigt.

„Bis zum Abendessen ist noch etwas Zeit. Wollen wir jetzt schon an den Strand gehen oder erst nach dem Abendessen?“ fragte Betty.

„Sowohl als auch. Kosten wir aus, was uns geboten wird.“

Sie überqueren die Dorfstraße, schreiten durch den von Ginster, Buschröschen, kleinen Tannen, Sanddornsträuchern und anderen Büschen umgegebenen Dünendurchgang und stehen vor dem offenen Meer, blicken zum Horizont, nur leichte Wellen, nichts auf dem Wasser zu sehen. Der Strand fast menschenleer, nur weiter unten, Richtung Ahrenshoop sind Menschen zu erkennen.

„Ein schöner Ort. Ich bin froh, hier zu sein, dass Meer zu erleben. Diese Luft, diese Geräusche, diese Stimmung. Vor einem halben Jahr hätte ich mir nicht träumen lassen, dies zu erleben.“

„Es freut mich für dich. Lass uns etwas am Strand entlang flanieren, darauf freue ich mich seit gestern Abend.“

 

So wie sie es sich ausgemalt hatte, ist es auch. Betty hat ihre Sportschuhe und Strümpfe ausgezogen, die Hosenbeine hochgeschürzt und läuft auf dem weichen Sand dem Wasser entgegen, taucht ihre Füße ein, lässt sich von den sanften Wellen umspülen, atmet tief ein und aus. „Ach Vera, wie geht es uns gut.“

„Na dann warte mal ab, wie der Tag morgen verläuft, wahrscheinlich geht es dir dann nicht mehr so gut.“

„Ich rede nicht von morgen, sondern von jetzt, von diesem Augenblick. Was morgen ist, wer weiß. Das wird sich zeigen…Meinst du, wir sollten Lisette ermuntern, mehr für sich zu tun? Ich habe versucht mit ihr zu reden, aber sie ist resistent gegen alle Argumente. Sie hat sich längst aufgegeben und irgendwie fühle ich mich nicht wohl, wenn ich daran denke…“

„…Hör auf, über sie nachzudenken. Du wirst nichts, vor allem nicht sie, ändern können. Wenn du dich jeden Tag so im Spiegel siehst, kannst du nur resignieren…“

„…Ich sehe mich jeden Tag im Spiegel und habe nicht resigniert.“

„Tut mir leid Betty, so war das nicht gemeint. Lisette hat eine Krankheit, die die Ärzte vor Rätsel stellt. Ihr Körper ist ein Unikum, eine Grausamkeit. Du bist dick, aber weit entfernt deinen Körper eine Grausamkeit nennen zu müssen und, du hast die Chance, deinen Körper zu ändern, den hat Lisette so gut wie nicht. Selbst eine Operation wird ihr nicht viel helfen. Ich versteh sie, ich war ja selbst in einem Zustand, wo ich nicht an den Erfolg einer Operation glaubte.“

Nachdenklich schreiten sie, Vera im Sand, Betty im Wasser, voran, ohne Ziel, einfach so.

Gelegentliche Blicke zu Vera, erwartet Betty, das Vera weiterspricht, sie kennt dieses Verhalten, das in sich gehen, etwas tief unten Liegendes hochholen, es rauslassen, wie in manchem Verhör, wenn der Beschuldigte merkt, da führt kein Weg mehr hinaus, dass sich ihm kein Ausweg öffnet und schließlich anfängt zu sprechen. Doch Vera schweigt weiter.

„Komm lass uns irgendwo absitzen und ein wenig träumen.“

„Träumen? Von was?“

„Zum Beispiel von einem Leben nach der REHA.“

Nein, nicht Veras Thema. Vera bewegt sich auf die Düne zu: „Komm, wir modellieren uns eine Dünensandsitzbank. Unsere Traum-Bank.“

An der Düne angekommen beginnt sie mit den Händen Sand von der Düne zu schaufeln, gräbt eine Kerbe, eine Sitzfläche entsteht, die Fläche dahinter zum Anlehnen, streicht den Sockel glatt, hebt vor der Sitzfläche eine Kuhle aus, schaut auf Betty: „Was ist? Muss ich alles allein machen?“

„Du bist doch schon fertig. Oder willst du auch noch Lehnen anbringen?“

Sie lachen, setzen sich.

„Ein richtiger Zweisitzer. Kein Platz mehr für Lisette?“

„Kein Problem, wenn sie mitkommt, erweitern wir.“

Ihre Augen sind in die Ferne gerichtet.

„Früher, als ich ein Kind war, dachte ich immer, die Welt fällt hinter dem steil abwärts, was ich gerade noch so erblicken konnte. Das Weltende. Da war eine Straße, eine gerade Straße, die über eine Kuppe führte. Wenn ich diese Straße hochblickte, bekam ich höllische Angst, dass, wenn ich dort ankäme, ich tief stürzen würde. Als Kind bin ich nie die Straße bis zur Kuppe hoch.“

„Aber du hast diese Angst überwunden.“

„Ja. Der Kindergarten und die Grundschule waren Wege, die ich gehen musste und irgendwann habe ich kapiert, dass hinter dem, was ich nicht sah, es immer weiterging. Und jetzt weiß ich, dass dort hinten Dänemark liegt oder vielleicht Schweden.“

Und so schwelgen sie in Kindheitserinnerungen bis es Zeit wird, zurückzugehen, um das dürftige Abendessen einzunehmen.

 

Bevor sie erneut zum Strand wollten, ruft Betty bei Lusi an, die auch gleich abnimmt.

„Moin Betty, na, noch Kraft zum Telefonieren. Die haben dich wohl nicht richtig durch die Mangel gedreht.“

„So gehässig kenne ich dich gar nicht. War dein Tag so schlimm?“

Lusi lacht durch die Leitung, nein, gibt ja keine Leitung, sie lacht durch die Luft.

„Nein, war er nicht, war wie immer.“

„Also doch schlimm.“

„Jetzt hör auf. Du willst sicher hören, wie weit wir gekommen sind. Gut, das werde ich dir sagen, aber, hör gut zu, dass ist das Letzte, was ich dir zu der Sache sagen werde. Danach machst du deine REHA und kümmerst dich um dich und deine Gesundheit. Verstanden?“

„Du willst also, dass meine Gehirnzellen austrocknen. Ist es das?“

„Schluss jetzt. Ende der Diskussion. Also, wir haben angefangen, die kleinen Imbissbuden, die Döner-Läden und die Pizza-Imbisse abzuklappern, und zwar in den Außenbezirken beginnend. Noch ohne eine Spur. Hembach fand deine Gedanken nachvollziehbar. Hat natürlich mit dem Kopf geschüttelt, diese Betty vor sich hin gebrummelt. Die Ermittlungsarbeit zu den Sicherheitsunternehmen hat er an die Kollegen von der Wirtschaft delegiert und die Gemälde sind keine Gemälde, nur Drucke, ohne Wert. Sehr dürftig, dafür einen Menschen fast umzubringen, steht dazu in keinem Verhältnis. Wir suchen mit Hochdruck.“

„Könnt ihr nicht selbst die Sicherheitsunternehmen überprüfen, könnte Mentel machen.“

„Betty, wir sind drei Leute. Wir haben genug damit zu tun, das Umland nach Verstecken abzusuchen.“

„Ja ja, ihr macht das schon.“

„Von deiner Vermutung, dass wir es mit Georgiern zu tun haben, hält Hembach übrigens nicht viel. Er glaubt an Rumänen, Bulgaren oder Albanern, die Georgier-Spur ist ihm zu eingeschränkt. Wobei, er kümmert sich kaum um den Fall, anscheinend schon längst in seinem Ruhestand. Er lässt mich und Peter machen. Wir sollen das tun, was wir für richtig halten, ansonsten räumt er seinen Schreibtisch aus. Unser neuer Chef soll in ein paar Tagen hier aufschlagen. Ich bin schon gespannt und Petersen ist auch schon weg, wurde nach Flensburg versetzt. Sein Nachfolger ist irgend so ein Typ aus dem Innenministerium, der aber noch etwas auf sich warten lässt. Also, wenn du mich fragst, da wird nichts besser. Hembach hat Peter, Mentel und mich zum Essen eingeladen. Ein Abschiedsessen. Ich glaube ich werde ein paar Tränen vergießen.“

„Tu das, tue es auch für mich. Dem Einbruchsopfer geht es immer noch schlecht?“

„Ja, er liegt immer noch auf der Intensivstation. Der Arzt meinte, es stehe sehr ernst um ihn. Er hat mehrere Messerstiche im Bauchbereich und der Brust und wurde zudem anscheinend von einem schweren Gegenstand auf den Hinterkopf getroffen.“

„Das heißt, die haben ihn zu zweit attackiert.“

„Ja, so sieht es aus.“

„Gut, ich werde mich dann deinen Anweisungen fügen und die Sache nicht mehr ansprechen. Ich hoffe, ihr bekommt die Typen zu fassen. Grüße alle von mir, natürlich besonders den Chef. Wenn du willst, darfst du ihn von mir drücken. Melde dich, wenn du meinst, dich melden zu müssen.“

„Halte die Ohren steif. Wir hören uns.“

Da macht er also wirklich Schluss, der Chef. Was er wohl anfangen wird mit der vielen Zeit, die er jetzt zur Verfügung hat. Betty überlegt, was sie machen würde, aber ihr fällt nichts ein, einfach nichts. Das kann nicht sein, denkt sie, sie hat wirklich keine Ahnung, was sie außer Polizistin sein machen könnte. Bedenklich, sehr bedenklich. Hm, denkt sie vielleicht zur sehr von der Vergangenheit geprägt nach? Sollte sie es wirklich schaffen, ihr Gewicht zu halbieren, was würde das bedeuten? Nun, ihr würden Möglichkeiten eröffnet, die sie aufgrund ihrer Figur bisher nicht in Erwägung gezogen hatte.

Es klopft an der Tür. Vera steht davor für die zweite Runde am Strand.

 

Sie verlassen die Klinik, schlendern hinüber zum Strand, vergleichen ihre Therapiepläne und erkennen nur drei Gemeinsamkeiten, das morgendliche Nordic-Walking, das Propriozeptionstraining, wie Vera auf Bettys Nachfrage erklärt, das Gleichgewichtstraining, was allerdings individuell durchgeführt werde sowie die Krankengymnastik.

„Schade, aber wir haben ja die Abende für Sprechübungen. Mit dem Logopäden hast du nichts zu tun?“

„Nein. Ich habe ja keinen Schlag auf den Kopf bekommen.“

Sie lassen sich auf ihrer Dünensandsitzbank nieder. Der Strand geleert von Badegästen, nur wenige Spaziergänger unterwegs.

„Was würdest du machen, wenn du viel Zeit hättest? Hast du einen Traum, den du dir dann erfüllen möchtest?“

„Was ist das für eine Frage?“

„Halt so ein Gedanke, der mir durch den Kopf geht. Mein Chef geht in den Ruhestand und ich überlege, wie er wohl mit der vielen Zeit umgeht, die er jetzt haben wird und mich gefragt, was ich mit der Zeit anfangen würde. Und das Seltsame ist, mir fiel nichts ein, was ich gerne machen würde. Geht es dir genauso?“

„Hm, die Frage habe ich mir noch nicht gestellt und werde sie mir auch nicht stellen müssen. Ich habe alle Zeit der Welt, wohlgemerkt zurzeit, was sich ja ändern kann, falls ich wieder als Erzieherin arbeiten würde. Aber das ist noch so fern. Aber wenn ich Zeit hätte, würde ich sie meinem Garten spenden. Dieser Garten und das dazugehörige Haus war das, was ich immer wollte. Mein Traum. Mehr brauche ich nicht.“

„Du willst nicht irgendwohin reisen. Zu einem Sehnsuchtsort oder etwas ähnlichem?“

„Reisen war kein Thema im Arbeiter- und Bauernstaat. Ich habe die Bilder gesehen von überfüllten Stränden, von heißen Sommern gehört. Warum sollte ich mir so etwas antun? In meinem Garten scheint auch die Sonne und Hitze brauche ich nicht. Um ehrlich zu sein, ich verstehe diese Manie der Menschen nicht, irgendwohin zu reisen, womöglich exotisch, dient alles nur dem Ego, genauso wie Protzautos.“

„Hm, so lässt sich das auch sehen. Ich bin auch nie groß verreist, was meiner Figur geschuldet ist. Lieber habe ich mich in das Haus meiner Großmutter zurückgezogen, mein Schneckenhaus, als das ich mich an einem Strand abgelegt hätte. Aber den Eifelturm würde ich schon ganz gerne von unten betrachten.“

Während die zwei miteinander sprechen nähern sich zwei kräftige Gestalten, am Strand entlangwatend. Kommen immer näher.

„Sieht aus, als rollte da Lisette heran.“ Und je näher die zwei Gestalten kommen, desto deutlicher zeigt es sich, dass die Gestalt tatsächlich Lisette ist, begleitet von einer Frau, die wie eine Kopie von Lisette wirkt.

„Lisette, wo kommt ihr denn her? Sag nur, ihr habt eine gastronomische Erkundungsreise unternommen?“ will Vera wissen.

Lisettes Blick ist auf die beiden gerichtet, die Dünensandsitzbank, den Zweisitzer. Betty ahnt, was Lisette sich denkt, aber nicht sagt.

 

„Wir, also Leoni und ich, ham das Dorf erkundet, also ne Pizzeria kannste verjessen, nur Fisch und schnicke Restaurants.“

„Na ja“, meint Vera, „Restaurants brauchst du ja nicht. Wir haben doch eine schöne Kantine, sind voll versorgt.“

„Du kennst mein Magen nich. Der hat Ansprüche. Die muss ich befriedjen, sonst wird er bös.“

Vera schmunzelt, während Betty nachdenklich auf die beiden Dicken schaut. Leoni, Lisettes Double, hat eine gänzlich andere Mimik als Lisette. Sie strahlt Freundlichkeit aus, wirkt in sich ruhend, zufrieden, lächelt unmerklich vor sich hin, sagt kein Wort. Bettys Blick fällt auf Lisettes Umhängetasche, deren Ausbeulung anzusehen ist, was sie beinhalten: gefüllte Dosen, die einer gesundheitsfördernden Ernährung abträglich sind. Innerlich schüttelt Betty den Kopf über so viel Unvernunft. Der Frau ist schwerlich zu helfen.

„Wir gehen rüber, s wird kalt.“

Damit stampfen die beide durch den Sand, durch den Dünendurchgang und sind außer Sicht. Warum ist Lisette hier? Anscheinend habe sie nicht das geringste Interesse, an ihrem Zustand etwas zu ändern. Was sei das für eine Einstellung zu sich selbst, verstehe sie nicht, meint Betty. Müsse sie auch nicht verstehen, es sei Lisettes Sache, das sei die persönliche Freiheit. Also die, die mit der Wende kam.

Gut, so kann es Betty auch sehen. Also wechseln sie das Thema, Vera erzählt aus ihrem Leben auf dem Hof, von ihrem Mann, der fernab von ihr für die Sicherheit auf einer Öl-Plattform zuständig ist, ihren Plänen nach der REHA. Pläne, die eigentlich die sind, die sie die ganze Zeit ausführt, bis auf den kleinen Hofladen, den sie einrichten will, sobald sie wieder Gemüse anbauen, Obst ernten könne, Äpfel, Birnen, Pflaumen, im Juni Kirschen. Der Baumbestand auf dem Hof sei noch jung. Dann schwenkt sie abrupt auf Betty um und fragt: „In deinem Beruf hast du es bestimmt schon mit Leichen zu tun gehabt.“

Was Betty bejaht, und erzählt von den Leichen, die sie nicht gefunden haben und nie finden werden, clever entsorgt, und den Leichen, vor denen sie stand.

„Das sind viele Leichen für eine mittlere Stadt und so kurzer Zeit.“

„Stimmt. Wir hatten in einem Monat den Zehnjahresdurchschnitt übertroffen. Kommt selten vor, so eine Häufung von Todesfällen. Ist aber passiert. Wenn du das Pech hast, einen Serienkiller in der Stadt zu haben, ist der Jahresdurchschnitt schnell im Eimer.“

„Was wohl im Kopf von so einem Menschen vor sich geht? Lässt sich das erklären?“

„In dem Fall nicht. Er ist selbst tot. Und erklären? Im Grunde kann nur der Täter erklären, warum er seine Taten verübt hat. Aber ich zweifele, selbst wenn er gesteht und seine Taten begründet, dass dies die Erklärung ist. Er weiß es wahrscheinlich selbst nicht. Die meisten dieser Verbrechen sind Triebtaten und wie dieser Trieb tickt, fällt selbst erfahrenen Psychologen nicht leicht zu erklären.“

„Wenn der Tod dir so nah ist, machst du dir da keine Gedanken über den eigenen Tod?“

„Nein, wenn du diese Gedanken zulässt, würdest du für den Beruf nicht taugen. Gedanken über den Tod habe ich mir aber trotzdem gemacht, nachdem ich aus dem Koma erwacht bin und mir langsam gedämmert ist, wie haarscharf ich an ihm vorbeigeschrammt bin. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es wäre, nicht mehr aufgewacht zu sein. Wer um mich trauert, habe aber schnell gemerkt, dass dies unsinnige Gedanken sind, die zu nichts führen, außer Trübsinn.“

Vera lächelte still vor sich hin: „Ja, so ging es mir auch. Genau so.“

Es dunkelt, die Spätsommerkühle macht sich bemerkbar. Sie brechen auf, gehen zurück in die Klinik ihren Gedanken anhängend.

Auf ihrem Zimmer zurück macht sie sich sogleich bettfertig, nimmt sich den Zweig und beginnt Marie Antoinette zu lesen. Für Maria Stuart hat Betty eindeutig Sympathie entwickelt, dank der subtilen Schreibweise Zweigs, der keine Partei ergriff, aber zwischen den Zeilen auf Seiten der Maria stand. Gespannt, wie dies bei Marie Antoinette wird.

Ganz gleich, wie beschwerlich das Gestern war, stets kannst du im Heute von Neuem beginnen. (Buddhistische Lebensweisheit)

 

Der erste Programmpunkt am folgenden Morgen ist das Nordic-Walking, was anscheinend für alle Patienten gilt, denn auf der Sammelfläche hinter der Klinik stehen gut hundert sich munter unterhaltende Leute herum, links und rechts die Hände fest ihre Stöcke umklammernd. Die Neuankömmlinge, deutlich erkennbar, an den fehlenden Stöcken, zumindest bei manchen, so wie bei Betty, denn die Stöcke gilt es noch zu kaufen, wie der junge Mann, der sich als Heinz vorstellt, ihnen mitteilt.

Natürlich hatte Betty schon von Nordic-Walking gehört, mitunter auch Frau oder Mann mit diesen Stöcken durch die Gegend hat laufen sehen, aber so recht den Sinn dieser Übung hatte Betty nicht verstanden. Die Stöcke waren für sie mehr ein Symbol für den Wintersport, den sie nie betrieben hatte und jetzt mit den Stöcken durch die Natur stöckeln, na ja, ist grenzwertig. Letztlich gehörte es aber zum Programm, dem Betty sich bereitwillig unterordnet, sich ihren Teil denkt.

Während das Gro der Patienten in den gewohnten Parkour startet, führt Heinz die Neuankömmlinge zum Shop mit den Sportartikeln, erklärt wie die Stöcke auszuwählen sind, eine junge Frau verteilt die Stöcke, angepasst an die Körpergröße der Nutzer, diese müssen ihr Zimmernummer angeben und fertig, Rechnung folgt.

Wieder draußen, erklärt Heinz, wie die Stöcke zu handhaben sind, spricht von der Kreuztechnik, weil die Schritte und der Stockeinsatz dabei diagonal verlaufen. Die Stöcke sollen beim Walken schräg nach hinten seitlich des Körpers in einem Winkel von 60 Grad aufsetzen. Das rechte Bein vorschwingend, den Fuß nachziehend, so dass die Zehen nach oben zeigen. Der linke Arm schwingt gebeugt nach vorne, der rechte Arm stößt den Stock in die Erde, Kraft wird in Bewegung umgesetzt, und so weiter. Was er sagt, setzt er gleich in Aktion um, damit seine neuen Schützlinge sehen, wie aus Worten Handlung wird.

„Alles klar, dann los!“

Ein Schnellkurs in Nordic-Walking und die kleine Gruppe setzt sich in Bewegung. Betty hat zwar zugehört, aber nicht viel von dem verstanden, was Heinz da lehrte. Egal, sie schießt mit den anderen los, folgt, macht, wie es die anderen Patienten machen, Stock in den Boden rammen, anheben, wieder einrammen, die Arme schwingen, aber sie kommt kaum nach, fällt zurück, ausladende Schritte sind Betty unbekannt. Heinz läuft neben der Gruppe her, spornt seine neuen Schützlinge an, korrigiert hier und da die Haltung, springt vor, wieder zurück, treibt die Hinterherlaufenden an, zu denen auch Betty gehört, der die ungewohnten Bewegungen zu schaffen machen. Vera, aus Solidarität an der Seite Bettys, obwohl sie vorne mitstürmen könnte.

„Hast du Lisette gesehen?“

Betty keucht ein knappes „Nein.“

„Meine Güte Betty, wie jagst du nur Verbrecher? Kein Wunder, dass dir alle Bösewichte durch die Lappen gehen.“

„Ich fange die mit dem Kopf, Vera, nicht mit den Füßen.“

 

Vera lacht, schwingt weiter ihre Stöcke, die Betty, je weiter sie vorankommt, schleifen lässt. Nach vier Kilometern, durch das Wäldchen hinter der Klinik trifft sie am Ausgangspunkt keuchend und schwitzend ein. Kurze Pause, dann geht es weiter im Plan, Wassergymnastik, ohne Vera, dafür steht Lisette bis zur Brust im Wasser, sich umschauend, aus welcher Richtung die Gefahr droht. Als der Trainer erscheint, weiß sie, die Gefahr droht von der Seite.

Sie schiebt sich in die hintere Reihe zurück, alles im Blick und keiner sieht sie, verschränkt ihre Arme vor der Brust und betrachtet, was der Trainer am Beckenrand vollzieht. Er schwenkt, klatscht die Hände über dem Kopf zusammen, hebt das rechte, dann das linke Bein, was Lisette entgeistert verfolgt. Betty hat sich ebenfalls zurückgezogen, nicht um sich zu verstecken, sondern weil sie etwas zu spät gekommen ist, wirft Lisette ein Lächeln zu, nickt ihren Kopf vor, zieht die Augenbrauen hoch, als Aufforderung an Lisette mitzumachen, die aber brummelt nur: „Ich mach mich nich zum Deppen. Das ist ein Hampelmann. Schlimm jenug, dass ich im Wasser steh, och noch rumhampeln, Scheißeaberauch.“

„Na komm schon, macht Spaß und bringt dein Blutdruck in Wallung und im Wasser ist das kein bisschen anstrengend. Na auf, los!“

Dabei lacht sie Lisette an und die fängt tatsächlich an, ihre Arme zu bewegen, erst langsam dann im Rhythmus der Gruppe.

„Geht doch,“ wirft ihr Betty zu, und Lisette entfährt ein Schmunzeln.

Viel Zeit zwischen den einzelnen Aktivitäten hat Betty nicht. Der Wassergymnastik folgt das individuelle Gleichgewichtstraining. Als sie den Raum 024 betritt, sitzt der Physiotherapeut vor einem Bildschirm und betrachtet fasziniert Bettys Kopf, die davon ausgeht, dass es nur ihr Kopf sein kann. Herr Heinz blickt auf, begrüßt Betty und will gerade ansetzen über diesen Kopf zu reden, da fährt Betty dazwischen: „Kein Wort über meine Verletzung. Ich musste mir das oft genug anhören. Es ist nicht böse gemeint, aber behalten Sie Ihre Meinung über meinen Schädel für sich. So und jetzt? Was machen wir?“

Von dem Schreck muss sich Herr Heinz kurz erholen, durchatmen, wieder in sein Konzept zurückfinden, beginnt dann Betty den Unterschied zwischen Schwindel und Gleichgewichtsstörung zu erklären. Schwindel zu bekommen kann verschiedene Gründe haben, wichtig für sie sei, dass Schwindel käme, wenn sie ihr Gelichgewicht nicht halten können und das habe seinen Grund darin, dass ihre Gleichgewichtssinne gestört seien, bei der Schwere der Verletzung kein Wunder (Grimmiger Blick Bettys). Diese Sinne, Auge, Gleichgewichtsorgan im Innenohr, Gehörorgan, Tastsinn mit Schwerpunt Hals/Nacken-Bereich gelte es, wieder in Einklang zu bringen.

„Wie empfinden Sie selbst diese Störung?“

„Ich trifte nach links ab, wenn ich längere Wege gehe und muss mich dann korrigieren. Und Schwindel, na ja, wenn ich mich anstrenge, was aber nur logisch ist, nach den Wochen in liegendem Zustand, dann wird mir schwummrig.“

„Nehmen Sie Medikamente, um dies abzumildern?“

„Nein.“

„Gut. Wir werden es zunächst mit den Standardübungen versuchen, sie wieder auf Linie zu bringen.“

 

Und diese Übungen beginnen damit, dass Betty die Beine zusammenführen, die Augen schließen und so verharren soll, macht sie. So einfach aber ist die Sache nicht, sie schwankt, muss sich korrigieren. Diese Übung solle sie mehrmals täglich wiederholen, immer nur ein paar Minuten, nie nach einer körperlichen Anstrengung, denn es bedarf Konzentration, sich im Gelichgewicht zu halten. Augenbewegungen, Kopfbewegungen, sitzend, stehend, sich vorwärts beugen, eine Hantel aufheben, wieder ablegen, das Ganze zwanzigmal, auch dies eine Übung, die sie täglich anwenden solle, vor allem später, wenn sie wieder zu Hause sei (Wäre sie doch schon wieder dort, denkt Betty). Stehen auf dem Wackelkissen, beide Beine eng beieinander, Ruhe finden, sich vorne an einer Stange abstützend, Bein heben, Bein senken, Einbeinstand. Linie laufen im Tip-Top-Schritt. Eine Stunde Übung an Übung. Anschließend kurzer Weg zum Fitnessraum. Herr Heinz erklärt alle Geräte, Ergometer, eine Viertelstunde zum Aufwärmen, Widerstand 3, langsam steigern, von Tag zu Tag; dann Laufband, gleiches wie auf dem Ergometer, langsam beginnen, langsam steigern, den persönlichen Level finden, Kniepresse, Bauchtrimmer, Schulterpresse, Crosstrainer und weitere Geräte. Ganzkörpertraining, Fett- und Muskelverteilung optimieren, Kalorien abbauen. Er werde ihr einen Trainingsplan zusammenstellen, den sie ab morgen abarbeiten soll

Zu Frau Pleuel in die Logopädiestunde, drei Mal die Woche, Übungen für die Mund-, Kau-, Schlund- und Kehlkopfmuskulatur, die Betty brav absolviert, obwohl ihre Sprechfähigkeit längst wieder gegeben ist, halt langsamer als früher. Mittagspause, Ausspannen. Am Nachmittag Gymnastik am Strand, Beach-Volleyball mit vollem Einsatz von Betty, die vorne am Netz stehend, dem Gegner die Bälle vor die Füße knallt, danach Duschen und Massage von Nacken, Hals und Kopf, sehr angenehm und trotzdem war alles in allem anstrengend, sehr anstrengend für die körperliche Tüchtigkeit ungewohnte Betty, aber sie hat den ersten Tag überstanden, der Körper prickelnd, pulsierend. Nach dem Abendessen wieder das Strandentlanggehen und Strandsitzen mit Vera, der Austausch über die Aktivitäten des ersten Tages, die aber nicht so gut drauf ist, da ihr der Kopf schmerzt, also erzählt Betty aus ihrer Kindheit, ihrer Scham über ihre Fettleibigkeit, dem Verhalten des Vaters, der Mutter und der sie rettenden Großmutter. Sie erzählt, was sie zuvor niemand erzählt hat, als sei Vera eine ihr bereits bestvertraute Person.

„Dein Vater scheint ein ziemliches Ekel gewesen zu sein. Wie bist du damit umgegangen?“

„Mit Widerspenstigkeit. Ich habe immer das Gegenteil von dem gemacht, was er von mir verlangt hat und ansonsten unter die Röcke, also bildlich gesprochen, meiner Großmutter geflüchtet. Mitunter hat meine Mutter versucht auszugleichen, aber dies war nur halbherzig. Sie war meinem Vater unterwürfig und an einen liebevollen Umgang mit mir, kann ich mich nicht erinnern. Ohne meine Großmutter hätte ich sicher seelischen Schaden genommen. Wenn ich in der Schule gehänselt wurde, heute würde man gemoppt sagen, tröstete mich Großmutter, von meiner Mutter bekam ich in so einem Fall, eher noch Schuldzuweisungen. Ich war das einzige Kind meiner Eltern und mein Vater hatte bestimmte Vorstellungen wie ich zu sein und zu werden hatte und von all seinen Vorstellungen wich ich kiloweise ab.“

„Du leidest immer noch unter diesem Aufwachsen. Stimmts?“

„Na ja, leiden? Ich weiß nicht. Natürlich hängt mir das in den Klamotten, das schüttelt man nicht einfach so ab. Durch mein Studium, meine Ausbildung, letztlich auch durch meinen Beruf habe ich viel Selbstvertrauen aufgebaut. Vielleicht war mein Unfall sogar ein Wendepunkt, denn ich versuche erstmalig ernsthaft an meinem Aussehen zu arbeiten. Und mit jedem fallenden Pfund wächst mein Selbstbewusstsein…Nein, ich leide nicht, nicht mehr und werde dennoch wahrscheinlich nie wieder ein Wort mit meinem Vater wechseln.“

„Du hast überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihm?“

„Nein, ich weiß nicht einmal, ob mein Vater noch in Hamburg lebt, wo er denn überhaupt lebt, und zu meiner Mutter besteht ebenfalls so gut wie kein Kontakt mehr…Von mir aus werde ich weder zu ihm noch zu ihr Kontakt suchen. Ich habe Großmutter..Noch.“

Vera tätschelt Betty deren Hand, schaut sie mit betrübtem Blick an, ihr Verständnis und Anteilnahme signalisierend.

 

Die Anstrengungen des Tages bewirken, dass Betty früh zu Bett geht, traumlos schläft. Die Tage gleichen sich nicht. Bis auf die Nordic-Walking-Runde am Morgen und die nachmittägliche Gymnastikstunde am Strand steht wechselndes Programm an. Dienstag und Donnerstag ist Ernährungsberatung bei Frau Seelmann, von Kochen ist noch nicht die Rede, nur von gesunder Ernährung bei Diabetes, vom Verzicht oder eingeschränktem Verzehr von Kohlenhydraten wie Nudeln, Kartoffeln, Reis (Meine Güte, was bleibt dann noch, denkt Betty), Obst nur eine Handvoll pro Tag, statt Milchprodukte sollte ein Diabetespatient auf Soja-Produkte umsteigen, fettarm Essen, nur bestimmte Öle nutzen, keine Butter, nur fettarme Margarine, keine zuckerhaltigen Getränke, statt dessen Mineralwasser und Tee, Kaffee in Maßen, kein Alkohol, Ausnahmen erlaubt, Obstsäfte nur verdünnt, 20% Saft, der Rest Wasser und so geht das eine Weile weiter. Am Ende der ersten Runde verteilt Frau Seelmann kleine Hefte, Diabetes Notizbücher, in denen die Patienten die gemessenen Tageswerte ihrer Blutzuckermessung eintragen sollen.

Erst in der zweiten Woche wird aus Theorie Praxis. Gemeinsames Kochen unter Dicken bei erhöhtem Lärmpegel mit anschließendem Essen. Eine schmackhafte Abwechslung zu der eher faden Essenskost in dem Klinik-Restaurant. Viel Gemüse, wenig Kohlenhydrate, Lamm, Rind und Fisch, wenig Schwein, zubereitet und angerichtet in bunter Mischung. Betty lernt, schaut nicht nur zu, kocht aktiv, würzt, schmeckt, probiert, rundet ihren Geschmack ab. Eine Entdeckung für Betty ist der Pürierstab, den Frau Seelmann vielseitig nutzt. So ein Gerät muss sich Betty unbedingt zulegen. Frau Seelmann kocht dankenswerterweise immer Single-Portionen, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anschließend nachkochen, ideal für Betty, nicht für die, die zu Hause Ehemann und Kinder haben, andere Portionsgrößen gewöhnt sind und nun lernen müssen, die Zutaten für sich zu reduzieren. Da gibt es Reste und wie mit den Resten umgehen, da hat Frau Seelmann den Trick mit dem Pürierstab gezeigt. Der macht aus den Resten eine herrliche, durch etwas Sahne angereicherte, cremige Gemüsesuppe. Betty hat das imponiert, also muss ein Pürierstab her.

 

Und so ziehen die Tage dahin, kurzweilig, Betty nimmt ab, Vera zu, Lisette ist nur selten zu sehen, ist auch nicht in Bettys Kochgruppe, sondern einer anderen von vier Gruppen, die Frau Seelmann betreut. Die Abende gehören dem Strand, sofern es nicht regnet, was zweimal vorkam. Betty verstand sich mit Vera, wuchsen zu besten Freundinnen zusammen. Den ersten freien Sonntag, an dem Betty eigentlich vorhatte, mit Vera etwas Größeres zu unternehmen, muss sie allein verbringen, denn Vera bekommt Besuch von ihrem Mann und da will Betty kein Störfaktor sein.

Den Sonntagmorgen auf ihrem Zimmer vertrödelt sie, liest im Zweig, wandert nach dem Mittagessen allein nach Ahrenshoop, geht hinüber zum Strand, zieht ihre Schuhe aus und watet im Wasser den Strand entlang, verträumt vor sich schauend, ein Lied, das ihr in den Sinn gekommen ist, summend, ab und an den Kopf hebend, zum Horizont hinblickend, aber die Augen finden kein Ziel, an dem sie sich festhalten könnten. Links, hinter den Dünen über der Dorfstraße, ragt ein Hotelbau, viel Beton und Glas in die Höhe, The Grand liest Betty. Ein Grand-Hotel? Fast ein Widerspruch, denn hier ist Dorf, aber Betty ahnt, dass der Name Programm ist, für die Klientel, die hier die Sommerfrische genießen kann. Zwischen Hotel und Klinik steht ein Wald, eher ein Wäldchen, sicher keine Absicht, der Wald war lange vor dem Hotel da. Trotzdem, dort die Kassenpatienten und hier die Menschen mit Kasse, einander nicht sichtbar.

Betty hat einen Standpunkt und der heißt, ich muss nicht alles wissen, denn, wenn sie stirbt und eingeäschert wird, wird auch all das angehäufte Wissen zu Asche, wozu sich also vollsaugen mit Wissen? Wobei, sie weiß wohl zu unterscheiden, was unnützes und nützliches Wissen ist. Und Wissen, das es furchtbar reiche und ziemlich arme Menschen gibt, ist so ein Wissen, zumindest bisher. Aber die letzten Tage hatten ihr vor Augen geführt, das diese Unterschiede nicht einfach Unterschiede waren, sondern auch Potenzial für Unzufriedenheit, für Neid, für Hass, für Missgunst und damit den Bekundungen der Unzufriedenen, denen ihre Kollegen von der Bereitschaft ausgesetzt sind, mitunter massiv und körperverletzend ausgesetzt sind. Der Hotelbau bringt sie ins Grübeln.

Sie tippelt weiter den Strand entlang, die ersten reetgedeckten Häuser tauchen auf. Weit und breit keine Seebrücke zu sehen, hat sie erwartet. Ein Badeort ohne Seebrücke? Den Prospekten, die in der Klinik ausliegen und für Ausflüge in der nahen Umgebung werben, hatte sie entnommen, dass in Zingst, Prerow und Wustrow Seebrücken ins Meer ragen und logisch war auch in Ahrenshoop eine solche zu erwarten. Aber nichts da. Vielleicht hinter der Kurve. Wenn sie schon nicht die See nutzt, um es zu beschwimmen, dann will sie es wenigsten, zumindest stückweise, begehen. Abwarten.

Betty wechselt vom Strand durch die Düne zur Dorfstraße, die so heißt, auch wenn lange Zeit kein Ort kommt, jetzt aber wohl. Sie geht der Hauptstraße entlang, biegt in Nebenstraßen ab, vorbei an schönen, bunt bemalten reetgedeckten Kapitänshäusern mit ihren verzierten Eingangstüren. Pittoresk anzusehen. Viel Volk unterwegs. Sie besucht die Bunte Stube, eine Kunst-, Kunsthandwerk- und Bücherstube, sucht nach einem Reiseführer, findet ein dünnes Buch, in dem Geschichte und Gegenwart von Ahrenshoop beschrieben ist, kauft es und zieht weiter durch den Ort.

 

Auf der Höhe des Café Pieni legt sie einen Stopp ein, setzt sich auf die Außenterrasse, bestellt einen Cappuccino und ein Mineralwasser, blättert, liest in dem frisch gekauften Ahrenshooper Reiseführer, wobei, Reiseführer ist übertrieben, nur eine kurze Geschichte des Ortes, mit Betonung auf die Bedeutung der vielen Künstler, denen der Ort anscheinend seine Bekannt- und Beliebtheit verdankt. Über dreißig Künstler werden genannt, die sich im Ort gänzlich oder zeitweilig niedergelassen hatten. Meist aus den wuchernden, industriegeblähten großen Städten, vor allem Berlin und Dresden kommend, der schlechten Luft, den unhygienischen Bedingungen, dem wachsenden Lärm und der Hektik entfliehend, hinaus in die unverfälschte Natur, die anmutige Idylle. Den Künstlern folgten die Künstler- und Kunstfreunde, denen die betuchten Großstädter, von der gemalten Idylle angezogen, schließlich die Sommerfrischler, die Touristen, die die Boddenlandschaft, das Fischland mit seinen naturbelassenen Stränden, seine wettergebeugten Wälder genießen wollten.

Aus dem versteckten, ruhigen, jahrhundertewährenden Fischer und Bauerndorf wurde der Badeort, der er heute ist. Die ursprüngliche Idylle schnell verflogen, das traditionelle Alle durch zweckgebundenes Neue ersetzt. Von den Künstlern ist nicht viel geblieben, außer dem Ruf, etlichen Galerien, die ausstellen, was aussieht, wie die Landschaftsgemälde der Anfangszeiten. Und von den Fischern und deren Nachkommen ist nichts zu lesen, stattdessen von den ehemaligen Wohnhäusern der Künstler, die vielfach zu Ferienwohnungen oder zu teuer erworbenem Privatbesitz wurden.

 

Die Künstler, aber auch für Betty überraschend viele Künstlerinnen, zur Jahrhundertwende damals noch belächelte Ausnahmen, erlangten in gewissen Kreisen eine hohe Anerkennung, ja Berühmtheit, sind heute vergessen. Keiner der genannten Namen sagte Betty etwas, wobei, Kunst hatte Betty nie sonderlich interessiert und außer bestimmten Namen, um die sie gar nicht herumkam, kannte sie wenige Künstlernamen, aber die hier, nein, nie gehört: Ottilie Kaysel, Anna Gerresheim, Theobald Schorn, Martin Körte, Hans Brass, oh, der betrieb ab 1922 die Bunte Stube, war sogar mehrere Jahre Bürgermeisters des Ortes, Fritz Dähn, Hugo Richter- Lefensdorf. Bekannter ist da schon Paul Müller-Kaempff und seine Frau Elsbeth Müller-Kaempff, fast alle Landschaftsmaler, im Stil der damaligen Zeit, mal impressionistisch, mal naturalistisch. Stimmungsrealismus, wie die Broschüre ausweist.

Da war Franz Treibsch, der nicht nur Landschaften malte, sondern auch Nazigrößen, Edmund Kesting wurde als entartet eingestuft, mit Berufsverbot belegt. Seine kubistisch-expressionistischen Gemälde bei den Nazis so unbeliebt wie bei den Machthabern im Arbeiter- und Bauernstaat. Edla Charlotte Rosenthal und Elza Kohlmann wurden durch die Konzentrationslager der Nazis geschoben, bevor das Vernichtungslager Treblinka zu ihrer letzten Station wurde. Deutsche Geschichte, die sich Betty aus der Lektüre der Broschüre erschließt. Künstlerinnen und Künstler verschüttet von zwei Systemen, die Kunst nur duldete, wenn sie ihrer Ideologie dienlich war. Deutsche Trennung. Und ein Westen, der andere Sorgen hatte, als Verschüttete zu bergen. Betty ist beeindruckt von dem, was sie liest.

Und irgendwie klingt alles etwas anders als das, was Vera über den Ort geäußert hat. Der Ort erklärt aus der Künstler-Perspektive, nur wenige braune oder rote Flecken. Betty mischt die Hochglanzerzählung mit der von Vera, denkt sich, so könnt es hinkommen.

In dem Moment als Betty sich erheben, nach drinnen gehen, zahlen und weiter den Ort erkunden will, taucht Lisette und ihr Double auf der anderen Straßenseite auf, also, sitzen bleiben, Deckung halten, wobei, ein Blick über die Straße und Lisette kann sie sehen, deren Blick ist aber geradeaus gerichtet, an ihrer Zigarette ziehend. Gut, vorbei, noch einen Moment warten und dann zurückmarschieren. Nein, mit Lisette wird sie nicht warm, weiß nicht, ob diese frotzelt, es ernst meint oder einen eigensinnigen Humor hat. Anscheinend gehen die beiden in Richtung eines Imbisses, der mit breitem Schild für Burger and More auf sich aufmerksam macht. Nun, denkt Betty, in gewissem Sinn war sie auch nicht viel anders als Lisette, in ihren zügellosen Zeiten, nun aber hat sie den Dreh geschafft. War ein Schlag auf den Kopf nötig. So hat auch etwas Negatives etwas Positives.

 

Sie erhebt sich, watschelt nach innen, zahlt, geht vor zur Dorfstraße und will sich in Richtung Klinik bewegen, sieht aber ein Hinweisschild Kunstmuseum Ahrenshoop, hält kurz inne, überlegt das Museum zu besuchen, als Abschluss dieses künstlergespickten Tages. Nur, sie müsste in die andere Richtung gehen, den Spuren Lisettes folgen, egal, die hatten einen Vorsprung und Museum traut sie den beiden nicht zu, also Planänderung und Schwenk Richtung Museum. Dort angekommen, betritt sie einen hellen Eintrittsbereich, viel Holz, weiches Holz, die anschließenden Räume weiß, lichterfüllt, an den Wänden die Gemälde der Künstler, von denen sie zuvor gelesen hatte. Hängen zur Erinnerung, gegen das Vergessen. Gegenständliche Gemälde, Landschaften in ihre Idylle gehüllt, Abbildungen dessen, was die Künstler hier gesucht hatten, windgebeugte Bäume am Uferrand, Windflüchter, strandhaferbewachsene Dünen, viehbestückte Wiesen, Landschaft mit kahlem Baum, das Haus in den Dünen, die Katen der Fischer, der Bauern, Waldesrand, Boddenblick mit Mühle, Mädchen mit Jasmin. Eine Extrawand für Elisabeth von Eiken (Malen gegen männliche Vorurteile).

Doch, liebliche Bilder, zarte Striche, Natur von ihrer friedvollen Seite zeigend. Betty setzt sich auf einer Bank ab, nicht weil ihr schwindelt oder sie eine Schwäche zeigt, sondern um das Gemälde Frühling um 1895 von Elisabeth von Eiken genauer zu betrachten. Malen gegen männliche Vorurteile, ja, zur damaligen Zeit hatten Frauen, egal was sie anstrebten, keine leichte Stellung, sie mussten sich durchsetzen, Widerstände überwinden und landeten trotzdem zumeist im Schatten der Männer und ja, wenn Betty nachdachte, fallen ihr nur Männer ein, die die Malerei dominierten, keine Frau, doch die Frida Kahlo, nein, das war viel später.

Kunstfern, Kunstbanause war sie, ist sie. Ihr fiel ein, dass ihre Großmutter einige Gemälde, denen die hier hingen, nicht unähnlich, an den Wänden der Wohnstube hängen hatte. Wer aber die Maler waren, keinen blassen Dunst davon und der Versuch, die Bilder vor ihr geistiges Auge zu zitieren, vergeblich, nur eine vage Vorstellung davon. Für das Kind, die Heranwachsende hingen die Bilder an der Wand, wie der Schrank oder die Vitrine in der Wohnstube standen, waren halt da. Jetzt, wo sie den Frühling beschaut, wird ihr klar, dass sie einiges versäumt hat und ihre Art mit Wissen umzugehen überdenken muss. Noch so ein Ding, das sie verändern muss. In ihr ist ein Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben.

Sie wandelt weiter, bleibt hier und da stehen, betrachtet genauer, lässt, was sie sieht, auf sich wirken, geht weiter, beendet schließlich ihre Visite und nimmt sich vor, auch die anderen Museen und Galerien in Ahrenshoop aufzusuchen. Doch, ist schön zu schauen, Bilder, die Emotionen wecken, zum Sinnieren verleiten. Doch, schön.

 

Der Weg zum Hohen Ufer führt direkt zum Strand, dem sie folgt, wieder Schuhe und Socken aus, im kühlen Wasser waten, kneippen, kein Schwindel, keine Schwäche und irgendwie hat sie das Gefühl, mit sich im Gleichgewicht zu sein. Wieder, wenn auch nur flüchtig, der Blick auf das Grand Hotel, weiter zum Dünendurchgang, der zur Klinik führt. Überrascht sieht sie, dass jemand auf ihrer Bank sitzt, je näher sie kommt, desto deutlicher wird, dass es Vera ist. Betty steuert auf Vera zu.

„Betty, wo treibst du dich herum? Ich habe dich gesucht. Ich hätte dir gerne meinen Mann vorgestellt, der war schon ganz neugierig auf dich.“

„Neugierig auf mich? Na ja, ich weiß nicht, an mir ist nichts, was neugierig macht.“

„Betty, vergiss das du kräftig gebaut bist, darauf kommt es nicht an. Es zählt das Menschliche und das hast du. Du warst im Dorf? Interessant?“

„Ja, doch. Ich habe interessante Dinge entdeckt, die an der Wand hängen oder in den Zeilen einer Dorfbeschreibung, die ich mir gekauft habe. Anders gesagt, ich habe das Künstlerdorf kennengelernt, etwas einseitig, aber anscheinend sind die Künstler, und es waren viele, nicht unerheblich an der Entwicklung des Dorfes beteiligt gewesen. Ob gut oder schlecht mag dahingestellt sein. Es hat mir Anregung gegeben, mich näher mit der Geschichte des Ortes zu befassen. Und du? Sehnsucht nach zu Hause bekommen?“

„Du lenkst ab. Lass dich nicht täuschen. Wie in vielen Fällen wird die Vergangenheit schön oder ins Vergessen geredet oder geschrieben. Und ja, an dem Dorf und seiner Entwicklung kannst du einiges lernen, einiges über die deutsch-deutsche Geschichte. Hast du den Hotel-Bau dort vorne gesehen? Wurde als Kurhaus gegründet. Eine Folge der Künstlerzuwandererschaft, denn denen folgten die Betuchten, die sommerfrischeln und kuren wollten, also gehobene Klientel. Die Nazis und die Kommunisten nutzten das Gebäude für ihre Zwecke und ihre Leute, zeitweise war es ein Kinderheim für verdiente Mitglieder der FDJ. Mit der Wende zerfiel das Gebäude zu einer Ruine. Irgendwelche Investoren aus Berlin oder Hamburg, genau weiß ich das nicht, bauten schließlich das, was du heute siehst, für eine ähnliche Klientel wie damals um. Für ein besonderes Publikum. Ich weiß es nicht, möchte es auch nicht wissen, wie viele der Häuser im Dorf Leuten aus dem Westen gehören. Einen Ostler wirst du hier kaum finden und das ist einer der Gründe, warum Leute wie Lisette so verbittert sind. Ja, du kannst viel lernen. Tue es.“

„Woher kennst du dich so gut aus?“

Vera lächelt, blickt verträumt hinaus auf die See.

„Ganz einfach, ich habe mich dafür interessiert. Für all das, was um mich passierte. Ich wollte es verstehen. Ich bin nicht verbittert, prangere auch nicht an, was wie mit uns nach der Wende geschah, aber es sollte nicht vergessen gehen, deshalb höre und lese ich über das, von dem du gerade ein Fitzelchen kennengelernt hast. Für die Westler war die Wende wie eine Einkaufstour, kein Großereignis, sondern etwas, das halt so passiert, das man mitnahm. Für uns war es mehr, viel mehr. Es hat unser Leben verändert. Schlagartig. Die Wende hatte keinen Plan. Kombinate wurden aufgelöst, Menschen wurde plötzlich ihre Arbeit los, war denen unbekannt, wir hatten immer Arbeit. Sie verloren nicht nur die Arbeit, auch ihr Selbstwertgefühl, plötzlich zu Nichts geworden. Damit kam nicht jeder zurecht, die Cleveren machten sich auf in den Westen, der Rest blieb, wartete bis Arbeit kam, schaute zu, wie jeden Tag ein Stück Vergangenheit und das war Sicherheit, verloren ging. Das musst du alles verstehen, um die zu verstehen, die denen folgen, die so laut schreien. Die Töne, die falschen Töne, hörst du nicht nur auf der Straße, du hörst sie in der Nachbarschaft, beim Einkauf, im Restaurant. Überall, du triffst sie überall. Auf dem Wochenmarkt wirst du angequatscht, schief angesehen, wenn du weitergehst. Und irgendwann denkst du, vielleicht ist doch etwas dran, an den Tönen. Und aus dem Vielleicht wird schnell ein, genau, so ist es. Und die haben dich. Der Kauf des Hofes war, das gestehe ich mir ein, eine Art von Flucht vor den Tönen, aus der Stadt, vor dieser Welt. Und damit bin ich den Künstlern, die aus der Stadt in die Idylle flohen, nicht unähnlich. Der Unterschied ist, ich bin von der Idylle in die Hölle gerutscht. Aber genug jetzt, höchste Zeit für das Abendbrot. Es sei denn, du hast im Ort etwas gegessen.“

„Nein, ich bin doch nicht Lisette, die ich übrigens gesehen habe, steuerte mit ihrer Bekanntschaft ein Dönerbude zu. Eine scheinbar Unbelehrbare.“

 

Betty lässt Veras Worte auf sich wirken, geht neben ihr her, ohne den Tag in ihren Beinen zu spüren, es war ein weiter Weg, den sie gegangen ist, wie ihr jetzt erst bewusst wird. Veras Worte bestätigten, was sie für sich dachte. Im Klinik-Restaurant war bereits abnehmender Betrieb, Betty holt sich ihren Teller ab, heute belegt mit Hirtensalat und Vollkornbrot, Vera darf Wurstsalat mit Mischbrot zu sich nehmen.

„Du sprachst von einer Flucht auf den Hof. Es war aber keine bewusste Flucht. Oder? Und wieso Hölle?“

„Nein, erst im Nachhinein habe ich es als Flucht verstanden. Am Anfang war es Sehnsucht. Ich sah die Aufgabe, eine Ablenkung von der Öde, die ich in der Stadtwohnung empfand. Ich träumte sogar davon, auf dem Hof eine kleine Kindertagesstätte aufzubauen, Kinder, die mit Tieren leben, die einen Garten bestellen konnten. Das hätte mir gefallen. Aber dazu kam es ja leider nicht. Herr Krebs hat mir dazwischengefunkt. Und die Hölle, die kam mit dem Tumor und mit ihm die finsteren Gedanken. Wirst du sterben? Wie wirst du sterben? Wird es schmerzlich werden? Was wird Holger machen? In mir haben die Gedanken rumort, ich war allein, niemand der mir beistand, nur die Gedanken waren allgegenwärtig, vom Aufstehen bis zum Einschlafen und darüber hinaus. Mein Arzt redete mir gut zu, aber ich glaubte ihm nicht. Einzig, wenn ich die Harke im Garten bewegte, konnte ich den düsteren Gedanken zeitweise entfliehen. Nur irgendwann gibt es nichts mehr zu harken.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Ich hatte zwar keinen Tumor, dafür eine auswuchernde Figur, die mich belastete und die ähnlich, mürbe machende Gedanken in mir hervorrief, allerdings keine, die mit dem Tod zu tun hatten. Aber du kannst deine Träume doch immer noch realisieren. Du hast viel Zeit vor dir.“

„Nein, ich habe viel Kraft und Energie verloren, ja, auch ein Stück Lebensfreude. Es wird seine Zeit benötigen, bis ich wieder die bin, die ich einmal war und ob ich die werde, steht auf einem anderen Blatt.“

„Dein Mann ist dir doch sicher eine Stütze. Ihr werdet es zusammen schaffen.“

„Mein Mann ist vier Wochen nicht greifbar und die Woche, die er zu Hause ist, will er seine Ruhe haben, und wenn er in ungefähr zwanzig Jahren in den Ruhestand geht, kann ich mir derzeit nicht vorstellen, was er mit seiner Zeit anfängt…“

„…verreist, macht euch ein schönes Leben…“

„Verreisen? Vorher müssten wir den Hof verkaufen, den kannst du nicht einfach ein paar Wochen allein lassen. Und wohin? Holger sieht vier Wochen nichts anderes als Wasser um sich. Er hasst Wasser. Ich konnte ihn nicht einmal dazu bewegen, mit mir vor zum Strand zu gehen. Und in die Berge will ich nicht, je dünner die Luft, desto stärker meine Kopfschmerzen. Und überhaupt mag ich das Gebirge nicht. Was also bleibt?“

„Es findet sich immer etwas und unverhofft kommt oft.“

„Betty, iss deinen Salat.“

Bevor Betty zu Bett geht, liest sie Marie Antoinette zu Ende. Die Geschichte der Frau, die ihren Kopf verlor, in Überfluss und Pomp geboren, in Überfluss und Pomp gelebt. Sie kannte nichts anderes als Überfluss und Pomp. Die Kluft zwischen dem schwelgenden Adel und dem verarmten Volk war riesig. Verständlich der Volkszorn auf die, die alles repräsentierten, König und Königin. Und wenn auf Zorn, Hass, Missgunst, Gerüchte treffen, werden diese schnell aufgebauscht, ins Monströse gehoben, den Zorn, den Hass weiter steigernd, was schließlich in eine blutige Revolution mündete, die König und Königin um ihre Köpfe brachte. Es lassen sich Parallelen ziehen. Zwar ist der Adel heutzutage ein anderer, heißt Manager, Investoren, Industrielle, Erben, aber die Kluft zwischen Arm, die allerdings heute nicht mehr so arm sind, und Reich, ist nicht zu übersehen und ist ein gefundenes Fressen für die Populisten, um ihr Klientel zu befeuern. Unzufriedenheit, Neid, Hass, gab es, gibt es. In diese unerquicklichen Gedanken versunken schlummert Betty ein.

 

Die zweite Woche ist eine Kopie der ersten Woche, allerdings steigen die Anforderungen, statt 15 Minuten nun 30 Minuten Laufband, ebenso beim Ergometer, der Widerstand wird leicht erhöht, einzig die Gymnastik zu Wasser, zu Lande, am Strand bleib sich gleich. Die morgendliche Nordic-Walking-Runde sieht Betty nicht mehr in der Schlussgruppe, sondern mittendrin und darin bei den Vordersten, stets Vera folgend, die den Schritt vorgibt. Ab dieser Woche wird gekocht, was zweimal die Woche den Besuch des Klinik-Restaurants erübrigt. Des Abends sitzen Betty und Vera auf ihrer Dünensandsitzbank oder auf Bettys Stube, wenn Regen den Besuch am Strand verhindert.

Betty ist nun schon über zwei Wochen in der Klinik, ist folgsame Patientin geworden, hat sich in die Routine des REHA-Betriebs eingefunden. Nach einem wie immer anstrengenden Tag, sitzt sie auf ihrem Zimmer, Die Deutschstunde zwischen den Fingern. Heute kein Sitzen am Strand mit Vera, die über heftige Kopfschmerzen klagt und sich in ihr Bett verkrochen hat. Sie hat wieder Lust am Lesen gefunden, sie lässt sich führen, folgt der Erzählung, denkt nach. Hm, wieder ein Blick in die Vergangenheit, viel Vergangenheit die letzte Zeit, hat sie nie so interessiert, ist ja alles vorbei, ist gewesen, das Leben geschieht jetzt, hier, ihr dämmert aber langsam, dass Vergangenes eine Wirkung hat, mehr mit dem Heute zu tun hat, als sie dies bisher glaubte.

Lenz erzählt die Geschichte eines pflichttreuen, preußisch geprägten Schutzpolizisten, der dem diente, der gerade an der Macht war, lebte seine Vorschriften nun für die Nationalsozialisten. Sein Jugendfreund und Nachbar, ein viel beachteter, unter den neuen Machthabern aber zu einem entarteten Künstler degradiert, erhielt Malverbot, das Jens Ole Jepsen überwachen musste, dies mit gewissenhafter Pflichttreue tat.

Betty hat von der damaligen Lektüre noch in Erinnerung, dass das Vorbild des Kunstmalers Emil Nolde nachgebildet ist. Um ihre Erinnerung aufzufrischen, legt sie den Roman beiseite, greift ihren Laptop und ruft Wikipedia auf, liest die Beschreibung des Romans, liest das Lenzens Bild von Nolde ein idealisiertes war, denn Nolde war bekennender Nationalsozialist, mit frühem Eintritt in die NSDAP, war Antisemit, der auch davor nicht zurückschreckte, jüdische Kollegen anzuschwärzen, sie, wie Max Pechstein, zu denunzieren. Ehrgeizig, Nolde war ehrgeizig, geltungsbedürftig. Betty hatte, wenn auch nur ein dünnes, anderes Bild von ihm, das je mehr sie liest, in sich zusammenfällt. Wie so viele Gläubige der Nazizeit hat sich Nolde ein Nachkriegs-Image zugelegt, das ihn als Gegner stilisierte, einer der unter dem Regime zu leiden hatte. Eine Mär, die viele gerne glauben wollten. Alles Trug. Betty hebt ihren Blick vom Laptop hinaus in die Weite der Landschaft. Was tun mit diesen Informationen? Noldes Bilder zukünftig missachten? Ihn mit anderen Augen sehen? Welchen Augen? Und Lenz? War er naiv und dem Schein erlegen? Oder wollte er nur die Geschichte von Pflicht zu Schuld erzählen? Pflicht, eine deutsche Tugend und was diese bei der nachfolgenden Generation bewirkt hat.

Ihr Vater, dänischer Abstammung, in dritter Generation in Deutschland lebend, war ein ebenso pflichttreuer Mensch, nicht dem System gegenüber, sondern seiner Firma. Kurz nach dem Krieg geboren, die elterliche Erziehung in sich, stockkonservativ, wäre er sicher denen nachgelaufen, die Noldes Bilder für entartet hielten. Über seine Eltern hat er nie gesprochen, wurde nicht gesprochen, ihr Leben blieb im Dunkeln, in Flensburg, wo sie wohnten, Betty sie selten zu Gesicht bekam. Sie hat nie Fragen gestellt. Nie nach Oma und Opa väterlicherseits gefragt. So wie sich ihr Vater von den Eltern abgewandt hatte, hat er es auch mit Betty, seinem Kind getan, sie einfach liegen gelassen, der Mutter und diese sie der Haushälterin überlassen. Wieso war ihr Vater, wie er ist? Was lag da in der Vergangenheit verborgen? Sie muss über so vieles nachdenken, neu denken. Liest von einem fremden Vater, dem sie näher war, als ihrem eigenen Vater. Sie muss mit Großmutter reden.

 

Sie braucht jetzt Luft, frische Luft und frische Gedanken. Sie will ein paar Meter den Strand entlanglaufen, da klingelt ihr Handy, schaut auf das Display und nimmt erstaunt zur Kenntnis, dass Hembach sie anruft.

„Moin Betty. Kommst du mal runter. Ich warte am Eingang.“

„Was? Wie? Am Eingang? Hier?“

„Wo sonst?“

Betty ist geplättet, Hembach vor der Tür? Was macht der vor der Tür? Eine Überraschung, eine große Überraschung, die etwas zu bedeuten hat.

„Bin gleich unten.“

Noch etwas verwirrt von der Plötzlichkeit mit der Hembach in ihr Hiersein geplatzt ist, sieht sie sich um, sucht etwas, ohne zu wissen was. Egal. Anziehen. Ist angezogen, nur in die Schuhe muss sie schlüpfen. Hembach hier? Hier in Ahrenshoop? Versteht sie nicht. Was braucht sie vor der Tür? Nur die Zimmerschlüssel. Eine Geldbörse? Wozu? Los. Sie eilt die Treppe vor, nimmt die Stufen mit Schwung, immer noch rätselnd, was dieser Besuch zu bedeuten hat. Und da steht er in voller hagerer Größe, mit Bart, ein Sonnenhut auf, in beigen Baumwollshorts und buntem Hawaii-Hemd. Zurück in die Zukunft. Der zivile Hembach, kleidungsmäßig verjüngt, zurück in die Vergangenheit. Verdutzt über dieses Outfit, diesen fast fremden Menschen, geht sie auf ihn zu, er breitet die Arme aus, was Betty noch mehr irritiert, aber begibt sich in Hembachs Umarmung.

„Das ist ja eine Überraschung. Warum haben Sie sich nicht angekündigt.“

„Dann wäre es ja keine Überraschung geworden. Lass dich anschauen.“

Und Hembach betrachtet Betty von oben bis unten, meint, sie sehe schon ganz gesund aus, und so schlank (dabei ein amüsiertes Grinsen zeigend) und fragt nach Bettys Befinden.

„Na ja, den Umständen entsprechend. Die ersten Tage waren heftig, weil ungewohnt, aber mittlerweile habe ich mich eingewöhnt, steigere mich täglich und werde diese Routine sehr vermissen, wenn ich den Ort wieder verlasse. Aber für danach wird sich etwas Vergleichbares finden lassen. Aber nun zu Ihnen, was machen Sie hier? Ich fasse es immer noch nicht.“

 

Hembach greift Bettys Arm, sagt ihr, sie solle mitkommen und ihr dämmert langsam, was Hembachs Outfit zu bedeuten hat.

„Ich habe dir unlängst gesagt, dass die Welt auf mich wartet. Ja, und jetzt werde ich die Welt aufsuchen.“

Sie gehen vor zum Besucherparkplatz, Betty sieht ein schickes Wohnmobil und ordnete es Hembach zu. Vor dem Wohnmobil bleibt Hembach stehen, zeigt darauf: „Mein neues zu Hause.“

„Wie? Was? Neues zu Hause?“

„Komm setzen wir uns oder kennst du hier einen besseren Platz, wo wir uns absetzen können? Wir können auch in den Ort hineinfahren, gemütlich zu Abend essen. Ich lade dich ein.“

„Das ist eine nette Versuchung, aber ich bin gerade dabei alle Geschmäcker und Gerüche meiner süßen Vergangenheit zu verdrängen, da wäre ein Abendessen äußerst kontraproduktiv. Zudem steht mein Abendbrot noch bevor. Gesunde Kost. Lassen Sie uns rüber an den Strand gehen. Vera und ich haben uns da eine kleine Sandbank errichtet.“

„Du hast Gesellschaft? Schön.“

„Na ja, das Angebot hier ist riesig. Und was heißt neues zu Hause genau?“

„Gleich, im Gehen lässt sich schlecht berichten.“

An der Dünensandsitzbank angekommen, setzen sie sich auf die Sandbank, Hembachs Augen schweifen auf die unbeschiffte See, Wasser, zwischen grau und dunkelblau wechselnd, je nach Laune des Sonnenspieles, mit nur leichten Wellen. Betty platzt bald vor Ungeduld.

„Das ist deine Flüsterbank. Ja, idyllischer Ort. Schön hier, wie an jedem Strand. Zumindest oberflächlich. Man darf halt nicht tiefer schauen. Wusstest du, dass die Ostsee weder See noch Meer, sondern der größte Brackwasserkörper der Erde ist? Voll gestopft mit toxischen Materialien aus der Landwirtschaft, dem mal mehr, mal weniger geklärten Abwässern aller Anrainer und belastet mit Tonnen verrottender Weltkriegsmunition. Sozusagen eine multifunktionale, internationale Jauchegrube. Schlimm, aber schlimmer ist, dass dies alle die etwas ändern könnten, sehr wohl wissen. Nur, es macht keiner was dagegen, machen immer so weiter, reden nur. Reden, die nichts ändern. Wir brauchen Taten, schnelle Taten, aber aus Rücksicht auf die Rücksichtlosen passiert nichts oder nur wenig. Unsere Enkelkinder werden uns dereinst verfluchen, uns, die wir nur zugeschaut haben. Und nicht nur beim Wasser. Ich verstehe die Kids, die freitags verlangen, ihre Zukunft zu sichern. Aber von hier aus besehen, doch, nett anzuschauen.“

„Wusste ich nicht. Nein? Auch nicht, dass Sie so einen kritischen Naturblick haben. Na ja, dann hat auch Nichtschwimmenkönnen etwas Gutes.“

„Dein Ernst? Du kannst nicht schwimmen?“

„Nein, wie soll so ein Ballast (auf ihren Bauch klopfend) vom Wasser getragen werden, schafft selbst das Tote Meer nicht.“

„Oh, schon probiert?“

„Nein, sehe ich so aus?“

„Warum nicht? Hätte doch sein können…Ja, zu Hause. Ich habe meine Wohnung aufgegeben, mein Zeug untergestellt, teils als Grobmüll entsorgt, ein paar Sachen verkauft und mir das Wohnmobil zugelegt. Natürlich nicht von heute auf morgen. Der Plan ist länger gereift, jetzt habe ich ihn in Gang gesetzt. Bei der Gelegenheit, ich bin jetzt Pensionär, nicht mehr dein Chef, weder der aktuelle noch der ehemalige, einfach nur Pensionär und die duzt man. Ist so üblich. Als Kind wurde ich immer Edu genannt, nicht Ede, was logischer wäre, die Kinderlogik tickt halt anders. Ich weiß nicht mehr wer, woher und wann, aus welchem Anlass, Edu war plötzlich da und hat mich meine Jugendzeit über begleitet. Was ich sagen will, lass den Chef und den Herrn Hembach sein, nenn mich einfach Edu, da fühle ich mich gleich um Jahre jünger.“

Betty grinst. Ein schönes Angebot, freut sie sehr, aber Edu?

„Also wenn es dir nichts ausmacht, würde ich lieber den Ede anwenden. Ist geschmeidiger.“

„Auch gut.“

 

Und Hembach teilt Betty sein Vorhaben mit. Zunächst wird er über Polen, nach Litauen, Lettland und Estland fahren, vielleicht einen Abstecher nach Kiew machen.

„Du willst Mytro besuchen?“

„Ja.“

„Ihm ein Geständnis abringen?“

„Ich denke nicht, dass ich ihm etwas abringen muss. Er wird mir erklären, was vorgefallen ist. Dass er den Pfleger umgebracht hat, dessen bin ich ganz sicher. Ich möchte es von ihm hören, um ganz sicher zu gehen, dass es wirklich der Pfleger war, der im Müllcontainer lag. Alles andere würde nur Unsicherheit bedeuten. Falls irgendwo eine Person vermisst und keine Leiche gefunden wird, müssten wir annehmen, unser Toter mordet weiter. Oder?“

„Richtig. Aber wenn Mytro abstreitet, etwas mit dessen Tod zu tun zu haben?“

„Tja, dann haben wir ein Problem. Aber egal wie, von Kiew geht es zurück nach Litauen, dann weiter nach Finnland, von dort nach Norwegen bis zum Nordkap und durch Schweden. Dänemark zum Schluss. Das wird meine Nordreise. Wieviel Zeit ich mir dafür nehme, weiß ich nicht. Ich bin jetzt Herr über meine Zeit.“

„Ja und dann bist du zurück und willst im Wohnmobil leben?“

Auf Fehmarn sei ein Wohnmobilpark ganzjährig geöffnet, dort wolle er zwischenparken, dann aber baldigst weiterreisen, die Süd- der Nordtour folgen lassen. Er wolle all das sehen, was ihm die letzten sechzig Jahre vorenthalten wurde.

„Wow. Das ein solcher vagabundierender Abenteurer in dir steckt, hatte ich nicht vermutet. Aber das heißt auch, du hast keine feste Adresse mehr?“

„Doch. Meine Adresse behalte ich bei, nur die Post wird zukünftig postlagernd aufgehoben und, jetzt wirst du staunen, von Dietmann abgeholt…“

„…Dietmann, unser Ex-Dietmann?“

„Genau der. Ich erkläre dir das gleich. Wir stimmen uns telefonisch ab, wenn etwas Wichtiges vorliegt. Aber da sehe ich nichts auf mich zukommen.“

 

Betty ist erneut geplättet. Hembach ist heute voller Überraschungen. Kommt hierher, fährt zu Mytro, hat anscheinend noch engen Kontakt zu Dietmann, nein, das kann nicht wahr sein. Kommt jetzt die versprochene lange Geschichte, die ihr Hembach angekündigt hatte, denn, irgendetwas hat er auf dem Herzen, was er loswerden will.

„Ich verstehe das alles, nur, das mit Dietmann, nein, das verstehe ich nicht.“

„Wirst du gleich verstehen. Erinnerst du dich, du hattest gefragt, woher ich die Gegend hier kenne. Nun, ich bin in der Nähe von Stralsund aufgewachsen. Die Sommerferien verbrachte ich mit meinen Eltern hier in der Gegend, drüben in Zingst. Baden, beschützt von der Volksarmee. Später dann war ich mit der FDJ, den jungen Pionieren hier und je älter ich wurde, allein oder mit einer Freundin. Du weißt, viele Möglichkeiten hatten wir damals nicht und die Nähe zur Küste genügte uns vollauf.“

Dies habe geendet, als er zum Studium der Kriminalistik nach Berlin ging, an die Humboldt-Universität, Sektion Kriminalistik, sei dann aber zurück nach Mecklenburg-Vorpommern gegangen und habe die erste Dienststelle in Rostock angetreten, zunächst als Kriminalinspektor, dann als Kriminaloberrat, schließlich als Kriminaldirektor.

„Die Titel werden dir nicht viel sagen, sind auch egal, jedenfalls war ich der Chef der Rostocker Kriminalpolizei mit fast dreißig Mitarbeitern. Sören Dietmann war einer meiner Mitarbeiter. Ich schätzte ihn als gewissenhaften, geradlinigen Kollegen, den ich nach einer gewissen Zeit zu meinem Chefermittler machte. Wobei, wir hatten nicht wirklich viel zu tun, das kam erst nach der Wende. Davor aber kam jemand anderes, Hein Posstel, der sich als Kriminalkommissar aus Hamburg vorstellte und per Sondervereinbarung nach einer vermissten westdeutschen Journalistin suchen durfte. Damals war man seitens der DDR-Staatsführung aus wirtschaftlichen Gründen um gute Luft mit der Bundesrepublik bemüht, also erlaubten unsere Oberen die Suche nach der Vermissten auf dem Staatsgebiet des Arbeiter- und Bauernstaates. Jedenfalls schlug Hein bei mir auf und ich hatte die Ehre, ihn in seinen Nachforschungen zu unterstützen. Ich stellte ihm Dietmann zur Seite und ließ die Sache laufen. Zwei Tage später stand Dietmann bei mir auf der Matte, legte seinen rechten Zeigefinger auf seinen Mund und deutete mir an, ihm zu folgen. Natürlich war ich verdutzt, konnte mir keinen Reim auf Sörens Gebaren machen.“

 

Betty folgt aufmerksam und gespannt Hembachs Erzählung, ahnt, dass etwas kommen wird, was das lange Festhalten von Hembach an Dietmann begründen würde. Eine Männerfreundschaft, denn das war sie, wie Betty immer bewusster wird.

„Er schleuste mich vor das Präsidium, links ab auf den Parkplatz und teilte mir mit, dass mein Büro verwanzt sei und er mich überwachen solle. Die Stasi habe ihn zum informellen Mitarbeiter gepresst. Das könne er aber nicht. Er sei so loyal wie ich. Ich müsse vorsichtig sein, in dem, was ich tue und sage. Die Herren der Stasi seien brennend daran interessiert, was der Westler unternehme, vor allem, was ich so mit ihm rede. Natürlich ist mir der Schreck in Mark und Knochen gefahren. Warum, habe ich ihn gefragt, warum werde ich überwacht? Zwei Gründe, einmal sei ich zu forsch, zu genau und hörte nicht auf, wenn ich aufhören sollte, von meinen zynischen Äußerungen ganz zu schweigen. In zwei Fällen habe ich tatsächlich weiter ermittelt, mir nichts dabei gedacht, obwohl uns die Stasi die Fälle entzogen hatte. In einem Fall wurde ein Uhrmacher ermordet, vollkommen rätselhaft das Motiv. Nichts wurde gestohlen, der Mann einfach abgeschossen. Die Stasi kam am zweiten Tag und wir waren den Fall los. Das ließ mir keine Ruhe. Ich suchte den Tatort nochmals auf, versuchte mir einen Reim zu machen. Da erkannte ich auf der gegenüberliegenden Seite, dass dort der Eingang zu einem etwas heruntergekommenen Hotel lag. Wenn der Uhrmacher so dagestanden hatte wie ich, sah er genau auf den Eingang und wahrscheinlich etwas, was er nicht sehen durfte. Also ging ich in das Hotel verlangte die Namensliste der Übernachtungsgäste für den fraglichen Tag. Die gab es aber nicht, nicht mehr, und als ich das Hotel ahnend verließ, stand die Stasi vor der Tür und ich durfte sie begleiten. Es folgte ein Gespräch, ein Monolog des Stasileutnants, der mir aufzeigte, was passieren könnte, wenn ich noch einmal meine Kompetenzen überschreiten würde. Ein Warnschuss oder höhere Politik, verstehst du? (Betty nickte mit ihrem Kopf).“

„Du hast aber weiter ermittelt. Stimmts?“

„Betty, Betty, du scheinst mich besser zu kennen wie ich mich selbst. Na ja, nur indirekt habe ich weiter ermittelt. Erst nach der Wende, als mir keine Stasi mehr im Nacken saß, ging ich nochmals in das besagte Hotel, befragte Leute, die neben dem Hotel wohnten, aber niemand sagte etwas, die schwiegen, als wäre ich von der Stasi. Das Einzige, was ich herausfand, war, dass das Hotel eine Absteige war. Ort verbotener Dienste. Alles andere blieb im Dunklen, bis heute.“

„Aber selbst wenn jemand von oben dort einen Besuch machte, sehe ich keinen Grund für einen Mord.“

„Bei jemand von ganz oben, könnte schon ein Grund vorliegen. Da hat jemand gegen eherne sozialistische Prinzipien verstoßen, hätte ihn Amt und Vermögen kosten können.“

Nein, das überzeugt Betty nicht, aber egal. Und der zweite Grund sei der Typ aus Hamburg, der suche nicht, wie das bei einer Vermissten üblich sei, sondern observiere, wie die Stasi, nur anders. Und da diese mit Sicherheit an ihnen kleben würde, habe er ihn daraufhin dezent angesprochen, aber er glaubte, der Hamburger Kollege würde ihm misstrauen. Ich müsse mit dem Mann ein klärendes Gespräch führen, der gefährde sich und uns, sagte Dietmann mit Nachdruck. Der Hamburger ginge etwas ganz anderem als einer vermissten Journalistin nach. Ich müsse mit ihm reden, aber nicht in meinem Büro. Es hat mich sehr berührt, dass Sören mit gegenüber so loyal war. Ich hätte in Teufels Küche geraten können.“

 

Er habe sich den Hamburger vorgenommen, habe sich mit ihm zum Abendessen verabredet und ihn direkt gefragt, was er wirklich suche. Klar habe Hein rumgedruckst. „Ich habe ihn dann gefragt, wen er wirklich suche, dass müsse ich wissen, ansonsten würde ich dafür sorgen, dass er gleich morgen zurück nach Hamburg fahren könne. Die Stasi sitze mir im Nacken. Bevor er zu reden begann, sagte ich ihm, dass er mir vertrauen könne, ja müsse. Er brauchte eine gewisse Zeit, dann erklärte er mir, dass ein sich abgesetzter DDR-Bürger der Hamburger Polizei mitgeteilt hatte, dass er eine gesuchte RAF-Terroristin in Ost-Berlin am Bahnhof erkannt habe.

„In Ost-Berlin? Warum suchen sie dann in Rostock?“

„Dieser Zeuge behauptete, die Frau habe ein Zugticket gelöst und er sei sich sehr sicher, dass er als Zielort Rostock verstanden habe. Ost-Berlin war dem Westen nah, zu nah, also glaubte ich an die Variante mit der Provinz.“

Er sei Zielfahnder beim LKA Hamburg und habe den Auftrag, diese Vermutung mit Fakten zu untermauern. Denn die deutschen Behörden suchten nach den RAF-Mitgliedern, vermuteten, dass sie in arabischen Ländern oder Nicaragua abgetaucht seien. Zwar habe es auch Gerüchte gegeben, die DDR sei Gastland für die Terroristen, was aber immer nur Gerücht blieb, von der DDR vehement bestritten und bisher ohne konkreten Verdacht bis eben zu diesem Hinweis in Hamburg. Bei der gesuchten Person handelte es sich um Inge Viett. Da er bereits die Aufmerksamkeit der Stasi auf sich gezogen habe, riet ich ihm, von der Observierung abzuweichen und so zu tun, als ob er suche und versprach ihm, mich umzuhören, da ich Drähte hätte, die ihm nicht zugänglich seien. Er könne auch seinem Begleiter, eben Dietmann, vertrauen. So begannen wir ein Spiel gegen die Stasi, führten zum Teil groteske Gespräche in meinem Büro, um die Neugier der Stasi zu befriedigen und uns einen Spaß daraus zu machen, sie zu verarschen. Während Hein und Sören draußen herumschnüffelten, recherchierte ich unter Vorwand, was ich über die Terroristin in Erfahrung bringen konnte.“

 

Wow, denkt Betty, was für eine irre Geschichte, von der sie nur am Rande etwas vernommen hatte und Hembach mittendrin. Zu ihrer Überraschung zieht Hembach eine Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche seines Hemdes, steckt sich eine an, zieht daran, bläst nachdenklich den Rauch in den Wind.

„Seit wann rauchst du? Habe ich da etwas verpasst?“

„Ein Laster braucht der Mensch, also habe ich mich für das Rauchen entschieden, allerdings nur gelegentlich. Weißt du, die Geschichte habe ich noch keinem Menschen erzählt und wenn ich jetzt darüber rede, regt mich dies furchtbar auf. Es war schon etwas leichtsinnig von uns. Das in Rostock nichts für Hein zu holen war, wurde mir schnell klar. Wenn etwas gewesen wäre, ich hätte es mitbekommen. Die sozialistischen Informationswege sind verschlungen und mysteriös, man musste sie kennen, dann konnte man sie betreten. Kurz und gut, ich rief in Berlin ein paar ehemalige Studienkollegen an, kündigte an, dass ich ein paar Tage in Berlin sei, fragte, ob wir uns treffen könnten. Zwei Kollegen waren bei der Stasi gelandet, zwei im Kriminaldienst. Ich nahm drei Tage Urlaub und fuhr nach Berlin, instruierte Hein und Sören, dass sie Hotels abklappern sollten, Leute befragen, halt so tun, als ob. Die ersten Treffen mit zwei Kollegen verliefen zwar sehr nett, aber erkenntnislos. Natürlich konnte ich nicht ohne Verdacht zu erregen einfach losfragen, so etwas muss um viele Ecken eruiert werden. Beim dritten Kumpel wurde ich fündig. Einer von denen, die bei der Stasi arbeiteten. Nach einigen Bieren kamen wir auf unsere Arbeit zu sprechen und ich erzähle Walter, dass ich derzeit einen West-Kollegen an der Backe hätte, der eine vermisste westdeutsche Journalistin suche. Vielleicht sei die untergetaucht, wollte Teil des sozialistischen Kollektivs werden, witzelte er. An sein Schmunzeln erinnere ich mich heute noch und da erzählte er mir, natürlich unter strengster Vertrautheit, dass dies durchaus nicht unüblich sei, auch der Westen habe seine Sozialisten. Er wisse von acht oder gar zehn Personen, die in die Zivilgesellschaft der DDR eingetaucht seien und von denen der Westen gerne wüsste, wo diese Leute sind. Welche Leute, habe ich nachgesetzt. Na ja, meinte Walter, Leute, die im Westen gesucht werden und bei uns Aufnahme fanden. Streng geheime Sache. Was redest du da für einen Unsinn, fragte ich nach und Walter, ziemlich angesoffen, meinte, dass seien Aussteiger, Linksradikale, von denen keine Gefahr mehr ausgehe, hätten neue Identitäten, lebten als Werktätige in der sozialistischen Gemeinschaft. Er solle jetzt still sein, dass sei doch sicher ein Staatsgeheimnis. Sei es, deshalb Psst und lachte dabei. Ich wechselte das Thema, erzählte, dass ich auch die anderen Kollegen getroffen hätte und was wer machte, erzählte von meiner Arbeit in Rostock und brachte ihn dann zu einem Taxi. Am Folgetag rief ich ihn im Amt an, ob er gut nach Hause gekommen sei, der Kopf nicht allzu schwer, nur um zu hören, ob er Gewissensbisse wegen seiner Erzählung hatte, war aber nicht der Fall. Zurück in Rostock berichtete ich Hein, was ich erfahren hatte, erklärte ihm die Aussteiger würden scharf von der Stasi überwacht und lebten verteilt in DDR, niemand von denen aber in Rostock, da sei er einer Falschinformation aufgesessen. Mit diesen Informationen reiste Hein zurück nach Hamburg, mit dem Versprechen, die Erkenntnisse nicht auszuwalzen und eine Staatsaffäre auszulösen, die mir und Sören hätte auf die Füße fallen können. Ich blieb mit Hein seitdem verbunden. Er kam sogar noch dreimal nach Rostock, denn, wenn der Westen einen Fall hatte, dessen Lösung in der Zusammenarbeit mit der DDR lag, schickte man Hein. Wir kamen gut klar miteinander. Ja und dann kam die Wende. Ich könnte auch sagen, dann kam das Chaos, denn das kam…und das Verbrechen. Und das Verbrechen war schneller da als alles andere. Drogenhandel gab es auch in der DDR, dafür sorgten ein paar Russen, die das Zeug aus Afghanistan bezogen, aber die hatten wir im Griff. Was aber mit der Wende kam, war mit unseren Mitteln nicht zu stoppen. Die Verbrechensrate schoss in die Höhe, die Aufklärungsrate ging in den Keller. Wir operierten in einem Vakuum, wussten nicht, gelten die alten Gesetze noch oder mussten wir gemäß den Neuen handeln? Nur, was hieß neu? Nur nebenbei, die westliche Politik sprach vom Unrechtsstaat, diese Benennung hat mir nie gefallen. Wir hatten unsere Gesetze und Regeln, halt andere als der Westen, aber es waren Gesetze, also waren auch wir ein Rechtsstaat, im weitesten Sinne. Kurz, wir wussten nicht, was wir durften und was nicht. Wir hatten keinen Staatsanwalt mehr, war auf und davon. Bekamen wir einen Dealer zu fassen, was selten der Fall war, stand sofort ein Anwalt auf der Matte und holte ihn wegen Verfahrensfehler in sein Geschäft zurück. In rasender Geschwindigkeit konnten die Gangs ihre Terrains abstecken. Wir konnten nur mit den Schultern zucken und beobachten. Und dann unser Gefährt. Hast du schon einmal versucht, mit einem Trabi einen 7er BMW zu verfolgen? Die Gauner machten sich einen Spaß daraus, uns in chancenlose Verfolgungsfahrten zu verstricken. In der Bevölkerung waren wir als Volkspolizei verhasst, wir wurden als Handlanger des Regimes angesehen, zumindest von denen, die die neue Freiheit begrüßten. Was dies hieß, zeigten später die Ausschreitungen in Lichtenhagen. Und dann…“

 

„…Was war da in Lichtenhagen?...“

„…Später, erklär ich dir später. Wie gesagt, wir waren Landunter und dann kamen die aus dem Westen, die uns Demokratie erklären sollten. Es waren nicht die besten Beamten, die man uns schickte. Jedenfalls bekamen wir einen Polizeichef, einen Verwaltungschef, jemand, der mich als Chef ablöste, zwei Kollegen im Innendienst und zwei Staatsanwälte. Fürs Erste. Sie packten ihre Computer aus und wollten uns die Welt erklären, und Rostock. An den Wochenenden fuhren sie nach Hause zu ihren Familien und wir waren sozusagen ohne Führung, was der Verbrechenswelt nicht verborgen blieb. Es war eine chaotische Zeit, die Nerven kostete und viele Auseinandersetzungen brachte. Gut, keiner wusste, wie Wiedervereinigung geht, aber ein bisschen mehr Plan wäre nicht schlecht gewesen. In diese wirre Zeit kam Hein, der, nachdem Ex-Stasibeamte die Ex-Terroristen hochgehen ließen, keine Probleme mehr hatte, diese nach Westdeutschland überzuführen. Bevor er die Verhaftungen begleitete, kam er in Rostock vorbei und bot mir an, nach Hamburg zu kommen, er könne etwas arrangieren, damit ich schnell eine Stelle bei der Hamburger Kriminalpolizei antreten könne. Ich sagte, ohne groß zu überlegen, zu. Nur weg, dem Irrsinn entrinnen. Da war auch nichts, was mich hätte halten können. Meine Frau war samt Sohn auf und davon, allerdings bereits vor der Wende und auch sonst hatte ich mich irgendwie ins private Abseits manövriert. Nur, musste mein Abschied ohne Sören erfolgen. Das schlechte Gewissen kam sehr schnell auf. Weißt du, dank ihm bin ich um großen Ärger herumgekommen. Für seine Offenheit bin ich ihm ewig dankbar. Es kam mir fast wie ein Verrat vor, ihn im Stich zu lassen. Ich versprach ihm, sobald es mir möglich sei, ihn nachzuholen. Er war logischerweise enttäuscht, hoffte aber, dass die Möglichkeit schnell kommen würde. Hamburg war nicht meine Stadt, das merkte ich, kaum dass ich dort angekommen war. Es vergingen drei Jahre, dann musste ich zu einem Lehrgang nach Lübeck und hatte sofort Heimatgefühle. Ich drängte Hein, mir noch einmal zu helfen, damit ich nach Lübeck versetzt würde. Wie er es geschafft hatte, weiß ich nicht, aber es dauerte nur Wochen und ich konnte mich Leiter der Abteilung für Schwerstverbrechen nennen und, ich konnte Sören nachholen. Vier Jahre hatte er warten müssen, vier Jahre, die er im Übergang arbeiten musste, mit inkompetenten Vorgesetzten, unverständlichen Entscheidungen, einer Staatsanwältin, die ihm das Leben schwer machte und vielen anderen Ärgernissen. Was diese Wartezeit bei Sören bewirkte, habe ich unterschätzt und in unseren Kontakten nicht wahrgenommen oder wahrnehmen wollen. Ja, er kam verbittert an, tat rassistische und sexistische Sprüche von sich, und markierte den taffen, hart durchgreifenden Bullen. Über all das habe ich weggeschaut, habe ihn zwar ermahnt, aber nicht gewarnt. Er war derjenige, der mich vor dem Abstellgleis bewahrt hat. Wie gesagt eine lange Geschichte, allerdings in einer Kurzfassung. Ich möchte, dass du verstehst, warum ich so lange an Dietmann festgehalten habe, seine Fehler und Manipulationen gedeckt habe und warum es mir so schwer viel, ihn zu suspendieren.“

„Mir die leitende Ermittlung anzuvertrauen, war, wenn ich dich richtig verstehe, auch eine disziplinäre Maßnahme gegen Dietmann. Stimmts?“

Hembach lächelt, nicht freundlich, eher wie ein ertappter Sünder: „Ja. Ich hatte gehofft, ihn zur Vernunft zu bringen.“

„Schon seltsam wie mitunter die Dinge laufen. Was, Ede? Und was hat das mit Lichtenhagen zu bedeuten?“

 

„Du hast von Lichtenhagen gehört?“

„Betty schüttelt bedauernd mit ihrem Kopf: „Nein, nie gehört.“

„Der Mob ging damals auf ein Asylantenheim, in dem überwiegend Vietnamesen lebten, los. Trauriges Kapitel. Unsere Türken, also Gastarbeiter, aus unserem sozialistischen Bruderland. Waren sehr unbeliebt, weil sie sehr fleißig waren, bemüht die Norm zu erfüllen, was unsere Leute sehr ungern sahen. Die Vietnamesen waren die ersten, die auf der Straße standen, im doppelten Sinn. Sie verloren ihre Arbeit und ihre Wohnung, gestrandet in der DDR, billiges, vogelfreies Material, Frust abzuladen. Die meisten Vietnamesen gingen nach Hause zurück, aber etliche blieben, mittellos, bis auf ein paar Ersparnisse, einige wurden, um sich durchzuschlagen, gewiefte Zigarettenschmuggler, die uns wiederum das Leben schwer machten. Egal. Vor dem überfüllten Heim sammelten sich Menschen, angeheizt von Rechtsradikalen, viele davon aus dem Westen angereist, schmissen Scheiben ein, warfen Molotow-Cocktails, rund um Publikum, Gaffer, Neugierige, Teilnahmslose, Empathielose die kreischend oder schweigsam Beifall klatschten. Ich weiß nicht, ob du schon einmal die Hundejahre gelesen hast. Von dem Lübecker. Der war doch Lübecker oder erst später, ja, stimmt, war vorher Danziger.“

„Nein, den hatte ich noch nicht zwischen den Fingern. Was hat der mit Lichtenhagen zu tun?“

„Eigentlich nichts. Nur, im zweiten Buch der Hundejahre schildert Grass, ja, Grass hieß er, das Verhalten der Menschen unter den Nazis. Daran erinnerte mich Lichtenhagen als ich die Bilder sah, mir Dietmann alles haarklein berichtete. Ein paar Vernarrte agierten, die Menge sieht zu, applaudiert, lässt schweigend gewähren. Damals wurde mir klar, die Sorte Mensch wird sich nie ändern. Schlammmasse bleibt Schlammmasse. Die Volkspolizei rückte ohne Schutzkleidung, die hatte sie noch nicht, an, hoffnungslos dem Mob unterlegen und ohne richtige Führung, denn die war auf Wochenende bei der Familie im Westen. Wichtige Entscheidung wurden nicht oder zu spät getroffen, die Lage vollkommen falsch eingeschätzt, obwohl selbst die Tageszeitungen vom aufkommenden Volkszorn berichteten. Sören war mittendrin in den Auseinandersetzungen, versuchte zu deeskalieren, wurde verprügelt, der Volkszorn weitete sich auf die Volkspolizisten aus.

Die Kollegen vor Ort wurden beschimpft, beleidigt, bedroht, bespuckt, mit Steinen beworfen, angelernt vom Westimport. Wobei Westimport, nein, stimmt nicht ganz, wir hatten unsere eigenen Nazis. Ihr im Westen seid offensiv mit der Vergangenheit umgegangen, habt bekannt und das Vergessen zum Prinzip gemacht. Zu meiner und ich glaube, auch keiner Zeit nach mir, war die Judenvernichtung ein Thema im oder Gegenstand in einem Geschichtsbuch. Antisemitismus, Rassismus alles keine Themen für uns. Das es den Staat Israel gab, gut, das wussten wir, aber nicht wieso und warum. Wir wussten, dass es Palästinenser gab, unterdrückte, vom imperialen Israel aus dem Land gedrängte Palästinenser. Arafat war gern gesehener Gast, der kam und bekam, was er sich für seinen Kampf wünschte. Von daher waren die Ausschreitungen nicht unerwartet, das Potenzial dazu noch immer latent vorhanden. Leute, die der alten Ideologie noch anhingen, hatten wir noch einige, natürlich nicht offiziell. Wir Polizisten, wir Volkspolizisten, kannten kein Meutern gegen die Obrigkeit, die wir waren, wir waren Respekt gewohnt, demütige Unterwerfung, nun aber Freiwild, weil die Leute sehr schnell unsere Schwäche erkannten. Viele Kollegen begannen aus Unsicherheit, aus Angst, wegzuschauen, zuzuschauen, hielten sich zurück, viele resignierten vor dieser Volkswut. Schließlich begann das Heim zu brennen, unsäglich das Gejohle, die Heil-Hitler-Rufe, die Diffamierung derjenigen, die nur hier waren, um mit dem kargen Gehalt ihre Familien in der Ferne zu ernähren. Erst nach zwei oder waren es sogar drei Tagen, kam aus Hamburg eine Hundertschaft gut ausgerüsteter Bereitschaftspolizei, die dem Spuk ein Ende bereitete. Der angerichtete Schaden strahlte weit über den materiellen Schaden hinaus. Der Zusammenbruch der Ordnungsmacht, die wir bisher waren, war so eklatant sichtbar geworden, so deprimierend, dass viele Polizisten den Dienst quittierten. Ich denke, Sörens Verbitterung rührt aus diesem Erlebnis…Meine Güte, Betty, ich rede und rede und meine Kehle trocknet langsam aus. Hier kommt wohl kein Kellner vorbei und die nächste Kneipe ist fern. Oder?“

„Ich kann in der Klinik etwas holen.“

„Nein, nein, lass nur. Ich gehe zum Wohnmobil und hole uns etwas zu trinken. Ein Bier?“

„Bier? Das ist Gift. Wasser, nur Wasser.“

 

So viel hat Hembach tatsächlich noch nie an einem Stück gesprochen, seine Ansage aber eingelöst und Betty ist sich sicher, dass Hembach, als er ihr ankündigte, ihr die Geschichte irgendwann zu erzählen, bereits wusste, dass er Betty in Ahrenshoop besuchen würde. Betty versteht ihn sehr gut, nein, Vorwürfe macht sie ihm keine. Sie blickt auf die See, spürt einen leichten Druck im Magen, schaut auf ihre Armbanduhr und stellt fest, dass sie das Abendessen versäumt. Egal, sie hat noch einen Apfel und zwei Bananen auf dem Zimmer, die tun es auch.

Vom Wasser treibt eine leichte Brise kühle Luft heran, so im Rücken der untergehenden Sonne sitzend, spürt Betty nun die Frische des frühen Abends, hätte besser noch einen Pullover mitgenommen. In ihrem Kopf versucht sie nachzuvollziehen, was die Wende für Hembach und Dietmann bedeutet hat. Aber wie bei Veras Erzählung fehlt ihr der wissende Hintergrund. Sie kann nur aufnehmen, in sich speichern, was Hembach berichtet hat, um später daraus ihre Erzählung zu machen.

Mit einer Flasche Bier und einer Plastikflasche Wasser in der Hand kommt Hembach flotten Schrittes zurück, mit einem Plop öffnet sich seine Flasche, Betty dreht den Verschluss ihrer Wasserflasche ab, sie prosten sich zu.

„Sind dünne Zeiten. Was? Und du trinkst wirklich nichts außer Wasser?“

„Tee, Kaffee, gelegentlich ein Glas Obstsaft, allerdings verdünnt.“

„Fällt es dir schwer, das durchzuhalten?“

„Ich und mein Magen haben sich an die dünnen Zeiten gewöhnt. Zurück in der Zivilisation wird es sicher schwerer werden, wenn all die Versuchungen wieder auf mich einströmen. Hier bin ich geschützt davor. Aber ich denke, auch damit werde ich umgehen können.“

Anerkennendes Kopfnicken von Hembach.

„Du hast weiterhin Kontakt zu Dietmann? Was treibt er jetzt?“

„Ich habe ihm eine Stelle bei einer Security-Firma vermittelt. Er organisiert den Personaleinsatz. Wenn ich nicht irre, gefällt ihm der Job. Er ist ruhiger geworden, allerdings seine Verbitterung ist ungebrochen und ob die Firma ihm guttut, bezweifle ich langsam. Den Jungs dort haftet eine rechte Gesinnung an. Apropos rechte Gesinnung. Ich habe Neuigkeiten von deinem neuen Chef. Die wollte ich dir auch noch mitteilen, bevor ich in die Welt ziehe. Hatte ich dir schon gesagt, dass er vom LKA in Hannover kommt? Ja. Doch habe ich. Ulf Griebel heißt er, macht es aber auch nicht besser. Eine ungewöhnliche Versetzung, die damit zu tun hat, dass Herr Griebel seine Verhöre sehr unsensibel geführt hat, besonders bei Leuten mit Migrationshintergrund. Er bekam eine Anzeige wegen schwerer Körperverletzung, Amtsmissbrauch. Hört sich nach Dietmann an. Ich denke aber, der Typ ist einen Tick schlimmer als Sören. Ihm wird die Nähe, wenn nicht sogar mehr, zur rechten Szene nachgesagt. Gründe, ihn aus dem Dienst zu entfernen. Dumm nur, dass er ein Beamter mit Auszeichnung ist und anscheinend eine schützende Hand über sich hat, weshalb es einen Deal zwischen Spitzenbeamten aus Niedersachsen und Holstein gab, Griebel von seinen rechten Freunden zu trennen, und ihm in Lübeck eine zweite Chance zu geben. Damit will ich dir sagen, dein neuer Chef ist rassistisch, sexistisch, rechtslastig, diskriminierend, also ein äußerst unangenehmer Zeitgenosse, dessen Ressentiments du auf dich ziehen wirst. Er wird dir keinen Spielraum lassen. Mit anderen Worten, es wird unangenehm für dich werden. Ich weiß, du wirst in Kürze nach Hamburg gehen, überlege dir deine weiteren beruflichen Schritte genau. Wenn du in Hamburg unterkommen willst, gebe mir Bescheid, ich kann da etwas für dich tun. Und in Lübeck wird Travens hinter dir stehen, so gut er kann.“

 

Nein, keine guten Nachrichten für Betty. Langsam, aber sicher, muss sie eine Entscheidung für sich treffen, wobei, so klammheimlich, noch verborgen im Hinterkopf, tendierte sie für Hamburg, für ihre Zukunft in der Wissenschaft, aber noch zögert sie, schiebt hinaus, will das eine nicht loslassen, das andere noch nicht ergreifen. Nachdenklich schaut sie auf die See hinaus, will gerade ansetzen, etwas dazu zu sagen als nach kurzem Knirschen im Sand Vera dasteht.

„Oh, ich störe wohl. Tut mir leid, aber ich habe mir Sorgen gemacht. Du warst nicht auf deinem Zimmer, nicht zum Abendessen…Ich gehe dann mal wieder.“

„Nein, bleibt nur Vera. Dies ist Evald Hembach, Ede, mein Chef, nein, mein Ex-Chef, auf Zwischenstopp seiner Weltreise.“

Hembach ist aufgestanden, reicht Vera, sie freundlich anlächelnd, die Hand, bietet ihr seinen Platz auf der Sandbank an, er müsse eh gleich weiter, die aber winkt ab, setzt sich in den Sand und schaut auf die beiden.

„Weltreise? Das klingt abenteuerlich. Per Schiff oder Flugzeug? Allerdings ist hier weder für Schiffe noch für Flugzeuge ein Hafen. Das haben Sie sicher schon bemerkt.“

„Habe ich, junge Frau, habe ich. Mein Schiff steuere ich über Landstraßen und Autobahnen. Und Welt? Betty übertreibt manchmal, es sei denn, ihre Welt ist so klein wie meine Reiseroute.“

„Ede hat mir gerade mitgeteilt, dass ich einen neuen Chef bekomme und so wie ich ihn verstanden habe, bekomme ich ein Arschloch zum Chef. Vielleicht überlege ich mir, ganz hier zu bleiben. Aber ehrlich, Ede, ich werde gegenhalten, zumindest die zwei Monate, die ich noch in Lübeck bin und wenn es mir nicht passt, dein Angebot annehmen und in Hamburg bleiben.“

„Tue das Betty. So, jetzt muss ich aber weiter. Ich habe einen Stellplatz in Zingst gebucht, den muss ich belegen, bevor er anderweitig vergeben wird. Ich will ein paar Tage bleiben, alte Erinnerungen auffrischen, umringt von neuer Dekoration, bevor es dann nach Polen geht. Allerdings habe ich noch etwas für dich, Betty, du müsstest mit zum Wagen kommen.“

„Mach ich, mir ist eh kalt.“

Sie schaut auf Vera, die nickt zum Zeichen, dass sie mit in die Klinik zurückgeht.

Nebeneinander überqueren die drei die Dorfstraße, die zwar so heißt, aber hier nicht viel Dorf durchläuft, gehen zu Hembachs Wohnmobil, das er aufschließt, einsteigt, etwas greift und Betty ein Umschlag in die Hand drückt.

„Ich habe dir deine Beurteilung für die Zeit in Lübeck geschrieben, vordatiert auf den Tag deines Abganges nach Hamburg. Sollte dein neuer Chef auf die Idee kommen, dir eine Beurteilung zu schreiben, schmeißt du diese diskret in die Tonne. Verstanden?“

„Wow, du denkst an alles. Danke, Ede.“

„Bitte, bitte, immer wieder gern. Ich wünsche dir alles Gute, für deine Restkur und dein weiteres Berufsleben und melde dich bei mir. Ich bin zwar weg, aber mein Handy spricht mit dir und kann auch mit anderen reden. Du verstehst. Auch Ihnen, junge Frau, alles Gute, wobei, zum Abnehmen sind Sie anscheinend nicht hier.“

„Nein,“ antwortet Vera verlegen.

„Ach, fällt mir gerade noch ein. Gibt es etwas Neues über die Einbruchssache?“

„Hm, Betty, ich bin draußen und die Einbrecher, wie alles andere, sind Geschichte und du bist hier zu Regeneration. Vergiss die Sache, Lusi und Peter kümmern sich darum.“

Nachfrage sinnlos, weiß Betty.

Betty drückt Hembach, wünscht ihm wunderschöne Tage, viele interessante Begegnungen und das alles so laufen wird, wie er es geplant hat und sollte der Mytro sprechen, solle er sie bitte gleich anrufen, der Erleichterung wegen, was Hembach verspricht.

Hembach besteigt sein Wohnmobil, wirft es an und setzt es in Bewegung, fährt los, zwei winkende Frauen stehen lassend.

 

Die beiden plaudern noch kurz, bevor sie in die Klinik zurückgehen, jeweils auf ihr Zimmer. Betty begnügt sich mit einer Banane und einem Apfel als Abendbrot, isst beides gemächlich, jeden Bissen ausgiebig bekauend, innerlich angespannt und mit der Absicht, Lusi anzurufen im Kopf. Noch auf dem Apfel kauend wählt sie Lusis Handy-Nummer, die sich prompt meldet und aufstöhnt: „Betty, du solltest doch nicht mehr…“

„Lusi, muss sein, rate mal, wer eben hier war.“

„Na, wer schon? Der Chef.“

Betty stutzt überrascht: „Woher weißt du…“

„Vom Chef selbst. Er hat uns beim Abschiedsessen neulich von seiner ewigen Rundreise erzählt. Und da eins und eins zwei ist, weiß ich, dass er bei dir vorbeischauen würde. Hatte er einen Grund?“

Und Betty klärt Lusi auf, spult die ganze Geschichte um Dietmann ab.

„Weißt du, ich frage mich, warum jetzt? Warum wird der Chef plötzlich so gesprächig? Ich kann mich nicht erinnern, wann er zuletzt irgendetwas Privates von sich gegeben hätte. Und nur durch einen Versprecher seinerseits weiß ich, dass er verheiratet war, einen Sohn hat, den er zuletzt gesehen hat, als dieser zwei Jahre alt war und dies sei nun über zwanzig Jahre her. Kein Wort, wie er damit umgeht, was das mit ihm macht. Und plötzlich sprudelt er nur so von Geschichten. Also, ich weiß nicht, irgendwie habe ich ein komisches Gefühl.“

„Wie, komisches Gefühl? Wie meinst du das?“

„Als er von seiner Nordtour sprach, seiner Südtour, habe ich ihn gefragt, was danach komme. Er wirkte erstaunt über die Frage, als hätte er nie darüber nachgedacht, obwohl er anscheinend monatelang über seine beiden Touren nachgedacht hatte.“

„Na ja, mag komisch sein, aber ich sehe keinen Grund beunruhigt zu sein. Er wusste ja nicht wie lange seine beiden Touren dauern würden, weshalb er sich darüber hinaus keine weiteren Gedanken gemacht hat.“

„Ja, vielleicht vermute ich Gespenster.“

„Und du weißt auch, wer unser neuer Chef sein wird?“

„Nein, keine Ahnung.“

„Schlechte Nachricht. Hembach wusste wie immer Bescheid. Er hat mir ein Arschloch angekündigt, ein Stinkstiefel der Sorte Dietmann, nur einen Tick schlimmer. Ulf Nochwas heißt er, berüchtigt und versetzt wegen unverhältnismäßigem Verhalten gegenüber Verdächtigen, besonders gegenüber jenen mit Migrationshintergrund. Weißt du, wann der Neue sein Amt antritt?“

„Angeblich kommenden Montag, also den Gerüchten nach. Genaueres hat man uns noch nicht mitgeteilt. Selbst unser Oberstaatsanwalt ist ahnungslos. Ach ja, werden keine leichten Zeiten werden.“

„Na ja, so schlimm wird es schon nicht werden und wenn der Typ mir blöd kommt, blöde ich einfach zurück.“

Lusi lacht, stellt sich sicher vor, wie sich Betty vor dem neuen Chef aufplustert und mit ihm Tacheles redet. Obwohl es Betty auf der Zunge brennt, fragt sie nicht nach der Sache mit der Einbruchserie und Lusi lässt auch kein Wort fallen, wie weit sie aktuell sind. Betty berichtet ihr noch über ihren Klinik-Alltag und wie gut sich all die Behandlungen und Aktivitäten auf sie auswirken. Ob sie schon die Kleidergröße wechseln müsse, muss Betty lachend verneinen, wisse sie nicht, da sie immer nur die Sportsachen trage, die einem gewissen Dehnungsfaktor unterliegen, aber bisher habe sie fast neunzehn Kilo abgenommen, die zu den Kilos kämen, die sie im Krankenhaus gelassen hatte. Freue sie, meint Lusi und sie verabschieden sich bis demnächst.

 

Und dieses Demnächst rückt in großen Sprüngen immer näher. Der Alltag in der Klinik mittlerweile eingeübt, Betty, auch wenn noch zu viele Pfunde auf ihr wuchern, fühlt sich leichter, beschwingter, ihr machen die Läufe, die Ballspiele, die Gymnastik Spaß. Der Austausch mit den Mitpatienten belebt sie, merkt, dass sie nicht allein problembeladen auf der Welt ist. Beim Strand-Volleyball ist Betty eine begehrte Team-Kollegin, ihrer Schlagkraft wegen, knallt der Gegenpartei die Bälle nur so um die Ohren, fängt vorne ab, was in die Reichweite ihrer Arme kommt. Eine Gewinnerin, was Betty so selten war.

Abends die Gespräche mit Vera am Strand, über Alltagsprobleme, Frauendinge, Veras Hof. Vera schildert Betty ihre Kinder- und Schülerzeit, erfüllt von Gewissensdrücken im Magen, der Angst wegen, dass sie die Eltern durch eine kleine Unachtsamkeit verraten könnte, denn die schauten nur West, ließen systemlästerliche Worte fallen, schärften Vera stetig ein, nur ja niemand, auch nicht Käthchen Funkel, ihrer Freundin, von dem, was sie zu Hause hörte und sah, auszuplaudern. Sie schwieg, auch wenn durchdringende Augen auf sie gerichtet waren, schwieg in sich hinein, aus der Klassengemeinschaft hinaus, wurde zur Stillen, zur Schweigsamen, die spürte, dass etwas nicht stimmte, in diesem Land, an dem, was die Lehrkörper verbreiteten. Dieses Schweigen, alles in sich fressen, habe sie nie wieder verlernt, mache sie heute wie damals, wenn auch nicht mehr so ausgeprägt wie damals. Deshalb haben ihr die Gespräche mit Betty so gutgetan. Selbst vor Holger blieben während seines Wochenaufenthaltes viele Themen unausgesprochen.

Nur ansatzweiße vermag Betty zu verstehen, was dieses Schweigenmüssen der Kinderzeit in Vera bewirkte, ihre eigene Schweigelast, die sie mit sich trägt, ist kein systembedingtes Schweigen, ihr Schweigen war das der Einsamen, der Abgesonderten, der Verletzbaren.

Sie kamen auf Bettys Arbeit zu sprechen, in die sie bald wieder voll eingespannt sein wird und ihr langsam dämmert, dass es schwer werden wird, ihren Alltag einigermaßen planmäßig zu gestalten. Betty spricht über ihre Unentschlossenheit, wie es mit ihr beruflich weitergehen wird, sie sich nicht zu einer klärenden Entscheidung durchringen kann.

„Warum fällt dir diese Entscheidung so schwer? Dir ist doch bestimmt klar, dass mit dem Gehen des alten und dem Kommen des neuen Chefs sich einiges ändern wird. Dein Spielraum, den dir der alte Chef einräumte, wirst du loswerden, wirst nur noch eine Ausführende sein, zurück ins Glied und das, wie ich dich kenne, wird dir nie und nimmer reichen.“

„Ich weiß. Ich weiß. Die Entscheidung, die ich für mich treffen muss, ist emotionsgeladen. Ich fühle mich wohl und geborgen in unserem kleinen Team. Ich gehöre dazu, ein Gefühl, dass ich nur selten hatte. Meine Kollegen sind nett. Ich bin akzeptiert. Ich mag das Ermitteln, Spuren suchen, Zusammenhänge finden…“

„…Was alles nicht mehr so sein wird, wenn du zurückkehrst…“

„…Gut, Wunschvorstellungen. Aber kann eine einzelne Person etwas Gewohntes so weit auflösen, dass nichts mehr ist, wie es war?“

„Leider ja, dazu ist nicht viel notwendig, außer ein wenig Macht und ein Chef hat nun einmal Macht.“

„Ja. Ich habe zwar zwei Monate Zeit, zu sehen, wie sich die neue Konstellation entwickelt, das Dumme ist nur, dass Professor Giede auf eine zeitnahe Entscheidung meinerseits drängt, der übrigens, wie Hembach, Evald zum Vornamen hat, lustiger Zufall. Er hat viel für mich getan, hat mich gefordert und gefördert, schon fast väterlich gefördert. Ich will ihn nicht enttäuschen, aber genauso wenig will ich meine Kollegin und meine Kollegen enttäuschen.“

„Nun, in ein saures Teil musst du beißen, wobei, Kollegen wirst du immer wieder finden, aber einen väterlichen Förderer nicht. Und Frau Professor hört sich doch besser an als Frau Oberkommissarin.“

 

Ja, Vera hat natürlich recht. Warum steht sie sich selbst im Weg mit Argumenten die nur Ausflüchte sind, um ihre Unentschlossenheit zu kaschieren?

„Und dann heißt Giede Hamburg. So recht mag ich Hamburg nicht, nicht als Stadt, die überquillt von Lärm und Schmutz und Hektik und Menschen, wobei, so richtig kenne ich Hamburg nicht. Ich kenne nur den Stadtteil, in dem Großmutters Haus, jetzt mein Haus, steht und den paar gelegentlichen Ausgängen in die Stadt, das Wenige, was ich in der Hamburger Zeit als Polizistin gesehen und erlebt habe, reicht aus, die Stadt nicht zu mögen. Lübeck ist überschaubar, träger, hat viele schöne Ecken. Die Kriminalität ist nicht so vielseitig und brutal wie die in Hamburg.“

„…Mit der du dann aber nichts mehr zu tun hast.“

„Eben. Das würde ich missen. Keine Spannung, kein Nervenkitzel, keine Adrenalinschübe, kein Zusammengehörigkeitsgefühl. Das sind Verluste. Ich mag keine Verluste.“

„Betty, wenn du einen akuten Fall bearbeitest, wie lange arbeitest du dann?“

„Na ja, Achtstundentag geht nicht. Oft bis in die Nacht hinein, manchmal bis in die Morgenstunden. Worauf willst du hinaus?“

„Hm. Du hast doch hier gelernt, was deinem Körper guttut und das, in einem routinierten Tagesablauf. Dein zukünftiger Alltag hat nichts mit der Routine von hier zu tun. Er ist fast nicht planbar. Das Verbrechen leitet deinen Alltag. Wie willst du in einem chaotischen Umfeld eine geregelte Ernährung gewährleisten, dein Fitnessprogramm einhalten? Die Wissenschaft, also dein Professor, bietet dir diesen geregelten Alltag, der die Freiräume ermöglicht, die du für dich brauchst. Und, ist es nicht so, dass dein Professor gelegentlich zu polizeilichen Ermittlungen beratend hinzugezogen wird? Also ganz ohne Nervenkitzel musst du nicht bleiben. Du arbeitest mit jungen Menschen, bildest sie aus. Daraus kannst du mehr Anerkennung saugen als in deinem Kleinstadtrevier.“

 

Klingt alles vernünftig. Nur, Vernunft und Emotionen wollen bei Betty nicht so recht zusammenpassen. Vielleicht ist es Angst, das Wenige, was sie sich erarbeitet hat zu verlieren, wieder neu anzufangen, die ihr die Entscheidung so schwer macht. Aber, sie muss sich entscheiden, noch bevor sie die Heimreise antritt. Nicht jetzt. Obwohl, wäre Betty ehrlich zu sich, hätte sie sich eingestehen müssen, dass sie unterschwellig längst weiß, was sie tun wird, nur wurden halt ab und zu das Wenn und das Aber dominant, die ihre Gedanken wieder auf Abwege führen.

Thema wechseln. Betty will mehr über das Leben in der DDR und dem nach der Wende. wissen, Wissen, das Betty aufsaugt, nicht alles so nimmt, wie Vera es berichtet, versucht sich ein eigenes Bild zu machen, in dem sie, nachdem sie zurück auf ihrem Zimmer ist, Google aufruft und sich über Suchbegriffe durch die Wende liest und feststellt, dass die Geschehnisse der damaligen Zeit mit unterschiedlichen Worten beschrieben werden, je nachdem, wo der Autor herkam oder politisch stand. Schon seltsam. Wie bei einem Gemälde, das für alle Betrachter gleich ist und dennoch jeder Betrachter seine eigene Interpretation hat.

Sonntags die Spaziergänge am Strand entlang in den Ort, Veras Mann wieder mitten in der Nordsee, trinken sie im Ort in einem Café Tee und beobachten die scheinbar ziellos flanierenden Touristen, besuchen Galerien und Museen, schlendern an den ehemaligen Kapitänshäusern vorbei, Kapitäne, die ihren erschifften Wohlstand in massivem Stein, einem Frontspieß, einem Hartdach und in knalliger Farbe, damals weiß, heute blau oder rostrot, dem, der meist blau gestrichenen Steuermannshäusern, entgegenstellten. Manch Mitbringsel aus exotischen Weltgegenden ziert die Vorgärten. Dagegen die rohrgedeckten Lehnstaakenbauten der Fischer und Bauern, die farblos und blass wirken gegenüber der Wohlstandswucht und dennoch immer wieder in Szene gesetzte Motive der Stimmungsmaler. Sich abheben von der Masse, denkt Betty beim Anblick der Kapitäns-Häuser, irgendwie in die Gene des Menschen implementiert.

Sie tauschen sich über Kunst aus, wobei der Austausch einseitig bei Vera liegt, die sich mit der DDR-Kunst, dem sozialistischen Realismus, gut auskennt und auch bei diesem Thema in Betty eine gelehrige Zuhörerin findet. Auch Paul Müller-Kaempff, der Begründer der Künstlerkolonie Ahrenshoop, ist Vera kein Unbekannter, ihre Eltern besitzen drei Aquarelle aus dessen Zeit in Ahrenshoop, Dünenblicke, Erbstücke von den Großeltern. Ihr Vater nennt die Aquarelle Freiheits- und Sehnsuchtsbilder, vor denen er saß, seinen Träumen nachhing und seiner Tochter erklärte, was die Bilder ihm bedeuteten. Die Maler seien empfindsame Menschen gewesen und dies drücke sich in deren Gemälden aus.

 

Am letzten Sonntag vor dem Ende des Klinikaufenthaltes fahren sie zusammen nach Stralsund, eine mit vielen roten Backsteinen gebaute Hanse-Stadt, die mit einem Rathaus der Backsteingotik, Kaufmannshäusern, Kirchen und Klöstern prunken kann. Schon der Hauptbahnhof, bei der Ankunft, eine kleine Sehenswürdigkeit. Vera ist erstaunt und beeindruckt, als sie durch die restaurierte und sanierte Altstadt laufen, die dem sukzessiven Zerfall der Häuser in der Zeit des Arbeiter- und Bauernstaates entrissen wurde. Hat die Marktwirtschaft auch etwas Gutes gebracht, meint Vera, denn die Wende spült die privaten und öffentlichen Investoren an, die in den Erhalt der Häuser investierten, ihre Substanz erhielten und alte Häuser wieder alt aussehen ließen, leider auch diejenigen, die bisher in den Wohnungen wohnten, denn wo investiert wird, steigen zwangsläufig die Mieten.

Ihr Mittagessen nehmen sie in einem italienischen Restaurant in dessen Außenbereich ein. Die Sonne noch warm genug, um draußen an der, wegen der vorbeifahrenden Autos, nicht gerade frischen Luft, zu verbringen. Betty verzichtet auf die Nudelbeilage, nur ein Rindersteak mit Broccoli. Tapfer, tapfer, meint Vera. Ja, das ist Betty nun, streng zu sich selbst, jedes verlorene Pfund spürend. Und glücklich darüber, ihre berufliche Zukunft entschieden zu haben.

Gestern Abend hat sie Professor Giede per eMail zugesagt, die Assistenzstelle an seinem Institut anzunehmen. Giede wird es freuen, hat aber noch nicht reagiert. Und dieser Moment der Zusage wirkte wie eine Befreiung, sie spürte förmlich, wie aus der dicken Blase in ihr die Luft entwisch. Sie spielte, befreit wie sie war, sogar mit dem Gedanken, sofort zu Vera zu stürzen, ihr ihre Entscheidung mitzuteilen, vielleicht dies sogar mit einem Glas Sekt zu begießen, doch zu spät am Abend und eine Flasche Sekt hatte sie natürlich auch nicht griffbereit, morgen, hat Zeit bis morgen, irgendwann morgen wird sie Vera einweihen.

Stattdessen rief sie ihre Großmutter an, wohlwissend das ihre Großmutter gerne bis spät in die Nacht Fernsehen konsumierte. Sie nahm gleich an, zwar etwas erstaunt über den späten Anruf, weniger erstaunt über den Entschluss ihrer Enkeltochter für Hamburg und die Wissenschaft. Sie hatte nie einen Zweifel, dass Bettys Entscheidung so ausfallen würde, wie sie nun ausgefallen ist. Vernünftig, meinte Großmutter, sehr vernünftig. Betty schlug ihr sogleich vor, in ihre gewohnte Umgebung zurückzukehren, sie wäre jetzt für sie da, könne sich kümmern, sie müsse nicht ihr Lebensende in der Senioren-Residenz verbringen.

Ja, Bettys Großmutter Katharina wohnte in einer Residenz, keinem Seniorenheim, keinem Altenheim, keinem Seniorenstift oder wie auch immer diese Unterbringungsbauten hießen. Die Residenz war dreistufig und natürlich kostspielig, böse Zungen behaupten, die Residenz sei vierstufig, es gab Zimmer für selbstbestimmtes Wohnen, welches eines davon ihre Großmutter bewohnte, Zimmer für betreutes Wohnen und Zimmer auf der Pflegestation, wobei das letzte Zimmer nicht alle Bewohner erreichten und die dort angelangten wussten meist nicht mehr, dass sie dort angekommen waren. Die vierte Stufe war der Trauerraum, aber wie gesagt, nur böse Zungen nannten dies als Stufe. Da sei die Perspektive in gewohnter Umgebung seinen Lebensabend zu verbringen doch viel erfreulicher. Das waren Bettys Argumente, die aber bei ihrer Großmutter nicht zündeten. Betty sei keine Pflegerin, nicht immer da, besonders dann, wenn sie dringend gebraucht würde. Betty brauche ihre Privatsphäre, müsse ihr Haus zu ihrem Haus machen und nicht zur altersgerechten Festung für ihre Oma umbauen. Sie sei vollauf zufrieden mit dem, wie es jetzt sei, fühle sich wohl und gut aufgehoben.

„Und was, wenn Ilse nicht mehr ist?“

„Kindchen, ich lebe im Jetzt und im Heute, was morgen ist, keine Ahnung, interessiert mich nicht. Und du, werde glücklich in deinem neuen Leben. Hast du viel abgenommen?“

„Oma!“

 

Während sie auf ihr bestelltes Essen warten, nutzt Betty die Gelegenheit, Vera ihre Entscheidung mitzuteilen.

„Deine Worte haben den Ausschlag gegeben. Dafür danke ich dir. Ich weiß, ich habe mir selbst im Weg gestanden, aber da ich ja durchlässiger geworden bin, hat sich die Vernunft an meinen Bedenken vorbeigeschoben.“

Vera greift nach Bettys Hand, streichelt über den Handrücken, lächelt sie an: „Und ich weiß, du wirst diese Entscheidung nicht bereuen.“

Betty beschreibt Vera wie ihr zukünftiger Alltag aussehen wird, was am Institut gelehrt wird, was ihre Rolle sein wird und dass ihre Dissertation sich um ihren alten Fall drehen wird, ein Psychogramm des Pflegers, des Täters. Aber erst noch müsse sie acht Wochen Lübecker Alltäglichkeiten durchstehen.

„Wann wirst du deine Entscheidung den Kollegen mitteilen?“

„Gleich, wenn ich zurück bin. Es soll nicht nach Flucht aussehen, nicht vor dem neuen Chef, nicht vor der Gefahr, sondern eine individuelle Entscheidung über meine berufliche Zukunft sein.“

Nach dem Essen besuchen sie das Deutsche Meeresmuseum und zum Abschluss das Ozeaneum mit seinen riesigen Aquarien, in denen Haie, Rochen, Papageienfische, Napoleonfische und sonstige Meerestiere umherschwimmen. Im Außen- und Innenbereich die putzig an Land täppisch watschelnden Pinguine, die unter Wasser aber von gleitender Eleganz sind. Sie schauen, staunen, bewundern, was sich in diesem futuristischen Bauwerk tummelt. Aber auch dieser Tag geht zu Ende. Erst spät am Abend kehren sie voller gewonnener Eindrücke in die Klinik zurück.

Die letzten Tage ziehen rasend schnell dahin. Lisette sieht sie nur gelegentlich bei der Wassergymnastik, in dieser letzten Woche aber überhaupt nicht. Wahrscheinlich schon abgereist, vermutet Betty. Freitag die Abschlussbesprechung mit dem leitenden Arzt, zuvor Vermessen, Wiegen, letzte Blutabnahme, deren Auswertung Doktor Peters anerkennend Betty mitteilt. Alle Werte deutlich verbessert, die Gewichtsabnahme ordentlich, nur der Blutzucker sei noch etwas zu hoch. Die Ernährung beibehalten, viel Bewegung und auch dieser Wert wird sinken. Er gibt ihr Tipps und Hinweise in Wort und Schrift mit auf den Weg, rät ihr, na ja, mahnt, nicht nachzulassen in ihren Bemühungen, auch wenn es einmal Rückschläge geben sollte, eine Stagnation eintritt.

„Gehen Sie weiter den Weg, den Sie hier bei uns begonnen haben, vor allem sehen Sie sich vor, wenn Sie demnächst wieder auf Verbrecherjagd gehen werden. Noch so ein Schlag wird ihre Schädeldecke nicht aushalten.“

„Ich werde nicht mehr jagen, ich werde forschen, da ist die Gefahr eines Schlages auf den Hinterkopf eher unwahrscheinlich.“

„Forschen? Wie meinen Sie das?“

„Ich werde zurück an das Institut für Kriminalpsychologie gehen, eine Assistenzstelle antreten, promovieren, vielleicht auch mehr. Mal schauen.“

„Hört sich sehr vernünftig an. Ich wünsche Ihnen alles Gute dazu.“

Damit war das Kapitel REHA abgeschlossen, morgen früh die Rückreise

 

Am Freitagabend ein letztmaliges Sitzen auf der Dünensandsitzbank, beide mollig warm verpackt, der Abend bereits herbstlich kühl, sitzen sie in die Nacht hinein, schauen auf das vom Mond beleuchtete Meer, der sein Licht auf den seichten Wellen tanzen lässt, hören abschiedsversunken den heranplätschernden Wellen zu, die sanft auf den Strandsand rollen, nippen an mit Sekt gefüllten Gläsern, dessen Genuss sich Betty heute Abend nicht verweigert, zumal die Größe der Flasche, Piccologröße, nichts Böses erwarten lässt. Ihre Geschwätzigkeit ist erlahmt, melancholisch ihre Stimmung, ihre schweigsamen Blicke gehen hinaus auf das Meer, beide erfüllt von dem Gedanken des nahenden Abschiednehmens, ihr Gespräche stockend, zurückschauend, vergangene Augenblicke hervorholend.

Vera hat ihren Kopf an Bettys breiter Schulter angelehnt, leicht fröstelnd, Betty fühlt sich angenehm, kennt dieses Gefühl nur noch aus der Vergangenheit, wenn sie sich in Omas Schoß verkroch. Wie wird sie dies vermissen, längst haben sich Gegenwart und Zukunft vermischt, das Ungewisse nagt sich in den Moment.

„Warum vergehen so schöne Momente, eine so schöne Zeit immer so schnell? Warum kann es nicht bleiben, wie es ist? Ich möchte festhalten…und kann es nicht.“

„Nun, es ist das Leben, Betty, es fragt nicht nach deinen Befindlichkeiten. Sekunde türmt sich auf Sekunde ohne Bindung an irgendwen oder irgendwas. Etwas Einfluss haben wir aber. Wir können uns sehen. Lübeck oder Hamburg sind keine Entfernung zu Wismar.“

Ja. Stimmt. Betty verspricht, so lange sie noch in Lübeck aktiv sei, möglichst jedes Wochenende zu Vera auf den Hof zu kommen und danach müsse Vera sie unbedingt in Hamburg besuchen. Nein, Vera war noch nie in Hamburg. So denken sie sich in die Zukunft, während die Wellen der Gegenwart geräuschgedämpft ihren Austausch untermalen.

Hand in Hand schlendern sie, bereits nach Mitternacht, in die Klinik zurück, betreten das Haus, unbemerkt von der hinter ihrem Tresen schlafenden Nachtschwester, drücken sich, bevor sie auf ihre Zimmer verschwinden. Betty hat Tränen in den Augen als sie hinter sich die Tür schließt. Mit Abschieden hatte sie nie ein Problem, weil es nicht viel gab, was getrennt wurde, aber dieser Abschied geht ihr sehr nah, ein Empfinden, dass sie zuvor nie hatte. Ist das Liebe? Na ja, Liebe schon, keine sexuelle Liebe, aber Liebe ist es schon. Was, wenn der Alltag sie wieder überrollt, alle diese neuen Gefühle von alten Routinen abgelöst, sie in Vergessenheit schickt? Nein, das wird Betty nicht zulassen, so wie sie weiter ihre Pfunde attackieren wird, wird sie sich dem Vergessen entgegenstemmen.

 

An der Haltestelle des Busses, mit dem sie nach Ribnitz-Damgarten fahren müssen, stehen mehrere Frauen und Männer, die wie Betty und Vera ihre Heimreise antreten. Schon beim Frühstück sind diese zu erkennen gewesen, Farbsprengsel zwischen der Masse der dunkelfarbigen Trainingsanzüge. Betty in ihrem neuen blauen Sommerkleid, etwas zu dünn für die mittlerweile abgekühlte Temperatur, eine dünne Strickjacke darüber, so wird es gehen. Beim Anziehen des Kleides, von Betty zunächst nicht bemerkt, zwickt keine Naht, keine Stelle zu eng, erst da wird ihr bewusst, dass Gewicht nicht nur eine Zahl, sondern auch fühlbar ist, eine freudige Erkenntnis.

Von Lisette keine Spur. Auch Vera weiß nichts über deren Verbleib. Bei den meisten Wartenden ist die Erleichterung zu spüren, endlich wieder und halbwegs geheilt nach Hause zu kommen. Es wird untereinander gescherzt, die Zukunft heraufbeschworen. So schnell nicht wieder. Diese Erleichterung spürt Betty nicht, zu sehr lasten bereits die Gedanken über den Verlauf der nächsten Tage auf ihr. Veras Angebot bis Montag mit ihr nach Grevesmühlen zu kommen, musste Betty bedauernd auf später verschieben, da sie Sonntag nach Hamburg fahren müsse und Montag und Dienstag nutzen, mit ihrer Großmutter die Formalitäten für die Hausübernahme zu vollziehen.

Mit dem Bus geht es nach Ribnitz-Damgarten, dann die Regionalbahn nach Rostock, in Bad Kleinen wieder umsteigen und dort Abschied nehmen von Vera, die mit ihrem Koffer auf eine andere Plattform ziehen muss. Betty hat noch zehn Minuten Zeit, bis ihr Zug kommt, winkt hinüber zu Vera, die in ihren Nahverkehrszug einsteigt und anfahrend aus Bettys Blickfeld entschwindet. Sehnsüchtige Augen, feuchte Augen, folgen den Schlusslichtern des Zuges. Viel geredet hatten sie nicht mehr, ihre Sprachlust gelähmt von der bevorstehenden Trennung. Was der Tumor wohl machen wird? Weiter auf seine Chance lauern, endgültig zuzuschlagen? Veras Skepsis konnten die vier Wochen nicht beseitigen, nicht gut, hatte Betty ihr immer wieder gesagt, ihr Mut machen wollen, ihr angeraten, positiver in die Zukunft zu blicken, aber Vera ist Vera und zu Charakteränderungen ist auch Betty nicht fähig. Der Zug fährt dahin, wird kleiner und kleiner, verschwindet ganz.

Betty wird die neuen Länder verlassen, die so alt sind wie die alten Länder, waren immer eins, bis auf wenige Jahre, die aber so viel ausmachten, mentale Zweiteilung, die sich anscheinend nicht überwinden lassen will. Doch, es waren wirkreiche Tage, für ihre körperliche und geistige Gesundheit. Sie lächelt in sich, ja, etwas Besseres als der Schlag auf den Kopf hat ihr nicht passieren können, muss aber kein zweites Mal sein, wird kein zweites Mal geben.

Was hilft ihr ihr neues Wissen über eine vergangene Welt bei ihrer Arbeit? In ihrem weiteren Leben? Eigentlich nichts. Trotzdem will Betty dieses Wissen nicht abschieben in das nutzlose Wissen, denn letztlich hat sich ihr Blick auf die Menschen der Neuländer verändert, sie hat Verständnis gewonnen, selbst für Dietmann, mit dem sie eventuell einmal reden sollte, sich aussprechen. Könnte sie.

 

Ihr Zug kommt, leicht verspätet, aber egal. Der Koffer so schwer wie die Gedanken in ihrem Kopf. Das Abteil bietet genügend Platz, wie immer wählt Betty ein Platz mit Toilettennähe. Der Zug rollt an, gleitet fast geräuschlos dahin, Landschaft fließt vorüber, Fensteraussichtslandschaften, Lübeck näherkommend, ihre Wohnung, die sie morgen wieder verlassen wird, ihre Großmutter besuchen, das Haus mit zukunftsaussichtigen Besitzeraugen betrachten, mit der Großmutter abstimmen, was ihr in das Zimmer in der Residenz folgen soll, was Betty verändern wird, sich in das Haus einzuleben. Bis einschließlich Mittwoch ist sie noch im Krankenstand, Donnerstag wird ihr Dienstleben wieder beginnen. Für zwei Monate. Und dann beginnt etwas Neues.

In diesem letzten Fahrabschnitt rügt sie ihr Hunger, etwas dagegen zu tun, ist nicht viel, was sie ihm anbieten kann, nur das Vollkornbrot belegt mit magerem rohem Schinken, dem Frühstück abgetrotzt. Mit gelerntem, gemächlichem Kauen reicht das Brot einige Fahrkilometer lang. Zwischen dem Kauen gehen ihr die Gedanken an die Lübecker Alltäglichkeiten durch den Kopf. Ob die Einbrecher dingfest gemacht werden konnten? Der neue Chef schon unangenehm aufgefallen ist? Wie wird die Abteilung aufgestellt sein? Neue Gesichter? Versetzungen? Und Omi? Bei Bank und Notar wird ein Termin notwendig sein, den wird Omi nicht von heute auf morgen bekommen. Gut, wie sie ihre Großmutter kennt, wird sie Montag oder Dienstag einen Termin durchdrücken, waren ja nur ein paar Unterschriften.

Ihre Wohnung muss sie demnächst kündigen und, oh, nachsehen, ob Professor Giede bereits reagiert hat. Sie klappt ihren Laptop auf, öffnet ihren eMail-Account und ja, er freue sich auf die Zusammenarbeit, gab ihr einen Termin Ende September an, kurz nach seiner Rückkehr, an dem sie sich treffen und alles weitere besprechen können, fragt natürlich nach ihrem Befinden und wünscht auch weiterhin alles Gute. Ja, denkt Betty, alles wird gut.

Vom Bahnhof aus nimmt sie sich ein Taxi, schleift ihren Koffer nach oben, schließt sich die Tür auf, abgestandener Geruch von vier Wochen Abwesenheit schlägt ihr entgegen, egal, erst einmal wieder zurück, Rückkehr zum Gewohnten. Keine Blumen dieses Mal, ein paar Briefe, die einzusehen, sie auf später verschiebt. Sie öffnet alle Fenster, lässt die kühle Spätsommerluft herein, spült Wasser durch alle Leitungen, ist nicht erschöpft, ein Zustand, der vor vier Wochen noch undenkbar war. Koffer auspacken, viel Wäsche zu waschen, brüht sich einen Kaffee, setzt sich auf ihre Couch, atmet durch. Es ist später Nachmittag, heute wird sie nichts mehr unternehmen, nur ein kurzer Anruf bei der Großmutter, sich verabreden für morgen, sonst kein Anruf. Na ja, vielleicht doch, Vera ihre Rückkehr melden.

Und überhaupt, verflucht, sie hat nichts Essbares im Haus, Abendessen und Frühstück, geht zum Kühlschrank, Leere, Vorratsraum hat sie nicht, nur im Küchenschrank ein paar Konserven. Erbsensuppe? Gut, heute Abend Erbsensuppe, aber Frühstück, schaut auf ihre Armbanduhr, spät, aber noch nicht zu spät. Für frische Brötchen zu spät, aber abgepacktes Vollkornbrot, kann sie morgen mitnehmen, auch in Hamburg ist sie unversorgt. Also bricht sie auf, weiter oben in der Friedrichstraße ist ein Einkaufsmarkt, den aufsuchen und aussuchen, vielleicht auch eine Alternative zur Dosenerbsensuppe finden.

Die Entfernung ist unwichtig. Nur der erste Schritt ist wichtig. (Marie de Vichy Chamrond, französische Salonnière, 1696-1780)

 Der Marsch zum Einkaufsmarkt, ohne Stock, der schon seit den Tagen in Ahrenshoop seine Tätigkeit eingestellt hat, keine Anstrengung mehr, beschwingt, leichten Schrittes, ohne dass ihre Oberschenkel aneinanderreiben, marschiert sie, mit Seitenblicken auf die Auslagen der kleinen Geschäfte, dem Markt entgegen, geht hinein, ohne Plan, außer der Dosenerbsensuppe auszuweichen, was ihr gelingt, vor der Kühltruhe stehend. Dort greift sie sich eine Packung Prinzessbohnen, aus dem Fischregal tiefgefrorene Dorade. Noch ein paar Karotten, fertig das Mahl. Das Abendmahl. Für das Frühstück legt sie Frischkäse und geschnittenes, klarsichtverpacktes Vollkornbrot in ihren Einkaufskorb, noch ein paar Eier, ein paar Äpfel, den Rest dann Mittwoch, dann mit Plan, denn das wird Betty bewusst, sie braucht einen Wochenplan, wie in der Klinik, nur muss sie den selbst erstellen, nicht der Küchenchef. Na ja, ist sie ja jetzt.

Zurück in der Wohnung die Anrufe, zunächst die Großmutter, diese wird Betty in ihrem alten Haus erwarten, wann sie eintreffe, nun, gegen elf, gut dann gehen wir zuerst zum Scherrer gut essen, sie sei schon lange nicht mehr dort gewesen. Eine Übertreibung, denn ihre Großmutter ist Stammgast bei Scherrer und wie Betty ihre Großmutter kennt, heißt lange, maximal fünf Tage, Ilse im Schlepptau. Gut, ist das auch geregelt.

Mit Vera tauscht sie sich über ihre Empfindungen bei der Heimkehr aus, wobei Betty nur die abwesenheitsriechende Wohnungsluft und die stimmlose Leere beschreiben kann, Vera schwärmt von dem üppigen Wuchs in ihrem Garten, dem Blütestand der weißen und rosa Herbstanemonen, dem Fuchsschwanz, den Zinnien, den Chrysanthemen, den Astern und den Dahlien, freut sich über den kräftig herangewachsenen Grünkohl, den Lauch, den Spinat, dem Feldsalat, dem Rosenkohl, den roten Beete, den Steckrüben.

„Wenn du kommst, legen wir ein Betty-Beet an, also du legst es dir an. Darauf kannst du pflanzen, was du gerne isst, und zur Ernte ist Anwesenheitspflicht. Nebeneffekt, du lernst, was es heißt, sich ein Paradies zu erschaffen.“

Betty muss lachen: „Klar machen wir so. Na ja, da fällt mir gerade ein, die Toten Hosen haben gesungen „Ich will nicht ins Paradies, wenn der Weg dorthin so schwierig ist“, hattest du die auch zu dir eingeladen?“

„Wer oder was sind Tote Hosen?“

„Ja sag mal, du kennst die Toten Hosen nicht? Die Rock- oder Punkband schlechthin aus, ich glaube Düsseldorf.“

„Nie gehört. Nie bei mir gewesen. Unsere Bands hießen anders: Freygang, Karat, Klosterbrüder, Panta Rhei, Puhdys oder Bürkholz-Formation. Kennst du eine davon?“

„Also von den Puhdys habe ich schon gehört, aber frage jetzt nicht, ob ich ein Lied von denen kenne, nein, da muss ich passen.“

„Siehst du, so ist das mit den zwei Wahrnehmungen. Selbst musikalisch sind wir ein zerrissenes Land.“

„Du hast nie Westmusik gehört?“

„Doch, klar später, als der Zugriff auf Musik so frei war wie wir. In den Kinderjahren liefen die Stones, Springsteen und noch so ein paar Bands, die mein Vater auflegte und den Westernhagen. Ich weiß nicht woher, aber mein Vater hatte eine Scheibe von dem Westernhagen und spielte fast täglich Freiheit, zum Ende des Arbeiter- und Bauernstaates mitunter bei offenem Fenster. Freiheit war sein Lied, ist es heute noch, halt nicht mehr so oft, wie damals aufgelegt, eigentlich war es das Lied der gesamten Familie. Lindenberg mit seinem Pankow-Song fand ich amüsant, mehr aber nicht. Aber Tote Hosen? Müsste ich die kennen?“

„Ein Muss. Frag mich aber jetzt nicht warum.“

Vera kicherte: „Du bist auch ahnungslos. Stimmts?“

„Na ja, Musik läuft bei mir so nebenher. Ich bin niemandens Fan. Wenn ein Song im Radio rauf und runter genudelt wird, bleibt für kurze Zeit etwas hängen, mehr nicht. Das war es dann.“

„Ja, geht mir ähnlich und draußen im Garten dröhnt kein Radio. Holger ist da anders, der hat seine Musik, hört seine Musik, meist zu laut, harter Rock, nervend laut. Er hat anscheinend etwas nachzuholen. Ich warte bereits auf den Tag, wo er mir mitteilt, dass er sich ein Motorrad zulegen will.“

„Tja, habe ich auch schon gehört, dass Männer irgendwann versuchen, eine Kehrtwende hinzulegen. Geht aber vorüber, wie Fieber.“

„Na, ich weiß nicht, dürfte ein langes Fieber werden.“

Vera kichert und schildert weiter ihre Heimkehr, nun den Empfang der sie freundlich begrüßenden Hühner und Ziegen, Nachhausekommen war bei Vera etwas stimmvoller als bei Betty, aber ansonsten genauso triste, wie ihre Heimkehr. Niemand da, der ihre Rückkehr freudig begrüßte. Veras Vater habe sich dreimal die Woche um Haus und Hof gekümmert und in der Woche in der Holger hier war, habe dieser sogar ein paar Reparaturarbeiten ausgeführt. Sie könne also getrost ein paar Wochen dem Hof fern sein, will sagen, sich eine Woche Hamburg gönnen. Später, jetzt erst einmal wieder einleben, den Hof umfassen.

Vera war beschwingt, Betty merkt es ihr an, die sonst kummerbetrübte Grundstimmung in der Klinikzeit ist einer hofbeflügelten Freudigkeit gewichen. Gut so. Sie zählen ihr restliches Abendprogramm auf, eher banal, bevor sie sich auf bald verabschieden.

Online kauft Betty ihr Ticket für Hamburg und zurück, rüstet sich für die Nacht und begibt sich zu Bett, die Deutschstunde als Bettlektüre dabei.

 

Nach dem Frühstück, Vollkornbrot mit Frischkäse und Cocktailtomaten, grüner Tee und zur Abrundung eine Avocado, klemmt Betty ihre gewaschene, fast trockene Wäsche auf dem Wäscheständer fest, räumt die Reste ihres Koffers aus, stellt ihn in seine Ecke. Etwas länger geschlafen heute, kein Wecker, nicht mit Stöcken die Walderde beackern, kein Tagesprogramm, nichts, tröge Stille, selbst die Straßengeräusche von unten irgendwie dumpf, hektiklos. Sie öffnet in Küche und Schlafzimmer die Fenster, beginnt ihre Reisetasche zu füllen, mit dem, was sie meint, die nächsten beiden Tage zu benötigen. Hm, eine Runde flotten Laufens hätte sie schon absolvieren können. Warum eigentlich nicht? Trägheit? Rückfall? Sie braucht einen Plan, etwas, woran sie sich halten muss, sonst droht Stillstand oder gar Rückschritt.

Gegen zehn Uhr macht sie sich auf, vor zur Bushaltestelle und in direkter Fahrt mit dem Bus zum Bahnhof, dort Einstieg Gleis 6 in den Regionalzug nach Hamburg, der nicht gefüllt ist, Platz zum Ausdehnen lässt. Wobei, Betty erwischt sich immer wieder, in alten Denkweisen zu denken, ihr Platzbedarf hat sich eingeschränkt, neben ihr könnte, wenn jemand wollte, Platz finden. Das war nicht immer so. Es wird Zeit den Kopf auf die neue Körperlichkeit umzudrehen.

Der Bahnhof in Hamburg wie immer wuselig, hektisches hin- und herlaufen, Rollis hinter sich, Koffer neben sich, buntes Volk, Bahnhof International, viel Elend, viel Abstoßendes, viel Fußball, anscheinend ein Pauli-Spiel, Sonntag, richtig, Fußballtag, erste Fans, sich lautstark einstimmend auf das anstehende Spiel, die Stimme ölen, einfach mit Bier oder härteren Sachen. Nein, nicht ihr Ding, das hier. Draußen besteigt sie den Bus, frei von Fans, der sie bis zur Bernadottestraße bringen wird.

Von der Bushaltstelle Hohenzollernring, in der Bernadottestraße, an der sie aussteigt, geht sie vor zum Hohenzollernring, diesen abwärts, der Elbe entgegen. An der Einmündung zum Philosophenweg macht sie einen Halt, des Blickes auf die Elbe wegen, auf das Augustinum, die turmhafte Residenz direkt an der Elbe, in der ihre Großmutter nun residiert, mit der markanten Glaskuppel auf dem Dach, einer Käseglocke nicht unähnlich, nur das unter der Kuppel Senioren speisen und kein Käse lagert. Sie schaut hinüber auf den Containerhafen, auf der anderen Elbseite, auf die Stahlkolosse, die das Aussehen großer Stelzenvögel haben, die unentwegt heben, fahren, absetzen, stapeln.

Von ihrem alten Kinderzimmer, im ersten Stock von Omas Haus, aus, konnte sie die vorbeifahrenden Kreuzfahrtschiffe sehen, zumindest die oberen Stockwerke, was mitunter aussah, als würden Plattenbauten in Zeitlupe entlangschleichen. Leichter Wind durchweht ihr Haar, lässt ihr Kleid sanft flattern. Schöner Ausblick und noch unverbaut.

Weiter, noch einige Meter den Philosophenweg aufwärtslaufen. Ihr Blick ist aufmerksamer als früher, wo sie den Weg einfach gegangen ist, den Kopf nach unten oder vorne gerichtet, nur das Ziel, Omas Haus im Kopf. Jetzt aber schaut sie genauer, versucht sich zu erinnern, wer wo wohnt, was neu in der Straße ist. Auf den ersten Blick scheint sich nicht viel verändert zu haben, die letzte Zeit. Die alten Villen, keine allerdings in der Größenordnung von Harvestehude entlang der Außenalster, dafür ruhiger, da keine touristenbeladene Oben-Ohne-Busse hier entlangfahren, umringt von altem Baumbestand und individuell angelegten Vorgärten. Kleine beschauliche, kleinbürgerliche Villen, die der Wohlstand derer, die mit Kaffee, Tee oder Stoffen handelten, von ein paar Kapitänen und den Meyers, die seit vier Generationen mit ihren Barkassen Touristen durch den Hafen schipperten, erschaffen hatte. Die wenigsten der Villen waren noch im Besitz der Gründerfamilien, einige Villen wurden um- und ausgebaut, andere abgerissen und durch kubische Glas-Beton-Bauten ersetzt, Platz nicht nur für eine, sondern mehrere Familien. Nachbar Rainer, die Meyers, Familie Carstens, die Schweds und die Reddenbachs waren die letzten von denen, deren Vorfahren hier ihre Villen errichtet hatten. Die Großeltern waren Eingekaufte. Betty wird ihre Traditionslinie nun fortsetzen, wohlwissend, dass mit ihr die Linie ihr Ende finden wird.

 

Kurz bevor sie am Haus ihrer Großmutter anlangt, sieht Betty Nachbar Rainer bei der Rosenpflege. Rainer und seine Frau Sophie haben ihren Vorgarten zu einem Rosengarten verwandelt, dem ihre ganze Aufmerksamkeit gilt. Edelrosen, diverse Sorten, farblich überwiegen die gelben, zartrosa, orange blühenden Blumen. Weiter hinten, neben dem Haus, stehen Kletterrosen in Rot-Tönen, alles fein abgestimmt, nichts dem Zufall überlassen. Betty erinnert sich des Duftes der Rosen, besonders in den Abendstunden, der rund um die Villa honigsüß die Luft erfüllte, aktuell erreicht nur ein matter Abglanz davon ihre Nase. Wenn Rainer Betty, die von seinen Rosen ausgehende Düfte beschrieb, dann wurden aus den Rosen Obstkörbe, selbst Ananasdüfte schrieb Rainer seinen Rosen zu, was Betty vergeblich zu erschnüffeln suchte, immer nur brav nickte, was allerdings Rainer nur weiter anspornte, Düfte zu kreieren, die anscheinend nur er wahrnahm.

Sophie, sonst an seiner Seite, ist sicher jetzt um die Mittagszeit in der Küche rührig. Rainer, mit Sonnenhut, Schürze um, mit genauem Blick auf seine Rosenstöcke, um jede Ungehörigkeit zu entfernen. Sie wirft ihm ein Moin entgegen, aber Rainer ist so vertieft in seine Aufgabe, vielleicht auch nicht eingeschaltet, sodass er zunächst nicht reagiert. Erst Bettys Schatten, der ihn erreicht, lässt ihn aufblicken, in seiner Erinnerung kramen, eher er ein „Betty?“ von sich gibt.

Sie lächelt Rainer an, der seine gebückte Haltung in eine aufrechte wechselt und langsam vor zur halbhohen Gartenmauer tippelt. Das Alter Rainers ist nicht zu übersehen, ja, ist alt geworden, ist schnell gegangen, denn so lange ist es nicht her, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hat.

„Betty. Freut mich, dich zu sehen. Besuchst die Kathrin? Hat schon gesagt, dass du kommen wirst und bald darinnen (zeigt auf Großmutters Haus) wohnen wirst. Tja, alles kommt wieder, sacht man.“

„Ja, ich werde das Haus übernehmen und zukünftig neben euch wohnen, nicht sofort. Ich muss noch ein paar Wochen meinen Dienst in Lübeck ableisten, aber dann.“

„Kathrin hat mich immer auf dem Laufenden gehalten. War ne üble Sache. Nich? Und jetzt, bist du wieder ganz gesund?“

„Im Prinzip ja, halt noch gelegentlich Kopfschmerzen, wenn die Wunde sich an den Schlag erinnert.“

Rainer lächelt Betty an: „Hast abgenommen. Kathrin hatte schon Angst, dass nichts mehr von dir übrig ist, aber ein bisschen ist ja noch da.“

„Ein bisschen, ja. Mein Arzt meint, noch ein einige Kilo zu viel. Aber daran arbeite ich stetig. Wird werden.“

Auf Rainers Stirn zeigen sich ein paar Falten, sein Blick geht rüber zu Großmutters Haus: „Du weißt schon, was da auf dich zukommt. Kathrin hat die letzten Jahre nichts mehr am Haus gemacht. Weder außen noch innen. Schau dich um, die meisten Häuser hier sind in die Jahre gekommen. Da ist nicht viel ökologisch zu machen, nur mit großem Aufwand und viel Geld. Die Zukunft siehst du dort vorne. Die alten Villen verschwinden, werden ersetzt durch seelenlose Rechtecke mit viel Glas und statt einem Dach, mit Photovoltaik belegt oder gar mit Grünzeug bepflanzt. Die neue Schönheit. Mir gefällt das gar nicht.“

Gedanken, die Betty bisher kein Kopfzerbrechen machten, aber die Falten auf Rainers Stirn lassen auch in ihr Zweifel hochkommen. Gut, ihr war schon klar, dass im Haus einiges verändert werden muss, aber das war nicht das, was Rainer meinte. Egal, die Bestandsaufnahme steht noch bevor, danach wird sie wissen, was Sache ist und wie sie damit umgeht.

Sie bedankt sich bei Rainer, der sich weiter um Haus und Garten kümmern wird, bis Betty so weit ist, ihre Nachbarschaft zu beginnen und verabschiedet sich auf später, wann auch immer später sein wird und Gruß an Sophie.

 

Ihre Großmutter hat den Schwatz der beiden von ihrem Küchenfenster aus beobachtet und steht schon ungeduldig hinter der Haustür.

„Kindchen, wo bleibst du denn. Ich habe Hunger. Hat dich Rainer wieder ausgefragt.“

„Moin Omi, schön dich zu sehen. Wieder gelauscht? Und nein, er hat mich nicht ausgefragt. Ich bringe meine Tasche hoch, dann können wir losziehen.“

Bevor sie hochsteigt, drückt sie ihre Großmutter fest an sich.

„Moin Betty, lass dich anschauen. Hast abgenommen.“

„Hat Rainer auch gesagt.“

Sie steigt die Treppe hoch, schwenkt um das Geländer herum, geht auf ihr altes Zimmer zu, über dem wie ein museumshafter Schleier Vergangenheit hängt. Kurzer Blick aus dem Fenster, die Bäume drüben sind gewachsen, von der Elbe nur die südliche Seite zu sehen. Dieses Zimmer wird sie als erstes vom Gestern befreien. Das Bett, zu klein, mit jedem Jahr, das Betty älter wurde, immer kleiner werdend, ihre Füße hingen zuletzt bis fast zu den Waden über das Matratzenende hinaus. Blöd im Winter, da ihre Großmutter Schlaforte grundsätzlich nicht heizte, froren die Füße, weckten sie auf, schlief dann nur noch in dicken Socken. Tja, so war das. Und die Matratze durchgelegen, weich gelegen, nein hier kann sie nicht, wie gedacht, schlafen. Das Bett muss raus, ein neues herein.

Unten vor der Treppe steht ihre Großmutter gestützt auf einen Stock, ruft, wo sie bleibe, mit Hut und leichtem Übergangsmantel, wartet ungeduldig auf ihre Enkeltochter. Eine Ungeduld angetrieben von ihrem Hunger, ob real oder eingebildet, das Hungergefühl lässt sie mürrisch werden, mitunter patzig und Wehe dem, die Bedienung brachte ihre Bestellung nicht schnell genug zu Tisch, dann bekam diese ihren gesamten Unmut ab. Betty fasst ihre Großmutter unter und zieht sie mit sich, die entwindet sich Bettys Arm, sie könne schon noch allein gehen, so alt sei sie nun auch wieder nicht, schließlich habe sie ja noch den Stock. So, Oma schlecht gelaunt, gehen sie vor zu Scherrer, wo sie eine sich freuende Bedienung empfängt.

„Hallo Katty, das ist meine Enkeltochter Betty, die wird bald mein altes Haus beleben und du bringst uns zweimal den Mittagstisch.“

„Guten Tach Kathrin. Freut mich.“

„Omi! Ich würde mir schon gerne selbst heraussuchen, was ich esse.“

„Da gibt es nicht viel zu suchen. Wochentags gibt es nur ein Gericht zu Mittag.“

„Ein Gericht? Und, was gibt es heute?“

„Katty. Was gibt es heute?“

„Heute habe wir Grüne Kohl und Wurst und Kartoffel.“

Gut, gegen Grünkohl spricht nichts, aber keine Kartoffeln und nur eine Scheibe Kasseler, keine fette Wurst, ordert Betty, quittiert von Stirnrunzeln ihrer Großmutter.

„Du machst ernst?“

„Ich muss Omi. Meine Gesundheitswerte sind über dem, was sein darf und auf Normalwerte zu kommen heißt, gesund und vernünftig essen. Das habe ich in den letzten vier Wochen gelernt. Und dir? Wie geht es dir in deiner neuen, nicht zu übersehenden Behausung?“

„Mir gefällt es. Ich kann von meinem Fenster aus direkt auf Elphi schauen, die Landungsbrücken und die Elbe. Im Haus wird etwas geboten. Es gibt einen kleinen Einkaufsmarkt, Friseur, eine Arztpraxis, allerdings habe ich ja meinen Arzt und eine Physiotherapie-Praxis. Und oben unter dem Dach, in der Glaskuppel ist ein Restaurant…“

„…Na, da hätten wir doch auch essen können…“

„Nein, da ist der Ausblick teurer als das, was auf dem Teller liegt. Bei Scherrer weiß ich, was ich habe, vor allem keine Zusatzkosten.“

Eigentlich gibt Bettys Großmutter gerne Geld aus, für Kleidung, immer adrett angezogen, kein grau oder schwarz an sich, immer bunt, der aktuellen Mode entsprechend. Auch für gutes Essen gibt sie gerne ihr Geld. Was sie nicht ausstehen kann, sind sinnlose Ausgaben, wie eben ein Essen, dessen Preis vom Umfeld bestimmt wird und nicht der Qualität, dummerweise gehören zu den sinnlosen Kosten auch neue Fenster, durch die es nicht zieht oder eine Dachstuhlisolierung, die die Feuchtigkeit vom Dachstuhl fernhält, was Betty später leidtragend feststellen wird.

„Wir haben sogar ein Schwimmbad, eine Sauna, einen Fitnessraum. Nutze ich aber nicht. Zahlen muss ich es trotzdem. Nach dem Essen gehen wir rüber, Ilse ist schon ganz gespannt darauf, dich zu sehen. Der Turm ist voller Prominenz. Nadja Tiller und Walter Giller verbringen hier ihren Lebensabend.“

„Muss ich die kennen?“

„Ach Kindchen, richtig, die waren vor deiner Zeit. Zu meiner Zeit waren die bekannt wie bunte Hunde. Sie spielten in vielen Filmen mit, waren Schauspieler. Nachkriegsschauspieler. (Nachdenklich) Geht so vieles verloren. Weg, einfach weg.“

„Dafür kommt Neues, so wie der Turm.“

„Stimmt, aber schwacher Trost.“

 

Ihre Großmutter will nun Näheres über den Aufenthalt Bettys in der REHA-Klinik wissen und Betty berichtet, halt das Notwendigste, vor allem über Vera, ihre Großmutter lauschend, aber ständig den Blick wechselnd zur Tür, hinter der die Küche sich befindet und aus der irgendwann, möglichst bald, Katty herauskommen müsste. Doch zunächst kommen die Getränke, Oma trinkt ein Pils, dem mit Sicherheit ein weiteres Pils folgen wird, Betty bleibt bei Mineralwasser, stillem Wasser, skeptisch beäugt von ihrer Großmutter.

„Na ja, so war das halt. Aber es hat mir gutgetan und geholfen. Ich fühle mich gut, wie lange nicht mehr.“

„Schön zu hören Kindchen. Und diese Vera? Ich merke es dir an, du vermisst sie.“

„Oh ja Omi, ich vermisse sie sehr. Mit noch keinem Menschen konnte ich mich so intim und vertrauensvoll austauschen. Das war etwas Besonderes. Ein Glücksfall. Ich werde sie demnächst auf ihrem Hof besuchen.“

„Es freut mich für dich.“

Oma Katharina streichelt über Bettys Handrücken, lächelt sie an, scheint glücklich zu sein. Ihr Essen kommt dampfend auf den Händen Kattys daher. Eigentlich zu früh für Grünkohl, kann gar nicht frisch sein, aber jetzt die junge Frau zu fragen, wo Grünkohl so früh reife, verbeißt sie sich, beginnt den Kohl aufzunehmen, kleine Stücke des Kasselers abzuschneiden, die Kartoffel, die sie nicht wollte, so wie sie es immer macht, zerdrückt sie und verleibt sie sich gemächlich Gabel für Gabel ein.

„Ich kann bis mittwochfrüh bleiben. Hast du schon Termine beim Notar und der Bank vereinbart?“

Habe sie nicht, mache sie gleich morgen früh, Doktor Redlefsen stehe auf Abruf, ebenso wie Herr Selb von der Bank. Oma hat alles im Griff, schon immer gehabt. War immer die rechte Hand von Leopold, dem Großvater, hinter der Theke und bei der Führung der Geschäfte von dessen Fischhandel. In Memel geboren und aufgewachsen, damals noch Ostpreußen, hatte Leopolds Vater, Valentin Peschke angefangen, mit Fischen zu handeln, bezog seine Zander, Hechte und Aale von den Fischern entlang der Kurischen Nehrung, später dann die Heringe von den Fischern in Memel, wo Leopold in seines Vaters Geschäft einstieg, und sein erstes Fischgeschäft eröffnete, dem eine zweite Filiale in Königsberg folgte.

Mit Ausbruch von Deutschlands Eroberungskrieg musste Leopold Zivil- mit Militärkleidung tauschen, wurde nach Frankreich kommandiert, nicht an die Front, sondern dahinter, beauftragt, die Versorgung der für ihren Führer kämpfenden Soldaten zu sichern, den Generälen im Hinterland es an nichts fehlen zu lassen.

Er lernte, größer zu denken und baute sich diverse Handelsbeziehung auf, Netzwerke, die im Westen funktionierten, nicht droben im östlichen Winkel des Reiches, der eh verloren ging. An ein zurück nach Ostpreußen war nach 1945 nicht zu denken. Die Eltern gerade noch rechtzeitig vor den anrückenden Russen geflohen, der Bruder auf dem Balkan verschollen, die Geschäfte und die Heimat verloren. Leopold blieb im Westen, zunächst in Kiel, dann zog er nach Hamburg und führte das fort, was er gut konnte, mit Fischen zu handeln. In seinem Laden nahm er Katharina, eine waschechte Hamburgerin, als Verkäuferin auf.

Zum Handel mit nun auch richtig großen Fischen kam eine kleine Manufaktur, die Heringe aufarbeitete, in Gläser füllte und in den Handel brachte. Bismarckheringe, Rollmöpse, Bratheringe, daneben Matjes, die er an verschiedene Restaurants und einfache Buden verkaufte, waren Kern seines Geschäftes, in dem Katharina von der Verkäuferin zur Buchhalterin heranwuchs, schließlich Leopolds Frau wurde.

 

Sein geschäftlicher Erfolg schlug sich im Kauf der Villa im Philosophenweg nieder. Fisch wird immer gegessen, war weder entartet, völkisch einwandfrei, deutsch, weil getauft von Bismarck und in der Nachkriegszeit Lieferant von Eiweiß. Es ließ sich mit Heringen gutes Geld verdienen. Anfang der achtziger Jahre, als bei Leopold Krebs erkannt wurde, verkaufte Leopold seine Geschäfte für eine Stange Geld, von dem Bettys Großmutter bis heute gut leben kann.

Der Geruch der toten Fische hängt längst nicht mehr in den Räumen des Hauses, damals schon, als Betty, das Kleinkind, mehr hier als bei ihren Eltern lebte. Nur wusste Betty nicht, nach was es da roch, zu jung für Gerüche, zu lange her, dass Leopold sein Geschäft verlassen hatte, der Geruch ihm nicht mehr so intensiv in der Kleidung hing. Nein, sie wusste nicht nach was es roch, nur das es roch. Ganz anders als in der elterlichen Wohnung, die mit dem Duft nach neuen Möbeln und Mutters aufdringlichem Parfüm ausgefüllt war.

Klar, dass Fisch nicht nur Freitag bei Oma auf den Tisch kam, was jäh mit dem Tod Opas endete. Sein Todestag war Omas letzter Fischtag.

Katharina genehmigt sich als Nachtisch einen Aquavit, bei Grünkohl dringend notwendig, wie sie sagt, aber Betty weiß, dass ihre Großmutter keinen Grünkohl für einen Aquavit benötigt. Der geht immer. Vom Scherrer geht es über die Elbchaussee durch den Rosengarten hinunter zur Neumühlen, an der der Turm ins Erdreich gebohrt wurde. Viel zu nahe am Wasser gebaut, wie Betty findet, denn die Prognosen der zukünftigen Wasserstände lassen ahnen, dass zumindest das untere Parterre des Öfteren einen Wasserschaden abbekommen wird. Was irgendwann einmal sein wird, interessierte die Bauherren anscheinend nicht, die Zeit bis dahin reicht aus, genügend Geld aus dem Turm zu ziehen, denn Wohnen dort ist nichts für Arme.

Omas Zimmer liegt im neunten Stock. Eine eineinhalb Zimmer Wohnung, gleich links hinter der Eingangstür eine Kochnische, Zwei-Platten-Herd, zwei Einbauschränke, eine Spüle. Direkt gegenüber, die Dusche, Waschbecken, Toilette. Das Wohnzimmer schließt sich an, links ab das Schlafzimmer, ein Bett, ein Kleiderschrank. Von Wohn- und Schlafzimmer aus, ein herrlicher Blick über Hamburgs Sonnenseite. Kein Balkon. Schade. Betty hatte die letzten Wochen die stimmungsvolle Seite eines Balkons schätzen gelernt. Das Wohnzimmer noch spärlich möbliert, genügend Platz für Altes. Alles sehr nüchtern, lieblos, unpersönlich.

„Hier musst du noch einiges tun, um anzukommen. Oder?“

„Stimmt. Drüben warten noch ein paar Sachen, die mir folgen werden.“

„Die hättest du dir doch schon bringen lassen können.“

„Ich habe noch nicht ausgewählt. Ich habe zwei Koffer gepackt und bin hierher. Heute Morgen war ich erstmals wieder im Haus. Fühlte sich komisch an.“

„Das wundert dich? Du hast viel zu lange in dem Haus gewohnt, um dort eine Fremde zu sein. Gehen wir heute oder morgen wählen?“

„Auswählen meinst du.“

„Auswählen!“

Oma hat sogar eine Klingel an der Tür und die bimmelt nun.

„Wird Ilse sein.“

Ist Ilse. Auf ihren Rollator gestützt, steht sie vor der Tür, lächelt aus einem alt gewordenen Gesicht freudig Betty an.

„Moin Bettykind. Wie geht es dir? Zeig dich mal.“

Betty dreht sich, lächelt, drückt Ilse an sich, die zu Katharina schaut: „Da haste mal wieder maßlos übertrieben. Hat gesagt, du seist nur noch ein Strich. Ich habs nicht geglaubt, aber hätt ja sein könn.“

Das Sofa in Großmutters Wohnzimmer bietet nur Platz für zwei Personen, Ilse nimmt auf ihrem Rollator Platz, während Großmutter den Vormittag und Mittag berichtet und gleich übergeht, wie der Nachmittag verlaufen wird. Sie werde hierbleiben, Betty solle sich in Ruhe im Haus umsehen, sich ihre Gedanken machen. Morgen früh dann käme sie, um die Dinge auszuwählen, die hier in die Wohnung sollen. Betty antwortet Ilse auf deren Fragen und das sind einige. Ilse erzählt von dem Ärger mit ihren Kindern, die sich nicht entscheiden können, die Familienvilla zu verkaufen oder zu vermieten. Lothar, der Sohn, will vermieten, Laura, die Tochter verkaufen und so streiten sie, finden keine Einigung und müssen eh warten, bis Ilse das Zeitliche gesegnet hat, denn vorher darf an der Villa nichts verändert werden, hat Ilse testamentarisch so festgelegt.

Es ist eine Trockensitzung, kein Kaffee, kein Wasser, nichts, ungewöhnlich für die sonst aufmerksame Gastgeberin.

 

Nach fast zweistündigem trockenem Reden begibt sich Betty zurück in den Philosophenweg, wollte erst ein paar Meter den Elbuferweg, der direkt hinter der Residenz verläuft, entlangspazieren, entschied sich aber um, das Haus ruft. Wo anfangen? Von oben nach unten, also hoch, den Dachstuhl in Augenschein nehmen, überlegt kurz, einen Notizblock mitzunehmen, um zu protokollieren, was es zu ändern gilt.

Mit einem Haken zieht sie die Dachbodentreppe herab, steigt hoch, wird von warmer, muffig feuchter Luft begrüßt, die Hinterseite der Dachziegel sichtbar, keine Isolierung rundum. Die Ziegel sicher auch schon angejahrt, wobei, Betty hat keine Ahnung, wie alt Ziegel werden dürfen. Muss sie prüfen lassen. Der Boden blanker Beton, könnte sie mit Holzplatten auslegen lassen, als Stauraum nutzen.

Mit den Fingern streicht Betty über die Ziegel, feucht, mag Raumfeuchtigkeit sein, denn geregnet hat es seit ein paar Tagen nicht mehr. Also, hier oben muss etwas getan werden, mal mit Rainer reden, der kennt sicher Handwerker, die sie beauftragen kann. Tiefer Seufzer, riecht nach Arbeit, steigt die Bodentreppe wieder hinab, betritt ihr altes geräumiges Kinderzimmer. Muss alles raus, neu tapezieren, die Kindertapete bestimmt schon zwanzig Jahre alt, die Möbel, meine Güte, könnten noch von ihrer Mutter stammen. Aber was tun mit dem Raum? Gäste- oder Schlafzimmer? Wird ihr Schlafzimmer. Zwei weitere Zimmer liegen hinter dem Kinderzimmer, leer das eine, mit alten Möbeln zugestellt das hintere Zimmer. Linker Seite Großmutters Schlafzimmer, wird sie heute Nacht schlafen, riecht nach Großmutter, nicht nach Alter, nach Rainers Edelrosen und etwas Maiglöckchen, Duft nach Frühjahr, Oma riecht nach Frühjahr, teures Frühjahr. Gut wird Bettys Gästezimmer und die jetzt unbenutzten Zimmer werden Arbeitszimmer.

Neben dem Schlafzimmer der Großmutter eine Dusche, Toilette, zwei Waschbecken, uralte graue, Fliesen, die Wand halbhoch gefliest. Emailliertes Grau oder war das Grün? Kalkränder rundum Waschbeckenablauf und in der Dusche. Summa Summarum, Obergeschoß neu Tapezieren, inklusive dem durchgängigen Flur. Die Dusche neu, auf heutigen Standard bringen.

 

Auch das Erdgeschoß braucht neue Farben im Flur, in den Zimmern. Die Küche, eine gemütliche, geräumige Wohnküche mit altersschwachen Elektrogeräten. Kein Geschirrspüler. Gut, muss nicht sein. Aber, wenn schon, denn schon. Den breiten Tisch, altes Buchenholz wird sie so stehen lassen, auch die Stühle, die, so scheint es, nachgekauft wurden, wirken nicht abgenutzt, aber historisch. Hinter der Wohnküche das Wohnzimmer, Sitzgarnitur, breiter Eichenschrank, den Raum dunkel machend. An den Wänden drei Gemälde, die Betty in Augenschein nimmt. Nein, keine Ahrenshooper, Carl Knauf ist die Signatur. Das Gemälde, ein Hafen mit Fischerkähnen. Auch das zweite Gemälde ist von Carl Knauf, Fischerkaten am Haff. Doch Ahrenshoop? Nein, Knauf hätte sie sicher im Kopf behalten, nie gehört, aber die Gegend, Stil und Motiv ähneln den Ahrenshoopern. Das Dritte Bild schließlich von dem Maler Lehmann Fahrwasser, betitelt Nidden. Sagt Betty nichts. Aber schöne Bilder, wenn Oma sie mitnehmen will, gut, ansonsten wird sie sie hängen lassen. Das Wohnzimmer hat ein breites Panoramafenster, die weiße Farbe blattrig, bröckelt an etlichen Stellen, der Holzrahmen uneben, wird sie später den Kerzentest machen, aber auch so ist zu sehen, dass die Rahmen winddurchlässig geworden sind. Freie Sicht in den Garten, in dem zwei mächtige Bäume thronen, wenn Betty sich nicht täuscht, eine Blutbuche und eine Trauerweide, daneben diverse Sträucher. Die halbrunde Terrasse liegt im Schatten, bedingt durch die Bäume an wenig Sonne gewöhnt.

Schon seltsam, wie sich ihr Blick auf das Hausinnere verändert hat. Fast ihr ganzes Leben hat sie hier drinnen verbracht, aber erst jetzt sieht sie, was sie jahrelang vor Augen hatte, wertet, was sie sieht. Alles ihr Eigentum. Daran wird sie sich erst gewöhnen müssen.

Sie geht weiter. Gegenüber dem Wohnzimmer, eine Art Wintergarten mit ein paar Pflanzen, denen sie gleich Wasser geben wird, denn danach lechzen sie, Teakmöbel hauchen Gemütlichkeit in das Zimmer. Auch hier muss Farbe hinein, Betty stellt sich einen sanften Grünton vor. An der Wand zwei weitere Bilder, denen im Wohnzimmer ähnelnd. Stachus-Floess entziffert Betty die eine Signatur, die andere Ernst Bischoff-Culm. Betty notiert sich die Namen, auch die von denen im Wohnzimmer, wird sie später googeln. Ansonsten wird sie hier drinnen nichts verändern. Neben diesem Zimmer das Badezimmer, Badewanne, Toilette, zwei Waschbecken, Zustand wie oben, grausiges Grün, dem sich Betty erinnert, schon damals irgendwie dunkel, unangenehm. Das Treppenhaus und der Flur müssen neu mit Tapeten, Raufaser, angelegt werden.

Sie geht in die Küche, stellt Wasser über, um sich einen Tee zu brühen, sucht im Küchenschrank, findet aber nur Fencheltee, gut, wenn es sein muss, dann halt Fencheltee, setzt sich auf einen Stuhl und schaut hinaus, rüber zu den Nachbarn linkerseits, von denen sie nicht weiß, wer sie sind, lässt sich aber herausfinden, Rainer kennt sich aus in der Straße. Teewasser kocht, den Beutel begießen, warten, nutzen, um auf die Toilette zu gehen. Nochmals vor ins Wohnzimmer, raus in den Garten schauend. Die Weide fällen? Darf sie das? Oder ist hier die Natur geschützt? Weiß Rainer.

Zurück in die Küche, bleibt an der Kellertür stehen, muss sie auch dort unten nachschauen? Ja, muss sie, also öffnet sie kurzerhand die Tür zum Keller, knipst sich das Licht an und steigt hinab. Eine Luft wie unter dem Dach, nur muffiger, feuchter. Im Heizungsraum die Gastherme, drei weitere Räume leer, nur im vierten Raum stapeln sich Kartons, ausgediente Gartenmöbel, die Betty gleich bekannt vorkommen, sind von ihren Eltern, nur, was machen die hier?

 

Ihre Finger gleiten in einen der Umzugkartons, fühlen Bücher. Sie öffnet den Karton, hebt ihn vom Stapel, schaut hinein, holt Buch für Buch hervor. Bücher, die in den Regalen der Wohnung ihrer Eltern standen. Titel, die ihr nichts sagen, ebenso wie meisten Autorinnen und Autoren, gut Böll kennt sie, Jünger auch, aber Frank Thieß, Eric Reger, muss sie sich ein andermal genauer ansehen. Hm, wahrscheinlich nach der Scheidung ihrer Eltern hier zwischengelagert und auf ewig vergessen.

Sie öffnet zwei weitere Kartons, in einem der Kartons altes Geschirr, Meißner Porzellan, in dem anderen Schallplatten. Interessante Platten, uralte Platten aus den sechziger und siebziger Jahren, die Beatles, natürlich, die Troogs, Sweet, Neil Diamond, Simon and Garfunkel, die Mamas und Papas. Oh, an die fallen Betty Erinnerungen ein, California Dreamin oder Monday Monday. Wenn ihr Mann, Sören Sundberg, außer Haus war, legte Bettys Mutter California Dreamin auf, ihr Song über Jahre, kommt Betty sofort in den Kopf, kann ihn mitsingen, Mama Cass Stimme begleiten. Richtig, Betty interessierte die Frau, die auf dem Cover so mächtig, so dick erschien, fand aber nur deren frühen Tod heraus. Dennoch war ihr die Frau so etwas wie ein Vorbild, auch wer dick oder fett ist, kann Erfolg haben, das hatte sie von der Frau gelernt. Eine Episode, kindliche Episode und irgendwann schwieg Mama Cass, bis jetzt.

Später, als Betty Gedanken über ihre abweisende Elternbeziehung wälzt, wird ihr klar, dass sich ihre Mutter aus der Kälte des Haushaltes in die Wärme des Lebens sehnte und California Dreamin der Song für sie war, zumindest zeitweise dem Hausfrauendasein zu entfliehen. Bettys Vater, in führender Position, erlaubte keine arbeitende, selbständige Ehefrau, wie sehe das denn aus, sie solle sich um Haushalt und Kind kümmern. So hatte er es von seinen Eltern gelernt. Haushalt machte ihre Mutter ein wenig, den Rest Frau Bessgen, die strenge Tante Elli, um Kind kümmern gar nicht, ging lieber mit ihrer Freundin Laja Tennis spielen, Kaffee trinken oder sonst einer zeittötenden Abwechslung nach, wie Shoppen. Ein Preis, den Vaters Starrsinn zahlen musste. Ihre Mutter wuchs als Einzelkind auf, verhätschelt, verwöhnt, sollte es ja einmal besser haben als ihre Eltern, die sich durchkämpfen mussten, um zu erreichen, was sie erreicht hatten. Zu spät erkannte der Großvater, dass seine Tochter nicht das kaufmännische Format ihrer Mutter hatte, das Geschäft nicht wird übernehmen können, was zu einer langsamen Entfremdung führte, mit Auswirkungen, die Betty zu spüren bekam. So erklärte sich Betty ihre traurige lieblose Kindheit, auf die zusätzlich ihr wachsendes Gewicht fiel.

Sie schüttelt diese Gedanken von sich, überlegt, wo Platten sind, müsste auch ein Plattenspieler sein, aber den jetzt zu suchen, hat sie keine Lust mehr. Das im Keller etwas geschehen muss, ist unausweichlich, muss isoliert werden, ist wahrscheinlich gar nicht isoliert. Viel Arbeit, die Geld kostet, das Betty nicht hat. Vielleicht klein anfangen und eins nach dem anderen in Ordnung bringen. Sie wird sehen, geht wieder hoch, ihr Tee fast kalt, setzt sich und nippt nachdenklich an der Tasse.

Draußen neigt sich der Tag, Wolken ziehen dahin, verdichten sich, wird sicher heute Nacht regnen. Kein Fernseher im Haus, hat Großmutter direkt mitgenommen, war ihr wichtiger als alles andere, na ja, so ist sie halt, die Großmutter.

 

Betty kramt aus ihrer Umhängetasche ihr Smartphone, schaut, ob sie einen Anruf verpasst hat, was nicht der Fall ist, überlegt Lusi anzurufen, ist Sonntag, nein keine Belästigung am Sonntag. Klickt auf Wetter.de bekommt bestätigt, was sie bereits vermutet hat, es wird regnen. Noch ein Klick auf Google, gibt Mama Cass ein und kann über das kurze, aber exzessive Leben der Ellen Naomi Cohen auch Cass Elliot oder Mama Cass genannt, lesen. Ein Leben, dass anscheinend dem plötzlichen Erfolg nicht gewachsen war. Was Betty damals wie heute an der Frau imponiert, ist, dass sie immer zu sich und ihrem Aussehen stand, damit gar kokettierte, sich aber weigerte, sich dem Mainstream beziehungsweise den Produzenten zu unterwerfen, hieß abzuspecken, um den fotogenen Idealmaßen der damaligen Zeit zu entsprechen. Allerdings war ihr Gewichtsproblem neben den Drogen und dem Alkohol einer der Gründe, die ihr mit nur 32 Jahren das Herz versagen ließen. Traurige Geschichte einer famosen Frau.

Ihr Smartphone zur Seite legend, schaut sie hinaus, der Regen wird noch etwas warten, kann sie nutzen, ein paar Meter durch das Viertel zu laufen, Impressionen sammeln, Erinnerungen wecken, auffrischen. Vorsichtshalber schnappt sie sich Omas Friesenpelz, will ihn überziehen, aber passt nicht, noch nicht. Sie geht hinaus, steigt die Treppenstufen hinab, biegt rechts ab und geht den Philosophenweg hoch. In den Häusern brennen die Lichter, die wenigsten Fenster mit Vorhängen vor äußeren Blicken geschützt. Vor jedem Haus schaut Betty auf die Namenschilder an den Türklingeln, bis auf die, die schon immer hier wohnen, keine Namen, die sie kennt. Woher auch? Etliche Häuser sind mehrfach belegt, umgebaut zu lukrativen Wohnungen.

Am Tennisplatz biegt sie ab in den Rulantweg, diesen runter bis zur Elbchausee und zurück, kommt bei Scherrer vorbei und sagt sich spontan, hier ihr Abendessen einzunehmen, sofern es nicht wieder Grünkohl gibt. Aber, Überraschung, es gab eine gut gefüllte Speisekarte aus der Betty sich unpanierten Pannfisch mit Broccoli bestellt, sonst keine Beilage wie sie der Bedienung einschärft, die nicht Katty ist. Zum Essen das übliche Wasser und einen unüblichen trockenen Weißwein, den sie sich zu Ehren von Mama Cass gönnt.

Der Fisch ist frisch, saftig, gut zubereitet, Betty hat es geschmeckt, was sie der Bedienung auch übermittelt, die sich bedankt und freut, warum auch immer. Die Luft, als sie den Scherrer verlässt, aufgefrischt, der Regen ist bereits zu riechen. Die paar Meter bis zum Haus ist aber noch nichts zu befürchten. Vor dem Haus hält sie inne. Das war nun ein anderer Blick, der Das-ist-mein-Haus-Blick, nicht mehr der Ich-bin-halt-da-Blick. Sie lächelt in sich hinein, doch, sie wird es sich schön machen, koste es, was es wolle.

 

Noch nicht die Zeit, um ins Bett zu gehen, betritt sie das Wohnzimmer, lässt ihre Augen über die im Regalschrank ruhenden Buchrücken gleiten, sieht den Grass, dreifach, Ein weites Feld, Katz und Maus, Die Hundejahre. Sie zieht die Hundejahre heraus, noch die Worte von Hembach im Kopf, gut, ihre Lektüre für ihr Hiersein. Das Telefon klingelt, Omas Festnetz. Wer will Oma sprechen? Nicht sie, Betty ist gewünscht, ihre Großmutter, lädt Betty zum Frühstück ein, morgen früh, so gegen halb neun im Parterre, ein großes Frühstücksbuffett, sie habe ja sicher nichts im Haus. Richtig, gute Idee, sie werde kommen. Anschließend will ihre Großmutter mitkommen, sich die Sachen für ihre Wohnung auswählen.

„So machen wir das, Omi!“

Betty fläzt sich auf der Sitzgruppe, schlägt den Grass auf und beginnt zu lesen. Ungewohnter Text, verspielte Sprache, Sätze, die Betty mehrfach lesen muss, bevor sie sie versteht. Was sie versteht, ist, dass da einer seine Wut loslässt, die Wut über eine Zeit, in die er geboren wurde, die er erleben musste, mitmachte, sich aber irgendwie da rausmogeln möchte. Vergangenheitsbewältigung, in der eigenen Vergangenheit Lücken platzierte. Eine westdeutsche Spezialität.

Das Licht im Zimmer etwas trübe, eine Stehlampe wäre nicht schlecht, keine im Haus, wird sie sich eine kaufen müssen. Draußen hat der Regen eingesetzt, Hamburger Schietwetter, na ja, der Herbst lässt grüßen. Nach erschöpfenden fünfzig gelesenen Seiten legt Betty den Grass zur Seite, steht auf, misst ihren Blutzuckerwert, Fisch und Eiweiß ohne Kohlenhydrate wirken sich positiv auf ihren Wert aus, der erstmals im Toleranzbereich liegt, knapp, aber immerhin. Letzte Aktivität, nur noch das übliche Bettgehprozedere. Müde sinkt sie in das frühlingbeduftete Bett ihrer Großmutter.

Ohne Wecker, das tun die ersten Lichtstrahlen des aufziehenden Tages, schlägt Betty die Augen auf. Vorhänge, sie braucht Vorhänge, Plissees, Rollos oder was auch immer, um den Zimmern ihre Nachtruhe zu geben. Gemächlich geht sie die Morgentoilette an, duschen, die Zähne putzen, das Haar richten, in das Kleid und die Leggings schlüpfen. Ein Blick aus dem Fenster sagt ihr, kein Regen, aber trübes, wolkenüberladenes Wetter, Weste über das Kleid anziehen. Noch etwas Zeit, wandeln durch das Erdgeschoß. Kerzentest! Oma hat bestimmt irgendwo Kerzen gebunkert, Kerzen, Leuchten des Alters, man kann ja nicht wissen. Sie stöbert im Wohnzimmerschrank, im Küchenschrank, findet schließlich in der Kommode im Flur, was sie sucht, Zündhölzer liegen praktischerweise bei den Kerzen, zündet eine Kerze an, vorsichtig die Hand beim Gehen davorhaltend. Zunächst das Küchenfenster, hält die Kerze nah an das Fenster, die Flamme schwankt, weht schräg, luftdurchlässiges Fenster. Das Panoramafenster so undicht, dass die Flamme fast erlischt, weiter braucht sie nicht zu testen, ahnt, alle Fenster, gutes deutsches Holz, müssen ersetzt werden, durch kunststoffummantelte Fenster. Sie wird einen Energieberater kommen lassen und nach dessen Rat, die diversen Arbeiten angehen. Ja, so wird sie es machen.

 

Der Frühstücksraum liegt ebenerdig am Grund des Turmes, Betty, bei dessen Anblick, stellt sich sofort die Frage, was, wenn eine Sturmflut hier vorbeizieht? Zwangsläufig wäre hier Land unter. Ein Planungsfehler? Ihre Großmutter und Ilse sitzen bereits an einem Tisch, vor sich diverse Frühstückszutaten, Oma Katharina winkt Betty herbei, wünscht einen schönen Morgen, erklärt ihr, wo sie was findet, und schickt sie los, sich einen Teller zu beladen. Na ja, ist alles da, was zu einem guten Frühstück gehört, aber da Betty auf vieles davon verzichten muss, ist der Teller, als sie am Tisch Platz nimmt, sehr übersichtlich.

„Kindchen, nicht dein Ernst? Damit kommst du keine zwei Stunden weit, dann fordert dein Magen Nachschub.“

„Mein Magen ist Übersichtlichkeit gewohnt.“

„Hm.“

Ilse lächelt nur und meint zu Katharina, sie solle sie doch lassen, sei doch alt genug, zu wissen, was sie wolle oder dürfe. Die Sache mit der Sturmflut lässt Betty ihre Großmutter fragen, ob dieser Raum denn hochwassersicher sei. Schmunzeln bei Katharina, ja sei er, die Fenster dick und dicht, genauso wie die beiden Türen. Bei Hochwasser sei das hier drinnen wie in einem Aquarium, sie könnten der Elbe beim Steigen und Fallen zusehen und dabei gemütlich frühstücken. Eine junge Frau steuert ihren Tisch an.

„Schon gut, Lene, das ist meine Tochter, die geht auf meine Kappe.“

Oma Katharina erzählt Betty von Sturmnächten, wenn der Wind die Wassermassen an die Fenster peitscht, die Elbe sich aufschaukelt, Blitze den Himmel erhellen und die Kräne drüben im Hafen noch tierischer aussehen ließen als sie es eh schon sind. Ilse nickt, ja ja, so ist das. Dann plötzlich Klingeln, ein Handy, Bettys Handy, sieht erzürnte Blicke auf sich gerichtet, kramt das Smartphone aus ihrer Tasche, drückt das Gespräch weg.

„Kundschaft?“

„Später, ich schaue mir das später an.“

Leicht gesagt, berufsbedingte Neugier regt sich in ihr. Wer konnte so früh anrufen? Lusi? Vera? Professor Giede? Erneutes Klingeln. Wieder schnelles Wegdrücken.

„Sorry, es scheint wichtig zu sein. Ich bin gleich wieder da.“

Sie geht vor die Tür, beschaut ihr Display, verpasste Anrufe, zwei Anrufe von Lusi. Was ist so wichtig? Gut, sie drückt die Rückruftaste, Lusi meldet sich gleich.

„Moin Betty. Wo bist du?“

„Moin Lusi, Sehnsucht oder ist etwas passiert?“

„Betty, wir haben eine Leiche.“

„Na ja, eine Leiche ist zunächst nichts Ungewöhnliches. Oder?“

„Sie ist ungewöhnlich, Betty. Die Leiche macht mir Angst. Ich maile dir die Bilder zu, dann wirst du verstehen, warum ich Angst habe. Es ist keine gewöhnliche Leiche.“

„Was heißt, keine gewöhnliche Leiche?“

„Die Leiche ist eine junge Frau, der der Kopf abgetrennt wurde. Der Kopf ist nicht auffindbar. Das ist kein normaler Mord. Die Frau wurde ausgestellt. In einer Grünanlage auf einer Bank abgelegt, sichtbar. Sie sollte so gesehen werden. Ich vermute eine Botschaft. Der Täter wollte eine Botschaft übermitteln.“

„Wo genau befindet sich der Tatort?“

„Das wissen wir noch nicht. Der Fundort ist nicht der Tatort, dafür ist zu wenig Blut vorhanden. Die Grünanlage, wo wir die Leiche fanden, befindet sich in St. Gertrud, also nicht irgendwo, sondern in guter Wohnlage. Ein Gassigeher hat sie gefunden, also mehr sein Hund.“

„Ihr habt noch keinen Hinweis, wer die junge Frau ist.“

„So ist es.“

„Ich bin zurzeit in Hamburg bei meiner Großmutter. Schicke mir alle Tatortfotos und alles, was ihr sonst noch festgehalten habt, zu. Falls nötig kann ich kommen, aber erst gegen Abend oder morgen früh, ich habe hier einige dringende, persönliche Dinge zu erledigen. Was sagt unser neuer Chef zu der Toten?“

„Er wirkte etwas distanziert, hielt sich auf Distanz zu der Leiche und hat mich und Peter weitgehend machen lassen. Er vermutet einen Beziehungshintergrund, was ich als Quatsch empfinde. Welcher Typ bringt seine Geliebte um und nimmt ihren Kopf mit? Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber im ersten Moment fiel mir natürlich sofort unser Pfleger ein. Meinst du, er mordet weiter, nur anders?“

„Lusi, der Pfleger ist tot, ist Geschichte. Lass mich deine Daten prüfen. Ich schaue mir alles genau an und rufe dich spätestens heute Abend zurück. Was sagt Travens?“

„Dich anzurufen, war seine Idee. Er wirkte besorgt. Ich denke, er will deine Einschätzung hören, bevor er sich äußert.“

„Gut, ich melde mich.“

 

Lusi klang bestürzt, der Oberstaatsanwalt besorgt. Eine Leiche ohne Kopf, das ist kein Lübecker Kleinkram. Was aber dann? Während sie zurückgeht, ihr Frühstück zu beenden, beginnt es in ihrem Kopf zu arbeiten. Was, wenn der Pfleger doch nicht tot ist, Harrie sich geirrt hat, die Tote als Warnung ausgelegt hat, als Zeichen dafür, dass er noch da ist und weitermacht? Nur anders? Nein, Betty will das nicht glauben. Eine Herausforderung? Will mich der Typ herausfordern? Betty ist verunsichert. Unruhig.

Sollte sie Hembach anrufen, fragen, ob er schon mit Mytro sprechen konnte? Ob Hembach bereits über den Leichenfund Bescheid weiß? Wenn ja, dann wäre er beunruhigt und würde reagieren, mit ihr reden. Ja, so würde er es machen, davon ist Betty überzeugt. Und da er sich noch nicht hat vernehmen lassen, weiß er weder das eine, noch hat er das andere getan. Also abwarten, was die weiteren Ermittlungen ergeben.

„Kindchen, was ist passiert? Du hast Farbe verloren.“

Wäre Betty nicht aufgefallen, aber ja, ihr Herz pocht heftiger als sonst und dieses Gefühl, mulmig, umnebelt ihren Kopf, dieses, vielleicht doch? Betty nimmt wieder Platz, ist aber nicht da, versucht sich das Bild einer kopflosen Leiche vorzustellen. In einer Grünanlage? Ihre Großmutter starrt sie an, schüttelt mit ihrem Kopf.

„Betty, hallo! Was ist los?“

„Tut mir leid, Omi, die Kollegen haben eine Leiche gefunden…ohne Kopf.“

„Schrecklich. Das ist ja schrecklich,“ stößt Ilse aus, im Gleichton auch ihre Großmutter.

„Aber du bist nicht im Dienst, bist hier. Was wollen die von dir?“

„Das ich komme. Der Oberstaatsanwalt legt Wert auf meine Expertise. Es scheint kein gewöhnlicher Mord zu sein. Ich befürchte, ich muss vorzeitig abreisen. Meinst du, wir bekommen den Anwalt und die Bank im Laufe des Tages hin? Ansonsten müssen wir es verschieben.“

„Wann willst du denn losfahren?“

„Am Abend oder morgen früh. Ich bekomme die Unterlagen zu dem Verbrechen zugemailt, muss sie mir anschauen. Danach erst entscheide ich, was ich tun werde.“

„Was ist das für ein Beruf? Mord und Totschlag.“ Ilse vergisst, ihr Frühstück fortzusetzen, sitzt aufrecht mit besorgtem Blick auf Betty da, die am liebsten aufspringen würde, zurück ins Haus rennen und ihren Laptop anwerfen, denn, das ist so sicher wie die Schlussworte einer Predigt, Lusi wird keine Zeit verlieren.

„Wir gehen aber noch zusammen rüber ins Haus?“

„Ja, das machen wir. Lass uns jetzt zu Ende frühstücken.“

„Ja, du hast ja noch gar nicht angefangen.“

Betty betrachtet ihren schmal belegten Teller, nein, ihr ist der Hunger vergangen, die Leiche liegt ihr im Magen.

 

Sie solle hier warten, wäre gleich zurück, ordnet ihr Großmutter an, steht auf, um auf ihr Zimmer zu gehen, Ilse bleibt sitzen, lächelt Betty an, meint, die Blase. Versteht Betty zunächst nicht. Blase? Hm, meint Blasenschwäche. Das Alter. Von wegen Alter, sie kann mit ihrer Blase mitsingen, die allerdings zusätzlich animiert wird von der Forxiga-Tablette.

„Wie geht es Laura so? Besucht sie dich ab und an?“

„Ach, die Kinder haben heutzutage keine Zeit mehr. Von den Enkelkindern bekomme ich immer nur den Geburtstag mit und wundere mich, wie schnell die wachsen. Bei Lothar nicht anders. Aus den Augen aus dem Sinn sagt man. Ist so. Sind weggezogen und sind weg. Sie besuchen mich selten. Kathrin sagt immer, sei froh, ist besser für deine Nerven,“ dabei kicherte sie süffisant vor sich hin.

Lene fragt, ob sie abräumen darf, was Ilse gewährt.

„Kommst du mit rüber?“

„Nein, nein, ist mir zu beschwerlich und zuzuschauen, wie sich Kathrin nicht entscheiden kann will ich auch nicht.“

Betty grinst, ob es so schlimm bestellt sei um ihre Großmutter. Kathrin habe nicht viel Platz in der Wohnung, möchte aber viel Vergangenheit hineinstellen. Das wird nicht so funktionieren, wie sie sich das vorgestellt hat, also muss geschrumpft werden und schrumpfen sei noch nie Kathrins Stärke gewesen.

„Was ist mit mir?“ Omas Ohren scheinen noch intakt.

„Nichts. Geh und such dein Mobiliar zusammen.“

Betty und ihre Großmutter brechen auf, verlassen den Frühstücksraum, Betty voller Gedanken, Großmutter voller Sorgen, sie kennt ihre Enkeltochter zu gut, weiß, dass ihr die Nachricht schwer zu schaffen macht. Im Gehen schaut sie, einen Kopf kleiner als Betty, immer wieder auf die verkniffen dreinschauende Betty.

„Dir macht diese Leiche Sorgen. Ist etwas Besonderes an ihr?“

„Ich weiß nicht Omi, eigentlich nicht und trotzdem ist da etwas, was mich beunruhigt. Meiner Kollegin Lusi macht die Leiche Angst, sie glaubt, es könnte eine Warnung an mich sein, was ich nicht glaube. Es kann nicht sein. Sie glaubt das der Täter aus unserem letzten Fall, den wir ja nicht auffinden konnten, wieder mordet. Nein, ich glaube das nicht und trotzdem nagt ein Zweifel in mir, dass es doch so sein könnte.“

„Hm, du solltest der Sache nachgehen, den Zweifel aus dem Weg räumen, das schafft Platz in deinem Kopf. Also bei Doktor Redlefsen können wir spontan aufkreuzen, ist alles vorbereitet, du musst nur noch unterschreiben. Bei der Bank wird es nicht so schnell gehen und wenn nicht, auch nicht schlimm, lässt sich jederzeit ein neuer Termin finden. Also, wenn du meinst fahren zu müssen, dann fahre.“

„Gut, machen wir eins nach dem anderen und fangen an, dir deine Möbel auszusuchen.“

 

Im Haus angekommen zückt ihre Großmutter einen Block Post-it aus ihrer Handtasche und teilt Betty mit, dass sie das, was sie gerne in ihr Zimmer haben wolle, mit den Zetteln markiere, falls Betty den Gegenstand aber behalten wolle, solle sie es sagen. Sie würden sich sicher einig werden. Sie möge bedenken, dass der Platz in ihrem Zimmer eingeschränkt sei, was diese lächelnd abwinkt, die Wohnung habe noch genügend leere Flecken, die sie zustellen oder behängen könne.

Behängen ist das Schlagwort für Betty, ihre Großmutter nach den Gemälden in Wohnzimmer und Wintergarten zu fragen.

„Sind das bekannte Maler, deren Bilder du hier hängen hast? Früher waren die für mich einfach da, aber jetzt, nach Ahrenshoop interessieren sie mich. Ich habe dort gelernt, zu verstehen, was Kunst sein kann.“

„Die meisten der Maler von damals waren in ihrer Zeit bekannt, heute eher weniger. Die dunklen Jahre haben sie geschluckt, nein, verschluckt und dort oben, wo sie gemalt hatten ist die Erinnerung jetzt russisch oder litauisch, ich weiß es nicht so genau, jedenfalls nicht mehr deutsch, nicht mehr ostpreußisch. Die Gemälde sind von Ernst Bischoff-Culm und Carl Knauf, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Nidden, damals noch Ostpreußen, Teil einer Künstlerkolonie waren. Dein Großvater und seine Familie stammen ja aus Ostpreußen. Leopolds Vater bezog seine Fische von den Fischern in Nidden, Purwin, Sarekau oder Kuntzen, die Aale und Hechte aus dem Haff, die Heringe, Schollen aus der Ostsee. Dein Urgroßvater kannte alle Fischer und die meisten Künstler, die zeitweise, aber regelmäßig wiederkehrten, manche sich auch niederließen. Thomas Mann, den kennst du sicher, hatte ein Sommerhaus in Nidden, in das er zur Sommerfrische fuhr, bis die Nazis ihn vor die Tür setzten. Der Schmidt-Rottluff, der Pechstein, der Corinth, oh ja, viele Berühmtheiten der damaligen Zeit gaben sich auf der Kurischen Nehrung die Klinke in die Hand. Schon als kleines Kind durfte Leopold seinen Vater begleiten, der wöchentlich die Fischerdörfer aufsuchte. In den Dünen saßen die Maler oder im Gasthof Blode, wo Leopold und sein Vater sie kennenlernten. Leopold hat oft von diesen Treffen erzählt, von der Lockerheit der Künstler, der Verbundenheit mit den Dörflern, deren Gerede über Farben, Stimmungen, wie das Licht einzufangen sei. Der Carl Knauf hatte sich ein Haus in Nidden gebaut, lebte aber sehr zurückgezogen, ja, und irgendwann ist dein Urgroßvater auf ihn gestoßen, saß da und malte, vor lauter Schreck hat er ihm zwei seiner Gemälde abgekauft. Das Bild der Paula Staschus-Floess ist Leopolds Lieblingsbild gewesen. Er sagte, das Bild sei Liebe auf den ersten Blick gewesen. Das Dorf Purchin, vor dem hat er hier oft gestanden und wenn er davorstand, liefen ihm mitunter die Tränen. Immer wieder hat er gesagt, dass er mir die Kurische Nehrung zeigen würde, die große Düne, die Sahara an der Ostsee, das schönste Stück Deutschland, früheres Deutschland. Ein Traum, sein Traum, der fast wahr geworden wäre, denn nach dem Mauerfall wäre der Weg dorthin frei gewesen. Aber der Krebs hat es verhindert. Die Kurische Nehrung, Memel, Ostpreußen, das war seine Heimat gewesen und die Wand seine Erinnerung an als das, was er dort erlebt und verloren hatte. Es muss eine erfüllte Zeit für ihn gewesen sein. Er sagte immer, das Gefühl, das die Maler in ihre Gemälde legten, sei in ihm, immer in ihm, sie hätten gemalt, was und wie er fühle. Die Bilder möchte ich gerne bei mir haben, später bekommst du sie zurück. Die Bilder sind Leopold, mehr Leopold als er auf einer Fotografie ist.“

Betty hat ihren Arm um die Schulter der Großmutter gelegt, betrachtet das Dorf Purchin, ein in satten Gelbtönen strahlende Landschaft, wellig wie das Meer, schilfgedeckte Katen, eingebettet zwischen Ostsee, Dünen und Feldern. Durch Bettys Kopf ziehen die Bilder aus Ahrenshoop, von Paul Müller-Kaempff, seiner Frau Elisabeth, Alfred Partikel, Edmund Kesting und alle die anderen, deren Namen aber in Betty nicht haften geblieben sind. Künstler, die um die gleiche Zeit ihre Stadtflucht in die ländliche Idylle verschlug, anscheinend nicht viel anders als die Maler in Nidden. Dabei fällt Betty auf, das auf fast allen dieser Bilder etwas fehlt, nämlich der Mensch. Alle Elemente wurden gemalt, Sturm, Regen, Wind, Wasser, aber kaum Menschen. Störte er die Natur? Die Idylle? Von heute aus betrachtet sagt sich Betty, ja, der Mensch ist ein Störfaktor in der Natur, einer, der der Natur schadet, der sie nicht achtet, ihrer nicht wert ist. Ahnten die Künstler damals, wozu die Menschen in der Lage sind? Sie sahen, wie die Städte wuchsen, die Industrieschlote sich über die Bevölkerung erhoben, ihren Ruß über die Städte, über die Natur legten, sahen wie Fortschritt fort schritt, ausschritt über alle Bedenken und Mahnungen hinwegging, damals wie heute.

 

Ihre Großmutter löst sich von Betty, klebt ihre Post-it an die Bilderrahmen, an die Kommode, muss der Fernseher darauf, die Sitzgruppe, schade, hätte Betty behalten, aber Oma gewohnt auf ihr zum Fernschauen zu sitzen. Und der Vitrinenschrank muss mit, kam aus Ostpreußen mit den flüchtenden Peschkes, Art Deco Jugendstil, mit Platz für Wäsche und Schnickschnack obenauf. Und diesen Schnickschnack markieren erübrigt sich, den, sagt Oma, packt sie in eine Einkaufstasche und trägt ihn nach und nach in ihre Wohnung.

„Das machen wir nachher. Nicht nach und nach, gleich, fang an, die Taschen vollzustopfen, ich trage sie dir nachher rüber.“

„Oder so.“

Pflanzen, nein Pflanzen will sie keine im Zimmer, rauben ihr den Sauerstoff. Ihre Kleider, Wäsche muss sie nicht markieren, geht alles mit hinüber, aussortieren wird sie beim Einräumen, nicht hier. Zwei Teppiche bestimmt sie, den Liegeort zu wechseln, dem Küchenschrank entnimmt sie, falls sie, was sie nicht vorhat, doch einmal etwas kochen müsste, die notwendigsten Utensilien.

„Hast du Umzugskartons im Haus?“

„Nein. Bringen die die Möbelpacker nicht mit?“

„Sicher, aber dann hättest du vorpacken können. Also, ich mag es nicht, wenn fremde Menschen meine persönlichen Sachen anfassen, deshalb packe ich immer selbst.“

„Hm, Recht hast du. So habe ich das noch nicht betrachtet. Kann ich die Kartons kaufen?“

„Kannst du. Online oder im Baumarkt.“

„Online? Aber ich bin ja nicht hier, wenn die liefern.“

„Wir könnten zu Rainer liefern lassen.“

„Machen wir.“

Großmutter verschränkt die Arme vor der Brust, blickt sich um, nickt mit ihrem Kopf, sagt, gut so, mehr brauche ich nicht, richtet ihre Augen auf Betty, bemerkt deren Abwesenheit.

„Nun geh schon hoch, hole deinen Computer, dann schauen wir uns mal an, wie deine Leiche aussieht.“

„Wir? Omi, eine grausig zugerichtete Leiche ist nichts für ein sensibles Gemüt.“

„Sensibles Gemüt? Seit wann habe ich ein sensibles Gemüt und Leichen, Kindchen, mein halbes Leben habe ich mit Leichen verbracht. Leichen sind mir geläufig. Ich habe sie seziert, da hat noch keiner geahnt, dass wir einmal eine Kriminalistin in die Familie bekommen.“

„Omi, deine Leichen waren Fische! Du hast filetiert, nicht seziert.“

„Ja und? Fische sind auch Lebewesen und ich habe die nicht nur betrachtet, ich habe sie auch auseinandergenommen. Also erzähle mir nichts von grausigen Leichen.“

Betty stiert ihre Großmutter an, die meint es ernst. Gut, wenn es sein muss, dann halt mit Oma als Kiebitz. Aber die Aufforderung ihrer Großmutter bringt sie wieder in Schwung, löst sich aus der gedanklichen Befangenheit, steigt die Treppe hoch, schnappt sich ihren Laptop, steigt die Treppe wieder hinab, geht in die Küche und setzt sich an den Küchentisch, Oma Kathrin schnappt sich einen Stuhl, schiebt ihn neben den von Betty, setzt sich und betrachtet erwartungsvoll den Laptop, den Betty aufklappt und anstellt.

 

Wie erwartet hat Lusi gleich geliefert, vier Dateien, zunächst interessieren nur die Tatort- oder Fundort-Fotos, öffnet die Datei, gespanntes Schnaufen neben sich, vergrößert das erste Foto. Der Fundort, Bäume, Sträucher, Rasenfläche, im Hintergrund eine Bank auf der ein Torso zu erkennen ist.

„Ist das ein Park? Die Leiche mitten im Park?“

„Scheint eine kleine Grünanlage zu sein. Das Wohngebiet liegt in St. Gertrud, eine etwas gehobene Wohngegend. Die Aufnahme wurde anscheinend von der Straße aus gemacht. Der, der die Leiche gefunden hat, muss sie so gesehen haben.“

Klickt das nächste Foto an. Die Leiche von vorne, die Beine angewinkelt, die Füße, in weißen Sneakers steckend, die Marke lässt den Preis erahnen, stehen auf dem Boden. Sie trägt Jeans, an den Knien löchrige Jeans, ein blaues Sweatshirt mit dem Aufdruck einer Universität aus Amerika, die Brust kaum wahrnehmbar, die seitlich Arme angelehnt, auf der Bank liegend.

Betty wendet ihren Kopf ihrer Großmutter zu: „Was meinst du? Was fällt dir auf?“

Katharina blickt konzentriert auf den Torso.

„Wieso hat er ihr die Hose aufgeschlitzt?“

„Omi!! Das ist jetzt Mode. Und sonst fällt dir nichts auf?“

„Doch, na klar, ich sehe kein Blut an der Kleidung. Müsste der Pullover nicht voller Blut sein?“

„Richtig, der Täter hat sein Opfer frisch eingekleidet, bevor er es auf der Bank abgelegt hat. Anscheinend hat er die Leiche irgendwo ausbluten lassen und sie dann angekleidet. Wir werden gleich im Obduktionsbericht nachschauen, ob sie sexuell missbraucht worden ist.“

Das nächste Foto zeigt den Torso von der anderen Seite, der kopflosen Seite. Ein sauberer Schnitt, keine Anzeichen von grober Gewalt, von einer Säge oder ähnlichen Werkzeugen. Betty fällt gleich das Samuraischwert ein, mit dem der Pfleger eines seiner Opfer zerstückelt hatte und damit auch der Pfleger selbst. Da ist eine Ähnlichkeit, aber warum sollte der Pfleger seine Art zu töten so abrupt wechseln, wenn er es denn war?

„Wie hat der Täter den Kopf so sauber abtrennen können? Das muss ein sehr scharfes Messer gewesen sein.“

„Kein Messer, ein Schwert. Ich vermute ein japanisches Samuraischwert. Ein sehr präziser Schlag, wahrscheinlich ein einziger Schlag und der Kopf war ab.“

„Grausig, scheint noch ein sehr junges Mädchen zu sein. Warum macht jemand so etwas? Aus Rache? Aus, was weiß ich?“

„Das ist schwer zu sagen. Der Pfleger hat acht Frauen barbarisch ermordet, aber bis heute kenne ich nicht den wahren Grund. Den kennt nur der Täter selbst und selbst dem ist oft unklar, warum er tat, was er tat. Das Motiv für diese Tat müssen wir herausfinden und dazu brauchen wir den Täter.“

Der Torso von vorne, auf dem nächsten Foto, hingelegt, wie eine Schlafende, der aber ein wichtiges Körperteil fehlt. Betty stutzt, zoomt das Bild größer, betrachtet den Arm, die Hand, den Finger. Was ist das? Der rechte Arm liegt auf der Bank, eng am Körper angelehnt, die Hand geballt, bis auf den Zeigefinger, der in eine Richtung zeigt. Eindeutig, der Finger zeigt in gerader Richtung. Der Daumen drückt leicht auf den Zeigefinger. Wie geht das? Das ist arrangiert, eine bewusste Handlung. Was will der Täter damit sagen?

„Siehst du das? Der Finger.“

„Ja, sieht aus, als würde er auf etwas zeigen.“

„Genau, nur, das geht nicht. Es sei denn, der Täter hat hier ein Zeichen gesetzt, den Finger so arrangiert, um auf etwas aufmerksam zu machen. Die Tote ist ausgeblutet, das braucht seine Zeit, erst einige Zeit später wird sie aufgebahrt, Leichenstarre beginnend. Eine starre Leiche kann keinen Finger mehr rühren. Ob die Kollegen das erkannt haben?“

 

Betty ruft Google-Earth auf, gibt die Anschrift ein, Roeckstraße, zoomt sich in die Grünanlage, neugierig verfolgt von ihrer Großmutter, geht so nah wie möglich an die Sitzbank, zieht eine Linie, von der sie glaubt, dass sie der Richtung des Fingers entspricht. Egal wie sie die Linie legt, sie läuft immer auf das gleiche Haus zu. Eine große Villa, umgeben von einer hohen Mauer, einer breiten Rasenfläche um die Villa, Blumenbeete.

Betty zückt ihr Smartphone, wählt Lusi an, die annimmt, fragt, wie der Stand der Ermittlungen sei. Sie befragen gerade die Anwohner, nicht sehr ergiebig, die Leute wohnen hinter hohen Mauern oder Hecken, in Häusern auf großen Grundstücken, abgesetzt von der Straße. Die können nichts gesehen haben. Eine Familie sei nicht zu Hause gewesen, die hätten sie noch nicht befragen können, aber auch die verschanzt, ohne Sicht auf den Fundort. Vorsichtig fragt Betty, ob sie denn schon nachgeforscht hätten, ob irgendwo ein Samuraischwert entwendet worden sei. Daran habe sie als erstes gedacht und die Kontakte von damals herausgesucht und kontaktieren lassen. Bis jetzt ohne Ergebnis.

„Vermisstenanzeige?“

„Nichts. Gar nichts, auch überregional keine Anzeige, die passen könnte.“

„Keine Hinweise auf die Identität der Toten?“

„Nichts. Die Spusi hat die ganze Gegend abgesucht, aber nichts gefunden…Auch den Kopf nicht.“

Dehnt die Suche aus, besonderes Augenmerk auf Müllcontainer und -tonnen, Papierkörbe und ähnliches. Ich glaube nicht. Dass er den Kopf mitgenommen hat, den hat er irgendwo entsorgt.“

„Wie kommst du darauf?“

„Einfach so…Bauchgefühl…habt ihr in Schulen nachgefragt, ob eine Schülerin vermisst wird, unentschuldigt fehlt?“

„Nein. Betty, heute ist Montag, da fehlen sicher einige Schüler. Dort nachzufragen ist noch zu früh. Falls wir bis Dienstag nicht vorangekommen sind, werden wir die Schulen aufsuchen. Die Tote ist sehr gepflegt, schätze, sie stammt aus einer besseren Familie, was heißt, vom Alter her, die Pathologien vermutet siebzehn bis achtzehn Jahre alt, also entweder Oberstufe oder Studentin.“

Hm, bessere Familie, bessere Wohngegend? Liegt der Tatort vielleicht gar nicht so weit entfernt vom Fundort? Die naheliegende Frage hält Betty zurück.

„Du hast mir Fotos geschickt. Schaue dir einmal das vierte Foto an, das, wo der Leichnam frontal abgebildet ist.“

„Augenblick.“

Mit strahlenden Augen folgt Bettys Großmutter dem Gespräch, etwas anders als in den Sonntagskrimis, weil live dabei und ihre Betty mittendrin. Die beiden schauen sich an, lächeln und warten bis Lusi so weit ist.

„Jetzt.“

„Und? Was siehst du?“

„Na ja, die Leiche.“

„Schau genau hin. Mach das Foto größer.“

Stille, fernes Schnaufen.

„Du meinst den Finger? Scheißeaberauch. Der deutet auf etwas.“

„Genau. Ist das niemand aufgefallen?“

„Nein, nicht dass ich wüsste.“

Schon kurze Zeit im Hinterkopf, aber dennoch spontan, entschließt sich Betty diesem Fakt auf den Grund zu gehen, nicht am Laptop, vor Ort.

„Wir werden uns das morgen früh genau ansehen. Versuche bitte herauszufinden, wer in den drei Häusern gegenüber dem Fundort wohnt, also mit Hintergrundinformationen. Kannst du mich morgen früh zu Hause abholen? Möglichst früh, so gegen acht Uhr?“

„Kann ich. Und was sage ich dem Chef?“

„Nichts. Ich bin ja nicht im Dienst.“

„Eben. Das könnte Ärger geben.“

„Macht nichts. Mein Ärger.“

 

Betty lehnt sich an die Rückenlehne des Stuhles zurück, nickt dezent mit dem Kopf. „Was meinst du Omi, ist das ein Verbrechen aus Leidenschaft? Mein neuer Chef denkt nämlich, das dem so sei.“

„Leidenschaft? Du meinst, der Freund, vielleicht der ehemalige Freund des Mädchens, hat sie ermordet? Aus Eifersucht? Rachsucht? Nein, warum dieser Aufwand? Und was will er mit dem Kopf? Ein Andenken? Nein, Leidenschaft, da passiert etwas spontan, aber deine Tote sieht aus, als führte der Täter einen kalkulierten Plan aus. Du sagtest, deine Kollegin vermutet eine Art Warnung. Ich denke, es geht eher in diese Richtung, aber warum und wen er warnt. Nein, da fällt mir nichts dazu ein.“

Der Obduktionsbericht ist vorläufig. Tatwaffe, scharfer Gegenstand. Todeszeitpunkt, ungefähr 03:00 Uhr Sonntagmorgen, keine sexuelle Handlung, keine Verletzungen, weder Hämatome oder andere Hinweise auf einen Kampf. Sie scheint im Schlaf überrascht worden zu sein. Im Blut keine Spuren eines Betäubungsmittels. Alles laut vorgelesen, damit ihre Großmutter auch dies erfährt. Was heißt, der Täter muss den Sonntag und die Nacht auf Montag mit oder bei der Leiche verbracht haben und sie in den ersten Stunden des Montags auf der Bank abgelegt haben. Muss er die Gegend kennen? Es kann ein Zufallsort sein, den er ausgewählt hat. Dem würde aber der Zeigefinger widersprechen.

Hat der eine Bedeutung, heißt das, der Täter hat die Umgebung ausgekundschaftet, könnte eventuell aufgefallen sein. Die Gegend ist ruhig, gediegen, da fällt alles auf, was abweicht. Muss sie morgen mit Lusi klären. Kameras! In der Gegend gibt es bestimmt Kameras, die müssen ausgewertet werden. Betty rotiert, ist keine Ermittlerin mehr, benimmt sich wie eine, ordnet an, als wäre sie noch in der Position von vor ihrem Niederschlag. Sie muss sich bremsen. Sie kann sich nicht einfach in den Fall werfen, sondern tun, was ihr Chef anordnet. Doch erst mit ihm reden? Nein, sie ermittelt ja nicht, sie will sich nur informieren.

Und dann das Haus, in dem Lusi niemand erreicht hat. Was, wenn dort etwas geschehen ist, das mit der Leiche auf der Bank zu tun hat? Gefahr in Verzug? Müssten sie nicht sofort das Haus auf den Kopf stellen? Mit welcher Begründung? Unsicherheit überkommt Betty. Ist es ein Fehler bis morgen zu warten? Nein, alles nur Spekulation, ausgehend von einem Finger, der alles Mögliche bedeuten kann. Abwarten, bis morgen früh.

„So, mehr kann ich im Moment nicht tun. Bringen wir den Schickschnack rüber und fahren dann zum Anwalt?“

„Ja. Gut. Ach, da fällt mir gerade ein, Ilse muss noch Umzugskartons in ihrem Haus haben. Sie konnte ja auch nicht alles mitnehmen. Ich frage sie.“

Der Schnickschnack, Staubfänger, jahrzehntelang angesammelter Kitsch aus allen Ecken der Republik und darüber hinaus, beansprucht drei Einkaufstaschen, zwei davon nimmt Betty auf, eine links, eine rechts, die dritte, die kleinste, schnappt sich Großmutter, marschieren zurück in den Turm, bringen die Taschen auf Großmutters Zimmer, die geht zu Ilse, wegen der Kartons fragen, kommt zurück mit dem Hausschlüssel für Ilses Haus.

„Ilse hat einige Kartons auf dem Dachboden abgelegt, die können wir uns holen.“

„Jetzt? Oder erst Anwalt.“

„Erst die Kartons, dann der Anwalt.“

 

Auf ein Neues. Zurück in den Philosophenweg, hoch zu Ilses altem Haus, auch dies in die Jahre gekommen, äußerlich sogar mehr noch als Großmutters Haus. Innen hallen ihre Schritte auf dem gefliesten Boden der leergeräumten Zimmer. Ilses Kinder, kaum dass Ilse aus dem Haus war, hatten einen Haushaltsauflöser beauftragt das Haus zu räumen, und das hat er getan, restlos. Die Hoffnung allerdings, sogleich über das Haus verfügen zu können, hatte Ilse aber testamentarisch blockiert, weshalb das Haus nun ein leeres, einsames Leben führen muss.

Ihre Großmutter schickt Betty hoch auf den Dachboden, auf dem die Kartons ruhen sollen. Ganze zehn Kartons findet Betty, schwer zu tragen, am besten Oma links und Betty rechts haltend und gemeinsam zu Omas Haus tragen. So machen sie es, schaffen die Kartons in das Schlafzimmer und beginnen Kleidungsstücke und Omas Wäsche einzupacken. Zwischendurch ruft Bettys Großmutter beim Anwalt an, können nach Mittag kommen und bis zu diesem verstauen sie, was so in Omas Schränken hängt.

Kurz vor zwölf bläst Oma zum Essen: „Gehen wir essen. Heute nicht zum Scherrer. Wir gehen ins Il Gambero, italienisch schmausen.“ Der Italiener liegt nur ein paar hundert Meter entfernt vom Scherrer, ihre Großmutter wird auch hier, wie eine alte Bekannte begrüßt, dem Inhaber (?) stellt sie Betty als ihre Enkeltochter vor und fragt, was seine Küche heute Gutes zu bieten habe. Aber Betty ist nicht überrascht, Oma ist halt so. Der Inhaber (?) lässt sich nicht lange bitten und rasselt mehrere Gerichte herunter, die Betty nur vage aufnimmt, Oma dagegen scheint alles verstanden zu haben, überlegt kurz und will die Dorade sizilianische Art, Betty bittet sich Zeit aus, sie möchte erst die Speisekarte durchsehen, entscheidet sich für Saltimbocca alle Romana mit Rosmarinkartoffeln und Saisongemüse, vermutet kleine Portion, deshalb reduziert sie die Kartoffeln nicht.

Nach dem Essen der Anwalt, kurzes Warten, schnelles Unterschreiben, um den Rest würde er sich kümmern und Betty alle Unterlagen zusenden. Ihre Großmutter, wenn sie schon in der Stadt sind, will sich unbedingt die entstehende Hafenstadt ansehen, also mit der U-Bahn zur Speicherstadt, von dort zu Fuß durch das im Rohbau befindliche Viertel. Keine Bäume, nur Beton, Straßen, Geschäfte, Büros, mäkelt Bettys Großmutter, sie habe sich dies ganz anders vorgestellt.

„Hättest du mich gefragt, ich hätte dir sagen können, was du vorfindest. Hier geht es um Wohnraum, Geschäftsräume, tagsüber Leben und nachts die Ödnis. So sieht Wohnen in der Zukunft aus. Mit dem wenigen Platz muss effizient umgegangen werden.“

„Aber es geht so viel verloren. Das hier war Geschichte, das hat Hamburg groß gemacht.“

„Du sagst es, Geschichte. Fortschritt heißt, sich immer wieder neu zu erfinden, sonst ist man hintendran.“

„Hm, meinst du, dein Mörder hat sich auch neu erfunden? Könnte es nicht doch sein, dass sich da eine Geschichte wiederholt?“

Überrascht von dem Gedanken Großmutters ist der Fall wieder in Bettys Kopf, aus dem sie ihn kurzzeitig verdrängt hatte.

„Könnte sein. Die Tat war gut vorbereitet, wie bei dem Pfleger, sie ist nicht im Affekt geschehen, war sorgsam geplant und wenn ein Täter so sorgsam plant, steht zu befürchten, dass sich eine ähnliche Tat ereignet. Aber das ist jetzt alles Spekulation. Wir, also die Kollegen, wissen noch zu wenig.“

„Gut, dann wird es Zeit, dass du denen zur Unterstützung eilst.“

 

Im Haus zurück packt Betty ihre Siebensachen zusammen, verabschiedet sich von ihrer Großmutter, verspricht, schnellstmöglich wiederzukommen, drücken, Küsschen links, Küsschen rechts. Mit Omis Warnung, sie solle nirgendwo allein hingehen und sich gefälligst im Hintergrund halten, zieht sie los, in sich den Fall hin- und herwälzend, ohne zu einem Schluss zu kommen. Nein, sie weiß einfach noch zu wenig, um einer Erklärung näher zu kommen.

Schon fast den Weg zur Bushaltstelle eingeschlagen, fällt ihr ein, noch schnell mit Rainer zu sprechen, aber nicht zu Hause, dafür Sophie, die Betty überschwänglich begrüßt, sich richtig freue, wieder frisches Blut nebenan zu bekommen. Wenn sie denn einziehen werde. Dauere leider noch etwas, da sie noch Dienst in Lübeck ableisten müsse, wahrscheinlich vorerst nur die Wochenenden hier wohnen könne, aber auch Zeit habe, das Haus in Schuss zu bringen, weshalb sie mit Rainer hätte reden wollen, der ihr sicher einen Handwerker empfehlen könne, einen Malerbetrieb und einen Zimmermann oder Dachdenker. Ja, da kenne sich Rainer aus. Sie muss jetzt zurück nach Lübeck und werde Rainer heute Abend anrufen.

Der Regionalzug, wie zu erwarten war, ist überfüllt, Pendlerzeit, Betty hat gerade noch so einen Sitzplatz ergattert, am Fenster, ein junger Mann neben ihr, etwas abgerückt, hatte einige Momente überlegt sich zu ihr zu setzen, aber die Alternative wäre stehen gewesen, aber es war ihm unangenehm, so etwas spürt Betty. Aber egal.

In ihren Fingern kribbelt es, aber jetzt den Laptop aufschlagen und im Autopsiebericht zu lesen, geht nicht, geht gar nicht und Fotos betrachten überhaupt nicht, zwar schon ausführlich betrachtet und gelesen, aber es lassen sich immer wieder übersehene Details für eine Erklärung finden. Sie muss auf später warten. Der Zug fährt an, trotz der Enge im der Menge Menschen wegen, relativ ruhig im Abteil, manche der Sitzenden haben die Augen geschlossen, die Mehrzahl aber klimpert auf ihren elektronischen Geräten herum, völlig abwesend, versunken in Weißderkuckuckwas. Ihr fällt ein Spruch aus früheren Zeiten ein (oder ist der noch aktuell?): Bild dir deine Meinung, der heute Bilder dir deine Meinung heißen müsste.

Der junge Mann neben ihr abgetaucht in ein Spiel, das anscheinend rasches Fingerdrücken verlangt, den der Typ tippt unentwegt auf seinem Smartphone herum, wirkt, als leide er unter nervösen Zuckungen.

Bettys Gedanken kreisen um dieses eine Haus. Irgendwie passt alles, alles läuft auf dieses Haus zu. Soll sie doch gleich nach Ankunft dort vorbeischauen? Aber allein? Nein, nie wieder allein. Sie kann Lusi anrufen oder Peter. Nein, sie kann sich denken, dass alle Kollegen unter Dampf standen und stehen und heute Abend ihre Ruhe haben wollen. Trotzdem von außen schauen, wenigstens einen Blick auf das Haus werfen, das ist ohne Gefahr. Der Zug entlässt seine Fracht, die die Treppe hochströmt, zu den Bussen, den Autos, den Fahrrädern, Betty zu einem Taxi, gibt dem Fahrer die Roeckstraße an, der nickt und fährt los. Dort angekommen bittet Betty den Fahrer langsam zu fahren, sie hat die Hausnummer nicht, muss die Grünanlage finden.

„Sie suchen den Ort, wo sie die Tote gefunden haben. Stimmts?“

„Äh, ja.“

„Journalistin?“

„Nein, Polizistin.“

„Wow.“

„Was heißt Wow?“

„Na ja, ne Polizistin im Taxi zum Tatort fahren kommt nicht alle Tage vor. Da vorne ist es, sehen Sie, hinter den Bäumen auf einer Bank lag sie.“

„Halten Sie bitte an und warten einen Augenblick. Ich muss mir nur etwas ansehen.“

 

Beäugt vom Taxifahrer geht Betty auf die Bank zu, die etwas schräg steht, legt sich ab wie die Leiche, spitzt ihren Zeigefinger, verfolgt die Richtung und, es ist wie es ist, das Haus, kein Zweifel. Die Ablage Bettys auf der Bank, hat der Taxifahrer staunend zur Kenntnis genommen, will Betty eine Frage stellen, die lässt ihn aber fragend stehen. Sie geht hinüber zu dem Haus, hohe Mauer, kein Namensschild am Eingangstor, eine kleine Klappe am linken Torpfosten kann sie aufklaffen, drinnen ein Tastaturfeld wie bei einem Handy, anscheinend für den Türcode. Sie schaut sich um, erkennt zwei Gegenstände, die sie für Minikameras hält. Gut geschützt das Haus, von dem sie, als sie auf die andere Straßenseite geht, nur das Dach und ein Stück des oberen Stockwerkes erkennen kann. Von Leben keine Spur. Wie kommen sie in dieses Haus, wenn niemand da ist? Einem Durchsuchungsbeschluss fehlt jede Grundlage. Oder? Sie müsste mit dem Oberstaatsanwalt reden. Na ja, vielleicht ist morgen früh jemand zu Hause.

Sie geht zurück zum wartenden Taxi, der Fahrer, mit verschränkten Armen dastehend, hat alles genau beobachtet.

„Sie wissen nicht zufällig, wer hier wohnt?“

„Sehe ich so aus? Hier in der Gegend braucht niemand ein Taxi, die haben große Autos, manche werden sogar gefahren. Ist etwas mit dem Haus?“

„Keine Ahnung. War nur so eine Idee, die ich überprüfen wollte. So und jetzt in die Kaiserstraße.“

„Und Sie sind wirklich Polizistin?“

„Ja, warum nicht?“

„Also, im Fernsehen läuft das alles ganz anders ab.“

„Nun, ich bin nicht Fernsehen. Das war live.“

Dem Taxifahrer stehen viele Fragezeichen im Gesicht, fährt aber konzentriert durch den Feierabendverkehr ohne weitere Fragen zu stellen.

Die Wohnung riecht immer noch nach Abwesenheit, was sich die nächsten Tage aber ändern wird. Jetzt schnell noch ein paar Dinge einkaufen, bevor die Geschäfte schließen, schnappt sich eine Einkaufstasche und zieht los. Später dann ein einfaches Abendbrot, der Blick in den Laptop, erkenntnislos und der Versuch, die Hundejahre weiterzulesen, was sich als schwierig erweist, da in ihrem Kopf der Fall arbeitet, die Fragen: Wie in das Haus kommen? Wen informieren? Was könnte sie erwarten, in dem Haus? Wieso die Tote, aus gutem Hause nicht vermisst wird, denn in diesem Milieu reagieren die Eltern sehr schnell, gewohnt, dass ihre Kinder sich wie gewünscht verhalten. Die junge Frau sah nicht wie eine Streunerin aus.

Sie legt den Grass beiseite, räumt in der Küche auf, setzt sich an den Tisch, notiert, was sie alles tun muss, in den kommenden Tagen, jetzt aber vor allem Rainer anrufen, was sie macht, Sophie annimmt, Rainer rufen muss, sitzt vorm Fernseher, Nachrichten gucken.

 

Ja, Rainer weiß Bescheid, nennt Betty einen Malerbetrieb, den er selbst schon beauftragt und der zu seiner Zufriedenheit gearbeitet hat. Beim Dachdecker nennt er zwei Betriebe, die hier in der Gegend gearbeitet hatten, auch bei den Carstens und die haben nichts Negatives über die Dachdecker verlauten lassen, wo die doch sonst über alles und jedes nörgelt. Betty notiert sich den Dachdecker der Carstens und den Malerbetrieb, von dem Rainer die Telefonnummer hatte, die des Dachdeckers, muss sie googeln. Sie sei wieder in Lübeck, wollte sie nicht bis Mittwoch bleiben, ob es wegen dem Verbrechen sei, bejaht Betty, sie werde gebraucht und um weitere Fragen abzubiegen, sagt sie, dass sie sich morgen erst einmal schlau machen müsse, sie wisse eigentlich noch gar nichts. Sie solle vorsichtig sein und viel Erfolg.

Vor ihr der Zettel mit den Rufnummern, jetzt noch anzurufen, will sie nicht, macht sie morgen, in Ruhe, aber eins muss sie noch machen, schreibt ganz groß „Fitness-Studio“ auf den Zettel, unterstreicht dreimal. Ja, sie muss unbedingt da weitermachen, wo sie in der Klinik aufgehört hatte. Ihr Körper schreit förmlich danach, also wird sie morgen, irgendwann ein Fitness-Studio auswählen, in der Wohnnähe oder Nähe des Präsidiums, allerdings dürfte das mit der Regelmäßigkeit ein kleines Problem werden. Wird gelöst.

Nach unruhiger Nacht ist Betty früh auf den Beinen, Morgenritual, Frühstück und warten, bis sie runter kann, Lusi zu erwarten. Die kommt im Dienstwagen, steigt aus, drückt Betty an sich, sie freue sich riesig, sie wieder zu sehen, blöd nur, dass die Umstände gleich wieder belastend sind. Sie setzen sich in den Wagen, Betty fragt als erstes, was es Neues aus dem Büro zu berichten gibt, was Lusi zunächst mit Augenrollen quittiert.

Mentel sei wieder bei der Streife. Der neue Chef sage, Mentel sei nicht richtlinienkonform befördert worden. Aber das sei fadenscheinig begründet, ihm passe nicht, dass Mentel anders sei, dabei schaut sie auf Betty, sagt aber nichts weiter. Sie bekämen zwei neue Kollegen, einer davon anscheinend aus dem Dunstkreis vom Chef, der andere von der Polizeischule Eutin, ansonsten plustere sich der Neue auf, verspreche eine schnelle Aufklärung des Falles, aber aufklären müssten sie. Was er treibe, sei ihr noch nicht einsichtig.

„Gut, dann schauen wir, dass wir die Aufklärung voranbringen. Ich bin davon überzeugt, dass das Haus schräg gegenüber dem Fundort von Bedeutung ist. Konntest du den Eigentümer feststellen, an seiner Klingel steht kein Name.“

„Du warst schon dort?“

„Ja, ich bin gestern Abend gleich hierher, weil mir das keine Ruhe gelassen hat. Ich hatte überlegt, dich anzurufen, dachte aber, dass du eine Auszeit brauchst.“

„Was meinst du mit, keine Ruhe gelassen?“

„Nimm die junge Frau, gepflegt, aus gutem Haus, nimm die Wohngegend, gute Häuser und folge dem Finger, dann triffst du auf das Haus. Mein Gefühl sagt mir, dass wir in dem Haus den möglichen Tatort finden.“

„Den Tatort? In dem Haus. Zählst du da nicht zu viel zusammen?...Obwohl, na ja, könnte so sein, aber weit hergeholt.“

„Wir werden sehen. Die Frage, wer dort wohnt ist noch offen.“

„Ja, ach so, Weidtmann, Joachim Weidtmann.“

Während sie den Namen ausspricht, richtet Lusi ihren Kopf zu Betty, beobachtet ihre Reaktion, die aber nicht kommt.

„Weidtmann? Da klingelt es nicht bei dir?“

„Nein, der Name sagt mir nichts.“

„Ja, sorry, ich vergaß. Es war nach deinem Unfall. Die Ermittlungen in der Spedition waren in vollem Gange als das BKA den Fall übernahm. Damals stand auf unserer Liste der zu befragenden Personen, Joachim Weidtmann. Er ist der Inhaber der Spedition Gräven & Heuer, in deren LKW’s das Kokain und die verbotenen Substanzen ins Land geschmuggelt wurde.“

 

Sofort überschlagen sich in Betty die Gedanken. Ihr Gefühl wird zu einem Verdacht, der Schlimmes befürchten lässt. Strafe, Rache schießt es durch ihren Kopf. Jemand hat viel Geld verloren. Das beschlagnahmte Kokain hätte einen hohen Millionenbetrag eingebracht, der dem verloren gegangen ist, der die Fäden zieht.

„Sind die Kollegen vom BKA noch an der Sache dran?“

„Soviel ich weiß, ja, aber ohne Hembach erfahren wir nichts mehr.“

Sie haben die Grünanlage erreicht, Lusi hält den Wagen an, nachdenklich, jeden nun folgenden Schritt überlegend, steigt Betty aus, winkt Lusi zu sich, zunächst die Bank, sie solle sich dies ansehen. Gut, meint Lusi, aber sie zweifle nicht an dem, was Betty herausgefunden habe. Egal. Sie schreiten auf die Bank zu, Betty fragt verwundert, wieso die Absperrung schon aufgehoben sei. Wisse sie nicht, habe der Chef so angeordnet.

„Lege dich bitte wie die Tote hin, spitze deinen Zeigefinger und verfolge seine Linie.“

Lusi macht wie geheißen und ja, es sei, wie sie sagt.

„Gehen wir rüber. Ich hoffe, es macht uns jemand auf.“

Sie überqueren die Straße. Weiter unten kommt eine Frau daher, noch etwas entfernt, die aber ihre Schritte beschleunigt, als sie erkennt, dass die beiden Frauen auf das Haus der Weidtmanns zugehen. Betty macht Lusi auf die beiden Kameras auf den Torpfosten aufmerksam, zeigt ihr das Code-Tastenfeld.

„Das Haus ist anscheinend gut gesichert, als hätten die Bewohner etwas zu befürchten. Und jetzt? Wie kommen wir in diese Festung?“

Die Frau, schwer ihr Alter zu schätzen, scheint schon viel erlebt zu haben, trägt Kopftuch, kein religiös motiviertes, ein mit rot und anderen bunten Tönen besticktes Kopftuch, um den Hals mit einem Knoten gebunden, in einem schwarzen Mantel steckend, fragt sie: „Sie woll zu Weidtmann?“

„Würden wir gerne. Ja. Aber es scheint niemand zu Hause sein. Wer sind Sie? Entschuldigung, ich bin Bettina Sundberg, das ist meine Kollegin Lusi Weimann. Wir sind von der Kriminalpolizei Lübeck.“

Die Frau schaut erstaunt auf die beiden ungleichen Damen. Sie deutet auf Lusi, fragt, ob sie die Schwester von Frau Leni sei, die schüttelt den Kopf, die Namensähnlichkeit ist Lusi nicht aufgefallen. Die Frau sagt, sie sei Malenka Kuracz und führe den Haushalt der Familie Weidtmann.

„Haben Sie einen Schlüssel, um in das Haus zu kommen?“ will Betty wissen. Nein, habe sie nicht, müsse klingeln, dann würde Frau Leni öffnen. Ob sie auch gestern hier gewesen sei, nein, Sonntag und Montag habe sie frei. Sie tritt an das Tastaturfeld, drückt auf das Klingelsymbol. Es tut sich aber nichts. Die Frau scheint ratlos, mache Frau Leni nie, mache immer gleich auf, drückt noch einmal. „Versteh nich.“

„Gibt es irgendeine Möglichkeit in das Haus zu kommen?“

Die Frau blickt ratlos in Bettys Gesicht, zuckt mit ihren Schultern, verstehe sie nicht.

„Die Familie Weidtmann ist nicht in Urlaub gefahren oder spontan ein paar Tage verreist? Sie müsste hier sein?“

„Muss da sein. Frau Leni sagt Bescheid,“ dabei hebt sie ein Handy hoch.

„Ist dort die Nummer der Frau Weidtmann gespeichert?“

„Ja.“

Ob sie die Nummer aufrufen könne. Die Frau schaut unschlüssig auf ihr Handy, anscheinend mit dem Gerät nicht vertraut. Lusi greift ein, bittet um das Handy, drückt auf Kontakte, drei Nummer, jeweils unter Weidtmann, unterschiedliche Nummern. Sie drückt die erste Nummer. Nichts. Der Ruf geht ins Leere. Drückt die zweite Nummer. Nichts. Der Ruf geht ins Leere. Drückt die dritte Nummer. Eine männliche Stimme meldet sich mit „Hallo, hier ist Henri.“

„Welcher Henri?“

„Wer ist dort? Malenka?“

„Nein, Lusi Weimann, Kripo Lübeck. Wer sind sie?“

„Henri Weidtmann. Ist etwas passiert? Was ist mit Malenka? Das ist doch ihr Handy.“

„Kein Grund zur Beunruhigung. Wo sind sie?“

„In Münster.“

„Und was machen Sie in Münster?“

„Studieren.“

„Hm. Also, wir, meine Kollegin Frau Sundberg und Ihre Haushälterin stehen vor dem Haus ihrer Eltern und würden ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Es öffnet nur niemand und die Haushälterin würde auch gerne in das Haus, aber kommt nicht hinein. Wir haben mehrfach geklingelt, stehen aber immer noch vor verschlossenem Tor.“

„Sie müssen den Türcode eingeben.“

„Schön, aber wie kommen wir an den Code. Sie kennen ihn doch sicher?“

„Ich bin nicht so oft zu Hause. Also in meinem Kopf ist er nicht gespeichert. Aber Malenka hat ihn auf ihrem Handy. Oh, Malenka und Handy, wahrscheinlich weiß sie gar nicht mehr, dass der Türcode auf ihrem Handy ist. Gehen sie auf Einstellungen und dort auf Notizen. Dort müssten sie die beiden Codes für die Hoftür und die Haustür finden.“

 

Lusi drückt sich durch und sieht zwei Zahlenreihen auf der Seite Notizen. Hält die Hörmuschel des Handys zu, flüstert Betty zu, sie solle ihn auf später vertrösten, gibt das Handy an Betty weiter, die sich bei dem Sohn bedankt und verspricht, wenn sich geklärt hat, warum niemand im Haus reagiert, sich zu melden und ihm Bescheid zu geben.

Kurzes Nicken von Betty und Lusi tippt die erste Zahlenreihe ab. Leises Summen, ein Druck gegen das Tor und es öffnet sich.

Um nicht schon gedanklich das zu verarbeiten, was sie wahrscheinlich vorfinden werden, fragt Betty im Hochgehen zum Haus, eine prächtige Villa, frisch gestrichen, umrahmt von Rosenstöcken, die Haushälterin, wie lange sie schon für die Weidtmanns arbeite.

„Oh scho lang. Viel Jahre.“

„Und woher kommen Sie?“

„Aus Bosnien. Wege dem Krieg. Mit Sohn und drei Tochter. Den Mann hat der Krieg.“

„Er ist getötet worden?“

„Weiß nich. Is nich mehr da.“

„Sie meinen, er wird vermisst. Haben Sie ihn suchen lassen?“

„Sohn hat gesucht. Nach de Krieg. Aber nix. Einfach weg.“

„Das tut mir leid für Sie.“

Die Frau wirkt eher ärmlich gekleidet, der Mantel passt nicht so ganz, möglich, dass es ein Geschenk der Hausherrin ist. Wahrscheinlich bekommt sie Ende des Monats ein paar Scheine auf die Hand. Aber das geht Betty nichts an, interessiert sie auch nicht, sie hat andere Sorgen. Oben an der Haustür angekommen gibt Lusi die nächste Zahlenkombination ein. Die Tür summt leise, sie drückt sie auf, zückt ihre Dienstwaffe aus dem Halfter, dreht sich zu Betty um: „Du bleibst mindestens zehn Meter hinter mir. Verstanden?“

„Verstanden.“ Und zu der Frau gewendet: „Sie bleiben bitte hier stehen, bis wir wissen, ob drinnen etwas passiert ist.“

Lusi, beide Hände an der Pistole, sie hin- und herschwenkend, leicht gebückt, auf der Hut, sprungbereit, sich auf den Boden zu werfen, sollte jemand in böser Absicht vor ihr auftauchen. Eine breite, kurze Treppe führt hoch in das Parterre, links und rechts neben der Eingangstür zwei Türen, die Betty öffnet, Treppe abwärts auf der einen Seite, Abstellraum auf der anderen Seite. Lusi steigt bereits die Treppe hoch, nach allen Seiten ihre Blicke werfend. Betty steht aufrecht da, ruft „Hallo, Frau Weidtmann“, was Lusi zusammenzucken lässt.

„Betty!“ zischelt Lusi, aber Betty winkt ab: „Der, der hier war, ist längst über alle Berge und wir sind unbefugt in diesem Haus, also höflich nachfragen, ob nicht doch jemand im Haus ist. Vielleicht kann das Ehepaar ja nicht antworten, sich aber bemerkbar machen.“

Lusi geht nun etwas entspannter durch den Flur, sieht in die einzelnen Räume hinein, Wohnzimmer, Arbeitszimmer, eine Bibliothek, ein Speisezimmer, eine große Küche, ein Wintergarten, ein Badezimmer, eine Gästetoilette, ein Haushaltsraum. Keine Spur der Bewohner. Keine Spur von Unordnung, im Gegenteil, in den Räumen herrscht penible Ordnung und Sauberkeit, alles scheint an seinem Platz zu sein.

 

Betty betrachtet sich die Fenster, Lusi immer noch etwas angespannt, aber die Dienstwaffe nun zu Boden hängen lassend.

„Die Fenster sind alle mit einbruchssicherer Folie versehen, Drehkippbeschlägen und Sensoren. Irgendwer in der Familie muss ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis gehabt haben. Ich sehe nirgendwo Anzeichen eines Einbruchs. Apropos Einbruch. Habt ihr die Typen fassen können, die Lübeck unsicher machten?“

„Du hast Nerven. Nein, haben wir nicht. Ihr Versteck konnten wir finden. Aber die Bande war da längst ausgeflogen. Seitdem ist aber Ruhe.“

„Und das Opfer hat überlebt?“

„Überlebt ja, aber sitzt jetzt im Rollstuhl in einem Seniorenheim. Ein Pflegefall und eine tief deprimierte Ehefrau an seiner Seite, die Angst davor hat, in hier Haus zurückzukehren.“

„Totalschaden für einen simplen Fernseher. Und wir haben wieder einmal das Nachsehen.“

„Ist so. Können wir jetzt endlich in das Obergeschoß gehen?“

„Na klar, auf geht’s.“ Betty gibt sich locker, denkt, besser als ängstlich durch das Haus zu streifen.

„Hinter mir. Du sollst hinter mir bleiben. Zehn Meter.“

Betty ist munter an Lusi Seite losmarschiert, schon ganz vergessen, was sie erwarten könnte. Lusi schnuppert, fragt, ob Betty auch diesen süßen Geruch wahrnehme. Nein, Betty riecht nichts. Stufe um Stufe nehmend, steigen sie in das Obergeschoß. Die Treppe verläuft seitlich, oben angekommen ist ein Flur, insgesamt sechs Türen sind zu sehen. Lusi geht auf die erste Tür zu, die Pistole mittlerweile wieder fest von beiden Händen umschlungen, drückt den Türgriff herunter, stößt die Tür auf, noch ein Badezimmer. Nächste Tür, gleiches Prozedere, Lusi bleibt in der Tür stehen, dreht sich zu Betty um, die sofort weiß, was dort drinnen zu finden ist, geht vor, stellt sich neben Lusi und sieht zwei Köpfe, einen männlichen, einen weiblichen, in Kopfkissen ruhend, mit einem runden, blutroten Kreis in der Stirn.

„Ich wollte, du hättest mit deiner Ahnung nicht recht gehabt.“

„Scheiße, ein Tatort. Hast du Handschuhe und Überzieher dabei?“

Nein, hat Lusi nicht, also eilt sie hinunter, aus dem Haus hinaus, zu ihrem Auto, entnimmt dort, was sie brauchen und eilt zurück, vorbei an der verdutzt dreinschauenden Haushälterin.

Betty hat zwischenzeitlich ihr Smartphone aus der Tasche gezogen, Steprath von der KTU angewählt, bestellt ihn ohne lange Erklärung mit seiner Truppe hierher. Zwei Leichen, volle Gerätschaft und Mannschaft. „Du machst keine halben Sachen. Was?“ scherzt Steprath. Gleich im Anschluss ruft sie den Oberstaatsanwalt, der nicht zu erreichen ist, nur Kleinert, sein Stellvertreter, informiert ihn, was sie vorgefunden haben.

Lusi kommt zurück, sie ziehen sich Handschuhe an und die Überstreifer über ihre Schuhe.

„Die Kavallerie wird gleich hier sein. Ich frage mal die Frau aus Bosnien, ob sie das große Tor aufmachen kann, dann können die Jungs direkt vor das Haus fahren, von wegen der Aufmerksamkeit, die sie vor dem Tor erregen. Und der Sohn. Scheiße, was machen wir mit dem Sohn? Dem kann ich doch nicht am Telefon erklären, was hier passiert ist. Und der wird schon ungeduldig auf unseren Rückruf warten. Mist. Mist.“

„Rufe die Kollegen in Münster an, die sollen geschultes Personal zu dem jungen Mann schicken.“

„Kennst du einen Kollegen aus Münster?“

„Nein.“

„Gut, muss ich googeln.“

 

Im Netz ist alles zu finden. Gut, fast alles. Die Verbrecher, die sie suchen, sind dort leider nicht zu finden. Noch nicht. Aber die Rufnummer der Münsteraner Kriminalpolizei findet sie, ruft an, wird nach mehrfachem Verbinden, an den Leiter der Mordkommission weitergeleitet, dem sie die Situation erklärt, er versteht und sichert zu, sofort jemand loszuschicken. Wohin? Ja, wohin, weiß sie nicht, bittet um einen Moment Geduld, eilt die Treppe hinab vor zur Haustür, vor der aufgelöst die Frau aus Bosnien steht, fragt sie, wo der Sohn wohne. In Münster. Das wisse sie. Die Straße? Wisse sie nicht. Betty lässt sich das Handy der Frau geben, geht auf Kontakte, ruft den Sohn an, fragt nach dessen Adresse, sagt ein Kollege werde gleich vorbeikommen, ihm ein paar Fragen stellen. Was passiert sei. Könne sie leider noch nicht sagen und legt auf, eilt zurück, stoppt, wieder zurück, wegen dem großen Hoftor die Haushälterin fragen, die hinter der Tür, neben der Abstellkammer, einen Schaltkasten öffnet und auf einen Knopf deutet, den Betty bedient, vor die Haustür tritt und sieht, dass das Hoftor sich öffnet.

Wieder nach oben, die Frau solle bitte weiter warten. Lusi umgeht das Ehebett. Die beiden Leichen liegen unter der Bettdecke, als befänden sie sich noch im Schlaf.

„Die haben nichts bemerkt. Hier war ein Profi am Werk und nicht unser Pfleger.“

Lusi nickt zustimmend, aber abwesend, immer noch angespannt, als erwarte sie sogleich noch eine Überraschung.

Betty untersucht derweil auch hier oben die Fenster. Nicht die Spur eines Einbruchs, alle so gesichert, dass es unmöglich ist, unbemerkt hier einzusteigen. Sie geht weiter in das nächste Zimmer. Eingerichtet wie ein gemütliches Wohnzimmer, vielleicht ein Gästezimmer. Nächstes Zimmer, das Zimmer einer jungen Frau, aber wie das ganze Haus minimalistisch eingerichtet, keine Poster an der Wand, kein Hinweis darauf, für wen sich die junge Frau entflammte. Im Bett ein Kopfkissen mit einem nicht allzu großen, runden Blutfleck, Betty geht darauf zu, im Kissen ein kleines Loch. Die Frau, ohne Kopf, ebenso wie die Eltern im Schlaf gemeuchelt. Sie hebt das Kopfkissen leicht an und wenn sie richtig sieht, steckt die Kugel in der Matratze. Glatter Durchschuss. Aber warum lässt der die Kugel zurück? Das ist, als hätte er eine Art Visitenkarte zurückgelassen.

Betty verständigt Lusi über ihren Fund, betritt das Schlafzimmer der Eltern, verwehrt sich aber deren Köpfe anzuheben, um nachzusehen, ob auch hier die Kugeln noch vorhanden sind, sollen die Spezialisten machen.

Sie eilt weiter in das vordere Badezimmer, auf den ersten Blick alles sauber, Steprath und seine Leute werden aber finden, was Betty glaubt, dass sie finden werden.

Von draußen Türschlagen, die Kavallerie im Anmarsch. Oje, die Frau aus Bosnien wird einen Riesenschreck bekommen, wieder hinunter, reist die Tür auf, die Leute von der KTU bereits vor der Tür stehend, weist sie nach oben, bittet die Frau aus Bosnien herein, geht mit ihr in den Wintergarten bittet sie sich zu setzen und bringt ihr schonend bei, dass ihre Arbeitgeber gestorben seien. Die Frau, fassungslos beginnt hemmungslos zu weinen: „Schon wieder Tod, schon wieder Tod, immer nur Tod.“

Den Arm fest um sie legend, versucht Betty, einer Trostlosen Trost zu spenden. Vom Hausinneren tönt eine laute Stimme: „Wo ist sie?“

Wer da gleich auf der Matte stehen wird, ist Betty augenblicklich klar. Egal, der kann mich mal. Und richtig in der Tür macht sich eine Gestalt breit, zu der sich Betty nicht umdreht, weiter die Frau im Arm hält.

„Sie sind Frau Sundberg? Was fällt Ihnen ein, sich in unsere Ermittlungen einzumischen. Das ist Amtsmissbrauch. Sie sind nicht im Dienst, sind widerrechtlich in eine Wohnung eingedrungen. Das wird Konsequenzen für Sie haben, schwerwiegende Konsequenzen.“

Heftig erregt seine Stimme. Der Choleriker ist auf Hundert.

„Tut mir leid. Ich weiß nicht, wer Sie sind und warum Sie hier so herumschreien und, wie Sie vielleicht sehen, habe ich anderes zu tun, als ihre cholerischen Auswürfe zur Kenntnis zu nehmen.“

 

Der neue Chef will gerade zur nächsten Tirade ansetzen, verstummt aber, ein weiterer Mann ist hinzugetreten, der Oberstaatsanwalt. Er geht behutsam in Richtung Betty, fragt sie, ob er störe. Betty bittet ihn, ihr noch ein paar Minuten Zeit zu geben. Der Oberstaatsanwalt wohlwollend, zieht sich zurück, drängt den neuen Chef zur Tür hinaus und schließt sie hinter sich. Von draußen ist ein heftiger Stimmenwechsel zu vernehmen. Die beiden streiten anscheinend heftig. Sie weiß Travens auf ihrer Seite und das Gefühl, all dies bald hinter sich zu lassen. Langsam beruhigt sich die Frau, die Malenka heißt. Mit ihrem Vornamen spricht Betty sie an, ob sie sie nach Hause fahren lassen soll oder ob sie ihren Sohn anrufen soll, der sie abholen könne. Sie solle auf jeden Fall nicht allein nach Hause gehen. Die Tochter, sagt Malenka, reicht Betty das Handy, die versteht, ruft Kontakte auf, lässt Malenka auf die Nummer der Tochter deuten, die Betty anwählt, sich eine Frauenstimme meldet, ja, sie sei die Tochter, die Betty bittet, ihre Mutter am Haus der Weidtmanns abzuholen, sie würde ihr alles erklären, wenn sie hier sei.

Vor der Tür winkt sie eine Kollegin der Schutzpolizei herbei, bittet diese, auf Malenka aufzupassen, bis sie ihre Tochter abholen kommt und sie wolle informiert werden, wenn die Tochter da ist, sie habe noch ein paar Fragen.

Durchschnaufen. Travens kommt auf sie zu. „Moin, Frau Sundberg. Ich hätte mir gewünscht, Sie unter weniger dramatischen Umständen wieder zurück im Dienst begrüßen zu können. Aber, es ist wie es ist und sie, wie sie sind. Und jetzt bitte erklären Sie mir genau, wie es dazu kam, dass sie dieses Haus aufsuchten und wie Sie das, was geschehen ist, bewerten.“

Betty fasst sich kurz, fasst das Wichtigste zusammen, nennt die Zusammenhänge, den Hinweis, den die kopflose Tote unfreiwillig gegeben hat.

„Den hat die KTU oder wer übersehen?“

„Das spielt jetzt keine Rolle. Wir haben es entdeckt und der Hinweis hat uns hierhergeführt. Sie wissen, um wen es sich bei dem Toten handelt?“

„Ja.“

„Die Sache mit der Spedition ging, wie ich erfahren habe, in die Hände des BKA über. Sie kennen sicher den zuständigen Beamten. Ich würde empfehlen ihn sofort zu informieren. Das hier dürfte auch ihn interessieren. Nun zur Bewertung, eine vorläufige Hypothese. Die beiden Opfer wurden im Schlaf überrascht mit präzisen Schüssen in die Köpfe getötet, ebenso die Tochter, denn die Tote auf der Parkbank ist die Tochter, die ebenfalls durch einen Kopfschuss getötet wurde. Im Badezimmer, da bin ich mir sicher, wird die KTU Blutspuren entdecken. Der oder die Täter dürften ihr im Bad den Kopf abgetrennt haben und ihr Blut in die Badewanne haben laufen lassen. Der Tod der jungen Frau lässt sich auf Samstagnacht datieren, die Leiche wurde vermutlich in den frühen Morgenstunden des Montags abgelegt. Demnach hat sich der Täter von Samstagnacht bis Montagfrüh hier im Haus aufgehalten. Das heißt, die Chance DNA-Spuren zu finden, dürfte groß sein. Warum der Kopf entfernt wurde, ist mir noch ein Rätsel. Ich vermute die Familie wurde dafür bestraft, dass der Kokainschmuggel aufflog, und zwar wegen dem Schmuggel der Dopingpräparate, die jemand aus der Spedition als unerlaubtes Nebengeschäft betrieben hat. Dieser Jemand könnte Weidtmann gewesen sein, es also seine Schuld ist, dass der Schmuggel aufflog mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für den Kopf über allem. Rache und Warnung an diejenigen, die für ihn arbeiten, einen solchen Fehler zu begehen. Und das heißt, wir haben es weder mit unserem alten Fall zu tun noch mit einer Beziehungstat noch mit einem Serienmörder. Das Dumme ist, die Tat scheint das Werk von Profis zu sein und die aufzuspüren, ist, wie Sie wissen, eher unwahrscheinlich. Zwei Dinge sind mir aber noch ein Rätsel. Das eine habe ich bereits erwähnt, der Kopf. Warum musste der Kopf ab? Das zweite Rätsel, wie kam der oder die Täter in das Haus, dass sicherheitstechnisch auf Höchststand ist. Und schließlich, ich würde gerne weiter ermitteln, ohne dass mir jemand dazwischenfunkt.“

 

Der Oberstaatsanwalt lächelt: „Frau Sundberg wie sei leibt und lebt. Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze und ohne sie wären wir wahrscheinlich noch so weit wie gestern, nun aber ein großes Stück vorangekommen. Ja, Sie werden den Fall weiterbearbeiten. Mir schwebt da etwas vor, dass Sie unabhängiger von Hauptkommissar Griebel macht.“

„Ach, noch etwas. Der oder die Täter haben die junge Frau in der Öffentlichkeit abgelegt, damit der Fall auch öffentlich wird, seine Warnung also den richtigen Adressaten findet. Können Sie dafür sorgen, dass so wenig Informationen wie möglich veröffentlicht werden?“

„Können wir, ermittlungstechnische Gründe sind immer eine gute Begründung Informationen zurückzuhalten. Nur, schauen Sie einmal zur Tür hinaus, da draußen hat sich schon viel Öffentlichkeit versammelt. Wird schwer werden, die unbefriedigt zu lassen.“

„Sie bekommen das schon hin. Ich muss hoch, weiter ermitteln. Wir sind erst am Anfang.“

„Gut, dann rede ich kurz mit Herrn Griebel.“

Der Oberstaatsanwalt geht auf den neuen Chef zu, ein Mann in feinem Tuch, weißes Hemd, Selbstbinder, Stoppelkurzhaarfrisur, schwarze, große Hornbrille, wulstige Lippen und ein Oberkörper der krafttrainiert ist. Typ unsympathisch. Betty geht an den beiden vorbei, eilt die Treppe mit flotten Schritten hoch, wundert sich, wie geschmeidig dies geht, vor Wochen noch undenkbar, da hätte sie sich am Geländer festhaltend die Treppe hochgequält. Oben angekommen, geht sie sogleich in das Badezimmer, das mit bläulichem Neonlicht ausgelichtet ist. Steprath schaut hoch, erhebt sich.

„Betty, schön dich zu sehen, weniger die Umstände. Du hast abgenommen, siehst erholt aus. Beste Voraussetzungen, wieder aktiv zu werden. Das mit dem Finger tut mir leid, den haben wir tatsächlich übersehen. Der neue Chef hat Druck gemacht, wollte den Fundort nicht zum Vergnügungspark machen. Ist dumm gelaufen, aber wir haben ja dich.“

„Hein, niemand macht euch einen Vorwurf. Aus Fehler lässt sich lernen. Kannst du mir schon etwas sagen. Ich gehe davon aus, die kopflose Leiche wurde hier enthauptet und ausgeblutet.“

„Ja, sehr wahrscheinlich. Der Täter hat gut gereinigt. Aber auf den Fliesen haben wir Blutspuren gefunden.“

Die Kollegin von der Schutzpolizei steht hinter Betty, gibt ihr Bescheid, dass die Tochter hier sei. Betty bedankt sich, wendet sich, eilt die Treppe hinab, von den Blicken des neuen Chefs verfolgt, der anscheinend orientierungslos im Flur steht.

Vor dem Haus die Tochter, ihre Mutter im Arm, Betty stellt sich vor, fragt, ob ihre Mutter sie bereits informiert habe, was in dem Haus geschehen sei, was die Tochter bejaht. Sie bittet die beiden mit in das Haus zu kommen, lotst sie wieder in den Wintergarten. Sie setzen sich.

„Es tut mit leid, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen, die ich Ihrer Mutter nicht zumuten möchte. Ist das in Ordnung?“

„Selbstverständlich. Aber ich werde Ihnen nicht viel weiterhelfen können.“

„Mal sehen. Wie lange arbeitet Ihre Mutter bereits für die Weidtmanns?“

„Das sind bestimmt zehn Jahre oder mehr.“

„Ist es ein festes Arbeitsverhältnis, das Ihre Mutter hier hat?“

„Sie meinen, ob sie angestellt war?“

„Ja.“

„Nein. Mutter wurde am Ende einer Woche bezahlt. Ähm…“

„…keine Angst, ich bin nicht von der Steuer. Das hat keine Konsequenz für Ihre Mutter. Wie kam es, dass Ihre Mutter hier arbeitet? Wissen Sie das vielleicht?“

„Ich glaube aufgrund einer Stellenanzeige.“

„Okay. Ihre Mutter hat ein Handy, dass sie von Frau Weidtmann erhielt. Ist das richtig?“

 

Die junge Frau lächelt. Bejaht die Frage. Frau Weidtmann habe ihrer Mutter das Handy gegeben, damit sie immer zu erreichen sei. Am Anfang haben die Weidtmanns oft Besuch gehabt und ihre Mutter habe dann die Küche organisiert, also habe Einkaufen müssen. Aber ihre Mutter komme mit dem Handy nicht zurecht. Vergesse es aufzuladen, oder vergesse den Code, finde die Rufnummern nicht. Es kamen aber, besonders die letzten Jahre eigentlich nie Anrufe, vielleicht habe sie deshalb keinen Umgang mit dem Handy gefunden.

„Hat jemand außer Ihrer Mutter das Handy benutzt?“

„Nein.“

„Wer wusste von dem Handy? Außer Ihnen.“

„Ich denke, mein Bruder und meine Schwestern.“

„Wussten Sie, dass auf dem Handy die Türcodes gespeichert sind?“

„Welche Türcodes?“

„Die hier zum Haus. Für das Tor und für die Haustür.“

„Nein. Das wusste ich nicht.“

„Und ihre Schwestern und ihr Bruder wussten auch nichts davon?“

„Nein. Nein.“

„Wir rätseln noch, wie der Täter hier in das Haus gelangen konnte. Deshalb musste ich Sie das fragen. Und ich muss ihre Alibis überprüfen, von Ihnen, Ihren Schwestern und Ihrem Bruder. War Ihr Bruder denn einmal hier im Haus?“

„Ja. Mein Bruder betreibt ein Restaurant und wenn Mutter für Gäste kochen sollte, kam er oder sein Koch mit, um Mutter zu unterstützen.“

Betty reicht der jungen Frau Stift und Notizblock und bittet sie, die Namen, Adressen, Telefonnummern ihrer Geschwister aufzuschreiben, Kollegen würden sich dann melden, um die Alibis zu überprüfen. Das sei reine Routine und keineswegs ein Verdacht. Die Mutter sitzt die ganze Zeit fast reglos da, hört kaum zu, versteht wahrscheinlich nicht, worum es geht, jetzt aber blickt sie ängstlich auf.

„Tarik ist gute Junge.“

„Tarik?“

„Mein Bruder.“

„Frau (Betty schaut auf ihren Notizblock) Kuracz. Ich muss dem nachgehen, um auszuschließen, dass das Handy missbraucht wurde, um in das Haus zu kommen. Reine Routine. Ich bin mir sicher, dass Ihr Sohn ein guter Junge ist und nichts mit der Tat hier zu tun hat. Wir melden uns.“

Sie geleitet die beiden zur Haustür und bittet die Tochter, den draußen wartenden Reportern nichts von dem zu sagen, was hier passiert sei. Ob sie das könne, nickt die junge Frau, die Azra heißt, ab.

Niemand weiß, was er kann, bis er es probiert hat. (Publilius Syrus, römischerMimen-Autor, 85 v. Chr.- 43 v. Chr.)

Ihr Handy rasselt, unbekannte Nummer, nimmt trotzdem an. Der Kollege aus Münster. Sie haben mit dem Sohn gesprochen, der sei tief erschüttert, der psychologische Dienst sei noch bei ihm. Er wollte dringend wissen, was mit seiner Schwester ist.

„Sie haben ihn nur über die Eltern in Kenntnis gesetzt?“

„Ja, von der Tochter wusste ich nichts.“

„Sie war das erste Opfer. Die ganze Familie ist ausgelöscht. Bis auf den Sohn. Wann glauben Sie, kann ich mit ihm sprechen? Oder hat er sich geäußert, dass er herkommen will?“

„Also mit ihm sprechen, da würde ich noch einen oder gar zwei Tage warten. Der Junge ist schwer geschockt.“

„Wohnt er allein? Ist jemand bei ihm?“

„Er wohnt in einer WG und in seinem Zimmer wohnt auch seine Freundin. Die hält ihn fest im Arm. Soll ich ihm sagen, dass auch seine Schwester unter den Toten ist?“

„Ja, aber ganz vorsichtig. Sie sind noch vor Ort?“

„Ja, ich bin mit der Kollegin vom psychologischen Dienst hier. Haben Sie denn schon eine Spur, wer das getan haben könnte?“

„Nein, wir stehen am Anfang unserer Ermittlungen. Was wir wissen, ist, dass hier ein Profikiller am Werk war. Das Ganze sieht nach einem Racheakt aus. Ich muss wieder zurück, wir sind mitten in der Untersuchung des Tatortes. Sie können dem Sohn anbieten, dass ich zu ihm komme. Wenn er Bedenken hat, hierherzukommen, was ich persönlich auch für keine gute Idee halte, komme ich gerne nach Münster.“

„Werde ich ausrichten und wenn Sie herkommen, wäre ich gerne dabei. Wäre das in Ordnung für Sie.“

„Selbstverständlich. Ich melde mich vorher bei Ihnen. Hauptkommissar Knauf?“

„Richtig. Viel Erfolg.“

„Danke.“

Ihr Blick geht nach vorne. Am Eingangstor befinden sich tatsächlich etliche Schaulustige, aber auch Reporter, die Mutter und Tochter bedrängen. Betty hätte sie begleiten lassen sollen, winkt einen Kollegen der Schutzpolizei bei, bittet ihn, schnellstens die beiden Frauen von den Reportern zu befreien und zu ihrem Auto zu begleiten. Sie ärgert sich, gedankenlos war sie.

Zurück im Haus geht sie wieder hoch in das Obergeschoss, wo Lusi sie erwartet.

„Komm bitte mit, musst du dir ansehen.“

Sie führt Betty zu einem der hinteren Zimmer, ein kleiner verdunkelter Raum, ein Tisch über dem sechs Monitor hängen, schwarzer Bildschirm, davor ein Rechner, schwarzer Bildschirm.

„Alle Monitore und der Rechner sind eingeschaltet, zeigen aber kein Bild.“

„Hm, die Monitore dienen der Überwachung, was heißt, er hat sechs Kameras installiert. Der Rechner steuert sie. Gibt es einen Hinweis, wer die Anlage eingerichtet hat?“

„Ja, eine Firma SecTec in Ahrensdorf.“

„Der Geschäftsführer und derjenige, der die Anlage installiert hat soll herkommen. Heute noch, spätestens morgen. Ich glaube, ich rufe da selbst an. Ich werde ihm den Ernst seiner Lage verständlich machen müssen. Hast du eine Telefonnummer?“

 

Lusi teilt ihr die Nummer mit, bevor sie anrufe, solle sie sich noch das ansehen. Das, ist die Tür des Raumes, massives Holz, aber das Besondere daran ist eine in das Holz eingearbeitete massive Stahlplatte sowie die Riegel, insgesamt vier, mit der die Tür von innen abgesichert werden konnte.

„Ist das ein Sicherheitsraum? Meine Güte, der Mann muss paranoid gewesen sein. Wozu dieser Sicherheitsaufwand?“

„Tja, da haben wir einiges zum Grübeln und dann sieh dir noch das Zimmer der Tochter an.“

Lusi voran, eilen sie in das Zimmer der Tochter, Steffani, das so aufgeräumt ist, wie kein normales Teenagerzimmer. Nichts Überflüssiges, nichts, was auf ein junges Mädchen, einen Teenager hinweist. Bett, Schreibtisch, kleines Bücherregal, zwei Sessel, ein kleiner Beistelltisch, ein Schrank. Ein paar Bilder an der Wand, eine kleine Pinwand über dem Schreibtisch, auf die Fotos gepinnt sind, wahrscheinlich von Steffani, mit Freund, nein nicht Freund, ist der Bruder, wie Lusi bereits herausgefunden hat, ferner Schnipsel, irgendwo herausgeschnitten, ein Foto mit einem anderen Mädchen, die Freundin wahrscheinlich, eine Terminübersicht für den laufenden Monat, ein paar sauber abgeschriebene Zitate. Das Nichts schafft nichts, nichts kehrt ins Nichts zurück, Voltaire. Hm, philosophisch angehaucht die junge Frau, aber ein schneller Blick über das Bücherregal gibt keinen Hinweis darauf. Bekannte Autoren, Bestsellerautoren, Klassiker wie Goethe, Schiller, Lessing und einige Bände Hermann Hesse, aber keinen Voltaire oder anderen Philosophen oder doch, Betty entdeckt ein Taschenbuch „Candide oder der Optimismus“. Nichts, was sie kennt.

Neben den Büchern drei Leitz-Ordner, von denen Lusi einen zur Hand nimmt, ihn öffnet und Betty auf die auf einem Blatt obenstehende Schrift hinweist.

„Sie ging auf das Büchner-Gymnasium? Dann kennt Harrie sie.“

Die Uhr zeigt kurz nach Mittag, da sei noch Schulbetrieb, also los, der Schule einen Besuch abstatten, die Mitschüler befragen. Wo Peter sei, er solle sie begleiten, Lusi solle hier weiter die Stellung halten und auf den Menschen von dieser Sicherheitsfirma warten. Jetzt noch zu Steprath, den sie bittet, Sandra und Severin auf die Sicherheitstechnik anzusetzen, den Chef der Sicherheitsfirma werde sie herbeizitieren. Er soll den beiden die gesamte hier installierte Technik erklären.

Peter steht hinter ihr, wenig verwundert, Betty schon im Dienst stehend anzutreffen. Er begrüßt Betty freudig, meint, sie hätte ein schlechtes Timing und erklärt, dass er rund um das Haus alles auf Einbruchspuren untersucht habe. Nichts, da sei nichts, was auf einen Einbruch hindeutet und in dieses Haus zu kommen, sei ein Kunstakt, er habe acht Kameras gezählt und im Garten sei ein Zwinger, in dem drei Rottweiler ihn angebellt hätten. Vermutlich werden die Hunde nachts auf das Grundstück gelassen, allerdings nicht in der Nacht der Tat. Das sei alles sehr merkwürdig, als ob der Täter schon Tage vor der Tat im Haus gewesen sei.

„Komm bitte mit mir mit. Du hast doch ein Fahrzeug? Wir versuchen in der Schule, in die die Tochter ging, ein paar Informationen über sie zu erhalten.“

Bevor sie gehen, holt sie ihr Handy aus der Tasche, wählt die Nummer der SecTec GmbH, Gerät an die Zentrale, erklärt, dass sie von der Kripo Lübeck sei und dringend den Geschäftsführer sprechen wolle. Der sei nicht anwesend. Sie solle gefälligst dafür sorgen, dass sich der Geschäftsführer umgehend bei ihr melde, es sei in seinem Interesse und dem seiner Firma.

„Auf geht’s.“

Ihr neuer Chef steht mittlerweile im Wohnzimmer der Weidtmanns, spricht mit Steprath, um weiteren Ärger zu vermeiden, geht Betty hin und teilt ihm mit, zur Schule zu fahren, mit Lehrern und Mitschüler zu reden, um ein Bild über die Tochter zu bekommen. Der Chef gibt sich konziliant, nickt ab, fragt, wie lange sie hier noch beschäftigt seien, denn eine Zusammenkunft sei dringend notwendig, um alle auf den neuesten Stand zu bringen.

„Ich denke bis heute Nachmittag haben wir hier zu tun. Was halten Sie von morgen früh, um acht Uhr?“

„Ist das nicht zu spät?“

„Nein, wir haben ein paar noch sehr unkonkrete Spuren, die wir nachverfolgen müssen. Wir können die Aufgaben dazu morgen früh verteilen.“

„Sie scheinen es ja zu wissen. Gut. Dann morgen früh um acht Uhr,“ sagt der neue Chef, aber sein Mienenspiel drückt etwas anderes aus.

 

„Du bist doch eigentlich noch gar nicht da und schon gleich überall. Ich meine, solltest du nicht noch etwas kürzertreten.“

„Sollte ich Peter, sollte ich, aber mir liegen drei Leichen im Weg.“

Peter lächelt, die Stirnfalten leicht ironisch, steigt in den Wagen, Betty auf dem Beifahrersitz, schiebt den Sitz leicht nach hinten, hat Platz. Vor dem Hoftor, hinter der Absperrung, neugierige, gespannte Blicke, ein paar Personen mit Foto, Kamera, Mikrophon stürzen auf den Wagen zu, in der Hoffnung, die Erklärung eines Verantwortlichen zu erhalten, aber Peter fährt unbeirrt vom Gelände, biegt ab, nimmt Fahrt in Richtung Büchner-Schule auf.

Ihr Smartphone summt, ein Herr Stupi, er sei der Geschäftsführer der SecTec GmbH, was denn so Wichtiges sei.

„Moin Herr Stupi, Bettina Sundberg, Kripo Lübeck hier, danke für den Rückruf. Sagt Ihnen der Name Weidtmann etwas?“

„Weidtmann? Aus Lübeck? Herr Weidtmann ist ein Kunde.“

„Ja, dem ist so. Sie haben den Weidtmanns ein Sicherheitspaket verpasst, fast eine Festung aus dem Haus gemacht.“

„Na, da übertreiben Sie wohl etwas.“

„Egal wie, im Haus der Weidtmanns wurden drei Menschen ermordet, quasi die gesamte Familie Weidtmann. Wir konnten keinerlei Einbruchsspuren entdecken. Sie verstehen wahrscheinlich, warum wir rätseln, wie dies möglich war. Ich erwarte jetzt keine Erklärung von Ihnen. Ich weiß, dass das nicht möglich ist, möchte Sie aber bitten, nach Lübeck zu kommen, um uns einerseits die Anlage zu erklären und andererseits die Installation zu untersuchen, sie scheint lahmgelegt.“

Herrn Stupi hat es die Sprache verschlagen. Schweigen, nachdenkliches Schweigen. Eine Sicherheitsfirma, dessen Sicherheitssystem eklatant versagt hat, kann für die Firma tödlich sein, das dürfte ihm durch den Kopf gehen.

„Unmöglich. Das ist unmöglich…Ich kann es nicht erklären…Nein, das System ist absolut sicher.“

„Wäre es möglich, wenn jemand den Code für die Hof- und die Haustür hätte, dass er unbemerkt ins Haus kommen könnte?“

Kurzes Nachdenken: „Ja, im Prinzip wäre das möglich, aber nur dann, wenn vergessen wurde, die Sicherung einzuschalten.“

„Wie das?“

„Wenn die Familie komplett im Haus ist, lässt sich eine Sicherung einschalten, die mit Alarm reagiert, wenn jemand den Türcode eingeben würde.“

„Also möglich, dass Herr Weidtmann, oder wer auch immer, vergessen hat, diese Sicherung zu aktivieren?“

„Sie sagten alle Familienmitglieder sind tot. Dann waren alle zu Hause und, wie ich Herrn Weidtmann kenne, würde er nie, ohne sich abgesichert zu haben, zu Bett gehen…Mir ist es ein Rätsel…Ja, ich werde mich sofort auf den Weg nach Lübeck machen.“

„Nein, warten Sie noch. Wir gehen gerade einer anderen Spur nach und sind die nächsten zwei bis drei Stunden damit beschäftigt. Ich wäre gerne dabei, wenn Sie da sind. Könnten Sie so gegen 17:00 Uhr kommen, denjenigen mitbringen, der die Anlage eingebaut hat?“

„Kann ich einrichten. Den Techniker kann ich leider nicht mitbringen, der ist in Frankfurt in einem Projekt. Ich bringe einen anderen Techniker mit.“

„Der Herr Weidtmann scheint große Angst gehabt zu haben. Meinst du, er wusste, was auf ihn zukommen könnte?“ will Peter wissen.

„Keine Ahnung, ich habe noch kein Bild von diesem Herrn, aber wenn ich mir das Haus vor Augen führe, das Zimmer der Tochter, dieser ganze Sicherheitsaufwand, dann denke ich schon, dass er so etwas wie ein Kontroll-Freak war und ja, er fürchtete sich vor jemand. Ach, ich hätte fragen müssen, wann die Anlage installiert wurde. Gut, können wir nachholen.“

 

Sie fahren vor der Schule vor, parken, aus Mangel, auf den für Behinderte reservierten Parkplatz. Vorwurfsvoller Blick Bettys auf Peter, merkt an, sie sei wieder voll einsatzfähig, von Behinderung keine Spur mehr. Peter versteht den Scherz nicht, entschuldigt sich, so habe er das nicht gewollt. Ein Klopfen auf das rechte Knie, ein Lächeln und Peter versteht. Bevor sie aussteigen, holt Betty aus ihrer Umhängetasche ihre Tabletten und die kleine Flasche Wasser hervor, schluckt die Velmetia und den Cholesterinsenker hinunter, aufmerksam beäugt von Peter.

„Mein Mittagessen.“

„So schlimm?“

„Das weniger. Ich hatte vier Wochen einen strengen Tagesablauf, alles auf ein Ziel ausgerichtet, ich hoffe nicht, dass ich dieses Ziel wieder verspiele, denn in unserem Job ist nichts mehr mit Routine, außer den Befragungen, die uns jetzt bevorstehen. Wir sollten so viele Informationen über die Tochter sammeln, wie wir bekommen können. Die Schüler teilen wir uns auf, den Lehrer befragen wir zusammen.

„Auf geht’s!“

„Was versprichst du dir von der Befragung der Schüler. Ich meine, so wie es aussieht, ist die Kleine für einen Racheakt missbraucht worden, ein Opfer sozusagen, ein vollkommen unschuldiges Opfer. Was gibt es da noch zu ermitteln? Sollten wir uns nicht auf andere Spuren konzentrieren?“

„Ich will wissen, wer die junge Frau war. Und, wir haben nur eine Hypothese, die ist unbewiesen, die Tat kann einen völlig anderen Hintergrund haben. Wir wissen noch nicht viel. Je mehr wir wissen, desto eher bekommen wir ein Bild von dem, was in der Villa geschah und warum.“

Beide entsteigen dem Wagen und laufen auf das Schulgebäude zu, Betty kennt die Wege. Sie biegen in Richtung des Rektorenzimmers ein, stellt, im Vorzimmer angekommen, sich und Peter im Vorzimmer vor, bittet den Direktor zu sprechen, der aber, wie die Schulassistentin sagt, Unterricht abhalte.

„In welcher Klasse befindet sich, Steffani Weidtmann?“

„Klasse? Wir haben keine Klassen mehr, nur Kurse und Steffani ist im Krankenstand.“

„Aber es gibt noch so etwas wie einen Klassenverband?“

„In den Kernfächern gibt es Überschneidungen, ja…“

„In welchem Kurs würde Fräulein Weidtmann sitzen, wenn sie hier wäre.“

Die Frau steht auf, geht an den Stundenplan der Schule zu, schaut unter dem Dienstag nach: „Sie müsste im Deutsch-Kurs…“

„… bei Harrie Kohlberg…“

„Äh, ja bei Herrn Kohlberg sitzen.“

Betty lässt sich die Raum-Nummer nennen und bittet die Frau, den Direktor zu informieren, dass wir mit Herrn Kohlberg und den Schüler reden müssen.

„Wegen Steffani? Es ist ihr doch nichts zugestoßen. Oder?“

„Kennen Sie sie?“

„Schon, wobei, kennen trifft nicht zu, aber sie geht beim Direktor ein und aus. Sie ist die Schulsprecherin. Eine freundliche junge Frau und sehr intelligent. Ich mag sie, sie ist so, wie man sich eine wohlerzogene Tochter wünscht. Was man von nicht allen Schülerinnen an dieser Schule sagen kann.“

Sie wenden sich ab und gehen in Richtung des Klassenraumes (heißt der noch so, überlegt Betty oder ist das ein Kursraum?). Das Wiedersehen mit Harrie, ihrem Retter, hatte sie sich anders vorgestellt, wäre die Tage zu den Kohlbergs gefahren, zu einem abendlichen Plausch, wird sich wundern, der Harrie, sie vor der Tür stehen zu sehen.

Und so ist es. Sacht hat Betty an die Tür geklopft, diese geöffnet und in das Gesicht eines völlig verdutzten Harrie geblickt.

„Hallo Harrie, kannst du bitte kurz vor die Tür kommen?“

 

Der immer noch überrascht dreinschauende Harrie gibt ein paar Anweisungen, schaut besorgt zu Betty, hinter ihr ein Mann, ein Polizist, wenn Harrie sich recht erinnert und dieses Duo hier zu sehen, sagt ihm, dass dies nichts Gutes zu bedeuten hat. Sein Blick geht augenblicklich auf einen Platz in der zweiten Reihe, den Platz an dem sonst Steffani sitzt. Nein. Harrie wird es mulmig um sein Herz. Mit schweren Schritten geht er auf die Tür zu, vor die Tür, schließt hinter sich Tür. Sie umarmen sich, aber schon in dieser Umarmung ahnt Harrie, dass Schreckliches geschehen ist.

„Sag, dass du mir nur deinen Antrittsbesuch abstattest, nicht wegen Steffani hier bist.“

„Es tut mir leid Harrie. Ich wollte dich die Tage besuchen, meine vierwöchige REHA bei dir vorstellen und überhaupt…Wieso tippst du auf Steffani?“

„Betty. Du kennst mich doch, zwar unterrichte ich mehr die geisteswissenschaftlichen Fächer, aber ein wenig Mathe habe ich noch drauf. Eine Leiche in der Roeckstraße, Steffani, aus der Roeckstraße, die fehlt und zwei Polizisten vor der Tür, das macht drei.“

Harrie blickt mit besorgter Miene auf Betty: „Sag, dass ich mich irre.“

„Es tut mir leid, es ist wie du vermutest.“

Keuchen von hinten, der Direktor mit eiligen Schritten naht.

„Sie…was macht die Polizei hier? Hat das mit Steffani Weidtmann zu tun?“ und schaut dabei auf Harrie, der nickt mit todernstem Gesicht.

„Oh, du meine Güte, der Leichenfund gestern, das war Steffani?“

Der Direktor ist außer sich, fassungslos, mit blindem Blick, starrt er ins Leere: „Und jetzt?“

In das Schweigen spricht Betty, dass sie mit den Mitschülern reden müssen.

„Ich verstehe, dass du mit den Schülern reden musst. Nur, wie stellst du dir das vor? Steffi war überaus beliebt. Das wird ein Schock für ihre Mitschülerinnen und -schüler. Oh, und für Mareike wird es ein herber Schlag. Mareike ist Steffis beste Freundin. Die beiden sind sehr eng befreundet. Nein, das geht so nicht.“

Aber wie es gehen kann, weiß auch Harrie nicht.

„Habt ihr einen Schulpsychologen oder ähnliches? Einen Seelsorger?“

„Nein, eine Vertrauenslehrerin haben wir und einen Sozialpädagogen. Und Seelsorger? Wendel vom Ethikkurs, ich glaube sogar, dass er Theologie studiert hat.“

Betty schlägt vor, die Freundin in das Zimmer des Direktors zu bitten, die Vertrauenslehrerin hinzuzuziehen, die Mitschülerinnen und -schüler kurz zu informieren, ihnen, in Anwesenheit des Ethiklehrers, etwas Zeit zu geben, bevor sie mit den Schülerinnen und Schülern reden. Zuvor versuche sie, den psychologischen Dienst zu erreichen, der sich um die Schüler kümmern könne. Sie komme nach einer kurzen Ansprache ins Direktorenzimmer, um mit der Freundin von Steffani zu reden, sofern diese dazu in der Lage sei.

„Ich weiß Harrie, keine einfache Situation, aber ich muss das durchziehen. Zum Schluss müssen wir mit dir reden.“

Harrie schaut betreten drein, der Direktor immer noch verstummt, ängstlich seine Gedanken wälzend.

„Lass mich den Schülern sagen, was mit Steffi passiert ist. Wo willst du die Schüler danach befragen? Alle auf einmal oder jeden für sich?“

„Wenn sich die Kinder beruhigt haben, würden wir sie gerne einzeln befragen. Nicht im Klassenraum. Gibt es in der Nähe einen freien Raum?“

Direktor Ehlers löst sich aus seiner Erstarrung, geht zum nächsten Raum, öffnet die Tür, schaut hinein, winkt jemand heraus, spricht anscheinend mit der Lehrerin, kehrt zurück, nach und nach kommen Schüler aus dem Raum, verlassen aufgeregt miteinander redend den Raum, den Flur.

„Sie können den Raum nebenan nutzen.“

„Danke. Dann würde ich sagen, bitten wir die Freundin heraus. (Zum Direktor gewendet) Würden Sie sie in ihr Zimmer begleiten?“

„Ich soll sie in Kenntnis setzen?“

„Nein, das mache ich. Sagen sie ihr nur, da wäre eine Frau von der Polizei, die ein paar Fragen an sie hätte, worüber wüssten sie nicht.“

 

Zunächst geht Harrie allein in das Schulzimmer, bittet Mareike heraus und dem Direktor in dessen Zimmer zu folgen. Natürlich will sie wissen, worum es geht, was der Direktor von ihr wolle und überhaupt, hier rieche es nach Katastrophe, was los sei?

„Beruhige dich Mareike. Es geht um ein paar Fragen, die die Polizei an dich hat. Die Polizistin wird gleich bei dir sein.“

Mareike zieht mit dem Rektor davon, dreht sich ab und an um, zu den vor dem Raum Stehenden, die nach kurzem Warten den Schulraum betreten. Drinnen angespannte Erwartungshaltung, alle Augen fragend auf Harrie gerichtet, der schleppend beginnt, Betty und Peter vorzustellen.

„Ihr ahnt sicher, dass, wenn die Polizei hier vor euch steht, Außergewöhnliches geschehen ist (erste Schluchzer sind vernehmbar). Ja, es ist Schreckliches passiert. Ihr habt es gelesen und ich weiß, ihr habt darüber gesprochen, teils ernst, teils zynisch (das Schluchzen wird intensiver, einige Schülerinnen halten sich die Hände vor ihr Gesicht, ahnen längst, um was es geht). Die kopflose Leiche, über die ihr gesprochen habt, diese Leiche ist eure Mitschülerin Steffani.“

Raunen, ungläubiges „Nein“, Tränen, selbst bei einigen der Jungs, Starre, stumme schluchzende, schnüffelnde Starre, ohnmächtige Sprachlosigkeit. Harrie hält inne, der Raum in einem sonderbaren Zustand, vor sich hinstarrende Schüler, kaum atmen zu hören, nur dieses Schluchzen, das Schnüffeln aus laufenden Nasen.

„Lasst uns schweigend Steffani gedenken.“

Wendel, der Ethiklehrer hat sich zugesellt, noch nicht ganz im Bilde über das Geschehene, versucht zu erfassen, warum er hierhergebeten wurde. Er schweigt mit allen anderen.

Betty, nach gut zwei Minuten des Gedenkens wendet sich nun an die Schülerinnen und Schüler.

„Ich weiß, wie es sich anfühlt, mit dem Tod konfrontiert zu werden und ich weiß, dass ihr genauso wollt wie wir, dass der Schuldige dieses Verbrechens gefunden und bestraft wird. Deshalb brauchen wir eure Hilfe. Wir möchten mehr über Steffanie Weidtmann wissen, wer sie war, was sie ausgemacht hat, wie sie war, besonders natürlich in den letzten Tagen und euch deshalb Fragen stellen. Ich hoffe, dass ihr versteht, dass wir trotz des Schocks der Nachricht, diese Fragen stellen müssen. Meine Kollegin vom psychologischen Dienst wird in Kürze eintreffen, sie steht euch bei Bedarf zur Verfügung, ansonsten ist euer Lehrer (deutet auf den Ethiklehrer) hier für euch da. Wir werden die Gespräche im Raum nebenan führen.“

Sie schaut Harrie an, der versteht übernimmt: „Herr Wendel wird fürs erste bei euch sein. Nach der Befragung könnt ihr nach Hause gehen, kein Unterricht mehr heute.“

Sie verlassen den Raum, Betty bittet Harrie mit ins Rektorenzimmer zu kommen, um bei der Befragung von Mareike dabei zu sein.

 

Unruhig, nervös auf ihrem Stuhl hin und her rutschend, sich umsehend, ob und wer da kommt, treffen sie auf Mareike. Ängstlich gespannt schaut sie auf Harrie, auf Betty, erwartet endlich die Erklärung für diesen Auflauf.

Betty schiebt sich einen Stuhl neben den Mareikes, Harrie nimmt an der anderen Seite Platz, die Vertrauenslehrerin hat sich hinter den Schreibtisch des Rektors gesetzt, der steht an der Fensterbank angelehnt, nervös mit seinen Fingern spielend.

„Mareike. Ich darf doch Mareike sagen?“ Kurzes zustimmendes Nicken. „Ich bin Betty Sundberg. Du kannst Betty zu mir sagen. Ich bin von der Kriminalpolizei Lübeck und versuche ein schlimmes Verbrechen aufzuklären.“

Mareikes Augen haften auf Bettys Mund, sie scheint eine Frage auf den Lippen, die aber wie gelähmt geschlossen bleiben.

„Natürlich hast du nichts mit diesem Verbrechen zu tun. Nur, das Opfer des Verbrechens kennst du, kennst es gut, es ist Steffani, deine Freundin.“

„Steffi?“ kommt es fast lautlos über ihre Lippen, erste Tränen beginnen zu fließen. „Steffi? Was ist mit Steffi?“

„Sie ist tot, wie ihre Eltern. Ermordet, alle drei.“

Mareike will aufspringen, schreit ein „Nein, Nein, nicht Steffi“ in das Zimmer, Harrie legt seinen Arm um sie, Betty greift nach deren Hand.

„Nicht, Steffi. Nein, das darf nicht sein.“

Sie schüttelt ihren Kopf, Unverständnis, will nicht glauben, was Betty gesagt hat, schlägt die Hände vor ihr Gesicht, beugt den Oberkörper vor, will sich verkriechen, wegtauchen. Geht nicht.

Fassungslos der Blick von Harrie: „Die Eltern auch?“

„Ja, auch die Eltern. Wir haben sie heute Morgen tot aufgefunden.“

„Und Henri?“

„Henri? Du meinst den Sohn? Der ist in Münster.“

Der Schreck dieser Nachricht lähmt, bis auf Betty, alle. Fast eine ganze Familie ermordet. Das Wieso liegt allen als Frage auf den Lippen. Betty wendet sich Mareike zu.

„Mareike, ich weiß, wie schwer diese Nachricht für dich wiegt. Aber wir kannten Steffanie nicht, wissen nichts über sie, deshalb haben wir Fragen und hoffen, du, als ihre beste Freundin, kannst uns weiterhelfen. Wenn du zunächst eine Auszeit brauchst, dich zu beruhigen, kein Problem.“ Und die braucht sie, bittet darum, ein paar Minuten allein zu sein. Betty nickt, schaut auf die Personen im Raum, steht auf, deutet an, dass sie das Zimmer verlassen.

„Wer tut so etwas? Warum die Weidtmanns? Warum Steffi?“ will Harrie wissen.

„Harrie, wir fangen gerade an, zu ermitteln. Wir wissen nicht viel und das Wenige ist noch Verschlusssache. Du weißt ja, wie das ist.“

Er schaut Betty mit schmerzhaftem Blick an: „Du bist kaum wieder im Dienst und dann das. Solltest du nicht kürzertreten? Schrecklich das. So schrecklich. Was ist da los in Lübeck?“

„Lusi glaubte zunächst, unser Deutschrusse hätte wieder zu morden begonnen und ehrlich, eine kurze Zeitspanne war ich sehr verunsichert und wollte dich schon anrufen, dein Gedächtnis nutzen, um mich zu beruhigen.“

„Du meinst, ob ich mir hundertprozentig sicher sei, dass der Tote im Müllcontainer der Pfleger war? Betty, ich bin mir sicher.“

„Ihr Kopf wurde mit einem, also sehr wahrscheinlich, einem Samuraischwert abgetrennt. Das hat natürlich Erinnerungen geweckt.“

„Und die Eltern, wurden die auch…?“

„Nein. Einfach nur erschossen. Im Schlaf. Sie dürften genauso wenig mitbekommen haben wie die Tochter. Auch sie wurde zunächst mit einem Kopfschuss getötet, bevor ihr der Kopf abgetrennt wurde.“

Rektor Ehlers räuspert sich, von Betty und Harrie unbemerkt hat sich die Tür zum Rektorenzimmer einen Spalt breit geöffnet, ohne dass Mareike ein Wort verlor. Betty nickt, gibt dem Rektor und der Vertrauenslehrerein ein Zeichen, zu warten und begibt sich mit Harrie in das Zimmer des Rektors.

 

Verheult, nach Luft schnappend, ein Haufen Elend, sitzt Mareika, Oberkörper gebeugt, in ihrem Stuhl. Betty fragt, ob sie wirklich bereit sei, Antworten zu geben, was Mareike bejaht.

„Erzähl mir einfach, wer Steffani war.“

Zunächst mit stockender, leiser Stimme, in ihrer Erinnerung kramend, berichtet sie, dass sie Steffi seit Kindertagen kennt. Sie seien immer zusammen gewesen, früher meist bei Steffi zu Hause, die letzten Jahre nur noch selten bei Steffi. Wieso selten, will Betty wissen. Sie denkt nach, sucht nach Worten, erklärt, dass Steffis Vater immer seltsamer geworden sei. Er habe das Haus mehr als Einbruchsicher gemacht. Steffi sagte immer, er übertreibe maßlos. Er schaffte sogar Hunde an, vor denen hatte Steffi genauso Angst wie ich. Ob die denn tagsüber nicht im Zwinger waren: „Schon, nur, wenn Steffi aus Versehen vergaß, die Anlage abzustellen und ich die Tür geöffnet bekam, öffneten sich die Zwingertüren und die Hunde stürmten auf mich zu.“

„Weißt du noch, wann Herr Weidtmann diese Anlage hat installieren lassen?“

„Vielleicht vor zwei oder drei Jahren.“

„Hat Steffani eine Vermutung geäußert, warum ihr Vater die Anlage hat installieren lassen?“

„Steffi hielt die Angst ihres Vaters für irreal. Henri dagegen war der Ansicht, die Angst sei sehr real. Er vermutete, dass die Geschäfte seines Vaters nicht legal waren. Die Weidtmanns waren sehr reich und Henri hat nie verstanden, wie sein Vater sein Geld verdiente. Henri ist ganz anders als sein Vater, deshalb haben die beiden sich auch nie verstanden und Henri die erste Gelegenheit genutzt, von zu Hause fortzukommen. Es muss heftige Streitereien gegeben haben, wegen seinem Weggang, weil der auch gleichkam mit der Weigerung Henris in seines Vaters Geschäfte einzusteigen. Henri ging aber nicht einfach so, er tat es erst als Steffi ihn in seiner Entscheidung bestärkte. Sie müssen wissen, dass Henri und Steffi sehr innig waren. Nach dem Weggang Henris grenzte Herr Weidtmann Steffi ein. Sie musste immer um 22:00 Uhr zu Hause sein, musste sagen, wo sie hingeht und warum. Wenn Steffi bei mir war, kam es oft vor, dass ihr Vater anrief. Nach Münster zu Henri durfte sie nur in meiner Begleitung. Steffi störte diese Überwachung nicht. Sie war halt so anders, wie Mädchen sonst in diesem Alter sind.“

„Wie meinst du das?“

„Steffi war, egal was sie machte, immer die Beste. Lernen fiel ihr leicht. Nein, eine Streberin war sie nicht, sie war einfach so. Sie war verständig, konnte mit jeder und jedem, war vollkommen uneitel, setzte sich für andere ein. Sie konnte schlichten. Ich weiß auch nicht, aber sie hatte so eine natürliche Autorität. Nicht umsonst wurde sie zur Schulsprecherin gewählt.“

„Wie sah es mit Freunden aus? Hatte sie einen festen Freund?“

 

In ihre Traurigkeit schleicht sich ein Lächeln, fast träumerisch ihre Augen.

„Steffi sagte immer, Liebe und Karriere vertragen sich nicht. Karriere ist missverständlich. Sie sagte das Wort zwar, meinte aber etwas anderes damit. Sie hatte ungefähr eine Vorstellung von dem, was sie einmal machen wollte und auf dem Weg bis dahin wäre ein Freund nur hinderlich gewesen. Ich weiß, für jemand in unserem Alter eine seltsame Einstellung. Aber sie hat tatsächlich nie einen festen Freund gehabt, nie für einen Jungen geschwärmt und all die, die versuchten, an sie heranzukommen, hat sie auf Distanz gehalten. An den Wochenenden, wenn ich in einen Club ging, blieb sie meist zu Hause und wenn sie einmal mitkam, dann musste sie spätestens um 23:00 Uhr zu Hause sein. Normalerweise verlasse ich da erst das Haus. Ich fand das Anfangs übertrieben von Steffis Vater, der Grund lag aber nicht in dessen Vorsicht, sondern darin, dass Steffis Vater am Abend die Hunde aus dem Zwinger ließ, aber immer erst, wenn Steffi zu Hause war. Wie gesagt, sie hatte höllische Angst vor den Hunden, die ihr ihr Vater nicht nehmen konnte. Er trainierte die Hunde, also richtete sie ab, machte sie scharf. Das ängstigte Steffi…Andererseits hatte ich immer das Gefühl, dass sich Steffi nicht wohlfühlte, wenn wir in einem Club waren. Sie mochte die Enge dort nicht, die vielen Menschen, die Lautstärke der Musik, die lauten Gespräche und vor allem das Gehabe der Jungs, wenn diese angetrunken oder bekifft waren. Von daher denke ich, machte es ihr auch nichts aus, vorzeitig zu gehen.“

„Gab es einen Jungen, der in Steffi verknallt war, sich abgewiesen fühlte und das nicht hinnehmen wollte?“

„Das weiß ich nicht. Möglich. Nein, dergleichen ist mir nicht aufgefallen.“

„Du hast einen festen Freund?“

„Ja, aber fest würde ich nicht sagen.“

„Das hat Steffi nicht gestört?“

„Nein, sie mochte Heiko. Sie war Teil der Clique und wurde dort respektiert, so wie sie ist, war…Das hört sich wie Außenseiter an, aber das war Steffi nicht.“

„Hat Steffanie Kontakte über die sozialen Medien gesucht?“

„Steffi war weder auf Facebook, Instagramm, Tik-tok oder sonst einer Plattform angemeldet. Ich hatte ihr einmal meine Facebookseite gezeigt. Sie fragte, wer die 220 Freunde wären. Ob einer von denen mich schon einmal so gedrückt habe, und Steffi hat mich umschlungen und fest gedrückt. Sie nannte die sozialen Medien eine Illusion, der wir Menschen aufgesessen sind. Ihr Handy nutzte sie zum Telefonieren und um sich zu informieren.“

„Hättest du es mitbekommen, wenn sie Kontakt zu einer Internetbekanntschaft unterhalten hätte?“

„Nein. Ob sie mir es erzählt hätte, nein, möglich, aber eher nicht, es hätte ihren Prinzipien widersprochen, sich in den sozialen Medien zu tummeln.“

„Wann habt ihr euch zuletzt gesehen?“

„Na ja, am Freitag, Herr Kohlberg hatte mich gebeten, Steffi nach Hause zu begleiten. Sie litt unter starken Kopfschmerzen.“

Betty schaut Harrie an, der versteht.

„Ja, stimmt. Steffi klagte über starke Kopfschmerzen. Sie weinte sogar vor Schmerzen. Ich hatte das Gefühl, dass sie sehr unsicher auf ihren Füßen war und deshalb Mareike aufgefordert, Steffi nach Hause zu bringen.“

„Hat sie denn öfter über Kopfschmerzen geklagt?“

„Nein, nicht dass ich wüsste.“

Wieder zu Mareike gewendet: „Hattet ihr, nachdem du Steffani nach Hause begleitet hattest, nochmals Kontakt miteinander, per Handy?“

„Ja, am Samstag. Wir haben Kurznachrichten ausgetauscht, weil ich wissen wollte, ob sie wieder okay ist.“

„Und?“

„Sie sei schmerzfrei sagte sie. Ihr Vater wollte das sie im Haus bleibt. Sonst hätten wir uns getroffen.“

„War sie in letzter Zeit anders als üblich? War sie ängstlich oder besorgt?“

„Nein, sie war wie immer.“

„Du hast Steffanie bis zum Haus oder ins Haus begleitet?“

„Ja, bis ins Haus.“

„Gab es da eine Auffälligkeit?“

„Nein.“

„Hat Steffani selbst den Türcode eingegeben oder hat sie an der Hoftür geklingelt?“

Mareike muss kurz nachdenken: „Also, so recht weiß ich das nicht mehr, aber ich glaube, sie hat die Klingel gedrückt. Ihre Eltern waren ja zu Hause.“

„Gut, ich denke, das war genug für jetzt. Ich gebe dir meine Karte mit, falls dir noch etwas einfällt, von dem du glaubst, es sei wichtig, rufe mich bitte an. Eventuell kommen wir auch so noch einmal auf dich zu. Soll dich jemand nach Hause begleiten? Oder willst du mit unserer Psychologin sprechen?“

„Nein Danke. Herr Kohlberg, könnten Sie Heiko loseisen, damit er mit mir kommt?“

„Klar. Ich kümmere mich. Warte bitte hier.“

 

Während Harrie losläuft, stellt Betty doch noch eine Frage zu Herrn Weidtmann, ob dieser ein strenger Vater gewesen sei. Sie glaube, er habe sie kontrollieren wollen, vielleicht aus Angst, dass auch sie das Elternhaus, also die Eltern, verlassen würde. Sie stehen auf, gehen vor die Tür, Mareike wirkt nun gefasst, aber der Schmerz, die Trauer steht ihr noch im Gesicht, die ganze körperliche Haltung drückt Trauer aus. Harrie kommt mit einem jungen Mann, einem smarten Typ, schönes volles schwarzes Haar, schlanke Figur in modischer Kleidung. Er umarmt Mareike, legt seinen Arm um sie, die wieder zu weinen beginnt und die beiden gehen davon.

„Ich habe Herrn Weidtmann nie kennengelernt. Elternabend oder sonstige Gespräche gab es nur mit der Mutter. Gut, es gab ja auch keinen Grund zu Elterngesprächen, aber an Elternabenden ist es eigentlich üblich, dass beide Elternteile anwesend sind. Eines fiel mir aber auf. Wenn eine Klassenfahrt anstand, wenn ich recht erinnere, waren das drei Termine, schaute Frau Weidtmann vorbei und versuchte mir sehr unbeholfen nahezubringen, auf Steffi zu achten. Es war nicht sie, die da sprach, ich denke, es war ihr Mann, der ihr aufgetragen hatte, mich zu bitten, auf Steffi zu achten.“

„Meinst du, dass da mehr war als väterliche Sorge?“

„Ich weiß nicht Betty. Aber, ausschließen kann ich es nicht. Du wirst sicher mit Henri reden. Vielleicht weiß und sagt er mehr.“

 

Im Klassenraum zurück, fragt Betty die Schülerinnen und Schüler, ob sie so weit wären, mit ihnen zu reden. Keine Verneinung, keine Bejahung, also wertet Betty dies als schweigende Zustimmung. Die Reihenfolge überlasse sie ihnen. Sie geht mit Peter in den benachbarten Raum und wartet auf die beiden ersten Schüler. Fast zweieinhalb Stunden dauert die Befragung, die im Prinzip bestätigt, was sie bisher über Steffanie hörten, eine intelligente, sehr schöne junge Frau, uneitel, beliebt, helfend, unterstützend, ja, auch witzig konnte sie sein, war schlagfertig und hatte die seltsame Gabe, wie einer der Jungs sagt, dass sie Streit schlichten, selbst Arschlöcher beruhigen konnte. Peter fragt einen der Jungs, ob er jemand kennen würde, der Steffanie besonders heftig angebaggert habe, der grinst nur verlegen und meint, versucht haben dies etliche, aber irgendwann habe jeder gewusst, das Steffani viel zu selbstbewusst war, um den Avancen nachzugeben. Trotzdem, Steffi sei ein toller Kumpel gewesen.

Nachdem auch die letzten beiden Schülerinnen den Raum verlassen haben, kommt Harrie herein, fragt, ob die Gespräche sie weitergebracht hätten.

„Ich wollte mir ein Bild von Steffani machen. Das habe ich gewonnen. Und, ich wollte ausschließen können, dass die Tat eine Beziehungstat war. Das kann ich nun.“

„Na ja, Beziehungstat? Das wäre das Letzte gewesen, auf das ich getippt hätte. Ich meine wegen des Kopfes…Aber der Aufklärung seid ihr kein Stück nähergekommen. Richtig?“

„Das war nicht unsere Absicht. Gibt es deinerseits noch etwas zu all dem Gesagten hinzuzufügen?“

„Nein. Ich denke aber, dass, wenn sich das alles gesetzt hat, ich das eine oder andere noch hören werde. Ich werde mit den Jugendlichen darüber reden müssen. Aber es wird nicht, das sein, was euch weiterhilft.“

„Gut, wir müssen weiter ermitteln. Ich komme Ende der Woche bei euch vorbei. Ich melde mich vorher an.“

„Ich freue mich, Sonja natürlich auch.“

„Ach, halt, noch mal zurück zu den Kopfschmerzen. Du hast Steffanie nach Hause geschickt. Warum nicht zu einem Arzt oder hast ihr Schmerztabletten organisiert?“

„Den Arzt habe ich vorgeschlagen, aber sie wollte nach Hause und Schmerztabletten hatte sie schon zu sich genommen. Ihre Unsicherheit auf den Beinen schrieb ich einer oder zwei Tabletten zu viel zu. Deshalb die Bitte an Mareike, mit ihr zu gehen.“

„Und zuvor gab es tatsächlich keine solch heftige Kopfschmerzattacken bei Steffanie?“

„Hm, nein, nicht das ich wüsste. Was veranlasst dich zu diesen Fragen? Hast du eine Vermutung?“

„Keine Vermutung. Nein. Aber irgendwie kommt mir das komisch vor. Ich meine, mit Kopfschmerzen habe ich jüngst gewisse Erfahrungen gemacht. Aber solche Heftigkeit wie anscheinend bei Steffani kenne ich nicht.“

„Hm.“

Sie verabschieden sich und verlassen das Schulgebäude.

 

In Kürze wird der Geschäftsführer eintreffen, der Hunger, der in Bettys Magen sich unangenehm bemerkbar macht, ist schon da. Sie müsse unbedingt etwas essen, Peter solle bitte anhalten, sobald ein kleiner Einkaufsmarkt sichtbar werde, so ein Türkenladen, mit viel Gemüse auf der Straße. Er habe eher an einen Schnellimbiss gedacht, schließlich plage auch ihn der Hunger. Gut, er Schnellimbiss, sie Türkenladen. Sie tauschen ihre Erkenntnisse aus, die sie aus den Gesprächen mit den Jugendlichen gewonnen hatten. Aber außer das Steffani eine außergewöhnliche junge Frau war, die anscheinend von ihrem Vater kontrolliert wurde, gab es wenig brauchbare Erkenntnisse.

Bis auf die Kopfschmerzen, die Betty beschäftigen. Sie kennt sich aus mit Kopfschmerzen, aber ihre Schmerzen waren bisher nicht so stark, dass sie hätte weinen müssen. Und auch Vera, die wusste, was Kopfschmerzen sind, hatte keine Tränen vergossen, sich zurückgezogen, abgelegt und gewartet, bis die Schmerzen vorbei waren. Hatte Steffani Migräne? Einen Hausarzt? Ja, sie sollte, wenn sie einen Arzt hatte, mit diesem reden, was sie sich in ihr Gedächtnis notiert.

Peter bremst ab, fährt seitlich heran und hält vor einer Obst- und Gemüseauslage eines Geschäftes, das sich Orient-Market nennt. Betty aus ihren Gedanken gerissen, steigt aus, geht an die Gemüseauslage, schnappt sich ein Bündel Möhren, einen Stangensellerie, geht in den Laden, zahlt, steigt wieder in den Wagen und beginnt vor den staunenden Augen Peters eine Möhre zu verzehren.

„Du glaubst nicht, wie gut so eine Möhre schmecken kann, wenn frau Hunger hat.“

„Nein, glaube ich nicht, da gibt es Besseres, den Hunger zu vertreiben.“

„Zum Beispiel?“

„Ein schönes Rindersteak, Pommes und Krautsalat. Ach, genau das würde ich jetzt gerne zu mir nehmen.“

Geht nicht, stattdessen hält Peter an einem Burger-Laden, bestellt am Drive-Inn-Schalter einen Cheeseburger, einen Hamburger, Pommes und eine Cola.

„Du weißt schon, dass das, was du da bestellt hast keinen Nährwert für den Körper, dafür jede Menge Konservierungsstoffe hat. Das Salatblatt obenauf macht noch keine Vitamine, die haben diese Dinger nicht.“

„Ich bin kein Burger-Junkie. Gelegentlich macht nicht dick und nicht süchtig, denn das Argument hast du vergessen und überhaupt einem Saulus, der zu Paulus wurde, glaube ich eh nicht.“

Betty lacht und wünscht ihm, als er seine Bestellung erhält, einen guten Appetit. Da fahren und essen parallel nicht möglich ist, parkt Peter auf der Seite und isst gemütlich seinen Hamburger, seinen Cheeseburger, seine Pommes, während sich Betty eine Stange von dem Sellerie bricht und knackend abbeist.

 

Das Hoftor der Weidtmanns geschlossen, neben der Einfahrt ein großer Audi mit Hamburger Kennzeichen, sicher der Geschäftsführer. Die Schaulustigen haben sich verzogen, aber die Fotografen und Reporter harren immer noch auf verwertbare Informationen. Peter klingelt an der Hoftür, nach kurzem Warten öffnet sich das Tor und er steuert den Wagen die Auffahrt hoch. Oben steht ein Wagen mit Firmenaufschrift SecTec GmbH. Und wer ist der Hamburger? Lusi empfängt die beiden an der Eingangstür, teilt ihnen mit, dass das BKA anwesend sei, ebenso wie der Geschäftsführer der SecTec, der mit seinem Techniker bereits oben in dem Sicherheitsraum sitze, im Beisein von Sandra und Severin. Prima. Natürlich will Lusi wissen, ob sie neue Erkenntnisse aus den Gesprächen in der Schule gewonnen hätten, was Betty mit Bedauern verneint, nichts, was der Rede wert sei, also der Aufklärung diene.

Sie betreten das Haus, Betty bittet Peter herauszufinden, welchen Arzt die Familie Weidtmann konsultierte, sie hätte ein paar Fragen an diesen Arzt. Peter blickt leicht erstaunt auf Betty, die aber keine weitere Erklärung abgibt. Im Begriff nach oben zu steigen, hindert sie der Ruf Travens, wendet und folgt dem Wink des Oberstaatsanwaltes, der in der Tür zum Wintergarten steht. Drinnen sitzen zwei Herren am Tisch, die sich nun erheben, auf Betty zugehen, ihr die Hand reichen.

„Meine Herren, das ist Frau Sundberg und Frau Sundberg, das sind die Herren Lukas Seibold und Olaf Tönnes, beide vom BKA. Herr Seibold ist der leitende Ermittler in der Speditionssache, Herr Tönnes sein Kollege.“

Herr Seibold lächelt Betty freundlich zu, meint, sie habe gute Arbeit geleistet, genau wie im letzten Fall.

„Um es gleich vorab zu sagen, wie werden den Fall nicht übernehmen und uns auch nicht in die Ermittlungen einmischen, na ja, nicht ganz. Wenn Sie, Frau Sundberg einverstanden sind, würde ich Ihnen gerne Herrn Tönnes zur Seite stellen. Er wird mich über den Stand der Ermittlungen informieren. Ich denke vorerst wird es keine Überschneidungen der beiden Fälle geben. Nach Lage der Dinge, stimme ich ihrer Einschätzung zu, dass es sich hier um einen Racheakt handelt, dessen Hintergründe mit Sicherheit mit unserem Drogenfund im Zusammenhang steht. Ich werde morgen früh bei der Lagebesprechung dabei sein und Sie und Ihre Kollegen soweit ins Bild des aktuellen Ermittlungsstandes setzen. Und, das habe ich mit dem Herrn Oberstaatsanwalt abgestimmt, Sie, Frau Sundberg, werden diese Ermittlungen federführend leiten.“

„Hm, sind Sie sicher, dass dies eine gute Idee ist. Ich meine, unser neuer Chef wird sich übergangen fühlen, keine gute Basis für das Miteinander.“

„Machen Sie sich keine Sorge, Herr Griebel ist damit einverstanden. Haben Sie sonst noch Fragen?“

„Haben Sie gegen Herrn Weidtmann ermittelt?“

„Ja, wir konnten ihm nichts, aber auch gar nichts nachweisen. Wir haben seine Finanzgeschäfte überprüft, gut, da gab es einige Ungereimtheiten, aber nicht so, dass wir ihm daraus einen Strick hätten drehen können.“

„Dieses Haus, dieses Leben, lässt sich nicht aus einer Spedition finanzieren. Woher kam das Geld?“

„Herr Weidtmann war in erster Linie Unternehmensberater. Er war Geschäftsführer einer kleinen Unternehmensberatung, die sich darauf spezialisiert hatte, Firmen die insolvent waren oder kurz davor standen aufzukaufen, sie wieder flott zu machen und teuer zu verkaufen. Unsere Finanzexperten vermuten, dass die Verkäufe viel zu hoch angesetzt waren und so die Drogengelder in den Finanzkreislauf geschoben wurden.“

„Und die Käufer, stammten die zufällig aus Russland?“

 

Herr Seibold grinst vor sich hin: „Sie sind fix in ihren Kombinationen. Ja, zum Teil gab es Käufer, deren Firmenkonglomerat sehr verworren ist. Wir haben aber auch Rentenfonds, meist aus Amerika, die investierten. Wobei, das muss man der Truppe von Herrn Weidtmann lassen, sie haben alle Firmen, die sie übernommen haben, zu erfolgreichen Unternehmen umgewandelt. Wir haben Vermutungen, aber nicht den geringsten Beweis einer Manipulation.“

„Die Spedition war Drehscheibe, von der das Kokain an verschiedene Abnehmer verteilt wurde. Konnten Sie die Zwischenhändler ermitteln, womöglich dingfest machen? Sorry, wenn ich zu viel frage. Mich interessiert für den aktuellen Fall jede Quelle, die ein mögliches Motiv hat, die Familie Weidtmann zu eliminieren und, da wir diese Tat auch als Warnung an jemand anderes verstehen, könnte es vielleicht eine Spur sein, diese anderen zu finden.“

„Möglich, ja, da ist etwas dran. Zu Ihrer Frage. Wir vermuten sieben Abnehmer, von denen wir nur einen überführen konnten, beziehungsweise unser Drogenhund hat das erledigt. Das Kokain wurde nachts von Sprintern in der Spedition abgeholt. Unauffällig, halt normales Speditionsgeschäft. Wir konnten auf einigen Überwachungskameras die Kennzeichen der Sprinter ablesen. Nur, die waren allesamt gestohlen. Die haben an alles gedacht. Den, den wir hochgehen lassen konnten, war ein polizeibekannter Dealer in Frankfurt, der sein Warenlager nicht sorgfältig genug gereinigt hatte. Größere Mengen Kokain konnten wir nicht finden. Gut, ich würde sagen, ich lasse Sie jetzt Ihre Arbeit machen. Falls Sie noch Fragen haben oder Ihnen im Laufe der weiteren Ermittlung einfallen, können Sie mich dann morgen Früh ansprechen. Herr Tönnes darf Sie begleiten?“

„Ja, kein Problem.“

Olaf Tönnes dürfte in Bettys Alter sein, schlank, durchtrainiert, wirkt freundlich, seinem Gesicht liegt ein Lächeln inne. Trägt kurzes, dunkelblondes Haar, einen drei- oder vielleicht Viertagebart, steckt in Jeans, einem in Blautönen kariertem Hemd, das über der Hose hängt, und einer Baumwolljacke. Gut einen Kopf kleiner als Betty, die Herrn Tönnes anschaut, dann mal los sagt, und den Weg nach oben einschlägt.

Ihr Handy vibriert, kurzer Blick auf das Display, hm, Großmutter, hat sie sich schon gedacht, nimmt an, teilt ihr mit, sie sei mitten in der Ermittlung und rufe sie später zurück. Vor dem Sicherheitsraum bleibt sie stehen, bittet Herrn Stupi heraus, stellt sich und Herrn Tönnes vor. Befragung im Stehen.

„Gibt es schon eine Erkenntnis, wie der Täter es geschafft hat, die Anlage außer Gefecht zu setzen?“

„Es ist mir ein Rätsel. Fakt ist, die Anlage wurde komplett lahmgelegt. Von außen eigentlich unmöglich, bleibt, der Täter, der ja sicher auf den Aufnahmen zu sehen war, hat die Festplatte des Rechners hier im Raum gelöscht. Was voraussetzt, dass er sich mit Computern auskennt, ein Spezialist gewesen sein muss.“

„Was heißt eigentlich unmöglich?“

„Nun, der Rechner hat nur die Funktion die Kameras zu steuern, zu überwachen und bei Alarm zu reagieren. Das heißt, es gibt keinen Internetzugang, keinen eMail-Verkehr, also kein Einfallstor für Spyware, Viren, Würmer, Trojaner und andere bösartige Software. Die Schwachstelle ist der Rechner, den Herr Weidtmann in seinem Büro hat. Der hat Internetzugang und ein Netzwerkanschluss, mit der er sich in den Rechner hier oben einloggen kann.“

„Heißt, wir haben zwei Möglichkeiten. Die erste, der Täter hat die Festplatte hier im Raum geleert, was die Frage aufwirft, wie ist er unbemerkt in das Haus gekommen? Die zweite Möglichkeit, ein Angriff von außen, der die Anlage ausgeschaltet hat. In beiden Fällen muss der Täter ein Spezialist gewesen sein. Sie beschäftigen einige Spezialisten…“

„Nein, nein, das können Sie ausschließen. Ich lege für jeden meiner Mitarbeiter die Hand ins Feuer. Die meisten Mitarbeiter sind von Anfang an in der Firma, sehr zuverlässig. Ich habe großes Vertrauen zu meinen Mitarbeitern, die…

„…Herr Stupi, wir dürfen nichts ausschließen. Wir müssen alles in Betracht ziehen, dazu brauchen wir die Namen aller Mitarbeiter, die solche Anlagen programmieren oder installieren. Mit jedem dieser Mitarbeiter müssen wir reden. Auch ehemalige Mitarbeiter.“

„Ehemalige? Nun, da gibt es nur einen Mitarbeiter, der hat uns vor gut einem Jahr verlassen, ist nach Neuseeland ausgewandert.“

„Wann wurde die Anlage hier installiert?“

 

Herr Stupi blickt betreten drein, denkt nach, aber nicht über Bettys Frage.

„Sagen Sie, Sie könnten meine Firma in arge Bedrängnis bringen, wenn publik wird, dass eine unserer Anlage tragisch versagt hat. Vielleicht könnten Sie, die Ermittlungen diskret führen? Ginge das?“

„Ich kann Ihnen nichts versprechen, außer, dass wir versuchen werden, ihre Firma aus den Schlagzeilen zu halten. Nur, Sie hätten nicht mit Ihrem Firmenwagen hier vorfahren sollen. Da draußen die Reporter zählen gerne eins und eins zusammen. Aber meine Frage war, wann wurde die Anlage installiert?“

„Das ist zwei Jahre her.“

„Hat Herr Weidtmann einen Grund angegeben, warum er sich so umfangreich absichern wollte?“

„Nein. Ich kann mich nur daran erinnern, dass er genau wusste, was er wie haben wollte. Wissen Sie, es ist üblich, dass unsere Kunden kommen und von uns ein Konzept für ihr zu Hause wünschen. Nicht so Herr Weidtmann, er hatte sein Konzept mitgebracht.“

„Sie haben sich auch nicht gefragt, was den Mann bewegt hat, sein Haus zu einem Hochsicherheitstrakt zu wandeln?“

„Doch, ich habe mich das schon gefragt, also, wovor ein Mensch solche Angst hatte, und die scheint er gehabt zu haben.“

„Wie kommen Sie darauf, dass er Angst gehabt hatte?“

„Ein Gefühl, nur so ein Gefühl. Wissen Sie, wenn ich mit Kunden spreche, weiß ich relativ schnell, was diesen bewegt, sich besser abzusichern. Die meisten haben Angst vor einem Einbruch, dementsprechend die Anforderungen an uns. Aber Herr Weidtmann schoss da weit über das Ziel und wenn auf einem Menschen ein Angstdruck liegt, dann spüre ich das, deshalb habe ich auch nicht lange gefragt und alle Wünsche von Herrn Weidtmann berücksichtigt.“

Betty wendet sich an den Kollegen vom BKA: „Herr Tönnes, wie weit zurück gingen ihre Ermittlungen im Fall Weidtmann? Lässt sich feststellen, ob ein Anlass vor etwa zwei Jahren, Grund für Herrn Weidtmanns Sicherheitsbedürfnis war?“

Der Angesprochene denkt kurz nach, müsse er sich durch die Akten wühlen, auf Anhieb könne er nichts dazu sagen. Lusi steht herum, schaut auf Betty, sucht deren Aufmerksamkeit, was Betty bemerkt, und Lusi fragt, was sei. Nun, sie seien soweit fertig im Haus, gut, meint Betty, sie könne Feierabend machen. Was es auszutauschen gäbe, würden sie morgen früh bei der Besprechung tun.

Wieder an den Geschäftsführer gewendet: „Und sind sie zu einem Ergebnis gekommen?“

„Äh, nein. Herr Weidtmann war diesbezüglich zugeknöpft und mir selbst fiel keine plausible Antwort ein.“

„Damit ich den ganzen Aufwand verstehe, was haben Sie hier konkret installiert?“

Elf Kameras überwachen das Gelände, sagt Herr Stupi, was Betty erstaunt, vier an den Eckpunkten des Geländes, vier an den Eckpunkten des Hauses, eine in der Hoftür, eine auf dem Hoftor, eine auf dem Pfosten des großen Tores. Die Monitore zeigen die Kameras auf den Hausecken sowie am Tor und Torpfosten. Die Kameras am Haus sind mit Bewegungssensoren ausgestattet, die jede Bewegung im Gelände wahrnehmen, wenn diese Bewegung größer als ein Hund ist. Ist dies der Fall, werde ein Alarm ausgelöst, alle Zugänge zum Haus von innen zusätzlich verriegelt und die Zwingertüren öffnen sich, damit die drei Hunde einen möglichen Eindringling stellen können…“

„…Größer als ein Hund? Das heißt, ein Mensch könnte auf das Haus zukriechend den Alarm unterlaufen? Diese Höhe ist kundenspezifisch, nehme ich an.“

„Ja, die Einstellung erfolgt nach Kundenwunsch. In einem Garten gibt es immer Tiere. Das sind Quellen für Fehlalarm, also müssen wir eine gewisse Höhe festlegen. Herr Weidtmann wollte über das übliche Maß hinaus, wegen der Hunde. Die ließ er grundsätzlich nachts frei über das Gelände laufen. Das mussten wir berücksichtigen.“

„Hätte ein Mensch das Haus kriechend erreichen können?“

„Unwahrscheinlich. Die Hunde hätten ihn entdeckt oder die Kameras, allerdings ohne Alarm zu schlagen.“

„Sie wissen, worauf ich hinauswill? Jemand der kriechend das Haus erreicht, kann es nur erreichen, wenn er Insider-Wissen hat, womit wir wieder bei Ihren Mitarbeitern sind. Oder könnte Ihre Konkurrenz über das Wissen verfügen?“

„Möglich, die Konkurrenz muss nach gleichen Prinzipien ihre Anlagen einbauen und ausrichten wie wir.“

Betty grübelt, was sie mit dieser Information anfangen soll. Auf jeden Fall müsste die Spusi ran, den Rasen untersuchen, ob es Spuren gibt, die den Verdacht eines kriechenden Täters untermauern oder ausschließen. Und die Konkurrenz? Das führt ins Uferlose, abwarten, was die Spusi herausfindet. Wie die weiteren Teile der Sicherheit aussehen, erfragt Betty.

Auf allen Fenstern des Hauses seien Folien mit Sensordrähten aufgetragen, die bei der kleinsten Berührung Alarm geben. Der Raum hier sei durch die Verstärkung der Tür zu einem Panikraum geworden, drinnen ein permanent angeschlossenes Handy, um sofort Hilfe rufen zu können. Der Zugang auf das Gelände, wie schon gesagt, ist durch die Türcodes gesichert und dieser wiederum vor Missbrauch abgesichert. Alles in allem ein gesichertes Anwesen. Das es trotzdem zu dieser Tat gekommen sei, bleibe ihm unerklärlich.

 

Gut, meint Betty, das Vordringlichste sei nun mit den beiden Mitarbeitern zu reden, die die Anlage eingebaut haben. Von den anderen Mitarbeitern, die mit Programmierung, Entwicklung und Installation zu tun hatten, erbittet sie eine Namensliste mit Funktion im Unternehmen, Dauer der Unternehmenszugehörigkeit, umgesetzte Projekte und Terminen, wann sie mit den Mitarbeitern reden können.

Kurze Frage an den neuen Kollegen, ob er eventuell Fragen an den Herrn Stupi hat, nein, meint dieser, er sei noch zu weit von dem Fall entfernt, um gezielt Fragen stellen zu können.

Die meisten Kollegen bereits aus dem Haus, die beiden Leichen in die Gerichtsmedizin überführt, lediglich im Panikraum sitzen noch die Spezialisten, die was machen? Der Techniker versuche, Teile der Festplatte wiederherzustellen.

„Das geht?“

„Schwer, sehr schwer. Ein Versuch ist es wert. Hier wurden nicht einfach Dateien in den Papierkorb geschoben, sondern richtiggehend verbrannt. Möglich hat der Täter Secure Eraser genutzt oder irgendeine andere Software, um sicher zu gehen, dass alle Dateien definitiv von der Festplatte verschwinden.“

So langsam macht sich Erschöpfung in Betty breit, war ein langer aufregender Tag. Hier gibt es nichts mehr, was dringend gefragt oder besprochen werden muss. Herrn Tönnes fragt sie, ob er motorisiert sei, sei er nicht, ob er eine Unterkunft habe, ja im Hotel Lindenhof. Bevor sie geht, vergewissert sich Betty, dass die Computer der Familie Weidtmann mitgenommen wurden. Waren es, allerdings nicht, wie sich herausstellte, in die Kriminaltechnik überführt worden, sondern zum BKA nach Hamburg, ebenso wie die Geschäftsordner aus dem Büro des Herrn Weidtmann.

„Finde ich nicht lustig. Dafür, dass Sie nur zuschauen wollten, ist das ein massiver Eingriff. Möglich, dass uns die Auswertung auf eine Spur hätte bringen können.“

„Tut mir leid Frau Sundberg, aber dafür kann ich nichts, das hat Herr Seibold angeordnet.“

Unten steht Peter, er hat an der Pinwand in Steffanis Zimmer die Visitenkarte eines Arztes gefunden, möglich, dass sie diesen kontaktiert habe, also wird Betty morgen früh gleiches tun, oder Lusi schicken. Betty steckt die Visitenkarte ein.

„Prima. Schluss für heute. Kannst du mich nach Hause fahren und den Herrn Tönnes in den Lindenhof?“

Klar, nur musst du mir verraten, wo ich den Lindenhof finde.“

„Keine Ahnung. Du hast doch ein Navi.“

„Stimmt auch wieder.“

 

Es ist bereits dunkel als Betty in ihrer Wohnung eintrifft, die Schuhe auszieht, barfuß in die Küche geht, überlegt, was sie sich zubereiten soll, denn das ist dringend nötig, Auberginenpfanne, genau, geht schnell. Was sie dazu braucht, hat sie alles im Haus, doch zuerst Oma anrufen. Ihre Großmutter ist schon im Bilde, hatte von der ermordeten Familie im Fernsehen erfahren, ist entsprechend besorgt um ihre Enkeltochter, aber vor allem erschüttert, über das, was dieser Familie geschehen ist. Sie vermute, dass die Mafia hinter allem stecke, sie müsse sehr, sehr vorsichtig sein, rät sie Betty. Diese versucht ihre Großmutter zu beruhigen, also von Mafia sei keine Spur, leider auch von einem Täter nicht. Es werde eine schwierige Ermittlung werden, die sie sehr beanspruchen wird, vorerst könne sie nicht nach Hamburg kommen und nicht immer das Handy gleich ans Ohr halten. Verstehe sie, verstehe sie, aber sie solle vorsichtig sein, es sei ein sehr böser Mensch, dieser Mörder.

Nein, für Haus und Oma hat Betty jetzt keinen Kopf. Mafia? Vielleicht Russen-Mafia, ja, könnte sein, sieht irgendwie danach aus und damit auch nach einem weiteren ungelösten Fall. Wie die einbrechenden Georgier werden auch die oder der Killer in den Tiefen des Ostens abtauchen, in Gesellschaften, die ein anderes Rechtsverständnis, ein anderes Wertesystem als der Westen haben, Netzwerke des Bösen gestrickt haben.

Aus dem Kühlfach entnimmt sie eine Portion Hackfleisch, beginnt eine Zwiebel zu schälen, die Aubergine in Würfel zu schneiden, gibt Margarine in eine kleine Pfanne, das Hackfleisch und die Zwiebeln ebenfalls, noch schnell zwei Knoblauchzehen klein schneiden und beimischen, mit Salz und Pfeffer, etwas Kreuzkümmel und edelsüßem Paprikapulver und einem Esslöffel Austern-Sauce würzen, die Auberginen hinzu und die Kichererbsen aus der Dose der Masse hinzufügen, alles umrühren, mit Gemüse-Fond abrunden, kurz köcheln lassen, fertig das Abendmahl. Betty, die Köchin, die Siegerin über die Mikrowelle.

Das Vorbereiten und das Kochen erfordert Bettys Aufmerksamkeit, nur kurz hat sie den Fall verdrängt, der nun, als sie vor ihrem Teller sitzt, sich mit der Gabel Bissen für Bissen zuführt, wieder auf sie eindrängt. Das Rätsel, wie der oder die Täter in das Haus eindringen konnten schwirrt durch ihren Kopf und eine weitere Frage, die sie nicht versteht. Die Tötungsart lässt einen Profikiller vermuten, das Eindringen in das schwer bewachte Haus und das Löschen der Computer-Festplatte auf einen IT-Spezialisten. Killer und IT-Spezialist, das passt nicht zusammen. Und, das will auch nicht zusammenpassen, wieso lässt der Killer seine Visitenkarte in Form der Kugeln zurück, die er hätte einfach einsammeln können? Will der Typ uns verwirren, uns auf eine falsche Spur setzen?

Sie klappt, nachdem sie das Essgeschirr beiseite geräumt hat, spülen wird sie morgen, ihren Laptop auf und googelt, was sie über Profikiller finden kann. Egal, was sie liest, kein Zusammenhang zum IT-Spezialisten zu finden. Statt Killer gibt sie Agent ein, reine Intuition, aber auch hier nur in der Fiktion der Bond-Welt oder der Mission-Unmöglich-Filmreihe zu finden. Waren es doch zwei Täter, einer fürs Töten, einer für die IT? Stepraths Kurzbericht gibt keinen Hinweis darauf, dass zwei Personen in das Haus eingedrungen sind. Gut, muss sie morgen früh nachhaken.

 

Noch kurz mit Vera sprechen? Sie muss an Mareike und Steffani denken, diese ungleichen besten Freundinnen. Eine Freundschaft, lange gereift, die mit Vera noch jung, könnte aber reifen und zum Reifeprozess gehört Pflege. Auch wenn sie müde ist, den Kopf voller Gedanken hat, so viel Zeit muss sein, wählt Vera an, die nach wenigen Augenblicken annimmt, Betty direkt begrüßt. Auch sie hat in den Nachrichten von dem Verbrechen vernommen, weiß aber nicht, wie Betty damit zusammenhängt, wähnt sie noch in Hamburg. Betty klärt sie auf, erläutert kurz das Geschehen.

„Hm, ich höre so etwas wie Resignation bei dir heraus. Kann das sein?“

„Wie kommst du darauf? Na ja, ehrlich, so ein wenig Frust habe ich schon in mir. Ich befürchte, dass wir die Täter nicht zur Rechenschaft ziehen werden. Die haben sich längst irgendwo in den Osten verdrückt, wo sie für uns unerreichbar sind. Und selbst wenn wir sie zu fassen bekommen, keine Strafe kann so hart sein, dieses Verbrechen zu sühnen.“

„Ja, eine unfassbar grausame Tat. Eine ganze Familie ausgelöscht. Und warum?“

„Da herrscht noch tiefe Finsternis.“

„Aber die Einführung der Todesstrafe forderst du nicht? Du weißt, in unserem Unrechtstaat gab es die Todesstrafe, fast bis zum Schluss. Ich weiß nicht wie viele, aber einige Todesurteile wurden verhängt und umgesetzt, etliche davon waren politisch motiviert. Nicht im Sinne des Erfinders könnte ich sagen, aber im Fall unseres Unrechtsstaates schon. Und, bevor du fragst, ich habe nicht vernommen, wonach irgendwelche dieser systemtreuen Richter nach der Wende gerichtlich belangt wurden. Da herrschte weiter das Schweigen, jetzt aber westliches Schweigen. Wie du sicher weißt, sind alle diese Vorgänge Verschlusssache gewesen und anscheinend auch geblieben. Ein Ruhe- und Ordnungsstaat, so ruhig, dass viele mit dem Lärm von heute nicht mehr klarkommen. Die richtigen Verbrechen geschahen erst nach der Wende. Gibt es denn eine gerechte Strafe in so einem Fall?“

„Keine Ahnung, was gerecht wäre. Ich weiß nur, was wir vorfinden, Tod, Leid der Angehörigen, Lügen von Verdächtigen, Profilierungsversuche unserer Oberen, stundenlanges Arbeiten, endlose Besprechungen, Anwälte, die auch vor Lügen nicht zurückschrecken, um ihre Mandanten herauszuhauen, Richter, die zu milde urteilen, nur die Fakten sehen, nicht die Zerstörungen dahinter und drumherum. Der Sohn der Familie hat seine Eltern und seine Schwester verloren. Wie geht sein Leben damit um? Das ist ein Schmerz, den du nie mehr loswirst. Wie kann da Gerechtigkeit aussehen? Ich weiß es nicht Vera. Aber was ich weiß, ist, all das habe ich bald hinter mir und bin mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob ich die Richtige bin, junge Menschen dafür auszubilden, das Rückgrat unserer staatlichen Ordnung zu werden.“

„Du zweifelst zu viel. Wir brauchen Menschen mit deinem Engagement, wo kämen wir sonst hin? In die Anarchie?“

„Meinst du?“

„Meine ich.“

 

Nein, Bettys Stimmung ist in der Tat nicht die beste, wahrscheinlich die noch ungewohnte Anspannung dieses Tages spürend. Eben noch die Leichtigkeit der gemeinsamen Abende an der See, nun mit den Abgründen menschlicher Verwerflichkeit ringend. Nun, dies ist aber ihre derzeitige Realität.

„Sag mal, hattest du schon einmal solche Kopfschmerzen, dass dir die Tränen gekommen sind?“

„Wieso fragst du das?“

Betty erklärt ihr die Hintergründe ihrer Frage.

„Für ein junges Mädchen zwar ungewöhnlich. Stimmt. Aber andererseits, so ein Schmerz wird in jungen Jahren anders empfunden als im gesetzten, schmerzerfahrenen Alter…Nun ja, also, ich hatte mitunter heftiges Pochen im Kopf, die Schmerzen zogen wie Stromschläge durch den Kopf, dann bist du so machtlos, so ohnmächtig, ja, in solchen Situationen musste ich auch weinen. Aber, was hat das mit dem Fall zu tun?“

„Keine Ahnung, wahrscheinlich nichts. Mitunter habe ich so ein Gefühl, keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll, ist halt da und hängt sich in meinem Kopf fest, von dort will es nicht weichen. Es beschäftigt mich.“

„Das ist Spürsinn Betty. Hunde schnüffeln dann so lange bis sie gefunden haben, was ihnen in die Nase schlüpfte.“

„Möglich, du meinst, ich sollte weiter schnüffeln. Vielleicht finden, von dem ich nicht weiß, was?“

„So oder so ähnlich…Du warst demnach nicht in Hamburg?“

„Doch, doch, halt nur kurz.“

 

So wechseln sie das Thema und Betty berichtet über ihre zwei Tage in Hamburg, was sie sich mit dem Haus eingehandelt hat, was Vera ihr bestätigen konnte, schließlich habe auch sie vieles renovieren müssen, sie solle eines nach dem anderen angehen und nichts überstürzen.

„Wann glaubst du hast du Luft, um ein Wochenende hier zu verbringen?“

„Schwer zu sagen, so kurz nach der Tat ist viel Ermittlungsarbeit zu leisten und in dem Fall haben wir nicht nur den öffentlichen Druck hinter uns. Wir müssen Ergebnisse liefern und das heißt Stunden schieben. Aber, es wird auch wieder ruhiger werden.“

„Gut, ich hoffe, dass dies bald der Fall ist. Pass auf dich auf.“

Eigentlich will sie weiter in den Hundejahren lesen, weiß aber, dass ihr der Kopf nicht danach steht. Sie würde zwar die Worte erfassen, nicht aber den Inhalt, der von den Gedanken an den Fall verdrängt werden würde. Und ihre bisherige Grass-Leseerfahrung ist, Grass braucht für sein Verstehen einen klaren Kopf. So nimmt sie den Laptop auf, googelt Kopfschmerzen, Migräne, stößt aber auf nichts, was ihr hätte weiterhelfen können, außer den Tabletten, die ihr das Werbetracking empfehlen. Woher auch immer, ihr kommt plötzlich ein Gedanke, Auslesen von Kredit- oder Girokarten, wie heißt das noch? Skimming. Genau. Gibt Skimming in die Suchzeile, öffnet einen Beitrag der Sparkassen und liest. Ja, könnte der oder die Täter über Skimming den Code des Tores und der Haustür ausgespäht haben? Von dem, was sie liest, ja, war das möglich und selbst wenn nicht, denkt Betty, wenn ein Täter das Haus beobachtet hat, hätte er den Code mit einem Feldstecher mitlesen können, wenn Steffani nach der Schule nach Hause kam? Sie war bestimmt nicht, wie ihr Vater, von großer Vorsicht. Hm, auch das möglich, das muss sie morgen früh gleich überprüfen lassen. Ist das die Antwort, auf die Frage, wie der oder die Täter in das Haus gelangen konnten? So einfach?

 

Schwer, Schlaf zu finden, der Gedanken noch zu viele. Unruhig die Nacht, noch dazu gezwungen, mehrmals die Toilette aufzusuchen, muss der Wecker seinen Dienst tun, sonst hätte Betty, die erst sehr spät in den Schlaf fand, verschlafen. Längeres lauwarmes Duschen, langsam zu sich kommend, frühstückt Betty, nimmt ihre Pillen ein, prüft ihren Zuckerwert, zu hoch, der Blutdruck, zu hoch. Sie muss sich bremsen, vor allem nicht alles selbst machen. Die anstehenden Aufgaben gilt es gut zu verteilen, den Chef bitten, zusätzliche Kräfte anzufordern, die Kollegen aus Bad Schwartau wieder einbinden.

Vor ihrem Kleiderschrank stehend, überlegt sie, in welche Klamotten, die ihr mittlerweile, bis auf die neugekauften Teile, allesamt missfallen, sie schlüpfen soll, entscheidet sich für die üblichen Leggings, ein langes T-Shirt, einen ihrer langen Pullover darüber, baumelt an ihr, wechseln? Nein, muss so gehen, muss schnellstmöglich Ersatz anschaffen. Die leichte Übergangsjacke überwerfend zieht sie los, geht vor zur Bushaltestelle, wartet, nimmt den Bus, fährt bis kurz vor das Präsidium und betritt es nach kurzem Fußmarsch. Unterwegs den Tag und die anstehenden Aufgaben planend, Worte suchend, Zusammenhänge finden, um die Kolleginnen und Kollegen nachher auf den Stand der Dinge zu bringen.

Peter ist bereits im Büro, ebenso, was Betty überrascht, der neue Chef, hinter verschlossener Tür, gut, ist halt nicht Hembach. Kurze Begrüßung von Peter, ob er gut geschlafen habe, unwirsches Grinsen seinerseits. Gut, weiß sie Bescheid. Sie legt ihre Tasche auf ihrem Arbeitsplatz ab, schaut auf das Büro des Chefs, überlegt kurz zu ihm hineinzugehen, viel Gelegenheit, sich vorzustellen hatte sie ja noch nicht, also was soll es, schwingt ihre Schritte auf das Büro zu, klopft an, wartet nicht auf das „Ja!“ oder „Herein!“, drückt den Türgriff nach unten und betritt das Büro.

„Moin, Chef, wir hatten leider noch nicht das Vergnügen uns einander vorzustellen. Wir haben noch ein paar Minuten. Wollen wir die entsprechend nutzen?“

Verdutzt dreinblickend, überrumpelt, weil unerwartet, lehnt sich der neue Chef zurück.

„Bitte. Ich habe Ihre Personalakte studiert, also viel vorstellen ist da nicht mehr. Sie haben gute Arbeit geleistet und scheinen auch den neuen Fall, trotz Handicap, im Griff zu haben. Für meinen Auftritt gestern, entschuldige ich mich ausdrücklich. Ich habe vergessen, dass sie hier im Haus ein eingespieltes Team sind. In dieses Team muss ich mich erst einfinden. Nennen Sie mich aber bitte nicht weiter Chef. Ich bin Ulf, du Ulf oder Sie Ulf, sei Ihnen überlassen. Wie Sie sicher wissen, komme ich aus einer Behörde, habe aber genügend Erfahrung im Außendienst, nicht dass Sie denken, ich sei ein Sesselfurzer. Das der Oberstaatsanwalt und das BKA Ihnen vertrauen, veranlasst auch mich, Ihnen zu vertrauen. Ich werde mich zurückhalten, bitte Sie aber, mich in Ihre Gedanken und Ermittlungen einzubeziehen, informieren Sie mich und wenn Sie mich brauchen, nur zu. Dann freue ich mich auf eine erquickliche Zusammenarbeit.“

„Ja, ich mich auch. Apropos Zusammenarbeit, bei unserem letzten Fall hatten wir Unterstützung durch Kollegen aus Bad Schwartau. Können wir diese Kollegen erneut anfordern? Ich fürchte, unsere Personaldecke ist für die Ermittlung in diesem Fall zu dünn. Sollten wir eine Soko einsetzen?“

„Hm, zum ersten Oktober erwarte ich zwei neue Kollegen. Meinen Sie, bis dahin mit dem, was wir hier haben, zurechtzukommen? Und die Soko vergessen Sie. Kein Massenauflauf, dafür ist die Hütte hier zu klein.“

„Das ist noch eine Woche, schnelle Hilfe wäre mir lieber.“

„Dann gut, nennen Sie mir die Namen der Kollegen aus Schwartau, ich kümmere mich darum.“

 

Na ja, das Zusammentreffen war deutlich entspannter als gestern, aber zu sagen hatte das wahrscheinlich nicht viel. Betty betritt den Besprechungsraum bereitet alles für ihre Erläuterungen zum Fall vor, schreibt Metaplan-Kärtchen, schiebt eine Pin-Wand nach vorne, stellt den Beamer an, für den Fall, dass jemand von seinem Laptop aus präsentiert.

Die ersten Kollegen treffen ein, bewaffnet mit einem Pott Kaffee, ja, wäre nicht schlecht, denkt Betty und geht vor in die kleine Küche, doch von Kaffee nur noch der Geruch vorhanden, nimmt sich stattdessen ein Glas, dreht den Wasserhahn auf und lässt es volllaufen. Sie sieht den Oberstaatsanwalt im Anmarsch mit den beiden BKA-Beamten, also kann es losgehen. Kurze Begrüßung durch den Oberstaatsanwalt, der sogleich an Betty übergibt. Kurzes Atemholen, dann beginnt Betty, bittet zunächst Steprath zu berichten, was die KTU bisher herausfinden konnte.

Alle drei Toten seien aus kurzer Distanz erschossen worden, noch keinen Meter Entfernung, was sich aus dem Schusskanal schließen lasse. Der Täter habe einen Schalldämpfer benutzt, erkennbar dadurch, dass die beiden Eheleute schlafend gestorben sind. Ein Schuss hätte wenigstens eines der beiden Opfer oder die Tochter aufschrecken müssen, aber die Eheleute hatten vollkommen entspannt in ihren Betten gelegen. Die Tochter entsprechend auch, was allerdings nur eine Vermutung sei, aus bekanntem Grund.

Könne er bereits zur Tatwaffe etwas sagen. Könne er, aber solle Fredlin machen. Dieser, der Ballistiker der KTU, stöpselt seinen Laptop an den Beamer an. Das Bild einer überdimensionierten Kugel erscheint an der Wand.

„Ein ziemlich eindeutiges Bild. Die Kugeln 9 x 18mm wurden aus einer Makarow abgegeben. Wie allgemein bekannt, ein russisches Fabrikat.“

Geraune im Raum, kurzer Austausch untereinander, da jedem sofort klar geworden ist, was dies bedeutet.

„Vorsicht Leute,“ wendet Betty ein, “Herr Seibold, Sie haben sicher mehr Erfahrung mit Killern als wir, ist es üblich, dass ein Killer die Hinterlassenschaft seines Arbeitsgerätes einfach zurücklässt, obwohl er sie bequem aufsammeln, mitnehmen und uns damit die Aufklärungsarbeit hätte deutlich schwerer machen können?“

„Ich würde sagen, ja, es ist sehr seltsam, nicht üblich. Aber gehen Sie davon aus, dass dieser Killer, so selbstsicher aufgetreten ist, sicher auch im Bewusstsein, dass er nach der Tat an einem sicheren Ort unbehelligt sein Leben leben könne. Ihm war es egal, ob wir die Kugeln finden oder nicht, die Tatwaffe identifizieren oder nicht. Er wusste genau, dass wir keinen Zugriff auf ihn haben werden.“

Nicht grade ermutigend, was Seibold von sich gab, kommt aber der Wahrheit sehr nahe.

„Nein, das hört sich nicht gut an. Über die Konsequenz aus der Erkenntnis reden wir gleich. Zunächst noch eine andere Frage, Hein, ist es möglich, dass die Opfer im Nachhinein so arrangiert wurden. Der Täter hatte immerhin einige Stunden Zeit den Tatort zu manipulieren.“

Nein, dafür gäbe es keine Anzeichen. Wer zuerst hatte sterben müssen, lasse sich nicht klären, die Tötungen hätten kurz hintereinander stattgefunden. Der Todeszeitpunkt liege zwischen 01:00 Uhr und 04:00 Uhr. Genaueres kommt von der Gerichtsmedizin. Ob es sich um einen oder zwei Täter handelt, sei nicht festzustellen gewesen, er vermute aber, dass es ein einzelner Täter war, der unter einer Sturmmaske, vielleicht sogar in einem Einwegoverall steckte und in Handschuhen. Sie hätten nicht die geringsten Partikel gefunden. Betty wendet sich an Seibold.

 

„Wenn es ein Einzeltäter war, wie wahrscheinlich ist es, dass dieser ein Profikiller und ein IT-Spezialist ist. Haben Sie da einen Erfahrungswert?“

„Hm, Sie vermuten zwei Täter? Ja, das halte ich für wahrscheinlicher, denn, das sehe ich wie Sie, diese Doppelung kommt selten vor, es sei denn, wir bewegen uns im Agentenmilieu. Aber das ist dann Cinema. Nein, ich denke, es waren zwei Täter.“

Einen kurzen Augenblick hat Betty ein Zögern oder eine Art Klick bei Seibold bemerkt, will aber jetzt nicht nachhaken, bittet stattdessen Steprath fortzufahren.

Die Tochter sei wie die Eltern durch einen Kopfschuss aus kurzer Distanz getötet worden. Da es keine Schleifspuren gab und bei dem Gewicht der jungen Frau, dürfe der Täter sie in das Badezimmer getragen haben. Auf dem Flur haben sich keinerlei Blutspuren finden lassen, wahrscheinlich hat der Täter ihr eine Tüte über den Kopf gezogen, dergleichen konnten wir aber nicht finden. Blutspuren hätten sie nur auf einem Beistelltisch gefunden, der sich im Zimmer des Sohnes befand. Er legte die Leiche des Mädchens auf diesem Tisch ab und trennte ihr den Kopf ab und das so, dass alles Blut direkt in die Badewanne lief. Nichts Spontanes, das war genauso geplant.

Der Oberstaatsanwalt schaltet sich ein: „Herr Steprath, dieser Tisch, den musste der Täter beiholen…“

„…ja, ich denke, er hat diesen Tisch aus dem Zimmer des Jungen genommen, weil er leer war, die anderen Tische in den oberen Räumen hätte er erst leerräumen müssen.“

Die Bekleidung der Leiche sei ohne einen Spritzer Blut, was bedeute, der Täter hat sein Opfer frisch eingekleidet, ob sie hierzu eine Erklärung hätten, will Betty von Steprath wissen.

„An den Kragenränder des Sweatshirts fand sich Blut in geringem Maße. Ja, er hat die junge Frau frisch eingekleidet. Einen Schlafanzug oder ähnliches, wahrscheinlich blutgetränkt, haben wir nicht gefunden.“

„Und keinerlei Spuren auf sexuellen Missbrauch.“

„Nein, die junge Frau war noch Jungfrau.“

Erneutes, nun überrascht klingendes Geraune, hin und her wandernde, fragende oder ungläubige Blicke, gespannt auf eine Erklärung wartend, die nicht kommt.

„Welche Hinweise gibt es auf die Waffe, mit der ihr der Kopf abgetrennt wurde?“

Bevor Steprath antwortet, kratzt er sich am Hinterkopf, heißt, schwierig zu beantwortende Frage.

„Ein scharfes Schwert, vermute ich, irgend so ein Japanding. Jedenfalls kein Elektromesser, Säge oder Axt, aber auch dazu befrage besser Professor Keeser. Der Schnitt ist glatt, ein Hieb, denke ich. Wie du weißt, von der Waffe keine Spur.“

„Warum lässt er die Patronen zurück, die Enthauptungswaffe nimmt er aber mit. Warum entsorgt er die blutige Bekleidung der Tochter und reinigt alles gründlich? Das passt doch alles nicht zusammen.“

 

Sie lässt ihre Augen über die Runde kreisen, sieht ratlose Gesichter. Peter hebt die Hand, merkt an, dass der Täter vielleicht aus Vorsicht gehandelt habe, nicht den geringsten Tropfen DNA zu hinterlassen. Das er Russe ist, mit einer Makarow getötet hat, ist ihm egal, aber nicht, dass seine Identität enthüllt werden kann. Dies hätte ihm den Weg nach Deutschland versperrt. Möglich, dass weitere Aufträge für ihn anstehen. Wäre eine Erklärung, sagt Betty und dankt Peter.

Der Oberstaatsanwalt schaltet sich ein, fragt Betty, was der Täter mit dem abgetrennten Kopf ihnen sagen will.

„Zu früh für eine Antwort. Meines Erachtens passt da einiges nicht zusammen. Aber wenn Sie befürchten, die Tat habe einen politischen Hintergrund, heißt einen islamistischen Hintergrund, nein, da kann ich Sie beruhigen, das schließe ich vollkommen aus. Islamisten benutzen keine Samuraischwerter.“

Unischeres Geraune, ein paar grinsende Gesichter. Sie habe nicht scherzen wollen, da hätten ein paar Kollegen ihre Antwort falsch ausgelegt. Kurzer Blick in die Runde, keine weiteren Fragen, also weiter. Betty hat noch keine ihrer Karten an die Pinwand geheftet. Sie blickt kurz auf die paar Karten, entscheidet, sie vorerst noch liegen zu lassen. Im Raum liegt eine gewisse Spannung, es wird Kaffee geschlürft, Notizen aufgetragen, ansonsten scheinen die Anwesenden gedanklich unterwegs zu sein, in der Wirrnis dieses Falles.

„Konntet ihr die Handys der Familie auslesen?“

„Handys? Nein, im ganzen Haus war kein einziges Handy zu finden.“

„Keine Handys? Was hat das nun wieder zu bedeuten? Wozu nimmt unser Mörder die Handys der Familie mit. Sandra, das ist eine Frage, der ich dich bitte nachzugehen.“

Betty blickt auf die beiden BKA-Beamten, Seibold zuckt mit den Schultern.

„Nein, wenn Sie glauben, wir hätten sie. Der Täter muss sie mitgenommen haben.“

„Hm, wie steht es mit Verbindungsnachweisen?“

„Sind wir dran,“ erklärt Steprath, „ohne die Handys nicht einfach und ohne die privaten Ordner, in denen vermutlich die Handyverträge zu finden sind, noch ein Stück schwerer.“

Viele Kollegen nehmen die Anspielung zum Anlass, auf die Herren des BKA zu schauen.

„Lasse ich gleich prüfen,“ entgegnet Seibold.

Betty fasst kurz zusammen und hält fest, der Tat müsse ein gut vorbereiteter Plan zugrunde gelegen haben. Sie bittet Steprath nochmals mit der KTU vor Ort zu suchen. Im und außerhalb des Hauses, erklärt, warum die KTU um das Haus herum nach Kriechspuren suchen solle. Im Haus gehe es darum, Spuren zu finden, denn der Täter, sofern er in einem Overall steckte, sei bestimmt nicht in diesem gekommen, sondern habe sich irgendwo umgezogen und an der Stelle müsste doch irgendetwas zu finden sein, dass Rückschlüsse auf den Täter zulasse. Und wenn er in einem Overall steckte, stellt sich eine weitere Frage, hat er den Overall mitgebracht oder kurz vorher gekauft. Gekauft heißt, alle Baumärkte der Umgebung aufzusuchen, Fragen stellen, Videos anschauen, und zwar über die letzten vierzehn Tage.

„Lusi kümmerst du dich?“

Kurzes Kopfnicken zum Einverständnis.

„Damit kommen wir zu der Frage, wie kam der Täter in das Haus, Ich spreche der Einfachheit halber von dem Täter, wir behalten die Zweitäter-Theorie aber im Kopf. Zunächst die Frage, wer hatte Zugang zu den Türcodes? Da ist einmal der Sohn. Dessen Alibi haben die Kollegen in Münster überprüft, es ist lückenlos. Er scheidet als Täter aus.“

„Und als Auftraggeber? Er könnte jemand mit der Ermordung seiner Eltern beauftragt haben, schließlich ist er nun der Alleinerbe, von keinem unbeträchtlichen Vermögen, kein schlechtes Motiv,“ wendet der neue Chef ein.

„Das ist richtig. Dem werden wir nachgehen. Herr Tönnes und ich werden den jungen Mann in Münster aufsuchen.“

„Aufsuchen? Warum bestellen wir den Kerl nicht hierher?“

„Ich weiß nicht, wie Sie sich fühlen würden, wenn Ihre Eltern und Ihre Schwester, zu der der junge Weidtmann ein sehr gutes Verhältnis hatte, so brutal ermordet worden wären. Sicher wären sie genauso geschockt wie der junge Mann. Er sieht sich im Moment noch nicht in der Lage nach Lübeck zu kommen, was auch die ihn betreuende Kriminalpsychologin so sieht, also müssen wir zu ihm.“

 

Neben dem Sohn habe die Familie Kuracz, also die Familie der Haushälterin, möglicherweise Zugriff auf die Türcodes. Allerdings hätte die Haushälterin genauso wenig wie die jüngste Tochter gewusst, dass diese Codes auf dem Handy abgespeichert waren, das Frau Weidtmann der Haushälterin geschenkt habe. Warum die jüngste Tochter, nun, diese habe sich um das Handy ihrer Mutter gekümmert, mit dem diese anscheinend nicht habe umgehen können. Die Familie habe zwei weitere Töchter und einen Sohn, der das Haus der Weidtmanns gekannt habe. Er habe seiner Mutter beim Zubereiten von Speisen geholfen, wenn die Weidtmanns Besuch hatten. Selbst sei er Betreiber eines Restaurants in Travemünde.

„Lusi und Peter, ihr befragt die Familie im Laufe des Tages, durchleuchtet den Sohn, prüft sein Alibi. Womit wir bei der Frage sind…“

„Betty, warte, mir fällt da noch eine Möglichkeit ein. Vielleicht weit hergeholt, aber trotzdem. In der Vergangenheit gab es Betrügereien an Geldautomaten, in dem die Daten der Girokarten abgegriffen, die Pin-Nummer ausgespäht wurde. Wäre dies nicht auch eine Möglichkeit, an die Türcodes heranzukommen?“

„Sehr guter Einwand Sandra. Kannst du das übernehmen? Wäre gut, wenn Lusi oder Peter mit dabei wären. Versucht auch herauszufinden, ob es möglich ist, mittels eines Fernstechers die Eingabe des Codes zu beobachten. Da ich schon bei dir bin, was sagen denn die Herren von SecTec zu dem Ausfall ihres Systems?“

„Fakt ist, die Festplatte wurde gelöscht, komplett gelöscht. Sehr wahrscheinlich mit einer Software oder einem Killervirus, den der Täter auf den Rechner aufgespielt hat, was darauf hindeutet, dass der Rechner von innen lahmgelegt wurde. Der Täter muss also über den Türcode in das Haus gekommen sein. Und, er muss Wissen gehabt haben, wie die Räumlichkeiten im Haus angeordnet waren, woraus sich schließen lässt, er war mindestens einmal Gast im Haus Weidtmann oder dort mit einer Tätigkeit beschäftigt. Wir hätten gerne überprüft, ob und welche Handwerker in letzter Zeit für die Weidtmanns gearbeitet hatten, aber leider konnten wir nicht mehr auf die Ordner im Büro des Herrn Weidtmann zugreifen, die Kollegen aus Hamburg waren schneller.“

Herr Seibold muss lächelt, hat sich Notizen gemacht und antwortet auf Sandras dezenten Vorwurf, dass er diesen Punkt besonders untersuchen lassen werde, die Ergebnisse natürlich an sie weitergeben werde.

„Zurück zur SecTec. Hat Herr Stupi oder sein Mitarbeiter irgendeine Erklärung parat, warum sein System den Dienst verweigert hat?“

„Nein, der Mann war der Verzweiflung nahe. Unerklärlich für ihn. Ich habe ihm erlaubt, den Rechner mitzunehmen. Das ist doch okay?...“

„…klar…“

„…Sie haben mehr Möglichkeiten den Rechner zu durchleuchten wie wir. Er hofft, dem Versagen noch auf den Grund zu kommen.“

„Gut, Herr Stupi ist kooperativ und kann uns hoffentlich weiterhelfen, deshalb möchte ich jeden Schaden von seinem Unternehmen fernhalten, denn der würde zwangsläufig entstehen, wenn bekannt würde, dass sein Sicherheitssystem versagt hat. Also bitte kein Wort über diese Firma an irgendwen. Herr Stupi wird uns die Personalunterlagen aller in Frage kommenden Mitarbeiter bereitstellen. Wir müssen sie vor Ort einsehen aber hier tiefergehend recherchieren. Dazu werden Herr Tönnes und ich nach Ahrensdorf fahren.“

 

Bevor sie auf das Motiv zu sprechen komme, bittet sie Herrn Seibold ihnen den Stand der bisherigen Ermittlungen im Kokainfall mitzuteilen.

„Nun, was wissen wir über Herrn Weidtmann? Zunächst wissen wir nicht, ob er wirklich Weidtmann hieß (ungläubiges Tuscheln). Laut seinem Personalausweis ist er in Dresden geboren. (Wieso laufen mir ständig Geschichten aus der DDR über den Weg, fragt sich Betty). Das Datum seiner Geburt findet sich nicht in den standesamtlichen Einträgen Dresdens. Das Haus, in dem er angeblich wohnte, existiert nicht mehr, dementsprechend keine Nachbarn, die befragt werden könnten. In den Stasi-Unterlagen ist ebenfalls kein Eintrag zu finden, woraus sich zwei Dinge ergeben, entweder er war zu unbedeutend, um überwacht oder aufgeführt zu werden, oder er war ein Bestandteil der Stasi, allerdings nicht als Joachim Weidtmann.

Die Worte Seibolds lösen in Betty Gedankenwirbel aus.

„Das könnte heißen, er lebte unter falscher Identität in Lübeck und könnte Angehöriger der Stasi gewesen sein. Wieso ist es so schwer, eine Stasizugehörigkeit nachzuweisen?“

„Ganz einfach, dies herauszufinden war nicht unsere oberste Priorität. Frau Weidtmann und er waren zwar Inhaber der Spedition, aber die operativen Geschäfte wickelte ein angestellter Geschäftsführer ab. Wir mussten seinen Angaben glauben. Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, dass er in den Kokainschmuggel involviert war. Sein Tod hat ihn allerdings jetzt wieder ins Rampenlicht gehievt, wir werden tiefer bohren.“

„Gut. Bleibt eine weitere Frage, die sich mir stellt. Das Haus wurde ungefähr vor zwei Jahren sicherheitstechnisch hochgerüstet. Könnte es sein, dass zu dem Zeitpunkt seine Identität aufgeflogen ist, jemand aus seiner Vergangenheit, vielleicht sogar ein Opfer, ihn wiedererkannt hat und ihm drohte? Dieser Jemand sich an ihm rächte? Wir gehen derzeit noch von einem Racheakt als Mordmotiv aus. Rache der Russenmafia? Oder ehemaliger Stasikollege? Ein Opfer gar? Es wird langsam kompliziert.“

Was das Raunen unter den Kollegen zu bestätigen scheint.

„Schwer zu sagen. Möglich ist es, aber meiner Erfahrung nach, sind die, die sich richtig schuldig gemacht haben, in Schweden, Dänemark oder über dem Teich abgetaucht. Sich im früheren grenznahen Lübeck anzusiedeln, deutet mir nicht auf irgendwelche üblen Taten hin, die müssten, angesichts des brutalen Mordes, schon ziemlich heftig gewesen sein. Aber es ist eine Spur, die verfolgt werden sollte.“

„Werden Sie das tun?“

„Wir werden müssen. Angesichts ihrer dünnen Personaldecke werden wir unseren Apparat in Bewegung setzen.“

Blick über die tuschelnden Kollegen um den Tisch, keine weiteren Fragen, gut fährt er fort.

„Egal wie, unter dem Namen Weidtmann kam er sofort nach der Wende nach Lübeck, gründete kurz nach seiner Ankunft eine Unternehmensberatung, spezialisiert darauf, westdeutschen Firmen Wege zu eröffnen, Kontakte zu knüpfen, um Geschäfte in Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken zu tätigen. Diese Beratungsfirma wuchs schnell. Nur drei Jahre nach Gründung hatte sie zwölf Mitarbeiter. Die Hälfte übrigens aus den neuen Bundesländern. 1993 heiratete er Leni-Elise Gräven, die Tochter des Speditionsunternehmers Gräven, welches Frau Weidtmann von ihrem Vater übernahm. 1994 folgte die Gründung einer Firma in Russland, in Saratow an der Wolga, die medizinische Geräte aus Lübecker Produktion importierte und vertrieb. Er nutzte für den Transport der Geräte die LKW-Flotte des Unternehmens seiner Frau. 1996 zahlte er die Heuer-Erben aus, die kein Interesse an der Fortführung der Spedition hatten. Damit gehörte das Speditionsgeschäft den Weidtmanns allein. Dieses Geschäft baute er weiter aus, wurde zum Spediteur für viele Unternehmen, die Waren nach Russland oder die ehemaligen Sowjetrepubliken wie Kasachstan, Usbekistan oder Turkmenistan lieferten. Die Spedition wurde gefragter Partner für Geschäfte in Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken. Seine Trucks fuhren bis Afghanistan und Iran. Fragen bis dahin?“

 

Betty schaut sich um, keiner der Kolleginnen und Kollegen macht Anstalten, eine Frage zu stellen, sie aber hat eine auf den Lippen.

„Er kam aus Dresden, gründete gleich eine Firma, wenn auch eine kleine, was dennoch heißt, er musste ein gewisses Startkapital aufbringen. Hatte er das?“

„Auch da sind wir blank. Was wir wissen, ist, er hat keinen Kredit aufgenommen, also können wir davon ausgehen, dass er Geld mitbrachte. Und zwar einiges Geld. Er mietete eine Villa in guter Geschäftslage an und baute diese für seine Zwecke um. Er musste die Stammeinlage hinterlegen, Mitarbeiter entgelten, alles in allem war ein flottes Sümmchen notwendig. Die Herkunft werden wir prüfen.“

„Und wie kam er an die Villa, in der er wohnte? Sie sieht auch nicht so aus, als gehöre sie in die mittlere Preisklasse.“

„Das Haus ist Familienbesitz der Gräven. Die Mutter von Frau Weidtmann war Engländerin und zog mit ihrem Mann, nachdem die Tochter in die Spedition eingestiegen war, nach England, wo der Vater heute noch lebt, also so zumindest mein letzter Stand.“

„Weiß der Vater, was geschehen ist?“

„Nein. Wir wissen nicht, wo er wohnt.“

„Das heißt, wir müssen ihn aufspüren.“

„Ja.“

„Hm, irgendwie gibt es da ein paar Zufälle zu viel.“

„Stimmt. Aber, wie Sie sicher vermuten, ich glaube nicht, dass er einem Plan folgte. Es gibt halt solche Zufälle. Gut, was wissen wir noch? Nachdem er Fuß in diesem Russlandgeschäft gefasst hatte, wandelte sich das Beratungsgeschäft. Nur ein geringer Anteil bestand noch im Vermitteln von Kundenkontakten, der Anfangsboom, nach dem der Eiserne Vorhang sich geöffnet hatte, war befriedigt. Stattdessen begann er, insolvente Firmen oder solche, die vor der Insolvenz standen, aufzukaufen, zu reorganisieren und nach einer gewissen Zeit, in einem Fall hielt er das Unternehmen fast zehn Jahre, wieder abzustoßen. Das wiederum scheint einem Plan gefolgt zu sein. Wir gehen davon aus, das Weidtmann aus seiner Dresdener Zeit, Kontakte mit sowjetischen Spitzenbeamten in der DDR hatte und diese Kontakte Basis seiner Geschäfte waren. Wie legal diese Geschäfte waren, lässt sich nicht beurteilen, mit Sicherheit aber dürfte er Waren zum Beispiel in den Iran geliefert haben, die auf einer Sanktionsliste standen. Irgendwann im Laufe der Geschäftstätigkeit dürfte einer seiner russischen Förderer auf ihn zugegangen sein mit der Bitte, bestimmte Aufträge für ihn auszuführen. Dieser Jemand scheint Serge Poschinow zu sein, ein ehemaliger KGB-Agent, geboren in St. Petersburg und zu schnellem Reichtum gelangt, ein Oligarch. Der Kokain-Schmuggel scheint einem gewissen Zyklus gefolgt zu sein. Wieso? Immer wenn eines der reorganisierten Unternehmen von Weidtmann an ein Unternehmen veräußert wurde, dessen Spuren sich nach Russland zurückverfolgen ließen, konnten wir kurz vorher erfolgte Transporte aus dem Iran feststellen. Herr Weidtmann war der Spediteur und lagerte zwischen, musste also nicht für das Kokain zahlen, sondern wurde gut bezahlt und dies, wie wir vermuten, in dem die reorganisierten Firmen zu überhöhten Preisen weiterverkauft wurden. Einige der Käufer konnten wir Poschinows Firmenkonglomerat zuordnen. Die, die zahlen mussten, waren die eigentlichen Dealer, sozusagen die Zwischenhändler, die ihre Ware Nachtens in der Spedition abholten. Die Bezahlung erfolgte wahrscheinlich über einen Kurier, der die Gelder im Aktenkoffer einsammelte und nach Russland oder ein anderes Land brachte. Der Schmuggel der Dopingpräparate könnte ein Nebengeschäft des Geschäftsführers der Spedition gewesen sein, übrigens ein gebürtiger Dresdner, vormals Mitarbeiter in Weidtmanns Unternehmensberatung, der derzeit, genauso wie der Chef der Disposition, in Untersuchungshaft sitzt, aber beharrlich schweigt.“

„Glauben Sie, er wird sein Schweigen brechen, wenn er vom Tod der Familie Weidtmann hört? Ich meine, wenn Sie so wollen, war er, vorausgesetzt unsere Annahme ist zutreffend, Anlass für den Tod der Familie Weidtmann“, will Betty wissen.

„Nein, das glaube ich nicht. Er hat einen Anwalt, den wir aus ähnlichen Prozessen kennen, in denen er Leute aus dem Milieu verteidigte. Seine Strategie ist Schweigen und Abstreiten.“

 

„Der Schmuggel mit den Dopingpräparaten wurde von einem der Fahrer, den sie damals verhafteten, bei einer Reifenpanne zufällig entdeckt. Herr Molter, so heißt der Fahrer, gab an, bemerkt zu haben, dass die Rückwand seines Sattelzuges merkwürdig breit war. Neugier ließ ihn dies überprüfen und dabei versicherte er sich der doppelten Wand. Zunächst musste er es bei der Entdeckung belassen, da die Ladung eine Öffnung versperrte. Erst später ergab sich eine Situation, als der Trailer leer war, genauer nachzuschauen. Angeblich habe er nur eine Probe entnommen und sich mit einem ehemaligen Kollegen beraten, der auf die Idee mit dem Internetvertrieb gekommen sei. Sein ehemaliger Kollege, also der Typ, der Sie niederschlug, habe alles weitere organisiert und er habe ihn nur mit Teilen der Schmuggelware versorgt. Von dem Kokain-Schmuggel wusste dieser Molter genauso wenig wie die anderen Fahrer. Alle Fahrer stimmten in ihren Aussagen überein, dass sie, während die Trailer beladen wurden, in einem Büro warten mussten. Die Verladestellen liegen im Iran und Usbekistan, wie Russland, Länder, auf die wir nicht den geringsten Zugriff haben, in unseren Ermittlungen deshalb festhängen. Wir hoffen, durch die Unterlagen im Haus Weidtmann tiefer in das Gewirr von Käufen und Verkäufen zu gelangen. Unsere Wirtschaftsfachleute werten die Unterlagen systematisch aus und selbstverständlich werden wir, sollten wir auf Spuren stoßen, die ein Motiv für die Morde ergeben, sie entsprechend informieren. Das ist, was wir über Herrn Weidtmann wissen, wie gesagt, auf der Person lag bisher nicht unser Focus, uns haben die Logistik des Schmuggels und die Finanztransaktionen vordergründig interessiert.“

Betty bedankt sich bei Herrn Seibold für dessen Bericht, fragt in die Runde, ob jemand Fragen an die Herren des BKA hat, betretenes, vielleicht auch abgeschlafftes Schweigen, nur der Oberstaatsanwalt regt sich.

„Wenn ich Sie recht verstehe, sehen auch Sie das Motiv der Tat in einem Racheakt, von wem auch immer ausgeführt, am wahrscheinlichsten aber in einem Zusammenhang mit der Kokain-Geschichte.“

„Ja, ich stimme da voll und ganz mit Frau Sundberg überein, wobei ich fest davon überzeugt bin, dass der Auftraggeber für die Ermordung in den oder dem Hintermann in Russland zu finden ist…Ich weiß, wie schwer es werden wird, dieses irgendwem nachzuweisen, geschweige denn, den oder die Täter zu fassen. Aber wir werden sie, so gut wir können, unterstützen.“

„Hört sich nicht gerade tröstlich an.“

„Tut mir leid. Ich weiß, wovon ich spreche.“

 

Kurzes Getuschel, etwas Unruhe im Raum, die Betty einfängt in dem sie sagt, nun zum Motiv der Tat zu kommen.

„Die Tat war eine Exekution, keine Misshandlungen, keine sexuellen Motive, nichts, was aus dem Haus entwendet wurde, soweit wir wissen. Strafe? Rache? Warum die beiden Frauen, wenn doch offensichtlich eine Schuld nur bei Herrn Weidtmann lag? Warum die Enthauptung der Tochter? Es ist ein Exempel, das der Täter statuiert hat, in dem er dies tat und die Enthauptete öffentlich ausstellte. Die Frage ist, wen sollte dieses Exempel aufschrecken oder einschüchtern? Haben wir eventuell noch weitere potenzielle Opfer zu befürchten? Die Ausführungen des Herrn Seibold legen einen Zusammenhang mit den Geschehnissen um die Spedition Gräven nahe. Mittlerweile bin ich mir aber nicht mehr sicher. Es scheinen auch andere Konstellationen möglich, denen wir nachgehen müssen. Aus dem, was wir bisher wissen, schließe ich, dass der Täter ein eiskalter, emotionsloser Mensch ist, der seinen Auftrag erledigte mit scheinbarer Ruhe. Er ist kein normaler berufsmäßiger Killer, denn er scheint intelligent zu sein, nicht älter als vierzig Jahre, eher deutlich darunter. Er scheint das ruhige Töten gelernt zu haben.“

„Wie meinen Sie das Frau Sundberg,“ will der Oberstaatsanwalt wissen.

„Nun, einerseits könnten wir dies wieder in Richtung Russenspur schieben. Wenn der Täter aus dem KGB-Umfeld kommt, dürfte er eine gute Ausbildung gehabt haben, andererseits könnte er auch eine militärische Spezialausbildung genossen haben. Es gibt da einen Zusammenhang, der mich nachdenklich stimmt. Die Familie der Haushälterin ist vor den kriegerischen Auseinandersetzungen in Bosnien nach Deutschland geflohen, der Vater seitdem im Krieg vermisst. Der Sohn hat nach seinem Vater geforscht. Er war einige Zeit in Bosnien. Nach den Worten von Herrn Seibold war die Firma des Herrn Weidtmann dick im Russlandgeschäft. Russland unterstützte die serbische Armee. Was, wenn der Sohn eine Beziehung herausgefunden hat, zwischen den Geschäften des Herrn Weidtmann und der serbischen Armee, der sein Vater zum Opfer gefallen war? Wir müssen also verschiedene Szenarien in Betracht ziehen und nicht so sehr dem scheinbar Offensichtlichen nachgehen, obwohl wir genau das tun werden. Denn die Russenspur ist, wie es scheint, die die wir am ehesten verfolgen können. Die Frage dazu ist, war er mit dem Auto, dem Zug oder dem Flugzeug hier? Auf jeden Fall war er, grob geschätzt, zwei Wochen vor der Tat in Lübeck, heißt alle Hotels ablaufen. Videoaufnahmen von Grenzübergängen nach Polen und vom Flughafen Hamburg, eventuell sogar aus Hannover anfordern. Ich weiß, viel Arbeit.“

„Kümmert Ihr Euch um die Hotels, die Grenzüberwachung und die Flughäfen übernehmen wir. Wir haben da unsere Spezialisten.“

„Danke, das ist sehr hilfreich.“

Kurz denkt Betty nach, die Sache mit den Kopfschmerzen anzusprechen, unterlässt es aber, da dies eine Sache ist, die noch zu undurchsichtig und nur in ihrem Kopf vorhanden ist. Sie schließt deshalb ihre Ausführungen, verweist noch einmal auf die anstehenden Aufgaben, fragt ihren neuen Chef, wie es mit der Verstärkung aus Bad Schwartau aussehe. Komme, meint dieser, allerdings stünden nur zwei Kollegen zur Verfügung.

Die Besprechung beendet, der Oberstaatsanwalt nimmt Betty zu Seite, fragt sie, wie er die Presse behandeln soll, denn um eine Pressekonferenz würde er nicht herumkommen. Was er sagen wolle, solle er sagen. Was aber sinnvoll wäre, ein Foto des Herrn Weidtmann an die Presse zu geben, vielleicht meldet sich jemand, der diesen Herrn kennt, besonders unter anderem Namen.

„Sie kommen klar mit allem? Muten Sie sich aber nicht zu viel zu.“

 

Lusi kommt auf Betty zu, will wissen, wie sie mit dem Sohn der Haushälterin umgehen soll. Vorsichtig, meint Betty, zunächst alles herausfinden, was über ihn herauszufinden ist, dann den Besuch bei der Familie ankündigen, mit der Mutter und den Töchtern reden. Den Sohn aber separat befragen, möglichst in seiner gewohnten Umgebung, also dem Restaurant. Sie sollten ihn nicht als Verdächtigen behandeln, sondern als jemand, der ihnen helfe könne, den Mord aufzuklären.

„Wir sollten bedenken, dass wir keine Sozialarbeiter sind, sondern einen Mord aufzuklären haben“, schnauzte der neue Chef, der anscheinend die Bemerkungen Bettys mitbekommen hat.

„Mitunter müssen wir Sozialarbeiter oder gar Psychologen sein. Die Brechstange ist nicht für jede Anwendung geeignet.“

„Hm.“

Lusi will wissen, wie sie das mit den Baumärkten angehen solle und den Hotels, was Priorität habe. Sie müsse nicht alles selbst machen und solle die Kollegen von der Schutzpolizei einbinden, sie sorgfältig informieren und instruieren. Sie denke, die Jungs und Mädels würden das tadellos hinbekommen. Gut, meint Lusi erleichtert.

Herr Tönnes steht abfahrbereit im Flur, nur der fahrbare Untersatz fehlt, vor allem Mentel fehlt ihr, der zuverlässige Fahrer und lernende Fahnder. Sie hat ihn noch nicht angetroffen, wird ihn gleich aufsuchen. Zu Tönnes gewendet bittet sie diesen, bei Griebel nachzufragen, ob er ihnen einen Dienstwagen organisieren könne, sie sei gleich zurück, dann könnten sie losfahren. Tönnes unschlüssig den Anweisungen, so versteht er Bettys Bitte, zu folgen.

Im Erdgeschoss sitzt die Einsatzzentrale der Streifenpolizei, in die Betty geht, nach Mentel fragt, nicht anwesend, unterwegs in Lübeck. Schade. Gruß an ihn, wenn der Kollege ihn sehe.

„Betty? Richtig?“

„Ja, von Betty.“

Der Kollege lächelt, warum auch immer. Gelegenheit die Toilette aufzusuchen, gewohnheitsgemäß die für die Behinderten. Wieder hoch, wo sie im Gang auf Tönnes trifft, der ihr mit einem Autoschlüssel entgegenwinkt. Gut, kann es losgehen. Sie verlassen das Haus, Tönnes drückt die Fernbedienung, um zu sehen, wo das Auto steht, hinten blinkt es. Ja, das ist Technik, meint er.

„Wie lange brauchen wir bis Münster?“

„Keine Ahnung. Zunächst geht es zum Arzt in die Friesenstraße 18.“

„Zum Arzt? Sie sind krank?“

„Nein, ich war krank, bin geheilt und auf bestem Weg noch gesünder zu werden. Ich muss ein paar Erkundigungen einziehen.“

„Hm, haben wir nichts Dringlicheres zu tun? Erkundigungen bei einem Arzt?“

„Fahren Sie einfach los.“

„Bei der Gelegenheit die kurze Frage, wer hat hier eigentlich das Sagen? Ich meine, mein Chef hat mich an Ihre Seite gestellt, nur frage ich mich, laufe ich vorneweg, nebenher oder hinterdrein?“

„Ich würde sagen, Sie laufen nebenher. Da ich die Ermittlungen leite, scheint mir eigentlich unser kollegiales Verhältnis klar geregelt. Aber um Sie zu beruhigen, den Chef werde ich nicht heraushängen lassen und wenn Sie Einwände haben, Vorschläge machen wollen oder was auch immer unsere Ermittlungen betreffen, dann bin ich ganz Ohr.“

„Gut, dann hätten wir das geklärt.“

 

Was wir wissen, ist ein Tropfen. Was wir nicht wissen, ist ein Ozean. (Isaac Newton)

 

Die Dame im Navi lotst Tönnes durch den Stadtverkehr, den er niedlich findet, sei er anderes gewöhnt. Ja, meint Betty, wir haben hier keinen Elbtunnel und die Trave lässt sich mit Brücken queren, ein Tunnel sei nicht von Nöten.

„Scherzkeks.“

Vor der Arztpraxis angekommen fragt Betty Tönnes, ob er mitkommen wolle, was dieser, zunächst irritiert, bejaht, ob das nicht indiskret sei, will er wissen, Betty winkt ab, gehöre zum Fall.

Drinnen weist sich Betty aus, stellt ihren Kollegen Herrn Tönnes vor, und verlangt schnellstmöglich den Arzt, Doktor Seiler, zu sprechen. Die Angelegenheit sei dringend, könne aber schnell erledigt werden. Die Arzthelferin wird bleich im Gesicht, wirkt aufgeregt, steht auf und geht in Richtung Behandlungszimmer, kommt zurück mit der Bitte sich einen Moment zu gedulden.

„Sagen Sie, Sie können mir sicher auch weiterhelfen. War Steffani Weidtmann Patientin bei Doktor Seiler?“

„Weidtmann? Doch nicht etwa die tote Frau in St. Gertrud?“

„Doch, genau die.“

Die junge Frau, Nora, steht auf einem kleinen Namensschild, das an ihre Brust geheftet ist, klopft auf die Tastatur ihres Computers, schaut, scrollt, schaut, schüttelt mit ihrem Kopf: „Nein, keine Steffani Weidtmann, auch keine anderen Personen mit diesem Namen.“

„Hm, Steffani hatte eine Visitenkarte von Doktor Seiler an ihre Pinwand geheftet. Schauen Sie doch einmal unter Mareike, Shit, den Nachnamen habe ich leider nicht, nach.“

Was Nora tut, drei Mareikes, ein Kind, ein größeres Kind und ein junges Mädchen, Mareike John, könnte passen.

„Gut, dann weiß ich, woher die Visitenkarte kam. Danke, Sie haben mir sehr geholfen. Den Doktor brauchen wir nicht mehr.“

Doch der kommt direkt auf sie zu, sieht die beiden Polizisten an, die Polizei wolle ihn sprechen, was könne er denn für die Polizei tun und Betty stellt ihre Frage nach dem Patienten Weidtmann, von dem der Doktor gelesen hat, aber Herr Weidtmann sei keiner seiner Patienten. Er kenne ihn, oberflächlich, aus dem Tennisclub.

„Die Tochter von Herrn Weidtmann hatte ihre Visitenkarte, deshalb hatten wir gehofft, dass sie vielleicht Patientin bei Ihnen war.“

„Nein, ich kann Ihnen da leider nicht behilflich sein. Wobei, womit hätte ich Ihnen denn behilflich können?“

„Nun, Frau Weidtmann, die Tochter, wurde ermordet. Zwei Tage zuvor klagte sie über starke Kopfschmerzen, anscheinend so stark, dass sie aus dem Unterricht genommen und nach Hause geführt wurde. Ich hatte gehofft, sie hätte Sie aufgesucht, um Abhilfe zu bekommen.“

„Nein, wie gesagt, ich kannte die junge Frau nicht.“

„Ein junges Mädchen bekommt urplötzlich starke Kopfschmerzen, die aber anscheinend schnell wieder vergehen. Ist so etwas normal?“

„Nicht normal, nein. Allerdings auch nicht unmöglich. Starke Schmerzen rühren in der Regel von Migräne und haben eine längere Verweildauer. Drei Tage mindestens, mitunter auch eine Woche.“

„Was wäre Ihre Erklärung für so eine Art von Kopfschmerzen?“

„Oh, da verlangen Sie einiges zu viel von mir, dass kann ich ohne Untersuchung nicht diagnostizieren.“

Betty bedankt sich bei dem freundlich wirkenden Arzt, der anscheinend stressfrei ist, denn trotz gut gefülltem Wartezimmer, scheint er sehr entspannt zu sein.

 

Betty, gefolgt von einem sich fragenden Tönnes, was dieser Auftritt zu bedeuten hatte, schreitet flott auf ihren Wagen zu und meint, nun könnten sie nach Münster fahren, aber nicht rauschen. Angeschnallt und bequem im Sitz ruhend, zückt Betty ihr Smartphone und wählt den Kollegen Knauf aus Münster an, der annimmt und dem Betty mitteilt, dass sie unterwegs seien und (ein Blick auf das Navi) und in drei Stunden vor dem Präsidium Münster vorfahren werden, vorausgesetzt kein Stau würde sie aufhalten. Wo denn das Gespräch stattfinden würde, will sie wissen, in einem Café in der Nähe der Wohnung des Herrn Weidtmann. Café, gut, ungewöhnlich, aber nicht schlecht, sie würden ihn abholen.

In einem Café, gut, eine WG-Wohnung ist sicher beengt und in das Präsidium, nein, hätte sei auch darauf verzichtet, ja, Café ist gut, die hatten sicher auch eine Kleinigkeit zu essen, außer Süßkram, denn sie würden nach Mittag aufschlagen, Zeit des Magengrummelns. Das Smartphone noch in der Hand starrt sie darauf, kurze fragende Blicke von Tönnes einfangend, der auf die A1 aufgefahren ist und Gas gibt. Sie ruft den von Rainer empfohlenen Dachdecker an, bekommt eine Frauenstimme in ihr Ohr, sagt, sie wolle einen Termin vereinbaren, ihr Dach müsse isoliert, eventuell neu eingedeckt werden, ob ihr Chef vorbeikommen könnte. Könne er, dauere aber, frühestens in drei Wochen. Egal, es müsse aber an einem Samstag sein. Gut, Samstagvormittag 12. Oktober um 09:00 Uhr. Betty teilt die Adresse mit, Tönnes dreht überrascht den Kopf zu Betty: „Hm, Sie wohnen aber in einer feinen Gegend, anscheinend gibt es da ein Gehaltsgefälle zwischen Lübeck und Hamburg.“

„Erbschaft. Das Haus gehörte meinen Großeltern, nun mir, samt all der Arbeit, die dort zu machen ist…Olaf? Richtig? Gut, ich bin Betty, lassen wir das blöde Sie sein.“

Olaf lächelt: „Gerne. Bist du denn Hamburgerin?“

„Ja, ich kenne nur Hamburg und ein paar Monate Lübeck und ich werde in acht Wochen nach Hamburg zurückkehren, das Haus in Besitz nehmen, den Polizeidienst quittieren, mich der Wissenschaft und meinem Garten verschreiben.“

„Wow. Du verlässt die Polizei? Aber du hast doch alles getan, um eine Spitzenpolizistin zu werden, stehst kurz davor, Profilerin zu werden. Seibold spricht voller Hochachtung von dir. Versteh ich nicht, oder hat das etwas mit deinem Unfall zu tun?“

„Nein, damit nicht, aber der war das Erweckungserlebnis. Wie du schwer übersehen kannst, habe ich ein deutliches Übergewicht, damit verbunden einige unangenehme Krankheiten, die ich nur in den Griff bekomme, wenn mein Leben einen regelmäßigen Verlauf nimmt, was ich mit dem Polizeidienst ausschließen kann. Eigentlich müsste ich jetzt auf einem Laufband stehen, Gewichte stemmen oder sonst eine schweißtreibende Aktivität tun, später dann mir ein kohlenhydratarmes Essen zubereiten und gemächlich kauend zu mir nehmen. Nur, dem ist nicht so und so weiterzuleben ist lebensgefährlicher für mich als der Job.“

„Verstehe. Doch das verstehe ich. Ehrlich gesagt, habe ich mich mitunter auch gefragt, ob das, was ich tue, das Richtige für mich ist. Meine Frau hat morgen Geburtstag. Ich werde nicht da sein, wie so oft, wenn ich eigentlich da sein müsste, bin ich sonst wo. Noch klagt sie sich nicht, sie wusste, wen und was sie heiratete, aber irgendwann werden Klagen kommen.“

„Ja, die Statistik besagt, dass viele Polizistenehen die ersten sieben Jahre nicht überstehen. Hast du Kinder?“

„Nein, noch nicht. Wir arbeiten daran,“ dem er ein Grinsen folgen lässt. Betty denkt an Hembach, der seinen Sohn seit ewigen Zeiten nicht zu Gesicht bekommen hat, an Dietmann, frauenlos, mit dem Beruf verheiratet.

„Und du? Bist du Hamburger?“

„Wahlhamburger. Geboren in Delmenhorst, also knapp an der Grenze zu Norddeutschland, für die Anerkennung in Hamburg nicht unwichtig. Ich lebe jetzt seit neun Jahren in Hamburg. Meine Frau ist gebürtige Hamburgerin, hat allerdings kein Erbe in einer noblen Wohngegend mitbekommen. So haben wir drei Zimmer, Küche und Bad und alle vierzehn Tage grölende Massen, die unter unserer Wohnung vorbeiziehen.“

„Volkspark oder Millerntor?“

„Volkspark!“

„Ehrlich gesagt war ich noch nie in der Gegend. Nur hört sich Volkspark für mich gut an, grün mit viel Auslauf.“

„Auslauf ja, grün, nur gelegentlich, wechselt ja ab und zu.“

„Und Fan? In Hamburg muss man sich ja auf Ewig entscheiden, für den einen oder den anderen Verein.“

„Nein, kein Fan von niemand. Dazu fehlt mir anscheinend ein entscheidendes Gen.“

Kurzes Lachen von Betty, die meint, gut, dann seien ja zwei Landsleute auf gemeinsamer Pirsch und die Sache mit dem Dienst quittieren solle er bitte für sich behalten, sei noch nicht offiziell.

 

Der Verkehr fließt. Trotz der vielen Baustellen rund um Hamburg kommen sie zügig voran. Sie erzählen sich gegenseitig, wie sie zur Polizei gekommen sind. Natürlich will Olaf wissen, wie das mit Betty war, was diese auf ihr Gewicht bezieht, Olaf sich korrigiert, wie sie auf den Berufswunsch Polizistin gekommen sei, was ihm Betty erläutert. Sie sprechen über ihre Fälle, wobei Betty ja nur den einen, dafür intensiven hatte, sie erzählt über ihre Hamburger Zeit, stellen fest, dass sie einen gemeinsamen Bekannten haben, Rainer Drewes, ihnen zu unterschiedlicher Zeit Chef war. Unterbrochen nur einmal, da Bettys Blase drängelt, fahren sie in Münster ein, das Navi geleitet sie sicher bis vor das Präsidium, vor dem Olaf den Wagen zur Ruhe bringt.

Am Empfang meldet sich Betty an, sei verabredet mit Oberkommissar Werner Knauf, den der Kollege am Empfang anruft, hört, dass die Herrschaften hoch in den zweiten Stock kommen sollen, was sie tun. Oben angekommen, Betty hat den Fahrstuhl ignoriert, steht ein kleiner, aber drahtig wirkender Mann am Treppenende, leger in Jeans und in ein rottöniges, kariertes Hemd gehüllt. Entspanntes Gesicht, kleine Kulleraugen hinter einer kräftigen schwarz gerahmten Brille. Er begrüßt lächelnd die Kollegen aus Lübeck. Nicht nur, meint Betty, dieser Herr, Olaf Tönnes, komme aus Hamburg und sei vom BKA.

„BKA? Scheint mehr als ein Routinefall zu sein. Aber kommen Sie bitte mit, in meine gute Stube.“

Die Stube ist ein Großraumbüro in dem acht Personen sitzen, zwei oder drei Arbeitsplätze unbesetzt sind. So eine Personaldecke würde sich Betty auch in Lübeck wünschen, andere Länder andere Sitten, denkt sie. Kommissar Knauf bittet, da sie noch etwas Zeit hätten bis zum Treffen mit dem Herrn Weidtmann, über den Fall detaillierter informiert zu werden, was Betty tut.

„Hm, ein übler Fall. So etwas kommt bei uns nur bei Börne und dem Thiel vor, sonntags für knappe eineinhalb Stunden. Die denken sich Dinge aus, da schießt mir ein Geweih auf. Ich frage mich dann immer, was denken die Leute, die sich dies anschauen, wohl über Münster. Na ja. Gut, warum Sie hier sind: Herr Weidtmann hat die Ermordung seiner Eltern heftig zugesetzt, aber mehr noch der Tod seiner Schwester. Er hat aus der Zeitung erfahren, dass der Täter ihr den Kopf abgetrennt hat, nicht von mir. Die Kollegin vom psychologischen ist jeden Tag bei ihm. Was ich damit sagen will, ist, fassen Sie ihn bitte mit Samthandschuhen an. Sein Alibi ist wasserdicht und ehrlich, er macht mir nicht den Eindruck eines raffinierten Killers. Bei dem Gespräch nachher wird unsere psychologische Kollegin dabei sein sowie die Freundin des Herrn Weidtmann. Ach, ich bin ein schlechter Gastgeber, möchten Sie einen Kaffee? Wasser? Saft? Oder sonst etwas?“

Olaf stimmt einem Kaffee zu, Betty bittet um ein Mineralwasser, ihr Gaumen ist für einen Kaffee zu ausgetrocknet und nachher werden sie sicher einen besseren Kaffee bekommen als der hier im Büro, der Stube. Herr Knauf steht auf, entschuldigt sich für einen Moment und steuert, wie Betty vermutet, die Küche an. Kommt zurück, zwei Tassen und eine Kanne Kaffee jonglierend, wieder zurück und mit einer Flasche Wasser und einem Glas links und rechts in seinen Händen zurückkommend.

 

Herr Weidtmann studiere Kunstwissenschaften, ein Masterstudium, im fünften Semester. Er sei vor drei Jahren nach Münster gekommen und lebe seitdem in der Wohngemeinschaft, in der er jetzt lebe. Seine Freundin zog vor einem Jahr in die WG. Er jobbe nebenbei, sei Fahrer bei den Johannitern und fährt Fahrrad, aber das sei normal in Münster. Münster nenne sich schließlich Fahrrad-Hauptstadt Deutschlands. Kommissar Thiel fahre auch immer mit dem Fahrrad zu seinem Dienst, habe es allerdings noch nicht zu einem Dienstrad gebracht. Dem folgt ein Grinsen, das weder Betty noch Olaf aufnehmen, stattdessen an ihren Getränken nippen und langsam unruhig werden, denn sie sind nicht zum Scherzen oder Plaudern hergekommen, sondern um ein Gespräch mit einem, ja Zeugen, zu führen. Und dann müssen sie auch wieder über drei Stunden zurückfahren.

Gut, meint Kommissar Knauf, wenn Sie so weit seien, dann fahren wir los. Sie folgen mir? Ich fahre voraus. Bevor sie gehen, greift Knauf zum Telefonhörer ruft in die Muschel, es geht los, legt auf, steht auf, geht los, Betty und Olaf hinterher.

Im Erdgeschoss erwartet sie eine Frau, die sich als Emily Bunt vorstellt, Polizeipsychologin.

Sie gehen zu ihrem Wagen, warten, bis Knauf mit der Psychologin vorfährt und folgen ihnen.

„Es wäre besser gewesen, wenn wir nur mit der Psychologin gesprochen hätten. Ich verstehe nicht, wieso sie bei dem Gespräch eben nicht zugegen war.“

„Vielleicht wollte er sich nicht die Schau stehlen lassen.“

„Wahrscheinlich.“

Das Café Gasolin scheint eine ehemalige Tankstelle gewesen zu sein, mit mehr Außen- als Innenplätzen, nur für außen ist es zu kalt und zu feucht, es nieselt leicht, also gehen sie nach drinnen. Frau Bunt schreitet entschlossen auf zwei in der hinteren Ecke sitzenden Personen zu. Der junge Mann blickt überrascht auf, sagt aber nichts. Herr Knauf übernimmt die Vorstellung von Betty und Olaf, denen er Henrique Weidtmann und Annika Bressow vorstellt. Hinter ihnen steht bereits die Bedienung, die vier Karten in der Hand hält, würde Betty gerne hineinschauen, aber es, sich trotz knurrendem Magen, versagt, sie hatten wichtigeres vor.

Betty setzt sich Henri gegenüber, schaut ihn an, dem die Trauer im Gesicht steht, die schlaffe Haltung passt nicht zu dem eleganten, sportlich wirkenden jungen Mann, gut, sie wird vorsichtig sein. Rechts neben ihm sitzt seine Freundin, links neben ihm die Psychologin.

„Zunächst Herr Weidtmann oder darf ich Henrique sagen?“

„Gerne Henri, so nennen mich alle.“

„Gut Henri. Vor allem mein Beileid zu dem, was da geschehen ist, ich weiß, wie schwer es ist, in so einer Situation mit fremden Menschen reden zu müssen. Ich hoffe aber, wir bekommen das hin. Auch bitte ich dich um Entschuldigung, dass ich dich so lange im Ungewissen habe warten lassen. Aber so ein Schicksalsschlag dem nächsten Angehörigen am Telefon mitzuteilen, schien mir unpassend, weshalb ich die Kollegen in Münster gebeten habe, dich persönlich zu informieren.“

„Sie, äh, du hast meine Eltern gefunden und Steffi?“

„Deine Eltern ja, Steffi haben Kollegen von mir gefunden. Es ist uns noch ein großes Rätsel, was in dem Haus deiner Eltern vorgefallen ist. Nur eines steht fest, weder deine Eltern noch Steffani mussten leiden. Es muss alles sehr schnell gegangen sein. Wir vermuten einen Racheakt, der in Zusammenhang mit dem Kokain-Schmuggel steht, in den die Spedition deiner Eltern verwickelt ist. Diesen Fall betreut Herr Tönnes, weshalb er auch mit hierhergekommen ist. Für uns ist wichtig, so viel über deine Familie zu erfahren wie möglich, vielleicht hilft uns das, zu verstehen, was geschehen ist. Bist du in der Lage, hierzu Fragen zu beantworten?“

 

Gequälter Blick von Henri, dem die Freundin neben sich leicht in den Arm drückt, nickt, meint, er versuche es. Betty bittet ihn einfach zu erzählen, was ihm so einfalle über sich, seine Familie, seinen Vater, seine Mutter, seine Schwester.

„Wie kann jemand so grausam sein, einem hilflosen Menschen, das zu nehmen, was ihn ausmacht? Ich kann Steffi nicht mehr in ihr Gesicht sehen…nicht einmal zum letzten Mal. Was ist das für ein Mensch, der zu solch grausamer Tat fähig ist?“

„Ich weiß es nicht, Henri, aber, davon gehe ich aus, der Täter hat das Töten gelernt. Er tötete vollkommen gefühllos. Das sind sehr gefährliche Menschen…Du mochtest deine Schwester sehr.“

Die Bedienung kommt, serviert die Bestellung, die überwiegend aus Kaffee besteht, mit Milchschaum und ohne, Latte Macchiato oder einfach schwarz und einen grünen Tee, den Betty geordert hat. Sie hätte schon gerne einen Happen und sei es nur ein trockenes Brötchen dazu bestellt, das muss aber noch warten.

Henris Oberkörper bewegt sich leicht nach vorne, ja sie seien sehr innig gewesen, was vor allem mit dem Elternhaus zu tun gehabt habe.

„Wir waren oft auf uns allein gestellt. Steffi hing von klein auf an mir, sah mir beim Spielen zu, spielte nur mit meinen Sachen. Einmal, an Weihnachten, kamen Oma und Opa zu Besuch…“

„…die Gräven?“

„…äh ja, die Eltern meiner Mutter, die Eltern meines Vaters habe ich nie kennengelernt, angeblich waren sie bereits gestorben, was ich meinem Vater nicht abgenommen habe…Oma und Opa besuchten uns, was eher selten vorkam. Ihr Besuch galt mehr uns Kindern als ihrer eigenen Tochter. Opa konnte meinen Vater nicht ausstehen. Er sagte einmal zu mir, dein Vater sieht aus wie ein Erbschleicher und ist ein Erbschleicher, da war ich noch klein und habe den Sinn nicht erfasst. Später dann ist mir der Satz immer wieder eingefallen und ja, ich habe Opa recht gegeben. Oma hatte Steffi eine Puppe mitgebracht, so eine ganz moderne, die sprechen konnte. Steffi betrachtete die Puppe und sagte zu Oma, die Puppe könne sie wieder mitnehmen, sie spiele nicht mit Puppen. Sie war gerade mal fünf Jahre alt. Steffi war und blieb immer selbstbewusst. Wenn ich Hausaufgaben machte, setzte sie sich neben mich, sah mir zu, stellte Fragen und lernte mit mir. Sie konnte mit fünf Jahren rechnen, schreiben, lesen und das so selbstverständlich, wie sie damit auch umgegangen ist. Uneitel…“

„Du sagtest, ihr wart viel auf euch selbst gestellt. Wie meinst du das?“

„Vater war sehr streng, autoritär, in seinen Ansichten, wenn er sie von sich gab, sehr konservativ eingestellt. Zu unserem Glück war er nicht oft zu Hause, in unseren frühen Jahren. Erst später hat er mehr zu Hause gearbeitet, aber immer hinter verschlossener Tür. Ich hatte immer das Gefühl, wir, also Steffi und ich, sind ihm egal. Er war sehr distanziert, mitunter dachte ich, wir sind ihm lästig. Er hatte keine Gefühle für uns, ja, er war gefühlskalt und wenn er den Vater gab, meist wenn wir Besuch hatten, dann fühlte sich das falsch an, richtig falsch…Wenn, dann hat sich Mutter um uns gekümmert. Wir waren als Familie nur einmal gemeinsam in Urlaub, in Kuba, aber selbst da war Vater irgendwo unterwegs, aber nicht mit uns. Wenn wir in Urlaub fuhren, einmal im Jahr, dann immer mit Mutter oder Steffi und ich besuchten später Oma und Opa in England. Mutter, hat sich, als Steffi noch klein war, viel um sie gekümmert, was, je älter Steffi wurde, immer mehr abnahm. Sie trank zu viel. Ich habe sie immer mit einem Glas Rotwein in der Hand vor Augen. Wann dies anfing, kann ich nicht sagen. Sie hat heimlich getrunken, erst später dann ungeniert…vielleicht wollte sie Papa damit provozieren. Meine Eltern stritten sich oft, meist wegen dem Alkoholkonsum meiner Mutter. Ich glaube, Mutter war sogar in einer Therapie, denn zweimal die Woche war sie für mehrere Stunden weg und Vater fragte sie einmal im Streit, ob ihr Seelenklempner mehr als Seelenklempner wäre. Sie wurde immer abwesender, vielleicht deprimierter, zog sich zurück. Und je mehr sie uns verlor, desto mehr fanden Steffi und ich zusammen. Als ich weg ging, endlich wegkonnte, ging das nur, weil Steffi mich drängte, wir können ja skypen, uns schreiben, uns besuchen. Ich wollte eigentlich in England studieren, die Nähe meiner Großeltern suchen, entschied mich aber dann für Münster, sind nur drei Stunden mit dem Zug.“

„Wäre Steffi auch von zu Hause weggegangen?“

„Das hatte sie fest vor. War aber noch unsicher, wohin. Was sie werden wollte, wusste sie, Biologin.“

 

Sie würden nach wie vor rätseln, wie der Täter unbemerkt in das gut gesicherte Haus seiner Eltern gekommen sei, vermuten aber, dass der Täter irgendwie an die Türcodes gekommen sein muss. Frau Kuracz, die Haushälterin, habe den Code auf ihrem Handy gehabt. Könne er sich vorstellen, dass sie etwas mit der Tat zu tun habe.

„Malenka? Oh nein. Ohne Malenka wäre der Haushalt zusammengebrochen. Ja, es stimmt sie hat den Türcode auf dem Handy. Ich habe ihn ihr aufgespielt. Sonst wusste niemand davon. Malenka und Handy. Die zwei haben sich nicht verstanden. Nein, sie dürfte nicht mehr gewusst haben, dass der Türcode auf ihrem Handy lag. Sie hatte ihn nie benötigt, hat immer geklingelt.“

„Kennst du ihren Sohn, Tarik heißt er, wenn ich recht erinnere?“

„Nein, ich habe ihn irgendwann einmal kurz gesehen, als er seiner Mutter half, das Essen für die Gäste zuzubereiten. Das ist einige Jahre her. Malenka erzählte gelegentlich von ihm, dass er in Bosnien sei, seinen Vater zu suchen. Er hing sehr an ihm und wollte dessen Schicksal herausfinden. Soviel ich weiß, ergebnislos.“

„Hatte dein Vater Geschäftspartner oder gar Kunden in Serbien?“

„Das weiß ich nicht. Aber es könnte schon sein.“

„Könnte der Sohn das Handy benutzt haben?“

„Nein. Malenka konnte mit dem Handy nicht umgehen, hat es immer tief in ihrer Tasche vergraben. Azra, ihre Tochter kümmert sich darum, damit es wenigstens ab und zu aufgeladen wurde. Benutzt hat es keiner, wie gesagt, selbst Malenka nicht. Wenn, dann war es meine Mutter, die Malenka anrief, wenn irgendetwas einzukaufen war. Das kam nicht so oft vor.“

„Weißt du noch, wann dein Vater begann, das Haus sicherheitstechnisch so hochrüsten zu lassen?“

„Da war ich schon nicht mehr zu Hause. Die Hunde hatte er angeschafft, da lebte ich noch zu Hause. Die Hunde haben Steffi mächtig Angst gemacht. Ich mochte sie auch nicht. Sie waren abgerichtet, als er sie anschaffte, hat aber immer wieder mit ihnen trainiert. Steffi hat mich über die Installationen am Haus informiert und meinte Vater würde überschnappen. Das war auch die Zeit, wo er Steffi zu kontrollieren begann. Sie musste sagen, wo sie hingeht und um das zu überprüfen rief er an, wenn sie bei ihrer Freundin war oder irgendwo anders.“

„Gab es denn einen Grund, einen Anlass, dass er sich unsicher fühlte?“

„Also Steffi war es ein Rätsel und aus der Ferne konnte ich sein Verhalten nicht einschätzen. Er war auch nicht immer so. Ich kann mir vorstellen, dass irgendetwas vorgefallen war, etwas, was mit seiner uns unbekannten Vergangenheit zu tun hatte.“

Betty schaut Henri an, erwartet, dass er weiter ausführt, er hält aber inne.

„Kannst du das näher ausführen?“

 

Leichte Falten ziehen sich auf Henris Stirn, er drückt die Hände seiner Freundin, wirft einen seitlichen Blick auf sie, betrachtet den Kaffee vor ihm auf dem Tisch, noch unberührt und wahrscheinlich schon kalt. Er sammelt sich.

„Ich habe nie verstanden, wie mein Vater sein Geld verdient. Ich meine das Geld, dass er hinlegte, wenn er eine Firma aufkaufte. Angeblich investierte er den Gewinn aus der Spedition. Nur, die Spedition warf nie und nimmer die Beträge ab, die er investierte. Als wir noch Kinder waren, wurden öfters Feste gefeiert. Im Sommer Gartenfeste, an denen wir Kinder teilnehmen durften, weil auch die Gäste, meist seine Mitarbeiter, ihre Kinder mitbrachten. Wir tobten abseits der Festgesellschaft. Im Winter wurden die Gäste im Haus empfangen und wir Kinder mussten auf unseren Zimmern bleiben. Steffi und ich legten uns dann auf den Fußboden im Obergeschoss und beobachteten von oben durch das Geländer, was da unten vor sich ging. Das Seltsame war die Sprache, die ich da hörte. Erst später habe ich verstanden, dass dies Sächsisch war. Mein Vater sächselte mit anderen sächsisch sprechenden Männern. Das fand ich sehr seltsam. Und dann waren da noch die Russen und mein Vater sprach fließend russisch mit denen. Irgendwie waren es immer die gleichen Leute, die bei uns waren. Dann habe ich verstanden, dass das, was wir sahen und hörten Vaters Vergangenheit war.“

„Da warst du wie alt?“

„Zwischen meinem achten und elften Lebensjahr.“

„Und danach?“

„Irgendwann danach hörten meine Eltern auf, Gäste zu empfangen. Keine Ahnung warum. Also zumindest keine größeren Feste. Einzelne Personen kamen schon noch zu uns. Ein Russe, an den ich mich gut erinnere, wir mussten ihn Onkel Rudi nennen, ein dicker Mann mit wulstigem haarlosem Kopf, der unheimlich viel rauchte, stinkende Zigaretten, deren Geruch noch Tage nach seinem Besuch in der Wohnung hing. Je mehr ich begann, meinen Vater zu verachten, desto weniger interessierte mich, wer bei uns ein- und ausging.“

„Du hast dir Gedanken über deinen Vater gemacht?“

„Ja. Die fehlende Vergangenheit, sächsisches und russisches Sprechen und mein erster Computer ließen mich nachforschen, woher mein Vater kam.“

„Und? Bist du fündig geworden?“

„Nein. Wobei genau das das Erschreckende war. Nichts, es gab nichts über ihn zu finden. Bevor ich mich nach Münster verzog, habe ich mich sogar als mein Vater ausgegeben und beim Standesamt Dresden seine Geburtsurkunde angefordert unter Angabe meiner neuen Adresse in Münster. Aber in Dresden und den eingegliederten Vororten gab es keinen Joachim Weidtmüller und da wurde mir klar, dass mein Vater eine DDR-Vergangenheit hatte, und zwar eine, die verschleiert werden musste. Ich bin überzeugt, dass mein Vater eine Schuld aus sich geladen hatte. Eine Schuld, die vielleicht meine Familie ausgelöscht hat.“

Olaf, bisher still neben Betty sitzend, räuspert sich und fragt dann: „Bei all den Besuchen dieser Russen, hast du da je den Namen Serge Poschinow gehört?“

„Nein. Bis auf Onkel Rudi, der nicht so hieß, kenne ich keine Namen.“

„Noch einmal kurz zu deiner Schwester. Wann hattest du zuletzt Kontakt mit ihr?“ fragt Betty weiter.

Ein Schlucken, ein Seufzen, kurzes Nachdenken, Henri ringt mit sich, das Bild der Schwester schoss sicher in ihm hoch, wässrig werden seine Augen, leise, stockend antwortet er, Samstag.

„Irgendetwas besonderes gesprochen? War sie wie immer? Keine Ängste oder ähnliches geäußert?“

„Wir haben nur Kurznachrichten ausgetauscht. Sie sei krank gewesen, es gehe ihr aber schon wieder besser.“

„Krank? Wie krank?“

„Halt krank. Sie hat es nicht konkretisiert.“

„Keine Anzeichen von Angst oder einer Beunruhigung?“

„Nein, nichts, wie immer, so wie sie nie mehr sein wird. Warum? Verdammt noch mal warum? Nur weil mein Vater Scheiße gebaut hat? Deswegen muss doch Steffi nicht sterben.“

Henri sagt dies ruhig, leise, verzweifelt, bricht in Tränen aus, von rechts und links mit tröstenden Armen und Händen versorgt. Betty wartet, lässt ihm die Zeit, sich wieder zu beruhigen, trinkt ihren erkalteten Tee, winkt der Bedienung, bittet um eine neue Tasse, auch Olaf ordert noch einen Kaffee.

„Sorry.“

„Ist schon gut.“

 

Er spiele sicher auf den Verdacht gegen seinen Vater, in einen Kokain-Schmuggel verwickelt zu sein, an. Ob er glaube, der Verdacht sei berechtigt, will Olaf wissen.

„Nach allem, was ich weiß und erfahren habe, ja, ich glaube, dass mein Vater der eigentliche Organisator des Schmuggels war. Es passt alles. Kerner hat nur gemacht, was ihm mein Vater sagte.“

„Aber auch du vermutest nur? Du hast keine Beweise?“

„Mein Verstand sagt mir das. Nein, beweisen kann ich es nicht.“

Betty schaut auf die Tischrunde, meint, für das Erste, lassen wir es gut sein. Bestimmt werden sie später, nach den weiteren Ermittlungen, noch einmal auf ihn zukommen. Ob er seine Eltern noch einmal sehen möchte, identifizieren müsse er sie nicht, dass bliebe ihm erspart, Frau Kuracz habe das übernommen. Sichtlich nervös werdend, zu seiner Freundin blickend, weiß Henri anscheinend keine Antwort, außer mattem Schulterzucken, sagt schließlich, doch, er würde seiner Schwester gerne über die Hand streicheln, wobei ihm kleine Tränen aus den Augen kullern. Und die Eltern, setzt Betty nach, das wisse er nicht, also, ob er die Kraft aufbringe, nach der Schwester auch die Eltern anzuschauen.

Die Finanzen seiner Eltern seien vorerst eingefroren, dennoch dürfe er mit einem beträchtlichen Vermögen rechnen, wenn die Ermittlungen abgeschlossen seien, was hieße, er müsse nach Lübeck kommen, um die Finanzsituation zu klären. Ob er den Anwalt der Familie kenne. Nein, kenne er nicht. Olaf bietet ihm an, dass ein Fachmann vom BKA ihn zu dem Anwalt begleiten könne, reicht ihm seine Karte, er solle sich melden, wenn er so weit sei.

„Begleiten? Warum sollte mich ein Polizist begleiten?“

„Wir haben kein Vertrauen zu dem Anwalt. Er wusste um die Geschäfte Ihres Vaters. Wie tief er selbst drinnen steckt, wissen wir nicht. Es ist Vorsicht geboten und ein aufmerksamer, kompetenter Begleiter durchaus angebracht. Natürlich können Sie auch einen Anwalt Ihres Vertrauens einschalten. Auf jeden Fall gehen Sie nicht allein zu diesem Anwalt.“

„Oder auf mich zugreifen, bis du eine Lösung für deine Vertretung gefunden hast. Ach,“ hakt Betty nach, “eine letzte Frage. Hat dein Vater je das Thema angesprochen, dass du seine Geschäfte eines Tages übernehmen sollst?“

„Nein. Nie.“

„Und Steffani hat er sicher auch nicht angesprochen.“

„Soviel ich weiß nein. Er hat nicht mit uns gerechnet. Zu Recht.“

„Ein letztes, wo wohnt dein Großvater derzeit. Weiß er, was passiert ist?“

Henri seufzt leicht, schließt seine Augen: „Nein, wenn er es nicht im Fernsehen mitbekommen hat, nein, er hätte mich angerufen. Wohnen? Ja, in Haffkrug, in einem Seniorenheim.“

„In Haffkrug? Also Haffkrug bei Scharbeutz? Nicht in England?“

„Ja, nach Omis Tod blieb er noch ein paar Jahre in England, kam aber vor einem Jahr zurück. Oma wollte in England sterben, Opa in Holstein.“

Betty dankt Henri für seine Geduld, verabschiedet ihn, bittet aber, so bald ihm etwas einfalle, was nicht zur Sprache kam oder ihm im Nachgang einfalle, sie zu kontaktieren. Jede Kleinigkeit könne wichtig sein. Ein Standardsatz, an dessen Inhalt Betty aber nicht glaubt. Und, sobald er so weit sei, noch einmal vor seiner Schwester und seinen Eltern zu stehen, auch da solle er sie anrufen. Sie würde ihm zur Seite stehen.

Die beiden jungen Leute gehen, gefolgt von der Psychologin. Betty, Olaf und Kommissar Knauf bleiben noch einen Moment sitzen. Sie habe großen Hunger, ob der Kommissar wisse, ob in der Nähe ein Restaurant sei, den Hunger zufriedenzustellen. Um die Ecke sei ein Grieche. Gut, dann halt ein Grieche, er sei eingeladen, was Knauf dankend annimmt.

Zwei Straßen weiter befindet sich der Grieche, der durchgehend warme Küche anbietet, gut so, Betty hatte schon befürchtet, auf eine Mittagspause zu stoßen, atmet nun erleichtert durch. Olaf muss dem Münsteraner Kommissar die Sache mit dem Kokain-Schmuggel erklären, denn der ist ihm bisher entgangen, so kann Betty nebenherlaufen und die Gedanken in ihrem Kopf sortieren und verarbeiten. Sie müssen das Beratungsunternehmen auf den Kopf stellen, die Mitarbeiter befragen, hätte sie längst tun müssen, aber sie kann weder sich noch die paar Kollegen teilen, also nachholen, was versäumt ging.

 

Sie nehmen Platz in dem fast leeren Restaurant, Zwischenzeit, die Speisekarte kommt, gebracht von einem jungen Mann, dessen Wurzeln eindeutig sichtbar nicht in Griechenland liegen. Mit der Karte kommt ein Ouzo, den Betty dankend ablehnt, Kommissar Knauf aber dankend zugreift, bei dem Scheißwetter genau das richtige, meint er entschuldigend. Auch Olaf hält sich zurück. Sie geben ihre Bestellung auf, Betty hat sich für ein Moussaka entschieden, Olaf den Delphi-Teller und Knauf Lammfilet mit dicken Bohnen.

Kommissar Knauf fragt die beiden Kollegen, ob sie das Gespräch weitergebracht habe. Betty nickt mit ihrem Kopf, Olaf zuckt die Schultern, er weiß es nicht, doch Betty ist sich nun sicher, dass Herr Weidtmann die Übernahme der Spedition planvoll betrieben habe, was die Schilderung der familiären Verhältnisse durch den Sohn ihr bestätigt habe. Was auch hieße, dass die Übernahme der Spedition von Anfang an nur dem Zweck dienen sollte, verbotene Ware, also Kokain, nach Deutschland zu schmuggeln. Da würden sich clanähnliche Strukturen zeigen, was Olaf kopfschüttelnd abwiegelt. Nein, das sehe er nicht so, da würde Betty weit über das Ziel hinausschießen. Knauf aber meint, nein, er sähe es wie Frau Sundberg, die Familie sei spezifisch gewesen, sehr spezifisch, und das Verhalten des Vaters lasse sich nur damit erklären, dass er eigentlich keinerlei Interesse an seiner Familie hatte, zudem ohne Vergangenheit sei, was viel Raum für Spekulationen zulassen würde.

Ihr Essen kommt. Betty muss sich beherrschen, nicht zu schlingen, sondern wie gelernt, sorgsam ihre Bissen zu sich zu nehmen. Zu weit ab von dem kurzzeitig gelebten Tagesablauf. Ihr schmeckt es, gut gewürzt der Auflauf, langsam beruhigt sich ihr Magen, nicht ihr Kopf. Was offensichtlich ist, will Olaf nicht wahrhaben. Betty kommen Zweifel an Olaf. Irgendwie hat sie das Gefühl, dass er mehr weiß als er bisher preisgibt. Vielleicht ist sie auch überspannt, überdreht, sieht Dinge, die nicht zu sehen sind, trotzdem, sie wird zurückhaltender sein, mit dem, was sie sagt.

Während sie essen, interessiert sich Kommissar Knauf für die letzten Ereignisse in Lübeck, sei ja viel los gewesen die letzten Monate, dagegen sei hier in Münster Grabesruhe, na ja, sei auch gut so. Ob denn dieser Serienmörder mittlerweile gefasst sei, will er wissen. Und Betty berichtet, was sie berichten kann, stellt dabei fest, dass sie wenig weiß, zumindest von den Vorgängen nach ihrem Niederschlag. Sie hatte weder mit Hembach noch mit Lusi über den Fortgang gesprochen, irgendwie lag der Teppich über diesem Vorgang, gut, sie hatte im Moment andere Sorgen.

Sie verabschieden sich nach dem Essen und dem obligatorischen Espresso von Kommissar Knauf, danken ihm für die unbürokratische Hilfe, was dieser lachend mit, tja, mitunter gehe es auch ohne, quittiert. Sie gehen zu ihrem Fahrzeug und machen sich auf den Rückweg.

 

Kaum sitzend, zückt Betty ihr Smartphone, wählt Lusis Handy an, dauert einen Augenblick, bis sie annimmt.

„Hallo Betty. Na, neugierig?“

„Bin ich. Wie sieht es aus?“

„Wir sind noch vor dem Haus der Weidtmanns. Sandra bringt gerade eine Kameraleiste an der Hoftür an, scheint zu funktionieren. Auch das Mitlesen der Eingabe mittels eines Fernstechers ist möglich. Sandra hat elf Versuche gebraucht, um die Kombination richtig mitzulesen. Was heißt, der Täter hat mindestens eine Woche lang vor dem Haus gestanden und die Tochter beobachtet, wenn sie nach Hause kam, also müssen wir nochmals mit allen Nachbarn reden, denn eine Woche ein fremdes Auto vor dem Haus, das müsste aufgefallen sein.“

„Machst du das heute noch, also die Befragung?“

„Ja, später, wenn die Leute aus der Arbeit zurück sind.“

„Und wie sieht es mit der Haustür aus, die auszulesen, dürfte schwieriger sein.“

„Ja, dazu muss Sandra auf das Gelände, wahrscheinlich sogar auf das Garagendach gehen.“

„Was heißt, sie wird von den Kameras erfasst. Nein, die Haustür hat er anders ausgespäht. Und die Kameraleiste ist einfach anzubringen?“

„Ja, Sandra hat eine Minikamera organisiert und klebt sie über die Tastatur. Das ist ein Schwachpunkt der Anlage, zwar gut gedacht, die Tastatur hinter einer Klappe zu verbergen, aber genau diese Klappenhalterung bietet den Platz, um die Leiste zu platzieren.“

Also gibt es zwei Möglichkeiten in das Haus zu kommen. Nur, unbemerkt? Einerseits hätte der Alarm losgehen müssen, sofern ihn Herr Weidtmann aktiviert hatte, andererseits hätten die Hunde frei sein müssen, sofern Herr Weidtmann den Zwinger geöffnet hatte, denn die Familie war im Haus. Sollte er beides vergessen haben? Oder kam der Täter bei Tag in das Haus, vielleicht war das Haus kurzzeitig leer, er ging hinein, versteckte sich, harrte dort aus und schlug in der Nacht zu. Nein, eher unwahrscheinlich. Ob sie auch bereits mit der Familie der Haushälterin gesprochen hätten, vor allem mit dem Sohn.

Ja, hätten sie, der Sohn sei sauber, habe ein überprüftes sehr glaubwürdiges Alibi, habe nichts von den Türcodes auf dem Handy seiner Mutter gewusst, das Handy auch nie in Händen gehabt, darum habe sich nur Azra gekümmert. Er sei mehrmals bei den Weidtmanns gewesen, habe mit seiner Mutter das Essen vorbereitet und gekocht, Herr Weidtmann nur aus der Distanz gesehen. Seine letzte Anwesenheit schätzte er auf zwei oder gar drei Jahre zurückliegend. Frau Weidtmann habe er als anscheinend dem Alkohol zugeneigt beschrieben, wenn sie in die Küche gekommen sei, um zu schauen, wie weit die Vorbereitungen seien, habe dies nur als Vorwand gedient, sich das Glas mit Rotwein zu füllen.

„Er war mehrmals in Serbien und Bosnien, hat in Archiven gesucht, mit ehemaligen Nachbarn, früheren Freunden gesprochen, ist mit Menschenrechtsorganisationen in Kontakt getreten, hat aber bisher keine Spur seines Vaters gefunden. Das ungeklärte Schicksal scheint Teil seiner Persönlichkeit geworden zu sein. Es belastet ihn sehr. Also kurz gesagt, er kommt meines Erachtens als Täter nicht in Frage. Ah, Sandra ist fertig, ich muss rüber gehen, den Code eingeben. Bin gespannt, ob es beim ersten Mal klappt.“

Sie lasse das Handy an, dann könne Lusi gleich das Ergebnis mitteilen. Statt Lusi meldet sich Sandra, grüßt Betty und meint, es sei nicht schwer, bei genauer Beobachtung den Türcode herauszufinden und liest laut vor was Lusi eintippt. So, wissen wir dies auch, meint Sandra, also auch das kein Problem. Es sei wesentlich unkomplizierter als gedacht. Damit dürfte auch klar sein, dass der Täter den Computer der Anlage im Haus lahmgelegt habe. Und, tippt Sandra, es war nur ein Täter. Schön, super, meint Betty und hat trotzdem ein ungutes Gefühl, da ihnen die Verdächtigen ausgehen und sie nach wie vor, vor einem Rätsel stehen, zwar einiges wissen, nur nicht das, was sie der Aufklärung näherbringt.

 

Ungeduldig auf ihren Bericht wartend, sieht Olaf Betty an, die noch in Gedanken ist. Nur ein Täter und eventuell kein IT-Spezialist, na ja, der Täter musste schon einiges IT-Wissen haben und ein Wissen über die Anlage im Haus. Doch ein Mitarbeiter der Sicherheitsfirma? Betty bemerkt die fragenden Blicke von Olaf und besinnt sich, dass sie ja nicht allein den Fall bearbeitet, also berichtet sie ihm, was sie von Lusi und Sandra erfahren hat.

„Hm, das sind alles nicht unbedingt befriedigende Erkenntnisse. Und ich frage mich, halten wir uns nicht mit Nebensächlichkeiten auf?“

„Nein, denke ich nicht. Nebensächlichkeiten sind wie die kleinen Nebenflüsse, die den großen Flüssen zufließen und sie anfüllen, um ins Meer zu fließen. Diesen Nebenflüssen verdanken wir, dass das, was wir Abwasser nennen, uns genommen wird…Nebensächlichkeiten ergeben also eine Sache und deshalb sammeln wir Nebensächlichkeiten, um zur Sache zu kommen.“

„Schön gesagt, aber bisher ist die Sache die Familie Weidtmann und nicht die Tat an sich, oder das Tatmotiv.“

„Mag sein. Das Wissen über die Opfer bringt uns dem Motiv aber näher, dass, wie ich einräume, mir nach wie vor unklar und nach diesem Besuch noch unklarer ist. Ich habe versucht, mir das Profil des Täters vorzustellen, quasi eine Skizze von ihm zu machen, aber da passt einiges nicht zusammen und wenn etwas nicht passt, will diese Skizze nicht gelingen.“

„Das musst du mir näher erklären, klingt mir zu akademisch.“

„Akademisch?“ Betty muss grinsen, meint, ja, es sei reichlich kompliziert, und sie habe auch mehr Fragen als Antworten, vor allem nicht die, die sie weiterbringen würden.

„Also, die Frage ist, warum wurde der Tochter der Kopf abgetrennt? Warum nicht dem Vater, den es doch zu bestrafen galt, sofern unsere Annahme richtig ist. Du könntest jetzt sagen, weil sie leichter zu tragen war als der Vater. Wäre ein Grund, aber letztlich unwahrscheinlich, weil ich glaube, der Täter hat vornherein die Tochter als diejenige angesehen, die er Enthaupten wollte. In dieser Absicht ist er in das Haus eingedrungen.“

„Und wie kommst du zu dieser Vermutung?“

„Das Arrangement. Die Eltern schlafend im Bett, Randfiguren, und die Tochter aufgebahrt im öffentlichen Raum, verweisend auf ihr zu Hause, als wollte der Täter sagen, seht, was euch geschieht, wenn ihr…Dieses Wenn ist das Rätsel und ich glaube, die Eltern spielen im Prinzip keine Rolle, was heißt, keine Rachetat.“

Olaf starrt vor sich hin, zwar die Fahrbahn im Blick, die Gedanken aber konzentrieren sich nicht auf den Verkehr.

„Du stellst deine eigene Annahme in Frage? Kein Racheakt der Russenmafia?“

„Nein, stelle ich nicht. Ich stelle nur um. Ich stelle die Frage, warum Steffani geköpft wurde. Köpfen hat eine lange Tradition, uns durch die Taten des Islamischen Staates wieder zu Bewusstsein gekommen. Der IS handelte in der Auffassung, dem Vorbild des Propheten Mohammed zu folgen. Der hatte, frage mich nicht wann, aber vor langer Zeit, in einem Dorf, das später Medina genannt wurde, gefangen genommene Krieger eines jüdischen Stammes den Kopf abschlagen lassen. Die Quellen berichten von sechs- bis achthundert Kriegern. Schlachten, nannte es der IS, wie Vieh, spielt auf das rituelle Schächten an. Der Kopf wird zur Schau gestellt. Eine Herabwürdigung der Opfer. In unserem Fall wird nichts zur Schau gestellt, außer dem Torso. Es gibt keinen religiösen Hintergrund. Es gibt nichts, woraus sich eine Bestrafung der Tochter schließen lässt. Enthaupten kann als symbolischer Akt betrachtet werden, der Macht und Kontrolle symbolisiert. Macht wurde uns gezeigt. Die Macht, unbemerkt in das Haus zu gelangen, zu töten und keine Spuren zu hinterlassen. Kontrolle ja, wenn die Absicht war, anderen in diesem Geschäftsgeflecht zu sagen, ich habe euch im Visier, gehorcht. Würde alles passen, wenn der Vater enthauptet worden wäre, nicht die Tochter. Der Verlust des Kopfes steht für das Ende des Lebens oder einer Beziehung. Nur, wir wissen, das Steffani keine Beziehung wollte und dies allgemein akzeptiert wurde. Auch ist niemand bekannt, der ihr intensiv nachstellte und wenn dem so wäre, welcher enttäuschter Möchtegernliebhaber hätte so einen Aufwand getrieben, um die Beziehung zu beenden oder seine Nichtbeachtung zu rächen? Wut oder Frustration entlädt sich eher spontan und nicht so eiskalt geplant. Abschreckung. Früher wurden Enthauptungen öffentlich zelebriert, ein Schauspiel für die Masse, denk an Marie Antoinette, an Ludwig XVI. und all die anderen, die unter die Guillotine gelegt wurden. Die Botschaft war, dies kann dir auch passieren, wenn du stiehlst, mordest, Verrat übst oder was auch immer. Was aber hat Steffani getan? Nicht das Geringste, soweit wir wissen. Noch ein Aspekt, die Kelten pflegten einen Schädelkult, heißt, sie sammelten die Schädel ihrer Opfer, ihrer Gegner, in dem Glauben, das Wissen und die Kraft des Opfers in sich aufzunehmen. Aber, ich glaube nicht im Ernst daran, dass der Täter den Kopf an sich genommen hat, um Wissen und Kraft aus ihm zu ziehen oder aus einer perversen Sammelleidenschaft. Und um uns die Identifikation seines Opfers zu erschweren, hat der Täter den Kopf auch nicht mitgenommen. Er hat uns direkt auf die Identität hingewiesen, allerdings haben dies die Kollegen zu spät bemerkt. Ich glaube, unser Täter hat den Kopf längst entsorgt und nur ein Zufall kann ihn zum Vorschein bringen. “

 

Nur ein schwaches „Wow“ kommt aus Olafs Mund. Ein kurzer fragender Blick auf Betty, nein, Olaf hatte nicht verstanden, worauf Betty hinauswill.

„Und…was willst du damit sagen?“

„Unserem Täter ist der Kopf lästig. Er braucht ihn nicht mehr. Er wollte lediglich etwas demonstrieren, das hat er getan und damit hat der Kopf ausgedient. Er musste ihn aber mitnehmen, sonst wäre seine Inszenierung sinnlos gewesen. Und zu diesem „etwas Demonstrieren“ will ich hin. Ich weiß nur noch nicht, wie ich die Sache auf den Punkt bringen kann.“

In gewissem Sinn wusste Betty dies schon, nur wenn sie Olaf nun noch die Sache mit den ihr unerklärlichen Kopfschmerzen der Tochter sagen würde, würde Olaf abschalten, also lässt sie es bleiben, weiß aber, dass alles ganz anders sein könnte, als sie bisher dachte.

„Egal, welche Variante des Kopfabtrennens ich betrachte, keine Variante ergibt einen Sinn. Vielleicht will der Täter auch, dass wir ihm auf den Leim gehen. Er hat uns eine Spur gelegt, wir sollen auf die Russen schauen. Das kann falsch sein, was uns veranlasst, Dinge zu denken, die so nicht sind, Zeit aufzuwenden, für sinnlose Nachforschungen.“

„Du verkomplizierst den Fall, verrennst dich in deinen Gedanken. Also, mir scheint der Fall ziemlich klar zu sein und an der Annahme, dass es sich um einen Racheakt handelt, hege ich keinen Zweifel.“

„Dein Ding.“

Nein, so einfach sieht Betty den Fall nicht, hat aber noch keine Vorstellung davon, in welche Richtung sie weiterermitteln soll. Gut, dem Chef berichten und ihn bitten, dass er vom Oberstaatsanwalt einen Durchsuchungsbeschluss für das Beratungsunternehmen von Weidtmann erwirkt und ein Termin bei seiner Hausbank wäre auch sinnvoll. Sie nimmt das Smartphone, dass noch in ihrer Hand liegt, wählt ihren Chef an, der annimmt.

„Moin Chef, äh, sorry, Ulf. Wir sind auf dem Weg zurück. Der Sohn ist unverdächtig. Viel Neues konnten wir nicht herausfinden, lediglich der Zustand der Familie scheint brüchig gewesen zu sein, aber das erkläre ich morgen früh zur Besprechung. Könntest du vom Oberstaatsanwalt einen Durchsuchungsbescheid für die Beratungsfirma erwirken und bei der Hausbank von Weidtmann einen schnellen Termin mit dem Filialleiter ausmachen?“

„Moin Betty, also die Beratungsfirma ist Spielfeld des BKA. Die sind schon dort. Hat dir das der Kollege, der neben dir sitzt, nicht gesagt?“

„Nein. Wird er sicher gleich tun.“

„Und zur Bank müssen wir auch nicht. Die Bank kommt zu uns.“

„Kommt zu uns? Wer beehrt uns da und warum?“

„Eine Frau Kilian wird kommen, sie leitet die Filiale der Deutsche Bank hier in Lübeck. Das warum hat sie nur angedeutet. Sie kommt morgen früh, nach der Besprechung, um 10:00 Uhr. Kommst du noch im Büro vorbei?“

„Nein, es wird zu spät. Wir sind gerade losgefahren und irgendwann brauche ich eine Pause.“

„Gut, dann bis morgen.“

„Bis morgen.“

Sie schiebt ihr Smartphone in ihre Umhängetasche, schaut zu Olaf, fragt „Nun?“, doch der gibt sich unschuldig, meint, zwar habe sein Chef angedeutet, die Beratungsfirma aufzusuchen, allerdings nicht wann und aus welchem Grund, aber das werde er dann bestimmt morgen früh ausführen. Trotzdem, sie hätte dort andere Fragen gestellt als sein Chef, aber egal, zur Aufklärung der Morde hätte die Mitarbeiter sowieso nicht beitragen können, aber das mit den Kollegen aus den neuen Bundesländern hätte sie schon näher interessiert. Olaf lächelt ihr zu und sagt, sie solle einmal das Geschäftsmodell bedenken und daraus die Anforderungen an die Mitarbeiter ableiten. Hm, die müssten Russisch als Grundvoraussetzung für den Job mitbringen. Genau. Und diese Voraussetzung finde sie in den neuen Bundesländern. So einfach sei das und keine Clanstrukturen dahinter. Gut, Betty versteht die Anspielung, geht aber nicht darauf ein.

Sie fahren von A1 ab, Richtung Zentrum, Betty sagt Olaf, wo er sie herauslassen soll, sie will einige Schritte gehen, den Kopf frei bekommen und sich endlich bewegen, auch ohne Stöcke.

 

Vor der Musik- und Kongresshalle steigt sie aus, verabschiedet sich auf Morgen, geht mit flotten Schritten über die Holstenhafenbrücke durch die Beckergrube, sich ärgernd über diese Typen vom BKA, die ja anderen Sachverhalten nachgingen als sie, eine Abstimmung in der Vorgehensweise wäre angebracht gewesen und überhaupt…Sie versucht sich vorzustellen, wie die beiden Geschwister die häusliche Situation verarbeitet haben. Steffani wahrscheinlich, in dem sie sich bildete, sich engagierte, sich ablenkte, aber eine Frustration musste dennoch an ihr haften, ebenso wie bei Henri, der geflüchtet ist. Sie weiß aus Erfahrung, welche Wunden mangelnde Zuneigung reißen können, sie hatte die Großmutter. Und die Geschwister? Innig konnte das Verhältnis nicht sein, da die Großmutter den Ehemann der Tochter ablehnte und einiges davon sich auf die Enkelkinder übertragen haben dürfte. Nein, das kann keine einfache Kindheit gewesen sein. Aber wächst daraus Wut? Rachegedanken? Enttäuschungen ja, nein, keine Rache. Sie glaubt Henri.

Dank des späten Mittagessens rührt sich ihr Magen noch nicht, nur der Kopf, der ihr sagt, falls sie frisch kochen möchte, müsse sie einkaufen. Nein, braucht sie nicht, sie hatte noch Möhren im Kühlschrank und Zanderfilet im Gefrierfach, das wird sie sich heute Abend zubereiten.

Die Geschäfte, kurz davor zu schließen, eilt Betty, einem spontanen Entschluss folgend, in die Lange Straße, in das Geschäft mit den bunten Kleidern für Mollige, in dem die junge Dame vom letzten Mal argwöhnisch die spät eintretende Kundin beäugt, gedanklich schon dabei, die Tür für heute zu schließen, aber Betty ist unwiderstehlich hereingestürmt, abhaltende Worte nicht möglich. In das Gewirr der bunten Klamotten eintauchend, vergisst Betty alles um sich herum, alles in sich, sucht, hebt heraus und an, prüft, nickt und wählt aus. Schnell hängen zwei bunte Sweatshirts, ein Ringel-Pullover, gelb, rot, blau und roten Ringeln, zwei, wie sie dem Schild entnimmt, Babycord-Hosen, die sie natürlich anprobieren muss. Angesichts der auf Bettys Armen geladenen Menge, erhellt sich das Gesicht der Verkäuferin, hebt den heutigen Umsatz an.

Pullover und Sweatshirts legt Betty bereits an der Kasse ab, mit den Hosen geht sie in die Umkleidekabine, dehniger Stoff, die Hosen passen, prall gefüllte Hosen, leichtes beige, die eine, leichtes, dezentes grün die andere Hose, zahlt, lässt sich alles einpacken und wünscht der Verkäuferin einen schönen Feierabend. Die gut gefüllte Tasche in der Hand legt Betty den Rest ihres Weges mit dem Bus zurück, kommt in ihrer Wohnung an, schmeißt die Tasche auf die Couch, setzt sich daneben und schnauft befreiend aus.

Später dann das Abendessen, gedünstete Möhren, gewürzt mit Kurkuma, zwei Frühlingszwiebeln und zwei kleine Zanderfilets, angebraten, nur leicht mit Salz und Pfeffer gewürzt, dafür einen Schuss Zitronensaft, fertig. Danach der Versuch, die Hundejahre zu lesen, aber nach wenigen Seiten gibt sie auf, will aber auch nicht über den Fall nachdenken, schaltet den Fernseher ein, zappt sich durch die Kanäle, keinesfalls einen Krimi, Thriller oder Action-Film, etwas für das Gemüt, wird bei Arte fündig, Alexander der Lebenskünstler mit Philippe Noiret, einem Schauspieler, den sie sehr schätzt. Wenigstens etwas zum Lachen, zum Ende des Tages.

 

Da die Heizung in der Wohnung bereits auf Winter eingestellt ist, breitet sich mollige Wärme aus, legt sich über Betty, die den Schluss des Filmes nicht mehr mitbekommt, kommt erst durch das Summen ihres Smartphones zu sich. Muss sich erst kurz besinnen, was los ist, fragt sich, wer so spät noch anruft, kurzer Blick auf das Display, Professor Giede, schaltet den Fernseher aus und drückt die grüne Taste.

„Moin, Herr Professor, so spät noch?“

„Moin, Betty, ich dachte mir, dass Sie noch auf sind, ich lese Zeitungen. Sie sind involviert in diesen Fall?“

„Ja, er treibt mich derzeit um.“

„Dann vermute ich, dass Sie keine Zeit haben, sich mit mir zu treffen. Es wäre wichtig, dass wir uns zusammensetzen, da Ihre Anstellung sich erschwert. Wir müssen die Stelle ausschreiben, der Personalrat hat sich eingeschaltet sowie die Gleichstellungsbeauftragte. Ja, das gibt es mittlerweile. Kurz gesagt, Sie müssen sich ganz offiziell bewerben und ein Bewerbungsgespräch führen, dessen Ergebnis zwar feststeht, aber wir haben den Regeln entsprochen. So ist das hier. Lästig, aber wir umgehen Ärger. Nächstes Problem ist, die Stelle ist ab 01. Oktober bewilligt, wenn ich Sie richtig verstanden habe, könnten Sie frühestens ab 01. Dezember ihre Aufgaben in Angriff nehmen. Irgendwie müssen wir die zwei Monate überbrücken. Wir könnten Gefahr laufen, dass die Stelle gestrichen wird. Darüber wollte ich mit Ihnen reden. Wäre es an einem Tag am Wochenende möglich, dass Sie bei mir vorbeikommen können?“

„Tja, warum einfach, wenn es auch kompliziert geht. Ich vermute in England ist die Bürokratie noch nicht so ausufernd. Ich versuche, am Sonntag zu kommen. Nachmittag, gegen 15:00 Uhr. Bei Ihnen zu Hause?“

Natürlich will Professor Giede Einzelheiten zu Bettys aktuellem Fall wissen, der kurzzeitig aus ihrem Kopf entschwunden war, nun aber wieder im Erzählvorgang mit voller Wucht in ihre Gedankenwelt eindringt. Der Professor teilt Bettys Bedenken bezüglich der Enthauptung, die auch für ihn keinen Sinn ergibt, sieht die Eltern sozusagen als Beifang und die Tochter als das eigentliche Ziel, ohne sich aber einen Reim auf das Motiv machen zu können. Die Sache mit den Kopfschmerzen sieht er als Zufall an, meint, er sehe da keinen Zusammenhang. Was ihre nächsten Schritte seien. Nun, die Familie weiter ausleuchten, um das Rachemotiv ausschließen zu können. Sie solle vorsichtig vorgehen, denn der Täter scheine viel Gewaltpotenzial in sich zu tragen und skrupellos zu sein. Betty werde dies berücksichtigen. Sie verabschiedet sich auf Sonntag.

Ja, was sind meine nächsten Schritte, denkt Betty. Wo kann ich hingehen? Sie sieht nicht viele Wege, außer das Leben der Tochter nochmals intensiver zu betrachten, irgendwo in diesem Leben könnte Verborgenes liegen. Nur was? Nochmals mit Mareike reden und mehr über Kopfschmerzen lesen, was sie tut, kann eh nicht schlafen. Sie klappt ihren Laptop auf, klickt Google an, sucht „Kopfschmerzen“ und liest in einige Artikel hinein, ohne zu wissen, nach was sie sucht. Haften bleibt, Kopfschmerzen sind wiederkehrende Schmerzen, besonders heftig und hartnäckig Migräne. Gut, hatte der Arzt ja auch schon gesagt. Steffanis Schmerz war kurzfristig und sehr heftig, doch von dieser Art Kopfschmerz kann sie nirgendwo lesen. Möglich war Stress der Auslöser oder ein aufgetretenes körperliches Problem, ungewöhnlich, aber nicht unmöglich.

Sie legt den Laptop beiseite, denkt nach und nimmt sich vor, nochmals mit Mareike zu sprechen, vielleicht ist deren Kopf nach kurzem Abstand freier geworden, aber jetzt nicht, morgen oder übermorgen. Sie erhebt sich, löscht alle Lichter und bereitet sich vor, zu Bett zu gehen, dieses „Was“ im Kopf.

 

Noch im Dunkeln ist Betty aufgestanden, in ihre Jogginghose geschlüpft, zieht T-Shirt und warme Jacke über und läuft flott durch Lübeck. Im Kopf einen Rundlauf, runter zur Burgtorbrücke, die Trave entlang, die Fleischhauerstraße hoch und über die Königstraße zurück, den sie keuchend absolviert, gelegentlich sogar in Trapp fällt. Zurück, der Sprung unter die Dusche, Frühstück, steigt in die neue Hose, den neuen Pullover, Jacke drüber, Umhängetasche und Laptop um, geht zur Bushaltestelle, steigt, als der Bus kommt, ein, nimmt Platz und hat das Gefühl, frei von abschätzenden Blicken zu sein. Wie das? Sie ist immer noch viel zu dick. Machen dreißig Kilo so viel aus? Oder hat sich in ihrem Kopf etwas verändert. Vielleicht. Und, sie muss endlich ein Fitness-Studio finden und sich anmelden, zunächst für ein Probetraining. Das Studio muss passen.

Im Büro sind bereits Lusi und der Chef, scheint ein Frühaufsteher zu sein, der sie, als er sie sieht, zu sich winkt.

„Guten Morgen, Betty. Sag mal, wie kommst du mit dem Herrn Tönnes klar?“

„Wie soll ich mit ihm klarkommen? Er begleitet mich halt.“

„Hm, ich finde es seltsam, dass die Herren vom BKA ihre Aktionen nicht mit uns abstimmen, wie die Untersuchung der Beratungsfirma und bei der Bankfiliale waren sie auch, dass habe ich gestern in unserem Telefonat nicht erwähnt, hätte dich aufregen können. Frau Kilian hat noch eine Sache auf dem Herzen, die sie dem BKA gegenüber nicht erwähnt hat.“

„Und das wäre?“

„Hat sie nicht gesagt, nur angedeutet. Herr Weidtmann habe eine ungewöhnliche Transaktion eingeleitet. Keine Ahnung, was sie damit sagen wollte. Wir werden es nachher erfahren. Zu Tönnes bitte kein Wort. Und bei dem Gespräch muss er nicht dabei sein. Keine Ahnung, was die für ein Spiel spielen.“

„Ein Spiel spielen?“

„So ein Gefühl, Betty. Ein Gefühl, dass sie uns nicht nur im Wege stehen, sondern auch eigene Wege gehen, ohne uns mitzunehmen. Herr Tönnes achtet darauf, dass du ihnen nicht querkommst. Das mag jetzt übertrieben sein, aber ich kenne das BKA gut genug, um zu wissen, wie die Jungs dort ticken. Was ich sagen will, lass dich nicht beirren. Und ansonsten, wie sieht es aus, kommst du voran?“

Von vorankommen könne nicht die Rede sein, mal schauen, was die Kollegen gleich zu berichten haben. Bevor der Kaffee wieder alle ist, will sich Betty mit dem Getränk versorgen, geht vor zur Küche, wo sich bereits die ersten Kolleginnen und Kollegen die Kaffeekanne zureichen. Für Betty bleibt ein Rest, aber Peter setzt neuen Kaffee auf. Sie geht in den Besprechungsraum, in dem der Oberstaatsanwalt steht, sich zu Betty umdreht, sie zur Seite nimmt und wie ihr Chef wissen will, ob sie vorankomme, die Öffentlichkeit, die Presse und ein paar hohe Herrschaften würden ungeduldig auf Antworten drängen. Betty fällt der neue Polizeipräsident ein, von dem sie noch nichts vernommen, ihn noch nicht gesehen hat. Sicher einer der Ungeduldigen, aber nach ihm zu fragen, unterlässt sie.

„Tut mir leid, aber zum Kern des Verbrechens sind wir noch nicht vorgedrungen und dieser Kern wird zudem immer undurchschaubarer. Ach, und die Verdächtigen gehen uns aus.“

Nein, dies gefällt dem Oberstaatsanwalt nicht. Ein so kapitales Verbrechen zieht viel Aufmerksamkeit auf sich, die befriedigt werden will. Nur, womit? Er hat nichts in der Hand, und die, die ihm in die Hände arbeiten soll, hat nichts in ihren eigenen Händen. Die Kolleginnen und Kollegen trudeln ein. Geraune, Getuschel, Kaffeegeruch füllt den Raum. Der Oberstaatsanwalt begrüßt die Anwesenden und übergibt Betty das Wort. Sie berichtet von dem Besuch in Münster, ihrem Gespräch mit dem Sohn, schließt ihn als Täter oder Auftraggeber aus, erklärt die Familiensituation und ihren Verdacht, dass der Vater planvoll die Übernahme der Spedition angegangen sei, was aber nichts dem Verbrechen zu tun habe, es sei denn, sie bringen sie mit dem Rachemotiv in Verbindung.

 

Zwei Fragen stünden im Mittelpunkt. Die eine, wie konnte der Täter in das Haus gelangen und warum wurde der Tochter der Kopf abgetrennt. Zunächst die Frage des ins Haus kommen, Betty fragt Lusi und Sandra, was sie dazu herausgefunden hätten. Sandra hebt an, erklärt, dass das Anbringen einer Kameraleiste an der Hoftür kein Problem sei. Auch das Auslesen während der Eingabe mittels eines Fernglases sei machbar. Schwieriger sei es, die Kameraleiste an der Haustür anzubringen, weil die Sicherheitskameras jede Bewegung wahrnehmen und ungesehen auf das Grundstück zu kommen, sei unwahrscheinlich. Einzige Möglichkeit sei, dass der Täter als Paketbote verkleidet bis zur Haustür gekommen sei, das Anbringen der Kameraleiste sei eine Sekundensache. Also könnten sie davon ausgehen, dass der Zugang auf verschiedene Arten möglich gewesen sei, fasst Betty zusammen.

Ja, und dann sei da noch eine Möglichkeit hinzugekommen, um sich an das Haus heranzupirschen. Betty erklärt, wie dies möglich sei und fragt Steprath, ob er entsprechende Spuren gefunden habe.

„Nun, die Voraussetzungen diesbezügliche Spuren zu finden sind derzeit optimal. Feuchtes Gras, nicht mehr geschnitten, also höherstehend als in der Sommerzeit. Wenn jemand über das Gras kriecht, drücken sich die Grashalme auf den Boden und brauchen ein oder zwei Tage, sich wieder aufzurichten. Nur leider haben wir, trotz der Suche rund um das Haus, keine Anzeichen eines kriechenden Menschen gefunden. Und das heißt, diese Überlegung kannst du knicken.“

„Gut oder schlecht. Bleibt also nur, dass der Zugang mittels des Auslesens erfolgte oder auf Antworten der Firma SecTec zu hoffen.“

Sie werden deshalb heute die Firma aufsuchen, die Mitarbeiter durchleuchten und befragen. Lusi, Sandra und Severin sollen Betty begleiten und natürlich der Kollege des BKA, sofern der mitkommen möchte, was sie mit einem süffisanten Lächeln sagt. Die Spusi, hat die neue Erkenntnisse gewonnen? Nein, nicht wirklich. Steprath zählt auf, wo sie überall gesucht, getupft, gekratzt und gepult hätten, nichts, bis auf ein paar Fuseln, die sie dem Haus nicht zugeordnet konnten, die aber keinerlei DNA hergegeben hätten, möglichweise von einem schwarzen Pullover oder einer schwarzen Decke stammen.

Ob dies für die Eintäter-Variante spreche, will der neue Chef wissen. Möglich, bei zwei Tätern ist die Wahrscheinlichkeit Spuren zu finden, sicher größer, also ja, Steprath meint, es sei nur ein Täter gewesen.

„Gibt es Erkenntnisse aus der Befragung in den Hotels, den Baumärkten?“

„Läuft,“ erwidert Lusi, „bisher konnten in den Hotels vier Personen ausgemacht werden, die in der fraglichen Zeit ein Zimmer hatten. Die Überprüfung der Personen ist am Laufen. Von den Baumärkten haben wir noch keine Rückmeldungen.“

Betty geht über zu dem Kollegen Seibold vom BKA, will von ihm wissen, ob die bisherigen Auswertungen der Überwachungskameras an Flughäfen und Grenzen verwertbares Material habe liefern können. Nein, nichts, absolut nichts.

 

Und weiter, sie hätten gestern die Räume der Beratungsfirma des Herrn Weidtmann durchsucht. Er möge bitte die dort gewonnenen Erkenntnisse offenlegen.

Nun, beginnt Hauptkommissar Seibold, diese Untersuchung habe für den Mordfall relevante Hinweise ergeben und sie seien der wahren Identität des Herrn Weidtmann einen Schritt nähergekommen. Darauf komme er gleich zu sprechen, zunächst das Unternehmen. Die Beratung beschäftige sieben aus der ehemaligen DDR stammende Mitarbeiter, durchweg Wirtschafts-, Maschinenbau-, oder Fertigungsingenieure, die sich bis auf zwei Mitarbeiter auf eine Stellenausschreibung hin beworben haben. Im Anforderungsprofil perfektes Russisch, kaufmännische oder Ingenieurausbildung, Anforderungen für die Bewerber aus den neuen Bundesländern prädestiniert waren, also die hohe Zahl an Mitarbeitern von dort nicht verwunderlich.

Die Identität dieser Mitarbeiter sei unzweifelhaft, weil nachprüfbar. Keiner der befragten Mitarbeiter habe eine Veränderung bei Herrn Weidtmann bemerkt, allerdings sei er weniger im Büro anwesend gewesen als früher.

Die zwei Mitarbeiter, die ohne Bewerbung angestellt worden seien, sind Walter Kunizka, der derzeit die Geschäfte leite, sowie Stephan Möhrick. Beide stammen, wie Weidtmann, aus Dresden. Und beide hätten unumwunden zugegeben, Mitarbeiter der Stasi gewesen zu sein.

„Und zwar Mitarbeiter der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik, so der offizielle Name. Die Bezirksverwaltung war aufgeteilt in 16 Kreisdienststellen und einer Objektdienststelle und hatte insgesamt 3.591 Mitarbeiter und ungefähr 13.564 inoffizielle Mitarbeiter. Mit weiteren Details zur Aufgliederung dieses Apparates will ich Sie nicht belasten. Nur so viel, Kunizka und Möhrick waren jeweils im Range eines Oberstleutnants in einer Abteilung aktiv, die sich mit Republikflucht, organisierter Fluchthilfe und legale Übersiedlung im Bezirk Dresden beschäftigte. Leiter der Gruppe war Oberst Klaus Dönsch, von dem wir glauben, dass er Joachim Weidtmann war. Wir haben den Kollegen in Dresden DNA-Material zukommen lassen. Ich denke, in Kürze wird Klarheit herrschen. Kunizka und Möhrick sagten beide aus, Herrn Weidtmann nur als Herrn Weidtmann zu kennen, aber keinen Oberst Dönsch. Die Frage, ob Herr Weidtmann darüber gesprochen habe, dass ein ehemaliges Opfer ihrer Arbeit die wahre Identität des Herr Weidtmann erkannt habe, beantworteten beide mit nein, da gab es ja nichts zu erkennen, Weidtmann sei Weidtmann gewesen. Kunizka meinte gar, sie hätten doch nur Befragungen durchgeführt, harmlose Gespräche, daraus ließe sich kein so brutaler Mord ableiten. Nun, harmlose Gespräche waren die Verhöre, hundertfach dokumentiert, nicht…Die Abteilung war im Gebäudekomplex in der Bautzener Straße 111-116 untergebracht. Im gleichen Komplex befand sich die Untersuchungshaftanstalt. Gegenüber der Bautzener Straße, in der Angelikastraße, hatte, bis zur Wiedervereinigung, der KGB seinen Sitz. Wie weit die Kontakte zwischen den Dienststellen reichten, wissen wir noch nicht, prüfen es aber, da der Wahrscheinlichkeit nach, die Russlandkontakte von Dönsch oder Weidtmann aus dieser Nähe resultieren. Nun zu den Aufgaben der Abteilung. Republikflucht, tatsächliche, versuchte oder auch nur gedankliche Flucht kam einem schweren Verbrechen gleich. Die Gruppe Dönsch führte hier Untersuchung und Befragung der Delinquenten durch, verbunden mit monatelangem Verbleiben in der Untersuchungshaft. Republikflucht blieb nicht an der einzelnen Person hängen, sondern bezog in der Regel die gesamte Familie mit ein, Sippenhaft. Das gab es nicht nur bei den Nazis. Die Haftbedingungen in der Bautzener Straße wurden im Nachhinein als unmenschlich bezeichnet, die Befragungsstrategie zielte einfach darauf ab, Menschen zu brechen, hilflos zu machen mit all den Methoden, die ich nicht näher erwähnen möchte. Nur so viel, noch heute, dreißig Jahre danach, gibt es tausende von Menschen die an Depressionen, Angststörungen, soziale Phobien, Angst vor Ämtern, engen Räumen und anderen psychischen und körperlichen Gebrechen leiden. Und eines dieser Opfer, könnte Dönsch alias Weidtmann wiedererkannt haben. Für Ihren Fall sehe ich da einige Ansatzpunkte. Wenn Sie mich fragen, Sie haben ein Fundus voller Verdächtiger für Ihren Mordfall.“

 

Gemurmel, Gestöhne, Betty kurz davor, ihren Kopf auf die Tischplatte zu stoßen.

„Das ist jetzt nicht ihr Ernst? Sie wollen uns ernsthaft dreißig Jahre und mehr zurückschicken. Das ist nicht zu bewältigen. Und welche Strafe, welches Leiden seitens der Stasibeamten rechtfertigen so brutale Morde? Warum die Tochter und nicht nur Weidtmann?“

„Denken Sie bitte daran, dass Familien zerstört, entzweit wurden, Elternteile aus der Arbeit entlassen wurden, Kinder in Sondererziehungsheime kamen, die Familien ausgegrenzt wurden. Für mich steckt da ein astreines Motiv dahinter.“

„Über wieviel Inhaftierte reden wir?“ will der Oberstaatsanwalt wissen.

„Laut offizieller Zahlen durchliefen zwischen 1950 und 1889 über 10.000 DDR-Bürger die Untersuchungshaftanstalt des Bezirks Dresden, wobei die Inhaftierten, fast alles Politische, natürlich nicht allein auf die Kappe der Gruppe Dönsch gingen. Ein Großteil dieser Bürger wurde nach der U-Haft in Zuchthäuser, Erziehungsheime oder ähnliche Einrichtungen verteilt.“

Ratlose Gesichter, in die der Oberstaatsanwalt schaut.

„Und Sie, Frau Sundberg, halten diese Spur für abwegig?“

„Natürlich dürfen wir keine Spur außer Acht lassen. Gut, die Angst, das Sicheinigeln in seinem Haus vor zwei Jahren, könnte aufgrund eines Wiedererkennens erfolgt sein. Nur frage ich mich, was könnte Herr Weidtmann verbrochen haben, eine derartige Rache auszulösen. Wurden denn die Herren der Stasi nach der Wende gerichtlich belangt?“

„Nur in geringem Maße und nur die einwandfrei nachweisbaren Taten, etwa die Schüsse an der Mauer, aber gegen Stubentäter, wie Dönsch, wurden entweder Bewährungsstrafen ausgesprochen oder sie wurden erst gar nicht angeklagt. Bevor Sie jetzt stöhnen, die Rechtslage war und ist sehr verzwickt, einfache Urteile nicht möglich. Vielleicht ein Grund für Rache, Selbstjustiz ein Motiv. Eines noch, dass Sie wissen müssen. Nach dem Mauerfall begann die Vernichtung der Stasi-Unterlagen durch die Mitarbeiter, was zwar durch die Bürger Dresdens gestoppt werden konnte, aber wichtige Teile fielen dem Schredder anheim und wir gehen davon aus, das Dönsch alias Weidtmann alles ihn betreffende Material rechtzeitig vernichten konnte. Die Sicherheit, mit der Kunizka und Möhrick, alles abstritten, was Dönsch betraf, lässt darauf schließen, dass die Vernichtung fast vollständig war. Halt nicht ganz vollständig, da wir wissen, dass es die Gruppe und damit auch den Oberst Dönsch gab. Ich weiß, sehr verworren das alles.“

Es herrscht eine gedrückte Stimmung, da jeder gleich erkannt hat, was dieser Verdacht bedeutet, Arbeit, viel Arbeit, Akten wälzen, vor allem, hier aus Lübeck nur schwer zu bewerkstelligen. Was bezweckt das BKA damit, sie auf diese Spur zu setzen? Weg von der Russenspur? Ist das der Hintergrund? Oder doch eine zu verfolgende Spur? Betty ist uneins mit sich.

„Frau Sundberg, Sie sind skeptisch. Wie ist Ihre Einschätzung?“

Um auf die Frage vom Oberstaatsanwalt zu reagieren, muss sie sich erst einen Moment sammeln. Nun, anscheinend muss das Rachemotiv in verschiedene Richtungen untersucht werden, sie selbst glaube aber, dass ein gänzlich anderes Motiv hinter der Tat stecke.

„Ein anderes Motiv? Wie das?“

 

Und Betty erläutert ihre Überlegungen zur Enthauptung der Tochter, in die das Motiv einer Rache nicht recht passen wolle, es sei nicht um die Eltern gegangen, sondern um die Tochter. Dies löst Unruhe aus und ihr Chef meldet sich zu Wort, meint, dass dies wohl, gelinde gesagt, sehr spekulativ sei. Auch der Oberstaatsanwalt hält das Rachemotiv weiter für erste Priorität und fordert die Anwesenden auf, sich in die Opfergeschichten einzuarbeiten, vor allem den zu finden, der anscheinend Weidtmanns wahre Identität erkannt hatte. Damit schließt er auch die Besprechung, winkt Betty zu sich und bittet sie, ihm ihren Verdacht genauer zu erklären. Betty erläutert ihm die Seltsamkeit der Kopfschmerzen, die so untypisch für ein junges Mädchen seien und bekräftig noch einmal ihre These, dass die Enthauptung unter dem Aspekt Rache ohne Sinn, der Täter aber einem genauen Plan gefolgt sei.

Der Oberstaatsanwalt schüttelt ungläubig mit seinem Kopf.

„Gut, halten Sie sich aus allen weiteren Befragungen und Ermittlungen heraus, und konzentrieren sich nur darauf, entweder Ihre Vermutungen zu belegen oder sie auszuschließen. Ich gebe Ihnen zwei Tage Zeit, dann ist Ihr Kopf hoffentlich wieder frei. Ich rede mit Griebel.“

Lusi wartet vor der Tür: „Anpfiff?“

„Nein, neue Zielsetzung. Ihr müsst ohne mich nach Ahrensdorf fahren. Schaut euch die Techniker und Programmierer genau an, aber das muss ich dir nicht sagen. Ihr macht das schon. Ach, und teile dem Geschäftsführer eure Erkenntnis mit, mit welch einfachen Mitteln sein ach so sicheres System ausgehebelt werden kann. Er wird sich darüber freuen.“

„Und du?“

„Ich rede nochmals mit der Freundin der Tochter und suche einen Arzt auf.“

„Du hast wieder Schmerzen?“

„Ja, Kopfschmerzen.“

Mitfühlender Gesichtsausdruck bei Lusi, die sich abwenden will, als Peter hinzutritt, Betty anspricht: „Hör mal Betty. Mir ist eine Sache eingefallen, die vielleicht wichtig ist. Bei den Ermittlungen zu den Einbrechern, du weißt, die Einbruchserie vor Kurzem (Betty nickt zustimmend), konnten wir das Versteck der Täter aufspüren und dort DNA-Spuren aufnehmen sowie Fingerabdrücke. Diese haben wir in verschiedene Ostländer verschickt, und um Amtshilfe gebeten. Allerdings ohne große Erwartungen auf Rückmeldung. Kam aber. Aus Georgien. Drei Personen waren dort aktenkundig. Wir haben nun deren Fotos und können gezielt nach ihnen fahnden. Mittlerweile haben wir weitere Hinweise von anderen Tatorten in anderen Städten, die wir diesen Personen zuordnen können. Was, frage ich mich deshalb, wenn unser Täter auch schon früher hier war? Nicht alle Verbrechen könnten so brutal und auffallend gewesen sein. Du sagtest in der Besprechung, der Täter sei so übervorsichtig vorgegangen, weil er vermutlich zukünftig weitere Aufträge hier zu erledigen hätte. Sollten wir nicht bundesweit nach unaufgeklärten Mordfällen suchen. Vielleicht hat er irgendwo einen Fehler begangen, eine winzige Spur hinterlassen. Ein Treffer würde genügen, um uns einem Gesicht näherzubringen.“

„Hm, ja, stimmt. Gute Überlegung, Peter. Severin und Sandra begleiten Lusi. Du fährst auch mit, da ich nicht mitkomme. Während der Fahrt könnt ihr euch abstimmen über die Vorgehensweise. Die beiden sollen, nachdem ihr zurück seid, alle Datenbanken aufmischen, vielleicht finden wir die Nadel.“

Entspanntes Gesicht bei Peter, Fragezeichen in dem von Lusi.

 

Die vom Oberstaatsanwalt angeordnete Vorgehensweise ist Betty nicht unrecht. Und ja, er hatte sogar Recht, sie auf ein Nebengleis zu schicken. Sie hätte sich selbst blockiert und mit sich die Ermittlungen. Allerdings, zwei Tage, das ist verdammt knapp. Ihr Chef, Ulf Griebel, reist sie aus ihren Gedanken, die Bankerin sei da, sie wolle doch sicher hören, was die Dame zu sagen habe. Ja, natürlich will sie.

In Griebels Büro sitzt eine Frau, vielleicht Mitte vierzig, schätzt Betty, in grauem Rock und weißer Bluse, wie halt Bankerinnen so aussehen, ein Mantel liegt über ihrem Schoss. Die dunkelbraunen leicht gewellten Haare reichen ihr auf die Schultern. Ihr Mienenspiel verrät Unsicherheit. Bettys Chef begrüßt die Frau, stellt Betty vor und bittet Frau Kilian ihnen das zu berichten, von dem sie glaube, es sei wichtig. Die Angesprochene schaut zu Betty, zu Griebel, lehnt sich in den Stuhl zurück, nimmt Haltung an, gewohnte Haltung.

„Nun, ich habe Ihren Kollegen die Finanzsituation des Herrn Weidtmann, soweit ich konnte, offengelegt. Es war der erste Schock als der Beamte mir mitteilte, dass sie gegen Herrn Weidtmann wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Unterschlagung ermitteln würden. Herr Weidtmann war ein sehr guter Kunde, es gab unsererseits nicht den geringsten Anlass an seiner Integrität zu zweifeln. Dann der zweite Schock als der Beamte mich über den Tod der Familie Weidtmann informierte. Ich glaube, in dem Moment war ich neben mir, und wenn ich jetzt darüber nachdenke, ich habe nichts verstanden, nichts gedacht, einfach nur dagestanden. Ich kannte Herrn Weidtmann seit meinen ersten Tagen hier in der Filiale. Wir duzten uns und trafen uns nicht nur geschäftlich, sondern auch im Tennisclub, wo wir mitunter auch zusammen spielten…“

„…Frau Weidtmann war ebenfalls Mitglied im Tennisclub?“ hakt Betty ein.

„Ähm, nein, Jochen war immer allein. Ich habe Frau Weidtmann nur einmal bei einer Gartenparty gesehen, aber noch nicht einmal mit ihr gesprochen.“

„Was hatten Sie für einen Eindruck von der Ehe?“

„Von der Ehe? Nun, ein Urteil maße ich mir nicht an…Jochen war bezüglich seines Privatlebens verschlossen, aber ein Kostverächter war er nicht.“

„Gut, Sie waren also geschockt von der Todesnachricht…“ regt Griebel die Filialleiterin an, weiter zu berichten.

„Genau. Ich ließ die Beamten machen, ging in mein Vorzimmer, vollkommen neben mir stehend. Später dann als die Beamten fort waren, fiel mir ein, was mich die letzten Tage beschäftigt hatte.“

Herr Weidtmann sei ohne Termin bei ihr am Freitag letzter Woche erschienen, bestand darauf, vorgelassen zu werden und betrat schließlich gegen den Widerstand ihrer Assistentin ihr Büro. Sie war in einem Kundengespräch und bat Jochen vor der Tür zu warten, worauf er sich eingelassen habe. Als sie ihn dann hereinbat, fragte sie ihn, was passiert sei, da er so ohne Anmeldung in ihr Büro gestürmt sei. Er machte einen hochnervösen Eindruck, so wie ich ihn vorher nie gesehen hatte. Er benötige dringend drei Millionen Euro in bar, wie schnell ich das Geld verfügbar machen könne.

„Ich muss gestehen, ich war sehr perplex. Solche Summen für ihn zu transferieren, kam öfters vor, nur, nie in bar. Es war Freitag, schnell konnte ich das Geld nicht beschaffen. Ich musste erst die Zentrale in Hamburg bitten, das Geld nach Lübeck zu schicken und das würde erst Montag, im Laufe des Nachmittages möglich sein. Montag, sagte Jochen, Montag? Nein, zu spät. Er brauche das Geld früher. Unmöglich sagte ich ihm. Er war erregt und niedergeschlagen zugleich.“

„Hat er begründet, warum er das Geld so dringend benötigte?“

„Nur unpräzise. Er sprach von einem Kauf, den er nur noch Samstag abschließen könnte. Aber ehrlich, seine Aufgeregtheit passte nicht zu einem Kauf. Ich hatte sogar das Gefühl, das er in Panik geriet, nachdem klar war, dass er nicht so schnell an das Geld kommen würde.“

 

Betty und ihr Chef werfen sich einen Blick zu, wahrscheinlich beide den gleichen Gedanken, sagen aber nichts. Es riecht förmlich nach Erpressung. Betty überlegt, ein gut bezahlter Profikiller, der aus seinem Job noch eine Erpressung herausschlägt? Nein, das gibt es nicht. Oder er erpresst das Geld für seinen Auftraggeber. Nur wären drei Millionen Euro nur ein kleiner Ersatz für die real entgangene Summe. Und überhaupt, drei Millionen in bar, wer macht heute noch sowas? Allerdings könnte ihre Vermutung dadurch bestätigt werden, dass die ganze Sache anders aussieht, als sie den Anschein hat. Betty lässt ihre Gedanken noch unter Verschluss, zumal Griebel Frau Kilian drängt, weiter zu berichten.

„Und wie ging es dann weiter?“ fragt Griebel.

„Als das Geld am Montag eingetroffen war, habe ich sofort Herrn Weidtmann angerufen, ihn aber nicht erreicht…“

„…Auf welchem Telefon haben Sie in angerufen?“

„Auf seinem Handy. Wir haben immer mobil telefoniert, da er ja viel unterwegs war. Natürlich fand ich das merkwürdig, erst diese Dringlichkeit und dann nimmt er nicht an. Auch am Dienstag habe ich weiter versucht, ihn zu erreichen und als dann gegen Abend ihre Kollegen kamen erfuhr ich, warum ich ihn nicht erreicht habe. Es ist eine schreckliche, unfassbare Tat. Ich verstehe es immer noch nicht.“

„Frau Kilian, wir konnten uns noch nicht mit unseren Kollegen vom BKA austauschen, deshalb meine Frage, wie hoch ist das Vermögen des Herrn Weidtmann gewesen?“

„Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Seine Einlagen bei uns beziffern sich auf circa vierundzwanzig Millionen Euro. Nur, er war noch bei anderen Banken Kunde. Hierüber sollten Sie mit Doktor Fabian Cirske aus der Kanzlei Cirske, Dewald und Brockmann, hier aus Lübeck, sprechen. Er ist der Anwalt des Herrn Weidtmann und er führt die Holding.“

„Welche Holding?“

„Herr Weidtmann hat Firmenanteile und eigene Firmen, dazu Immobilienbesitz. Dies alles hat er gebündelt in einer Holding, die Doktor Cirske verwaltet.“

Vorsichtig setzt Griebel nach, fragt, ob die Kollegen von der Holding wussten, nicht dass sie wüsste, gesagt habe sie das nicht, sie sei auch nicht danach gefragt worden. Gut, der Oberkommissar bedankt sich bei Frau Kilian, sie habe ihnen sehr geholfen.

„Eine Frage habe ich noch, Frau Kilian. Herr Weidtmann hat doch sicher ein Schließfach bei Ihrer Bank.“

„Ja, ich glaube, dass er sogar zwei oder drei Fächer hat.“

„An die wir natürlich nicht herankommen. Aber der Sohn sicherlich.“

„Der Sohn? Henri. Mein Gott, Henri, den habe ich ganz vergessen. Was ist mit ihm?“

„Nichts. Ihm geht es den Umständen entsprechend. Er wird sicher die Tage auf Sie zukommen. Er braucht einen Erbschein?“

„Ja. Natürlich.“

Betty wird Henri begleiten. Die Schließfächer könnten brisantes Material enthalten. Apropos Schließfach. Wurde in der Familienvilla ein Tresor gefunden? Ist doch naheliegend in einem solchen Haus, solchen Vermögensverhältnissen, solchen Geschäften, einiges sicher verwahrt zu wissen. Nochmals mit Steprath reden, ansonsten nachforschen.

Die Frau steht auf und will gehen, Griebel winkt einer Kollegin, um Frau Kilian hinauszubegleiten. Betty bleibt sitzen, Griebel kommt an seinen Platz zurück, schaut erwartungsvoll auf Betty.

„Nun, es scheint mir so, als ob unsere Spur doch in Weidtmanns Vergangenheit führt. Drei Millionen Euro! Das muss ein teures Verbrechen gewesen sein, das unser Herr Weidtmann da hingelegt hat. Und du, immer noch skeptisch?“

„Gut, es sieht so aus, dass Herr Weidtmann erpresst wurde, nur verstehe ich nicht, warum der Erpresser Weidtmann umbringt. Er war doch anscheinend zahlungswillig und ein oder zwei Tage Verzögerung ist bei diesem Betrag kein Motiv, den Erpressten samt Familie umzubringen. Das leuchtet mir nicht ein. Und dann die Bezahlung in bar? Bei aller Vorsicht, die der Täter hat walten lassen, passt dies nicht, viel zu riskant. Das Geld muss übergeben werden. Er könnte in eine Falle tappen. Und drei Millionen einfach so zur Bank tragen, also ich weiß nicht. Heutzutage verlangt man Bitcoins oder überweist Geld, verschiebt es bis keine Spur mehr zu finden ist. Aber Bargeld? Das ist so schräg, wie der ganze Fall.“

 

Er habe die Geldauszahlung dringend gemacht, möglich, dass Weidtmann der Erpressung zunächst nicht nachgeben wollte und der Erpresser den Druck auf ihn erhöht hat, ihm das Ultimatum, Samstag Zahltag gestellt habe. Nein, entschiedenes nein von Betty, die beiden müssen verhandelt haben und dem Erpresser muss klar gewesen sein, dass keine Bankfiliale drei Millionen Euro in einem Tresor vor Ort liegen hat und bei dieser Summe warte ich auch noch ein paar Tage. Und dann ist da noch diese akribische Vorbereitung der Tat, als habe der Täter von vorneweg nicht an die Zahlungswilligkeit seines Opfers geglaubt. Es könnte sogar sein, dass der Täter die Erpressung nur als Ablenkung benutzt hat, von vornherein den Tod geplant hatte. Und wenn Samstag das Ultimatum ablief, hatte der Täter keine Zeit gehabt, auf eine günstige Gelegenheit zu warten, um unbemerkt in das Haus zu kommen. Er musste noch am Samstag zu einem bestimmten Zeitpunkt ins Innere des Hauses gelangen. Irgendwie will da, wie so einiges, nicht zusammenpassen.

„Lass dies erst einmal sacken. Es scheint verzwickt, ja, deshalb tut ein kleiner Abstand gut, um den Blick neu zu schärfen. Herr Travens hat dir eine Aufgabe gestellt. Wir werden verstärkt in Weidtmanns Vergangenheit stöbern, heute Mittag werden die beiden Kollegen aus Schwartau kommen, die ich voll auf diese Spurensuche setzen werde…“

„Wen schicken sie uns denn? Bei unserem letzten Fall hatten wir Unterstützung von Frau Klemm und Ole Dirks?“

„Von einer Frau ist mir nichts bekannt, aber Dirks. Ich glaube ja, der wird kommen. Den anderen Namen habe ich vergessen. Hat sich nach Ausland angehört. Gute Leute?“

„Sehr brauchbar, ja. Und Ausland?“

„Ein Name, den man sich nicht merken kann, scheint ein Araber zu sein.“

„Hm, ich denke nicht, dass wir arabische Kollegen in unseren Reihen haben, wir sind die deutsche Polizei. Der Kollege ist Deutscher möglich mit Wurzeln in einem anderen Land, trotzdem deutsch.“

„Wenn du meinst…Was wir schleunigst tun sollten, ist, den kleinen Vorsprung nutzen, den wir gegenüber dem BKA haben. Wir fahren zu diesem Rechtsanwalt. Suche seine Adresse heraus und kündige uns dort an. Danach kannst du deiner Nase folgen.“

Hm, der Chef hat die Zügel in die Hand genommen, auch gut, wird ihr mehr Freiraum lassen. Sie geht an ihren Arbeitsplatz, ruft Google auf, gibt den Anwaltsnamen ein, schreibt Adresse und Telefonnummer heraus, liest auf der Homepage das Info über die Kanzlei, deren Spezialgebiete Allgemeines Strafrecht, Vertragsrecht und Immobilienrecht, Wirtschaftsrecht, Handels- und Gesellschaftsrecht sind. Eine größere Kanzlei mit mehreren Anwälten und Notaren. Betty wählt die Nummer der Kanzlei, eine freundliche Frauenstimme begrüßt sie, fragt nach dem Anliegen, Kripo Lübeck meldet sich Betty, kurz angebunden, wir wünschen Herrn Doktor Cirske zu sprechen, dringend, es gehe um einen Mordfall. Oh Gott, wegen Herrn Weidtmann sicher, schreckliche Sache, die ganze Kanzlei spreche von diesem furchtbaren Verbrechen. Herr Weidtmann sei ein wichtiger Klient der Kanzlei gewesen. Herr Cirske werde zur Mittagszeit zurückerwartet. Sie wird ihn sofort verständigen. Sie sollen gegen 11:30 Uhr in die Kanzlei kommen.

 

Bis dahin hat Betty noch etwas Zeit, zieht sich auf ihren Arbeitsplatz zurück, überlegt Harrie anzurufen, zu fragen, wie es den Schülern geht, sich für morgen Abend zu einer Visite ankündigen, nachhören, ob sie Mareike sprechen könnte und wo. Aber Harrie dürfte jetzt Unterricht abhalten, muss sie auf Nachmittag verlegen. Gut, dann halt den Anwalt googeln und diese Holding. Cirske ist eine in der Bürgerschaft Lübecks fest verankerte Größe, Mitglied in allen Clubs, den Lions, den Rotarys, sitzt für die CDU in der Bürgerschaft, Mäzen, Mitglied in verschiedenen Kuratorien. Die Kanzlei hervorragend bewertet, gut, sagt nicht viel aus. Über die Holding allerdings ist nichts zu finden, lediglich ein Hinweis auf den Eintrag im Handelsregister und die Angabe einer Adresse, nämlich die der Kanzlei.

Den Anwalt zu besuchen, wird nicht viel bringen, nichts Negatives und auf dem Vorstellungsbild macht er einen netten Eindruck, freundlicher Gesichtsausdruck, Schnauzbart über der Oberlippe, links und rechts leicht nach oben gewirbelt, helle, strahlende Augen, Typ Frauenschwarm, allerdings ein in die Jahre gekommener Frauenschwarm.

Ihr Handy rumort, die Nummer im Display kennt sie nicht, nimmt an, Henri am Ohr.

„Hallo Betty, ich würde gerne Steffi und meine Eltern sehen. Geht das? Morgen?“

„Ja klar. Es ginge auch heute.“

„Nein, morgen. Du hattest angeboten mit zum Anwalt meines Vaters zu kommen oder zumindest einen Kollegen bitten, mich zu begleiten. Gilt das noch?“

„Ja, natürlich. Willst du das auch morgen erledigen?“

„Ja.“

„Gut, dann komme bitte morgen hier ins Präsidium. Melde dich unten an der Pforte, die sollen mich anrufen, ich komme dann herunter. Wir fahren dann zusammen zur Gerichtsmedizin und anschließend zum Anwalt. Wann wirst du hier sein?“

„Wir wollen früh losfahren. Der Zug kommt um 10:52 Uhr in Lübeck an.“

„Oh, ihr kommt mit dem Zug, dann machen wir das ganz anders. Ich hole euch am Bahnhof ab. Kommt am Hauptausgang heraus. Gut, dann bis morgen.“

Bettys Chef winkt ihr, Zeit zum Aufbruch. Was er sich von dem Besuch erhoffe. Keine Ahnung, vielleicht mehr über Weidtmann zu erfahren. Dessen Geschäfte wären für sie nicht so interessant, aber wenn der Anwalt nicht nur geschäftlicher, sondern auch privater Vertrauensmann war, dann könnten sie vielleicht den Vorhang der Vergangenheit lüften. Schön gesagt, aber der gute Mann wird sich auf die Schweigepflicht berufen, sofern er wissend ist.

„Wo ist ihr Enthusiasmus Frau Sundberg? Positiv denken!“

Na, der hat Humor. Positiv denken ist in diesem Fall nicht drin, weil hinter der nächsten Ecke, der nächste Stolperstein liegt.

 

Wieso sie keinen Führerschein habe, will Griebel wissen, während er durch die Stadt fährt. Sie sei eine Zumutung für Fahrlehrer und Automobil gewesen, weshalb sie frühzeitig von dem Gedanken, Autofahren zu lernen, Abstand genommen hätte, was Griebel zum Lachen animiert. Eine weise Entscheidung, meint er. Soll er meinen, denkt Betty. Ansonsten reden sie unterwegs nicht viel.

Wie erwartet ist das Gespräch mit dem Anwalt unergiebig. Ein Mann, dessen Ausstrahlung noch intensiver als auf dem Foto auf der Homepage ist, allerdings stören seine wuchernden Augenbrauen seine Ausstrahlung, da sie im krassen Gegensatz zu seinem gepflegten Oberlippenbart stehen. Doktor Cirske ist Verwalter der Weidtmannschen Holding, erledigt alle Verträge für Verkäufe und Ankäufe, vertritt Herrn Weidtmann bei fast allen Gesellschaftersitzungen, Aufsichtsratssitzungen oder sonstigen mit den Holding-Firmen zusammenhängende Gremien. Warum sich Herr Weidtmann nicht selbst um diese Angelegenheiten gekümmert habe. Nun, Herr Weidtmann habe die Öffentlichkeit gescheut, war eher der Praktiker. Seine Tätigkeit, Firmen vor dem Ruin zu retten oder aus den roten Zahlen zu führen, sei sehr erfolgreich gewesen. Hierin war er lieber aktiv als in irgendwelchen Besprechungsräumen. Und ja, in den letzten Jahren habe sich Herr Weidtmann auch mehr in seine Privatheit zurückgezogen.

„Gab es dazu einen Grund?“

„Keinen, den ich kenne. Aber gedacht habe ich mir, dass es die Gesundheit war, die in veranlasste, kürzer zu treten. Bevor wir weiterreden, was ist mit dem Sohn von Herrn Weidtmann?“

Der junge Mann leide entsprechend, sei ein harter Schlag für ihn gewesen. Er studiere in Münster und würde gerne morgen in der Kanzlei erscheinen. Sollten sie aber später besprechen.

„Ist Ihnen der Name Dönsch schon einmal begegnet,“ fragt Griebel aus heiterem Himmel. Der Anwalt blickt verdutzt, scheint nachzudenken, schüttelt gemächlich den Kopf.

„Nein, in welchem Zusammenhang steht der Name?“

„Wir wissen (Was? denkt Betty) dass Herr Weidtmann sich erst nach seiner Ankunft in Westdeutschland Weidtmann nannte. Zuvor war er als Oberst Dönsch in Dresden bei der Stasi aktiv. Vor zwei Jahren muss ihn jemand als Oberst Dönsch wiedererkannt haben, denn ab dem Zeitpunkt begann Herr Weidtmann sein Haus massiv zu sichern. Fällt Ihnen dazu etwas ein? Haben Sie diese Veränderung an ihm bemerkt? Hat er mit Ihnen über eine Bedrohung gesprochen?“

Der Anwalt wirkt überrascht, genauso wie Betty, die diese Art der Befragung unangebracht findet, zumal Vermutungen als Tatsachen hinzustellen, rechtswidrig ist, aber gut, wenn er meint, so zum Ziel zu kommen, seine Sache. Es sei nicht oft vorgekommen, dass er persönlich mit Herrn Weidtmann zusammengetroffen sei, in der Regel nur, wenn es Verträge zu unterschreiben galt oder der Quartalabschluss zu besprechen war. Es sei immer geschäftsmäßig zugegangen, nur Floskeln über das Privatleben hätten sie ausgetauscht. Und eine Veränderung im Wesen des Herrn Weidtmann, nein, da habe er nichts dergleichen bemerkt.

„Aber, dass seine Speditionsfirma in einen Drogenschmuggel verwickelt war, haben Sie schon mitbekommen.“

„Wir sprachen darüber, ja, aber es war ja nicht Herr Weidtmann, sondern der Geschäftsführer, der die Spedition für seine Geschäfte missbraucht hat. So viel ich weiß, gab es keine Ermittlungen gegen Herrn Weidtmann.“

„Bei Ihnen sind auch nie Ermittlungsbehörden angerückt?“

„Nein. Sie sind die ersten, die mir Fragen stellen. Was mich, ehrlich gesagt, stark verwundert hat.“

„Gibt es ein Testament oder ein Dokument, wie sich Herr Weidtmann die Fortführung seiner Unternehmungen im Falle seines Ablebens vorgestellt hat?“ fragt Betty.

Der Anwalt findet dies zum Schmunzeln, fährt sich über seinen Oberlippenbart. Nein. Wozu hätte er das tun sollen? Er sei in den besten Jahren gewesen.

„Nun ist er aber Tot und die Bedrohungssituation, die er offensichtlich empfunden hat, hätte ihn dazu veranlassen können, ein Schreiben aufzusetzen, dass seine Nachfolge regelt.“

„Gut, wäre möglich. Aber das Thema hat er nicht angeschnitten, nicht einmal angedeutet.“

Betty bohrt weiter: „Hat er Sie Donnerstag oder Freitag letzter Woche kontaktiert? Sie um einen Rat gebeten?“

„Nein. Der letzte Kontakt mit ihm liegt fast zwei Wochen zurück. Hat es einen tieferen Grund, dass Sie dies fragen?“

„Ja, er scheint erpresst worden zu sein. Wie wir glauben, von der Person, die ihn wiedererkannt hat. Und Freitag war er bei seiner Hausbank um drei Millionen Euro in bar ausgezahlt zu bekommen.“

 

Dem Anwalt ziehen Falten auf die Stirn. Anscheinend war sein Klient voller Überraschungen.

„Wissen Sie,“ insistiert nun wieder Griebel, “Sie haben einen wirklich wichtigen Klienten, dessen Geschäfte Sie in- und auswendig kennen, von dem Mensch Weidtmann aber haben Sie anscheinend keinen Schimmer. Sagen Sie mir, warum soll ich das glauben?“

„Ich habe eine verantwortungsvolle, treuhänderische Aufgabe übernommen, was ich mir nicht leicht gemacht habe. Unsere Beziehung war rein geschäftsmäßig und private Kontakte gab es keine. Sicher, und das gebe ich zu, bei manchem Geschäft hätte ich Fragen stellen müssen. Ich habe es aber nicht gemacht, ich hielt es nicht für zwingend.“

Betty will wissen, ob Herr Weidtmann den Verkauf der Spedition in Erwägung gezogen hatte, nach dem die Spedition in Verruf geraten war. Nein, sei kein Thema gewesen, wäre wahrscheinlich auch nicht einfach gewesen.

„Hat Herr Weidtmann auch private Verträge bei Ihnen hinterlegt? Lebensversicherungen zum Beispiel.“

„Nein, nur geschäftliche Vorgänge. Sie können gerne mit Herrn Vieth reden, der ist der Buchhalter, der alle steuerlichen Aufgaben wahrnimmt. Er sitzt einen Stock höher und sicher in seinem Büro anzutreffen.“

Betty und ihr Chef werfen sich einen Blick zu, nicken, den werden sie noch aufsuchen. Betty vereinbart einen Termin für den Folgetag am Nachmittag, zu dem sie mit Henri vorbeikommen will und sie verabschieden sich von dem Anwalt.

Auf der Treppe nach oben, fragt Ulf Betty, ob sie ihm glaube. Klares nein, aber, habe er etwas anderes erwartet als Ahnungslosigkeit?

Herr Vieth war überrascht zwei Polizeibeamte vor sich zu haben und hatte nichts Wesentliches zu berichten. Die Buchhaltung beschränke sich auf die Holding, da die Unternehmensberatung des Herr Weidtmann eine eigenständige Gesellschaft und nicht Teil der Holding sei. Auch die Einkommenssteuer laufe unabhängig von der Kanzlei, von daher habe er keinerlei private Vorgänge für seine Buchhaltung zugrunde liegen. Nichts Verwertbares. Sie bedanken sich bei Herrn Vieth, verlassen die Kanzlei, Ulf weist auf einen Italiener schräg gegenüber und fragt Betty, ob sie sich die Zeit für ein gutes Essen nehmen sollen und vor allem einen guten Kaffee, den ihnen der Anwalt vorenthalten habe. Der gute Mann habe sicher derzeit andere Sorgen, als über einen Kaffee für seine Gäste nachzudenken.

„Da scheinst du recht zu haben. Ich denke auch, er hat uns nur mit halbem Ohr zugehört, das andere war belegt mit der Frage, wie es wohl weitergeht.“

 

Essen, warum nicht, Betty stimmt zu. Sie gehen hinüber, noch wenig Gäste im Gastraum. Sie setzen sich an die Fensterfront an einen Vierertisch, bestellen einen Cappuccino für den Chef und einen doppelten Espresso für Betty. Die Speisekarte müssen sie erst noch durchblättern, allerdings weiß Betty bereits, was ihr Mittagessen sein wird, ein bunter italienischer Salat, wobei das italienisch Folklore ist, die Zutaten sind überwiegend aus hiesigen Landen oder weiter entfernt, aber nicht aus Italien, mit Ausnahme des Olivenöls.

„Was glaubst du, macht der Junge mit all dem Geld, das ihm nun zufallen wird?“

„Er wird es nicht annehmen, wird aber lange brauchen, durch dieses Finanzgeflecht zu steigen. Ich hoffe, er findet einen guten, ehrlichen Anwalt, der ihn bei der Sache unterstützt, denn Cirske wird alles versuchen, das Imperium nicht aus den Händen zu geben.“

„Du hältst den Jungen für so altruistisch?“

„Ja.“

„Na ja. Wir werden sehen. Wie wirst du nun weiter vorgehen?“

„Heute Mittag suche ich den Schwiegervater des Herrn Weidtmann auf…“

„…Wohnt der nicht England?...“

„Nein, er lebt seinen Lebensabend in Haffkrug. Das ist um die Ecke. Danach werde ich mich nochmals mit der Freundin der Tochter treffen.“

Gut, sie solle tun, was sie für richtig halte, er werde derweil die Ermittlungen führen und der Chef sein, der er sein sollte. Ob er sich übergangen gefühlt habe. Nein, nein, das sei alles so in Ordnung gewesen, er noch viel zu neu hier im Geschäft, um fehlerfrei zu agieren.

Die Bedienung kommt, fragt nach den Wünschen der beiden und die geben ihre Bestellung auf, Betty ihren Salat und ein Mineralwasser, Ulf bevorzugt das Filetti Gorgonzola mit Rosmarinkartoffeln und Gemüsebeilage, dazu genehmigt er sich einen Pinot Grigio.

„Wie kommst du ohne Auto nach Haffkrug?“

„Mein Schatten wird mich fahren. Er wird mich schon vermissen.“

„Ist dein Schatten nicht mit den Kollegen nach Ahrensdorf gefahren?“

„Oh, stimmt. Habe ich ganz vergessen. Hm, dann brauche ich einen Fahrer.“

„Die Kollegen aus Bad Schwartau müssten jetzt im Büro sein. Nimm einen von den beiden mit.“

„Prima, ja, werde ich machen.“

Kurzes grinsen von Ulf, der sie ermahnt, Vorsicht walten zu lassen und vor allem nichts allein zu unternehmen, in keinen Keller absteigen. Selbst bei geringster Gefahrenlage die Kollegen anrufen. Ja, ja, bekanntlich werde frau ja aus Schaden klug.

„Frau?“

„Frau!“

Schräg gegenüber können sie auf den Eingang der Kanzlei schauen, aus der nun nach und nach Beschäftigte kommen, die einen schnurstracks auf das Restaurant zugehend, andere andere Wege einschlagend. Cirske kommt überraschend mit Vieth aus der Tür, gehen rechts ab, einem anderen Ziel entgegen.

„Schau, schau. Die beiden haben anscheinend etwas zu bereden.“

„Wundert mich nicht. Schade, dass wir nicht zuhören können.“

„Hm. Wahrscheinlich machen dies unsere Kollegen aus Hamburg bereits. Dies würde mich nicht wundern.“

Ihre Essen kommen, sie wünschen sich einen Guten Appetit und essen, ohne weiter zu reden.

Wenn du immer wieder das tust, was du immer schon getan hast, dann wirst du immer wieder das bekommen, was du immer schon bekommen hast. (Paul Watzlawick, 1921 – 2007, Philosoph und Autor)

 

Zurück im Büro, sehen sie die beiden Schwartauer Kollegen gelangweilt im Besprechungsraum sitzen. Oh, scheiße, äußert sich Ulf, wir werden erwartet. Ole dreht sich um. Als er die Schritte der beiden hört, zieht ein strahlendes Lächeln auf, steht auf, geht auf Betty zu, reicht ihr die Hand und sagt, dass er sich riesig freue, sie wieder wohlauf zu sehen. Lusi hätte sie zwar immer auf dem Laufenden gehalten, nur dies habe sich mitunter dramatisch angehört. Aber wie er sehe, scheint alles wieder im Lot zu sein und schlanker sei sie auch geworden. Jetzt ist aber gut, meint Betty. Willkommen zurück. Ach, und Grüße von Sven und Susanne soll er ihr ausrichten. Oles Kollege steht stumm staunend neben den beiden, ebenso wie der Chef, dessen Gesichtszug sich merklich verdüstert hat.

„So, können wir jetzt zu dem übergehen, was der Grund Ihres Hierseins ist?“

„Claro. Wir warten seit zwei Stunden darauf.“

Ole stellt seinen Kollegen Driss Chadriss, Polizeikommissar, vor, neu in Bad Schwartau, ganz frisch von der Eutiner Polizeischule. Driss reicht Betty seine rechte Hand.

„Driss hübscher Name. Ich bin Betty und freue mich auf unsere Zusammenarbeit.“

Betty solle mit Ole nach Haffkrug fahren, ihn unterwegs in den Fall einführen. Er werde gleiches bei dessen Kollege tun und diesem auch die Aufgabe erläutern, die die beiden die nächsten Tage erwarten würde.

„Gut, Ole, kleiner Ausflug. Nach Haffkrug. In ein Seniorenheim. Du fährst.“

„Noch immer ohne Führerschein? Solltest du langsam in Angriff nehmen.“

„Kommt Zeit, kommt Führerschein…oder auch nicht.“

Während der Fahrt berichtet Betty Ole, wie der Stand der Dinge ist, versucht, möglichst alle Linien darzulegen, was nicht einfach ist, auch nicht für Ole, der zwischenfragt, kommentiert und feststellt, dass sich Betty anscheinend nicht mit einfachen Dingen abgibt. Erst zum Ende ihrer Ausführungen nennt sie die Gründe ihres Besuches bei Herrn Gräven, dem Vater, Großvater und Schwiegervater der Mordopfer.

„Und du leitest wieder die Ermittlung? Angefüllt mit Zweifeln? Hm, etwas kompliziert.“

„Ich habe geleitet. Unser neuer Chef hat übernommen. Es ist schon richtig, mit Zweifel im Kopf lässt sich keine Ermittlung führen, dass verunsichert das Team und bringt Unruhe in die Ermittlung. Deshalb hat mich der Oberstaatsanwalt zurückgenommen. Der anstehende Besuch wird der letzte dieser Art für mich sein, dann muss ich zusehen, dass ich in die Spur zurückfinde, heißt eine klare Sicht auf die Dinge finde.“

Ob Herr Gräven irgendetwas mit dem Fall zu tun hat, außer Großvater, Vater und Schwiegervater zu sein, fragt Ole. Nein, habe er nicht. Er habe die Spedition an seine Tochter abgetreten, bevor der Schwiegersohn sie für seine Geschäfte missbraucht habe.

 

Sie nutzen die Abfahrt, Haffkrug, Eutin, um von der A1 abzufahren, fahren in den Küstenort ein, durchgängig 30iger Zone, direkt auf den Strand zu, dann links ab, wo, direkt dem Strand gegenüber, in einer kleinen Parkanlage das Seniorenheim steht. Ole fährt die Einfahrt hinein, parkt vor dem Haupteingang. Sie entsteigen dem Wagen, der Himmel verhangen, leichte Dämmerung setzt bereits ein, gehen auf den Eingang zu, öffnen die Tür und erblicken eine große Halle, in der ihre Schritte hallen, als sie auf den Empfang zulaufen, hinter dem eine ältere Dame sitzt, ihnen erwartungsvoll entgegenblickt.

„Wir würden gerne Herrn Gräven einen Besuch abstatten. Ist doch sicher möglich?“

„Sind Sie Angehörige des Herrn Gräven?“

„Nein. Wir sind von der Kripo Lübeck.“

Sie zückt ihren Ausweis, hält ihn der überrascht dreinschauend Frau entgegen, der ein oh entfährt und ein ja dann. Sie nennt ihnen die Zimmernummer des Herrn Gräven, bittet aber einen Moment zu warten, sie müsse die Pflegerin informieren, nimmt ein Handy in die Hand, drückt, hält es an ihr Ohr und meldet, das zwei Herrschaften der Polizei mit Herrn Gräven sprechen möchten und teilt Betty und Ole mit, dass sie gleich von Frau Luteila abgeholt würden.

Die Frau kommt, bittet aber die beiden auf Sesseln Platz zu nehmen, die im Empfangsbereich stehen.

„Sie kommen sicher wegen des Todesfalles der Familie Weidtmann?“

„Herr Gräven weiß um den Tod seiner Angehörigen?“

„Ja, er hat es durch die Nachrichten im Fernsehen erfahren. Es muss ein gewaltiger Schock für ihn gewesen sein. Als ich ihn antraf, wusste ich nichts von diesem Verbrechen, dachte zuerst, Herr Gräven hätte einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erlitten, da er regungslos in seinem Sessel saß und nach draußen stierte. Erst nach mehrfachem Befragen sagte er mir, was geschehen war. Er ist nach wie vor in einer Art Schockzustand, spricht nicht, isst nur wenig, zu nichts zu animieren. Ich bitte Sie deshalb, sehr vorsichtig mit ihm umzugehen und selbstverständlich wäre ich gerne bei dem Gespräch dabei, nur für den Fall, dass er Schwäche zeigt.“

„Gut, wir kennen uns aus in solchen Situationen, Sie müsse also nichts befürchten.“

Sie steht auf und bittet die beiden Polizisten ihr zu folgen. Das Zimmer, das sie nach dem Anklopfen ohne Antwort betreten, ist vollgestopft mit Möbeln, die an eine vergangene Zeit erinnern. Eine dunkle, verschnörkelte Vitrine, ein Schrank in gleichem Stil, ein breiter, wuchtiger Tisch, vollkommen deplatziert in dieser räumlichen Enge, umstellt von sechs Stühlen, denen Betty ihre Herkunft aus England ansieht. Wo sich Platz anbietet, stehen Nippesfiguren, Tassen, Vasen, elegante Porzellanfiguren (Oder ist dies Kunst?), egal, ein chaotischer Eindruck. Links in der Ecke ein Bett, rechts in der Ecke ein Sofa und vor dem Fenster mittig, steht ein Ohrensessel, in dem der alte Herr sitzt, ohne auf ihren Eintritt zu reagieren.

„Herr Gräven, da sind zwei Polizisten, die gerne mit Ihnen sprechen möchten.“

 

Ein Seufzen ist zu hören, ansonsten herrscht Ruhe, dann das Knarren des Sessels, Herr Gräven hebt sich darin hervor, dreht sich zu den beiden Kriminalbeamten um, weist auf die Stühle, geht darauf zu und setzt sich an den Tisch mit gespanntem Blick auf Betty. Der Mann ist noch rüstig, aber Gram hat sich auf ihm abgesetzt, zu viel davon, die letzten Jahre. Haare, nur noch spärlich vorhanden, ziehen einen dünnen Kreis um sein Haupt. Er steckt in einer hellbraunen Cordhose, einem gelben Pullover, darunter ein blaues Hemd, dessen Kragen über den Rand des Pullovers schaut.

„Warum? Können Sie mir sagen, warum? So grausam…“

„Wir sind noch mitten in den Ermittlungen und stellen uns die gleiche Frage wie Sie. Ich hoffe, dass wir bald eine Antwort finden.“

„Wie geht es Henri?“

„Herr Gräven, zunächst unser Beileid zum Tod Ihrer Angehörigen. Wir hätten Sie gerne früher benachrichtigt, wähnten Sie aber noch in England wohnend, was sich erst aufklärte, als wir mit Henri sprechen konnten. Henri geht es wie Ihnen. Er ist tieftraurig und geschockt von den Geschehnissen. Er wird morgen nach Lübeck kommen, Abschied nehmen von seiner Schwester und seinen Eltern und sicher auch hier vorbeikommen.“

Der alte Mann zeigt ein leichtes Lächeln: „Sie haben die Situation verstanden, nennen die Schwester zuerst. Ja,“ sagt der Mann schleppend Wort auf Wort langsam folgen lassend, „Henri und Steffi, die waren innig verbunden. Es ist ein schwerer Schlag für ihn, seine geliebte Schwester auf so tragische und wahrscheinlich unsinnige Weise zu verlieren.“

„Unsinnig? Wie meinen Sie das?“

„Was hat sie mit den Geschäften und Verfehlungen meines Schwiegersohnes zu tun? Nichts. Rein gar nichts. Sie starb wegen ihm. Sinnlos. Ich habe meine Tochter von Anfang an vor ihm gewarnt. Als die Geschäftsbeziehung mit dem Dresdner begann, saß meine Tochter in meinem Vorzimmer, sie hat nach ihrem Studium in der Spedition angefangen. Er hat sie überhaupt nicht beachtet, erst als er mitbekam, dass sie meine Tochter ist, fing er plötzlich an, sich für sie zu interessieren. Ich habe das genau registriert. Meine Tochter war vollkommen geblendet von ihm und, er wurde unser bester Kunde. Da waren alle Argumente umsonst. Ja, so hat sich das entwickelt.“

„Bester Kunde hieß, Zuwachs durch die Geschäftsbeziehungen mit Russland?“

„Ja. Ich und meine Tochter hatten keine Ahnung, was Frachtbewegungen nach Russland bedeuteten. Wir hatten uns seit unserer Gründung nur in Westdeutschland und dem nahen Ausland bewegt, die Schweiz, Dänemark, die Niederlande, Schweden, aber nie im Osten. Joachim drängte meine Tochter, einen Mann einzustellen, der perfekt russisch sprach und sich um die Frachtpapiere kümmerte. Wenn ich recht erinnere, war der Mann sogar Russe…“

„Helmer Kerner?“

„Ja, genau der. Wurde später sogar Geschäftsführer, nach dem sich mein Herr Schwiegersohn die Spedition unter den Nagel gerissen hatte.“

„Kerner ist Ostdeutscher, stammt aus Dresden, wo er zusammen mit ihrem Schwiegersohn für die Stasi gearbeitet hat.“

„Genau so habe ich mir das auch vorgestellt. Er hatte Dreck am Stecken. Von seiner Vergangenheit weiß ich nichts. Seine Eltern angeblich bei einem Autounfall in Ungarn früh verstorben. Verwandtschaftliche Beziehungen gab es angeblich keine, da er bei Zieheltern und in einem Waisenhaus aufwuchs. Fragen nach früher wurden von ihm ausweichend, wenn überhaupt, beantwortet.“

„Wie kam es, dass er die Überhand über die Spedition gewann.“

„Der Geschäftswandel vollzog sich an mir vorbei. Sie müssen wissen, kurz nachdem er uns mit Aufträgen eindeckte, erhielt meine Frau die Diagnose Darmkrebs, angeblich irreversibel. Dieser Idiot (schüttelt mit seinem Kopf). Meine Frau wollte ihre letzten Tage in England, ihrer Heimat verbringen und dort auch sterben. Es geschah nun alles sehr kurzentschlossen, ich überschrieb meine Anteile an der Spedition meiner Tochter, überschrieb ihr das Wohnhaus und wir zogen nach England. Dass die beiden dann heirateten, hat uns nicht weiter überrascht. Zur Hochzeit reisten wir nicht an, da es meiner Frau zu schlecht ging. Die beiden, ich nehme aber an, vor allem er, interessierte sich dafür nicht. Ihm lag an einer schnellen Hochzeit. Meiner Frau ging es zusehends schlechter, wir konsultierten einen Arzt in London und der teilte uns zu unserer Überraschung mit, dass meine Frau an einem Geschwür im Darm litt, dass operativ zu entfernen sei. Unser Hausarzt hatte vollkommen danebengelegen. Ja, und meine Frau wurde operiert, musste sich einer Chemotherapie unterziehen und lebte noch ein paar glückliche Jahre an meiner Seite, bevor der Krebs sie doch noch holte. Aus den Erzählungen der Kinder, die ihre Ferien bei uns verbachten, erfuhr ich einiges, wenn auch nur bruchstückhaft, den Rest von Heuer, bis er verstarb. So konnte ich die Geschäftsentwicklung der Spedition aus der Distanz verfolgen. Heuers Kinder hatten kein Interesse an der Spedition, so hatte Joachim keine Probleme, die Anteile der Heuers auszuzahlen. Damit gehörte ihm die Spedition allein. Allerdings war es nur eine Ahnung, dass er Geschäfte machte, die nicht gesetzeskonform waren, davon erfuhr ich erst aus der Zeitung.“

 

Er schaut auf, zuvor hat er mehr zu der Tischplatte als zu Betty oder Ole gesprochen. Er fährt fort in seiner Erzählung, wischt immer wieder mit seinen Händen über die Tischplatte, als wollte er etwas entfernen, was nicht da ist, bevor Betty ihm eine Frage stellen kann.

„Ich wollte nicht, dass meine Tochter diesen Typen heiratet, aber mein Reden war vergeblich. Das ich Recht hatte mit meinen Vorbehalten hat niemand geholfen. Er drängte meine Tochter aus der Geschäftsleitung der Spedition, reduzierte sie auf ihre Mutterrolle. Beistehen konnte ich nicht mehr, unser Zerwürfnis war nicht zu kitten. Wir hatten nur noch Kontakt über die Kinder. Nachdem ich hier angekommen war, meldete sich Leni, sie wolle mit mir reden. Sie kam hierher, eröffnete mir, dass sie sich scheiden lassen wolle und bat um meinen Rat. Wir mussten beide weinen. Sie hat mir all ihr Leiden geklagt, die sie über zwanzig Jahre erduldet hatte und die sie mit Hilfe des Alkohols vergessen wollte. Ich habe ihr einen alten Freund aus Hamburg als Anwalt empfohlen. Sie hatte Angst vor dem Tag, wo sie ihm die Papiere vorlegen würde.“

Der alte Mann spricht immer noch schleppend, der Druck dieses so schief gelaufenen Lebens auf sich spürend, macht eine kurze Pause, sich zu besinnen und Betty lässt ihm die Zeit, sich von der Seele zu reden, was da auf ihr liegt.

„Angst? Ist Ihr Schwiegersohn seiner Frau gegenüber handgreiflich gewesen?“

„Nein…nein…nicht, dass ich wüsste. Es war diese Paranoia, dieser Verfolgungswahn, der anscheinend immer schlimmer wurde, der ihr Angst machte.“

„Sie glauben nicht an eine reale Bedrohung Ihres Schwiegersohnes?“

„Nein. Henri hatte seinen Verzug aus dem Elternhaus sorgsam vorbereitet. Er hatte sich das Zimmer in der Wohngemeinschaft organisiert und einen Job. Er wollte unabhängig von seinen Eltern sein. Als er dann seine Sachen packte, kam es zu einem heftigen Streit mit seinem Vater, der darin gipfelte, dass Henri seinem Vater sagte, er habe ihn nie als Vater empfunden, er sei der Fremdling in der Familie, die keine gewesen sei. Und seit dieser Auseinandersetzung steigerte sich Joachim in diesen Verfolgungswahn hinein.“

„Sie meinen, diese Auseinandersetzung hätte Ihrem Schwiegersohn bewusst gemacht, dass er seine Familie vernachlässigt, ja missbraucht hat. Aber warum dann Verfolgungswahn?“

„Weil er Angst davor hatte, dass er auch noch seine Frau, was ja nicht unbegründet war, und Steffi verlieren könnte. Beide fing er an zu kontrollieren. Er rüstete das Haus auf, war fast nur noch zu Hause, eingeschlossen in seinem Zimmer. Leni sagte, sie fühle sich beobachtet durch die ganzen Kameras im und am Haus.“

„Im Haus? Im Haus befanden sich Kameras?“

„Ja, sagte Leni.“

Sind diese Kameras der Spusi entgangen? Oder hat sich Herr Gräven täuschen lassen? Dem muss sie auf jeden Fall nachgehen.

„Halten Sie die Angst Ihres Schwiegersohnes, nach dem, was geschehen ist, immer noch für eine Paranoia?“

„Ja. Das sind zwei verschiedene Dinge.“

„Was bringt Sie zu dieser Annahme?“

„Hm. Ich denke, ihm wurde bewusst, dass sein Leben aus den Fugen zu geraten drohte. Das machte seine Angst. Das Verbrechen ist eine ganz andere Kategorie. Ich kann mir aber keinen Grund vorstellen, wer und warum dieses Verbrechen erfolgt ist.“

Sein Schwiegersohn sei erpresst worden. Die Vermutung liege nahe, dass der Erpresser Kenntnis von der Vergangenheit des Schwiegersohnes gehabt habe. Nein, meint Herr Gräven, nicht aus der Vergangenheit. Die Vergangenheit seines Schwiegersohnes könne nicht so schlimm gewesen sein, ein solches Verbrechen zu rechtfertigen. Ob er denn gezahlt habe. Nein, dazu sei es nicht mehr gekommen. Es scheint aber so, als habe er die Bedingungen des Erpressers akzeptiert. Und warum habe er dann die ganze Familie umgebracht, wie soll er das verstehen. Das verstehe wer will, er nicht. Spürbar erregt, schüttelt er seinen Kopf, ringt mit Tränen, die dem verzweifelten Mann über die Wangen rinnen.

„Finden Sie diesen Unmenschen…finden Sie ihn.“

 

Um Abstand zu gewinnen, fragt Betty Herrn Gräven, wieso er hier in Haffkrug seinen Lebensabend verbringe und nicht in Lübeck. Er sei hier oft mit seiner Frau spazieren gegangen, liebe die Nähe des Meeres und die Möglichkeit, hier weite Strecken bequem zu wandern. Das Haus hier habe ihm schon immer gefallen, seine Lage, sein Aussehen und nebenan im Sierksdorfer Hof hätten sie oft zu Mittag gegessen, was er auch heute noch mache. Eine Entscheidung aus dem Bauch heraus.

„Ihr Enkelsohn wird Sie nun dringender denn je brauchen. Ihm wird ein stattliches Erbe zufallen…“

„…Dass er nicht annehmen wird. Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er das schmutzige Geld nicht anfassen wird…“

„Er braucht jetzt einen guten Ratgeber, denn er muss sich durchsetzen gegen einen windigen Anwalt, dem ihr Schwiegersohn die Verwaltung seiner Holding übertragen hat.“

„Holding? Welche Holding?“

Nein, davon habe er nichts gehört. Seine Tochter habe auch nie darüber gesprochen. Er habe immer nur den Blick auf die Spedition gehabt. Gut, dass er eine Unternehmensberatung führte, ja, das habe er gewusst, aber eine Holding, das sei ihm neu. Betty klärt ihn so weit auf, wie sie kann und Herr Gräven versteht erst jetzt, was Betty damit meinte, dass sein Enkelsohn seine Unterstützung brauche. Ja, es gäbe einiges zu besprechen. Morgen, morgen. Ob er mit in die Gerichtsmedizin kommen wolle, sich von seiner Enkeltochter und Tochter zu verabschieden.

„Ach Gott, ja, die Beerdigung. Das dürfte den Jungen überfordern. Ja, nur, wie komme ich dahin?“

„Ich lasse Sie abholen.“

„Das wäre nett.“

„Ach, Herr Gräven, noch eine letzte Frage. Sie haben lange genug in dem Haus in Lübeck gewohnt. Hatten Sie einen Tresor im Haus?“

„Äh, ja, natürlich, also nicht ich habe den Tresor einbauen lassen, das waren meine Eltern. Ich habe ihn benutzt und sicher auch mein Schwiegersohn. Leni hatte die Zahlenkombination, die mein Schwiegersohn geändert haben dürfte. Der Safe ist schwer zu finden, eingebaut in das Bücherregal im Herrenzimmer, also dem jetzigen Arbeitszimmer meines Schwiegersohnes.“

„Könnten Sie mir den Tresor zeigen? Vielleicht können Sie ihn sogar öffnen. Ansonsten würde ich unseren Spezialisten damit beauftragen. Es wäre sehr hilfreich für uns.“

„In das Haus? Ich soll in dieses Haus gehen?“

„Es ist nichts von dem Verbrechen zu sehen, keine Spuren. Sie müssen keine Skrupel haben.“

„Gut, wenn es Ihnen weiterhilft, soll es mir recht sein.“

Damit beendet Betty das Gespräch, dankt Herrn Gräven und sie verabschieden sich von ihm und der Pflegerin, die, draußen vor der Tür, sich vollkommen überrascht über die Gesprächigkeit des Herrn Gräven zeigt, der die beiden letzten Tage kein Wort von sich gegeben habe. Sie glaube, er sei froh, endlich über die Sache gesprochen zu haben.

 

Kaum vor die Eingangstür getreten, zückt Betty ihr Smartphone, ruft Lusi an, die annimmt, fragt sie, ob sie noch bei der Sicherheitsfirma seien, ja, sind sie, ob der Geschäftsführer in der Nähe sei, müsse sie schauen.

„Gut, frage ihn doch bitte, ob die Firma auch im Haus der Weidtmanns Kameras installiert hat. Wir waren gerade bei dem Vater der Frau Weidtmann, der sprach davon, dass sich seine Tochter durch Kameras im Haus überwacht gefühlt habe. Und sonst, auf irgendetwas Brauchbares gestoßen?“

„Bisher noch nicht. Wir sind fast durch, haben alle in Frage kommende Mitarbeiter gesprochen und überprüft. Die sind alle so sauber, wie frisch aus der Waschmaschine gekommen. Also, die Schwachstelle hier zu suchen, kannst du vergessen. Einzig halt das System an sich, da sind seine Techniker dran, die anscheinend auch nichts finden. Der Herr Stupi war übrigens vollkommen platt, wegen der Kameraleiste. Er hat sofort Leute losgeschickt, die Installationen anderer Kunden zu prüfen und zu sichern. Noch ne Stunde vielleicht, dann fahren wir zurück. Ach, und da ist noch eins. Tönnes sagt, du verlässt uns und den Polizeidienst. Stimmt das?“

Nein, das darf jetzt nicht wahr sein. Dieses Arschloch denkt Betty, was hat der Depp sich dabei gedacht. Sie hatte ihn darum gebeten, Stillschweigen zu bewahren und was macht der Arsch, plaudert es einfach aus. Wobei einfach? Steckt da Absicht dahinter?

„Ja, Lusi stimmt. Ich wollte es dir und Peter am Samstag mitteilen, euch zum Abendessen einladen…Ich habe diesen Arsch gebeten, meine Entscheidung, die mir irgendwie rausgerutscht ist, für sich zu behalten. Warum hat er das ausgeplaudert? Einfach so?“

„Während der Fahrt fing er davon an. Eigentlich grundlos. Du siehst eine Absicht dahinter?“

„Möglich. Es wird nun die Runde durch das Präsidium machen, Travens wird enttäuscht sein und der Neue sich freuen, mich loszuwerden. Die Konsequenz wird sein, dass ich in dem Fall nur noch eine Nebenrolle einnehmen werde.“

„Ich rede mit den Kollegen, sie werden schweigen, so gewinnst du ein wenig Zeit. Wann wolltest du es offiziell machen?“

„Na ja, ich wollte erst euch einweihen, Montag dann mit Travens und dem Chef reden.“

„Und du willst wirklich komplett aus dem Polizeidienst ausscheiden?“

„Ja. Ich muss Lusi. Meine Gesundheit geht vor.“

„Versteh ich, klar, versteh ich. Wir sehen uns Morgen.“

Ole hat sich zwar ein paar Schritte von Betty entfernt, hat dennoch einige Worte mitbekommen und fragt Betty, ob ihre Entscheidung mit ihrem Unfall zusammenhing, was Betty verneint und ihm ihre Gründe erläutert.

„Dein Chef, also dein ehemaliger Chef, und der Oberstaatsanwalt hatten großen Respekt vor deiner Arbeit. Warst du nicht so etwas wie der Shootingstar der Lübecker Kriminalpolizei?“

„War ich nicht Ole, und das, was war, ist Historie. Ich bin ja nicht ganz weg von der Polizei, zukünftig bilde ich den Nachwuchs an Kriminalpsychologen heran.“

„Hm, trotzdem, ich denke, deine Vorgesetzten und Kollegen werden diese Entscheidung bedauern.“

„Schon möglich. Es geht um mich und sonst niemand.“

 

Ob Ole eine Einschätzung zu dem Gespräch mit Herrn Gräven machen könne, oder er nicht so tief in dem Fall stecke, sich ein Urteil zu bilden, will Betty wissen. Zwar wisse er noch nicht genug über den Fall, aber Herr Gräven scheint zu wissen, was er sagt. Sie stimme Herrn Gräven voll zu. Sie glaube auch nicht an die Spur der Vergangenheit, stehe damit aber allein da, da sowohl der Oberstaatsanwalt als auch der neue Chef alle Kapazitäten in diese Richtung lenken. Sein Kollege und er werden sich in die Tiefen der DDR-Vergangenheit wühlen müssen, nach Opfern suchen, aufklären, was die Arbeit der Stasi-Gruppe in Dresden war. Sinnlose Arbeit, da nichts zu finden sein wird, was sie dem Täter näherbringen würde. Was sie glaube, stecke hinter den Morden. Das sei das Blöde, sie wisse es auch nicht. Sie suche noch und hoffe bald eine Spur zu finden.

Sie fahren die Uferstraße entlang, spontan bittet Betty Ole, den Wagen rechts heranzufahren, was der überrascht blickende Ole macht.

„Lass uns noch, wenn wir schon hier sind, ein paar Meter am Strand entlanglaufen. Ich habe es sehr genossen, während meines Aufenthaltes in der REHA-Klinik, allabendlich barfuß durch den Sand zu waten, im feuchten Sand einzusacken, mit den Füßen durch das kalte Wasser zu platschen.“

Sie steigt aus, Ole zögert noch, folgt ihr aber über die Straße, durch den Dünenzugang, hinunter zum Strand. Betty zieht ihre Sneakers aus, stapft barfuß durch den kalten Sand, bleibt kurz vor der Wasserlinie stehen, schaut zum Horizont, dreht sich zu Ole.

„Weißt du, wenn du außer den Horizont anzuglotzen nichts zu tun hast, spürst du die Dinge um dich vollkommen anders. Du nimmst sie viel bewusster wahr. In der Stadt, im Alltag kommst du nicht auf die Idee, dem Sonnenuntergang zu folgen, ihn zu bewundern. Du merkst noch nicht einmal, dass die Sonne untergeht. Wir verleben unser Leben, leben an ihm vorbei, können nicht mehr zwischen wichtig und unwichtig unterschieden.“

„Hört sich melancholisch an. Leben funktioniert halt anders, wie wir es uns wünschen und von Sonnegucken wirst du nicht satt, dafür auch nicht bezahlt. Komm los, wir müssen zurück.“

Ja, Ole hat natürlich recht, aber die paar Minuten hier haben Betty gutgetan. Sie hebt ihr Schuhe auf, zieht sie aber noch nicht an, sondern läuft bis zum Auto schuhfrei, spürt die Kälte unter ihren Fußsohlen, gutes Gefühl. Während der Fahrt schlüpft sie in ihre Schuhe zurück, mit dem Gefühl, reibenden Sand mit in die Schuhe zu nehmen. Aber egal.

 

Zurück im Büro trifft sie im Eingangsbereich auf Mentel, der sie freudig begrüßt. Sie umarmen sich, Betty bedauert, ihn wieder im Streifendienst zu sehen. Es sei Griebel nicht um die nichtvorschriftskonforme Beförderung gegangen, sagt Mentel, sondern darum, dass er schwul sei. Griebel habe ihm ins Gesicht gesagt, dass er keine Schwule in seinem Team dulde und eigentlich am liebsten jeden Schwulen aus der Polizei entfernen würde. Schwule seien Quellen der Unruhe. Deshalb bin ich wieder im Streifendienst gelandet. Das Arschloch macht keinen Hehl aus seinem Schwulenhass und das wirkt sich auf die Kollegen aus. Die, die bisher wenigstens ihren Mund gehalten hatten fangen an, dumme Sprüche abzusetzen, Anspielungen zu machen oder sich zu weigern, mit mir im Wagen zu fahren. Er habe mittlerweile den fünften Partner im Wagen. Diese seien so lange Zielscheibe von Spott und Sprüchen einiger Kollegen, bis sie genervt, aber mit Bedauern, aufgeben. Nein, es mache keinen Spaß mehr. Das Arschloch hat das Klima versaut.

„Was sagt der Personalrat dazu?“

„Das sei diskriminierend, aber machen könne er nicht viel. Diese Diskriminierung ist unterschwellig, schleichend, du kriegst sie nicht zu fassen. Ich werde mich durchbeißen müssen und hoffen, dass es nicht schlimmer wird. Ansonsten werfe ich das Handtuch.“

„Das ist ärgerlich. Ich weiß zwar nicht wie, aber wenn ich dir irgendwie helfen kann, sage es mir.“

Wie es ihr denn gehe, ob sie alles überstanden habe, wieder voll im Dienst sei, er habe mitbekommen, in was für einem Fall sie schon wieder ermittele, sei viel los in Lübeck und sie zur rechten Zeit wieder aufgetaucht, worüber Betty lachen muss, aufgetaucht sei gut. Ob er Lust habe, Samstagabend bei ihr vorbeizukommen, Lusi und Peter würden wahrscheinlich auch da sein. Ja, gerne, er freue sich. Dann sehen wir uns Samstagabend.

Ole hat den Wagen abgestellt und ist schon vorausgegangen. Betty folgt nach, kommt oben an und Peter ihr entgegen, wedelnd mit einem Papier, leicht aufgeregt wirkend.

„Betty, wir haben Treffer.“

„Treffer?“ Betty steht auf dem Schlauch, ist überrascht von Peters Ankündigung, vor allem aber Peter hier anzutreffen, müsste doch in Ahrensdorf sein. Doch Treffer? Ihr fällt schnell ein, was Peter meinen könnte.

„Ihr habt vergleichbare Verbrechen gefunden. Sag nur.“

„In der Tat. Sechs ungelöste Fälle und zwei davon direkt vor unserer Haustür. In Tankenhagen, von den Kollegen in Wismar bearbeitet. Ich habe sogleich Kontakt mit denen aufgenommen und unsere Daten der Ballistik hinübergemailt…“

„…Langsam, langsam, Peter, so schnell komme ich nicht mit. Komm setzen wir uns in den Besprechungsraum.“

 

Peter, ziemlich hektisch wirkend, anscheinend voll Adrenalin ob ihrer Entdeckung, setzt sich und will fortfahren in seinem Bericht, doch Betty hebt die Hand. Langsam, Peter, langsam.

„Warst du nicht mit in Ahrensdorf?“

„Doch, doch, aber Sandra und ich sind vorzeitig zurück, um die Datenbankrecherche durchzuziehen. Bei der SecTec waren wir überbesetzt. Lusi und Severin haben die Befragung dort allein durchgeführt.“

„Gut, und jetzt, was ist da in Tankenhagen…wo soll dies liegen? Nie gehört. Also, was ist dort passiert?“

Der Ort liege bei Dassow, ungefähr dreißig bis vierzig Kilometer von Lübeck entfernt in Mecklenburg-Vorpommern. Auf einem Bauernhof dort seien im Abstand von knapp zwei Jahren zwei Morde geschehen, bis heute ungeklärt. Der erste Mord wurde an einem Friedhelm Matschke verübt. Er soll einen russischen Geschäftspartner, Partner in Anführungsstrichen, um viel Geld betrogen haben. Also, die Sachlage sei wie im aktuellen Fall. Die Patrone, die diesen Matschke in die Stirn traf, entstamme einer Makarow. Passt alles. Er habe sich deshalb erlaubt, in Abstimmung mit Fredlin, die Kugel nach Wismar zu schicken. Er vermute, sie wurde aus der gleichen Waffe abgefeuert, wie in unserem Fall. Der zweite Mord geschah knapp zwei Jahre später, wieder auf dem Hof, fast an gleicher Stelle und wieder war eine Makarow im Einsatz. Das Opfer Theophil Matschke, ein Künstler. Hier allerdings stünden die Kollegen immer noch vor einem Rätsel, da kein Motiv erkennbar sei. Dieser Matschke ist unbelastet, frei von jedem Verdacht in irgendeine Sache verwickelt zu sein. Er war Anstreicher und nebenbei Künstler, und zwar keiner von der schlechten Sorte. Dessen Mutter erlitt einen Schock, hatte aber durch das Küchenfenster die Ermordung ihres Sohnes mitangesehen und…konnte helfen, ein Phantombild von dem Täter zu erstellen. Die Kollegen konnte das Bild digital bearbeiten, so dass sie jetzt ein relativ reales Bild des Täters hätten.

„Ich fasse es nicht. Aber einen Namen zu dem Bild gibt es noch nicht? Weiß Griebel davon?“

„Nein, aber die Kollegen sind dran. Es ist alles noch ganz frisch und ich wollte es zuerst mit dir besprechen. Was hältst du von einem Besuch auf dem Hof und bei den Kollegen in Wismar könnten wir auch vorbeischauen, Einsicht in die Akten nehmen.“

Uijuijui, in einer Rasanz vorgetragen, braucht Betty einen Moment die Informationen zu verarbeiten. Nur, was sollte ein Besuch auf dem Hof bringen? Nach Wismar fahren, mit den Ermittlern in dem Fall reden? Danach, falls Bedarf besteht, kurz den Hof aufsuchen, ja, so könnten sie es machen. Und Wismar? Da könnte sie einen Abstecher zu Vera machen. Oder? Zu kurz? Egal, muss sie sich noch durch den Kopf gehen lassen.

„Prima Job, Peter. Die Kollegen aus Wismar haben sich vermutlich noch nicht gemeldet. Lass mich kurz mit dem Chef reden, danach kannst du unseren Besuch in Wismar für Morgen ankündigen…Moment noch, du sagtest sechs Treffer, du hast bisher nur die zwei genannt.“

Auch bei diesen Morden sei eine Makarow die vermutliche Tatwaffe gewesen. Alle Ermordeten seien Exilrussen, in einem Fall ein Exiltschetschene gewesen. Diese Fälle seien als politisch motiviert angesehen worden, obwohl zweien der Exilrussen die Nähe zu Drogengeschäften unterstellt wurde. In diesen vier Fällen keine Spuren, kein DNA-Material. Nichts. Bis auf die Kugeln.

 

Das Bild des Täters? Riskant. Wenn er, was sie nicht wussten, der Täter war, dann half ein Bild weiter. War er es nicht, würden sie sich auf sein Bild versteifen und alle anderen verdächtigen Personen übersehen. Gut, sie muss sich die Fälle ansehen, sehen wie der Täter agiert hat und das weitere Vorgehen müssen der Oberstaatsanwalt und Griebel entscheiden. Der Oberstaatsanwalt ist im Gericht (so spät noch?), vorerst nicht zu sprechen, also bleibt nur Griebel, dem sie einerseits von ihrem Gespräch mit Herrn Gräven, andererseits die Sache mit dem Phantombild berichtet, ohne dem Bericht eine eigene Wertung beizugeben. Griebel lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück, schaut zur Decke, versichert sich, dass die Übereinstimmung mit der Tatwaffe noch nicht vorliegt, genauso wenig wie das Phantombild des möglichen Täters. Wir warten ab, entscheidet er, besprechen morgen früh, wie sie damit umgehen werden. Sie solle für heute Schluss machen, ebenso die beiden Schwartauer Kollegen. Er werde auch gleich gehen.

Ole hat es sich im Besprechungsraum bequem gemacht und betrachtet die leere Pinwand als Betty zu ihm stößt. Er solle Feierabend machen. Und sie? Nun, sie müsse noch nachdenken, langsam die Pinwand füllen, gut, er würde ihr gerne dabei helfen, wenn es ihr genehm wäre, würde ihm helfen, den Fall besser zu verstehen. Auch Peter kommt hinzu, will natürlich wissen, was der Chef gesagt habe, ist enttäuscht, dass dieser auf die Bremse getreten ist, aber gut, morgen sei ja auch noch ein Tag.

Betty hat bereits begonnen, erste Bilder aufzupinnen, von Peter aufmerksam verfolgt. Er setzt sich neben Ole. Was sie aufhängt oder aufschreibt, kommentiert sie, nennt den Grund und die Frage dahinter. Ganz oben die drei Opfer, links davon malt sie einen Kreis, schreibt Kopf hinein mit Fragezeichen versehen. Unter die Opfer malt sie ein Haus, strichelt einen Kreis darum, darüber Wann? Und Wie? Rechts schreibt sie Gräven auf, Scheidung, Zerwürfnis darunter. Was dies für eine Relevanz habe, will Ole wissen. Es zeige eine Familie in Auflösung und wie Herr Gräven, vermute auch Betty hierin den Grund der Paranoia des Herrn Weidtmann.

Unter dem Haus setzt sie Zugang? Rechts Code, daneben Henri, Tarik Kuracz und Azra Kuracz, darunter Auslesen, Kamerastreifen, Skimming; links neben das Haus Kameras, SecTec, Mitarbeiter? Unterhalb des Hauses die Skizze einer Pistole, Makarow und Tatwaffe? Knapp darunter Motiv? Links neben die Pistole notiert sie Stasi, Dönsch, Opfer? Rechts davon Drogengeschäft, Killer? In Klammern Mord in Tankenhagen, Tatwaffe? Unterhalb des Bildes skizziert sie einen Rahmen, setzt ein Fragezeichen hinein und ein Täter? darunter. Die Erpressung muss sie noch unterbringen. Nur wo? Sie schreibt neben die Pistolenskizze, 3 Mio. Euro und Erpressung? Was fehlt sind die Kopfschmerzen, die lässt sie in ihrem Kopf, noch zu unpräzise, um sie in das Bild einzubinden.

Sie geht einen Schritt zurück, sagt, sie sehe nur Fragezeichen.

„Peter kannst du gleich morgen früh herausfinden, wie die Weidtmanns den Freitag verbracht haben. Steffani muss gegen Mittag nach Hause gekommen sein. Die Mutter hat sie empfangen. Wo war sie am Morgen, wo ihr Ehemann? Der Täter kann nur tagsüber in das Haus gekommen sein und nur dann, wenn niemand im Haus war. Möglichst vor der Besprechung.“

„Mach ich, wenn du mir sagst, wie ich das herausfinden soll. Immerhin sind die beiden tot.“

„Frage die Haushälterin. Ansonsten schaue im Haus nach. Gibt es Anzeichen, dass Frau Weidtmann einkaufen war, er eventuell im Büro, die Mitarbeiter fragen. Gut, vergiss das mit der Besprechung, das schaffst du nicht. Lass dir Zeit, lieber sorgsam als hastig recherchieren.“

„Und Wismar?“

„Stimmt. Wismar machen wir, wenn es die Zeit erlaubt. Vorausgesetzt, es zeigt sich, dass es einen Zusammenhang gibt. Morgen nach der Besprechung fahren wir auf den Hof, reden mit der Mutter des Opfers, machen uns ein Bild. Danach kommt der Sohn und der Schwiegervater. Mit denen muss ich in die Gerichtsmedizin und anschließend in das Haus der Weidtmanns. Kontaktiere die Kollegen in Wismar, sie sollen dir alles zumailen, was sie zu dem Fall gesammelt haben. Vor Freitag wird das nichts, mit dem Hinfahren.“

 

Lusi und Severin kommen den Gang gelaufen, schauen überrascht in den Besprechungsraum, treten ein, Lusi verwundert, wieso sie noch da seien, irgendwas Spannendes passiert. Nein, nein, entgegnet Betty, sie hätten nur so etwas wie ein Brainstorming gemacht, allerdings nur Fragezeichen produziert und sie, hätten sie mehr als Fragezeichen zu bieten.

Nichts, nur lauter Saubermänner. In der SecTec hätten sie keine Anzeichen dafür gefunden, dass ein Mitarbeiter sich in irgendeiner Form verdächtig gemacht hätte, alles langjährige, bewährte, hochqualifizierte und gut bezahlte Mitarbeiter. Bei den Mitarbeitern, die unmittelbar an der Planung, Entwicklung und Installation der Weidtmann‘schen Anlage beteiligt gewesen seien, würden sie noch eine Prüfung von deren finanziellen Verhältnissen durchführen. Zur Frage, wie der Täter in das Haus gekommen sei, immer noch keine befriedigende Antwort. Das Skimming sei aber die wahrscheinlichste Variante. Betty schaut ernüchtert auf die Kollegen.

„Konntet ihr den Geschäftsführer fragen, ob die Firma auch im Haus Kameras installiert hatte?“

Von Kameras im Haus wusste er nichts. Sie hätten nur die Außenkameras installiert. Hm, entweder der Vater von Frau Weidtmann hat sich geirrt oder Weidtmann selbst hat Kameras angebracht. So gut platziert, dass sie sie nicht gefunden hätten. Muss die KTU nochmals ran, Severin solle Steprath entsprechend informieren. Ideal wäre es, wenn sie morgen Nachmittag nachschauen würden, da sie mit Herrn Gräven in das Haus käme, um nach dem Tresor zu sehen. Falls Herr Gräven den nicht öffnen könne, müsste Steprath in Aktion treten.

„Eine Tresor? Wir haben nicht den Hauch eines Tresors gefunden, obwohl wir danach geschaut hatten.“

„Er muss gut versteckt sein. Mal schauen, was drinnen steckt.“

Gut, die Kolleginnen und Kollegen machen einen schlappen Eindruck, Zeit hier das Licht zu löschen, aber dann fällt Betty ein, die Sache mit ihrem Abgang klarzustellen.

„Ach, wenn ihr schon alle hier seid, wie ihr bereits wisst, werde ich, nachdem ich nach Hamburg gehe, meinen Lehrgang abzuschließen, nicht mehr nach Lübeck zurückkommen und gänzlich aus dem Polizeidienst ausscheiden. Keine leichte Entscheidung, aber ich habe einige Krankheiten in mir, die zu kurieren oder im Zaum zu halten, ich einen ausgeglichenen Tagesverlauf benötige und den, das wisst ihr ja, werde ich im Dienst nicht haben können. Zwei Dinge will ich morgen noch erledigen, dann werde ich Travens und den Chef informieren und, wie ich vermute, werden mich beide aus dem Fall zurücknehmen. Bis dahin bitte ich euch, meine Entscheidung für euch zu behalten.“

„Was wirst du machen? Nie mehr Polizei?“ fragt Sandra.

„Ich gehe zurück in die Wissenschaft und werde am Institut für Kriminalpsychologie in Hamburg junge Nachwuchskräfte ausbilden. Unaufgeregtes Arbeiten. Und, ich flüchte nicht, weder vor dem neuen Chef noch vor den Gefahren unseres Berufes. Das ist mir wichtig. Einzig und allein meiner Gesundheit zuliebe habe ich diese Entscheidung getroffen.“

„Du wirst uns allen fehlen, Betty. Ich hoffe, du hast dich richtig entschieden. So, und jetzt machen wir Feierabend. Jemand Lust auf ein gemeinsames Bier?“

Lusis Aufforderung geht in Gemurmel unter, so recht hat keiner Lust, für einen Kneipenbesuch. Gut, dann halt nicht, resigniert sie, geht auf Betty zu, klopft ihr auf die Schulter, ohne Worte. Nach und nach verlassen die Kollegen den Raum, Betty verharrt noch einen Moment, schaut auf die Pinwand. Um was geht es hier?

Sie löscht das Licht und verlässt nun ebenfalls den Raum, das Büro, das Gebäude, läuft auf die Bushaltestelle zu und wartet auf ihren Bus. Ein Auto hält an, die Scheibe geht herunter und Lusi fragt Betty, ob sie sie nach Hause bringen solle. Betty dankt, der Bus käme gleich. Sie winken sich zu, Lusi fährt los. Hätte sie annehmen sollen? Sie hätten sicher noch eine Zeitlang geplaudert, wozu Betty aber heute Abend keinen Kopf mehr hat. Sie will nur noch ihre Ruhe.

 

In der Wohnung setzt sie sich erst einmal auf ihrem Sofa ab, seufzt, erhebt sich, schiebt eine CD in den CD-Player, Metallica S&M, Aufnahmen mit dem San Francisco Symphonieorchester, Klassik meats Heavy Metal, braucht sie jetzt. Fegt durch den Kopf, weckt Gefühle, tut einfach gut. Nach kurzem Zuhören erhebt sie sich, schaut nach, was sie sich heute Abend zubereiten kann, stellt fest, dass sie vergessen hatte, zum Mittag ihre Pillen zu nehmen, entnimmt dem Gefrierfach ein Lachsfilet, schon wieder Fisch, aber Fleisch hat sie keines mehr im Gefrierfach. Muss unbedingt einkaufen. Sie schneidet ein Zucchino in feine Scheiben, ebenso eine Zwiebel, eine Knoblauchzehe und brät sie mit Prinzessbohnen an, gewürzt mit Salz, Pfeffer, Kreuzkümmel, Oregano. Gibt alles auf einen Teller und brät nun den Lachs, mit Zitrone beträufelt, Salz und Pfeffer sowie einer Fischwürzmischung, leicht knusprig. Legt den Lachs über das Gemüse. Fertig.

Bevor sie abspült ein Anruf bei der Großmutter, ihren Besuch für Sonntag ankündigen und deren Neugier befriedigen, die sie sicher hat. Klar hat sie, stellt Fragen, obwohl Betty sie ausführlich informiert, bleibt bei ihrer Mafiaannahme, sei eindeutig ein Auftragsmord. Warum auch immer. Betty lenkt ab, fragt, ob Oma ihre Sachen hat abholen lassen, ja, ja, alles hier in der Wohnung. Gut, sie habe den Dachdecker bestellt und würde morgen den Malermeister anrufen. Was sie mit dem Dachdecker wolle, das Dach sei doch erst gemacht worden. Erst? Wann sei erst gewesen? Müsse sie nachdenken. Oh Gott, Betty, das kostet Geld, ob sie sich das denn leisten könne. Sie werde mit der Bank reden müssen. Nein, müsse sie nicht, sie solle mit ihr reden, sie habe genug Geld, dass sie nicht mehr ausgeben könne. Und wieso sie erst Sonntag komme? Wegen dem Fall, der ruhe ja nicht, nur weil Wochenende ist. Gut, dann bis Sonntag. Ob sie zum Scherrer oder zum Italiener gehen? Oh, Omi unverbesserlich. Zum Scherrer.

So und jetzt noch Harrie, wählt ihn an, nicht zu Hause, dafür Sonja, der Betty ankündigt, morgen Abend vorbeikommen zu wollen, ob sie zu Hause seien. Sind sie, sie freue sich, Betty zu sehen. Noch kurzes Geplauder, wie geht’s wie stehts, wir sehen uns dann morgen.

Nach den Telefonaten abspülen, Pillen schlucken, den Fernseher anstellen, einmal durchdrücken, wieder ausdrücken, nichts dabei, das zum Verweilen animiert, also weiter Musik hören oder lesen. Sie versucht es mit Lesen. Stellt die Musikanlage aus, begibt sich in ihren Sessel, knipst die Stehlampe an, blättert in den Hundejahren dahin, wo sie zuletzt aufgehört hatte, schließt kurz die Augen, geht in sich, versucht sich die bisherige Handlung in den Kopf zu rufen. Die Erzählperspektive hat gewechselt, Matern ist nun der Erzähler, der mit seiner Vergangenheit kämpft, schuldig ist, die Schuld abarbeiten möchte, will Rache nehmen an denen, die ihn zu dem gemacht hatten, der er geworden war.

Betty fielen die Parallelen auf, die des Romanes und ihres Falles. Sie fällt aus dem Text, wandert gedanklich in Weidtmanns Vergangenheit. Was aber war dessen Rache? Was hatte er zu rächen? Matern war Nazi wider Willen, aber mit Willen. Weidtmann war Stasi. Aber wider Willen? Nur, er ist nicht der Rächer, er wurde gerächt, wenn dem so war. Nein, das führt zu nichts, liest langsam weiter, findet in den Text zurück und arbeitet einige Seiten ab, bevor die Müdigkeit sie zwingt, das Buch zuzuklappen, sich bettfertig zu machen und sich dem Schlaf hinzugeben.

 

Am Morgen betritt Betty das noch leere Büro, schaltet ihren Computer an, sieht bei den Mails nach, nichts aufgelaufen, hatte gehofft, Post aus Wismar liege vor, sicher auf Peters Rechner. Sie geht zur Kaffeemaschine, setzt Kaffee auf, der blubbernd mit kräftigem Braun durch die Maschine läuft, vor der sich Betty postiert hatte, bereit, ihren Kaffee zu verteidigen. Gießt sich ihren Pott voll und geht zufrieden an ihren Arbeitsplatz zurück. Peter kommt angeeilt, schmeißt sich vor seinen Computer, voller Erwartung. Der Bericht, gut zwanzig Seiten, der Kollegen ist eingetroffen, ebenso das Phantombild. Beides lässt er ausdrucken, gleich mehrmals. Betty hält das Bild in der Hand, schmales Gesicht, enge, katzenhafte Augen, leicht in den Augenhöhlen liegend, graue oder braune Augen, ausgeprägte Wangenknochen, schmale Nase, Kinnbart, glattes, dünnes Haar, an der Stirn bereits zurückgehend. Nein, sagt sich Betty, rein vom Gefühl her, nicht ihr Täter. Sie schätzt ihn auf ende vierzig, anfang fünfzig. Killergesicht ja, aber dem Gesicht fehlt die Intelligenz. Was sie denkt, sagt sie Peter nicht, der glaubt, den großen Durchbruch erzielt zu haben, muss sie vorsichtig sein, um sich nicht unbeliebt zu machen.

„Meinst du, er ist es?“ fragt sie Peter, der in dem Bericht blättert, die Seiten überfliegt.

„Wenn die Kugeln übereinstimmen, ja, aber darüber finde ich keinen Hinweis. Kommt sicher separat.“

Da sonst noch kein Kollege anwesend ist, beginnt Betty den Bericht zu lesen, überfliegt ihn, bis auf die Stelle, wo die Mutter zu Protokoll gibt, wie der Mord erfolgt ist. Liest die Stelle mehrmals und kommt zum Schluss, dass anscheinend eine Verwechslung vorlag, da der Täter glaubte, Friedhelm Matschke vor sich zu haben. Er wendet sich zum Gehen und dreht sich nach ein paar Metern um, geht zurück und erschießt diesen Theophil. Weil dieser ihm Worte nachgerufen hatte? Dem Täter eingefallen ist, einen Zeugen zurückzulassen, der ihn identifizieren kann? Was ist in diesen Sekunden passiert? Kein Motiv erkennbar, außer dieser Verwechslung, eine Vermutung, die der Bericht aber nicht anstellt.

„Wir reden mit der Mutter. Vielleicht erinnert sie sich heute besser als gleich nach der Tat.“

Griebel erscheint mit einem Moin Moin, der Rest der Truppe kommt schlürfend und müde daher. Es fehlt der Oberstaatsanwalt der einen Gerichtstermin hat, Griebel leitet die Sitzung, bittet zunächst Betty, das Kunstwerk an der Wand zu erläutern, was diese tut, alles Wiederholung, nur das Phantombild und die nicht aufgeklärten Morde mit einer Makarow sorgen für kurze Aufregung unter den Kollegen. Betty zeigt das Foto, trotz Nachfrage, nicht.

„Die Bestätigung, dass der Täter in Tankenhagen mit der gleichen Waffe, wie in unserem Fall getötet hat, steht noch aus. Die Auswertung aus den Überwachungskameras am Flughafen und Grenzübergängen läuft noch. Das Bild zu zeigen, leitet die Aufmerksamkeit der Kollegen bei der Auswertung in eine falsche Richtung, weshalb ich vorschlage, das Phantombild vorläufig nicht in die Ermittlung einzubeziehen. Peter und ich werden die Mutter des Opfers aufsuchen, uns den Tatort anschauen und mit der Mutter reden.“

Gut, solle sie so machen, der Rest wertet weiter eingehende Informationen aus, sucht in der Vergangenheit des Herrn Weidtmann nach Spuren, eventuellen Opfern und jemand müsse sich um die eingehenden Bevölkerungshinweise kümmern, die unten in der Zentrale aufgelaufen seien.

Richtig, der Oberstaatsanwalt hat Bettys Rat umgesetzt und der Presse ein Foto von Weidtmann freigegeben mit der Bitte, dies für einen Aufruf an die Leser zu nutzen, wer diesen Mann kenne, nicht als Joachim Weidtmann, sondern unter einem anderen Namen solle sich bei Polizei in Lübeck melden. Und die Angesprochenen meldeten sich. Dumm nur, das dies weder hier in der Abteilung noch in der Einsatzzentrale bekannt war, so dass die ersten Anrufe in der Einsatzzentrale nicht ernst genommen worden waren, eigentlich niemand Zeit für die Annahme und Bearbeitung hatte. Und dies musste jetzt geradegerückt werden. Müssen sich die Kollegen aus Bad Schwartau kümmern, oder Ulf, nicht ihre Schuld und Sache, sagte sich Betty, hat der Oberstaatsanwalt verbockt, sie hatte jetzt einem anderen Mord nachzugehen, beziehungsweise zu fahren.

 

Gelegenheit, schnell noch die Toilette aufzusuchen, gewohnheitsmäßig die im Erdgeschoß, die für die Behinderten. Die Treppe abwärts eilend, denkt Betty, ist eigentlich nicht mehr unbedingt nötig, aber Gewohnheit ist halt Gewohnheit und gewichtig ist sie ja immer noch.

Wieder die Treppe hoch, Peter schon auf der Suche nach ihr. Kann losgehen.

Peter steuert den Wagen aus Lübeck heraus, Richtung Dassow über die 104, Abzweig zur 105 nach Tankenhagen. Der Hof ist schnell gefunden, auffallend das Hinweisschild auf das Malergeschäft Taski (erinnert Betty daran, den Maler anzurufen), ansonsten ein gepflegter Hof mit Haupthaus, Nebengebäuden und einer Scheune, die anscheinend gerade renoviert wird. Peter parkt den Wagen vor dem Malergeschäft, gegenüber lugt ein Schwein grunzend zu den Ankömmlingen, als wolle es sie willkommen heißen. Ein kräftiges, gut genährtes Schwein, ganz allein, oder gab es noch mehr dieser Exemplare?

„Ist das ein aktiver Bauernhof?“ fragt Betty beim Anblick des Schweines.

„Keine Ahnung.“

„Lass uns vor zum Haupthaus gehen.“

Sie gehen auf das Haus zu, noch kein Anzeichen der Bewohnerin, denn laut Bericht, wohnt Frau Matschke allein auf dem Hof. Betty steigt die Treppe hoch und will gerade die Klingel betätigen als die Haustür aufgeht und sich eine junge Frau zeigt. Betty begrüßt sie, stellt sich und Peter vor und bittet, Frau Matschke zu sprechen. Die junge Frau, die sich als Ellen Antonescu vorstellt, lässt die beiden Polizisten eintreten, führt sie in die Küche, wo eine ältere Frau dabei ist, Bohnen aus der Schale zu pellen. Eine alte Frau, verhärmtes Antlitz, schwarze Kleidung, wirres, ungepflegtes Haar. Eine Frau, die es längst aufgegeben hat, auf ihr Äußeres zu achten, anders als ihre Großmutter, denkt Betty. Die Frau blickt auf den überraschenden Besuch, die junge Frau stellt die beiden Polizisten vor. Frau Matschke fragt, ob sie Neuigkeiten über den Mörder ihres Sohnes mitbrächten. Leider nein, bedauert Betty. Sie seien gekommen, um ein paar Fragen beantwortet zu bekommen, die sich ihnen stellen würden, da sie einen ähnlichen Fall in Lübeck aufzuklären hätten, wo anscheinend die gleiche Tatwaffe benutzt wurde.

„Der Kerl mordet weiter?“

„Nein, wie gesagt, noch ist alles eine Vermutung. Ich weiß, es ist schmerzhaft wieder an das Geschehen erinnert zu werden, aber uns interessiert, was sie damals beobachtet haben. Wir haben den Bericht unserer Kollegen aus Weimar studiert, hoffen aber, dass sie sich darüber hinaus an Kleinigkeiten erinnern, die sie wahrgenommen haben, als der Mord geschah.“

„Ich hab doch nicht viel gesehen. Gehört auch nicht. Es war wie in einem Film. Langsam. Ich sah den Mann im Hof stehen und mit Theo reden…Doch, wenn ich recht erinnere, fragte der Mann nach Friedhelm. Das ist Theos Cousin…Doch, ich bin sicher, dass er nach Friedhelm fragte. Wieso nach Friedhelm? Der wurde auch erschossen…wissen sie. Dann drehte der Mann sich um und ging weg.“

„Er wollte also den Hof wieder verlassen?“

„Ja. Aber dann drehte er sich um und ging auf Theo zu…und erschoss ihn.“

„Hat ihr Sohn ihm etwas zugerufen, als der Täter im Weggehen begriffen war?“

„Ich konnte doch nicht hören, was sie sagten.“

„Aber möglich wäre es gewesen?“

„Ja.“

Die junge Frau räuspert sich, fordert Frau Matschke auf, von den Telefonaten zu erzählen. Ja, stimmt, bevor der Mann auf dem Hof erschienen sei, hätte sie Anrufe bekommen, ohne dass sich jemand gemeldet habe. Einmal hätte die Stimme nach „Matschke“ gefragt, dann aber aufgelegt. Der habe sicher wissen wollen, ob Theo zu Hause ist, ergänzt die junge Frau.

„Kam der Mann mit einem Auto auf den Hof gefahren?“

„Nein. Er war zu Fuß. Ich bin dann in Ohnmacht gefallen. Ich konnte noch die Polizei rufen. Und nein, ein Auto habe ich nicht gesehen.“

 

Die Bohnen seien aus ihrem Garten, sagt Frau Matschke. Sie hätten dieses Jahr viel geerntet, sei ein gutes Jahr gewesen. Und sie lebe allein auf dem Hof, will Betty wissen. Allein, nein, Ellen, Valea und die Kinder wohnen auch hier, sie habe den Hof Valea überschrieben, das hätte ihr Sohn sicher so gewollt und sie dürfe hier leben, solange sie lebe. Ob sie, als das Verbrechen geschehen sei, schon auf dem Hof gelebt hätten, fragt Betty die junge Frau. Nein. Sie hätten von all dem nichts mitbekommen.

„Es war Sonntag, als der Mord geschah. Nur Sie und ihr Sohn auf dem Hof?“

„Ja. Valea hat mich und Theo gefunden. Ellen, Valea und die Kinder waren sonntags immer hier. Sie haben den Garten, hinter dem Haus, angelegt. Ja, wir waren eine große Familie.“

Gut, hier ist nichts zu holen und Betty ist sich sicher, der Täter hier war nicht der, den sie suchen.

Frau Matschke legt die Bohnen aus der Hand, streicht über ihre Schürze, die sie über ihrem Rock hat, erhebt sich und fordert Betty und Peter auf, ihr zu folgen. Sie führt sie in ein Wohnzimmer, weist stolzerfüllt auf die dort hängenden Gemälde an den Wänden.

„Die hat Theo gemalt. Theo war ein großer Künstler. Er hätte noch so viel gemalt. Das da (und weist auf ein Gemälde, das eine Geige spielende Frau zeigt) ist Theos Frau. Sie hat sich getrennt von ihm, aber geliebt hat er sie noch lange danach.“

„Ein wunderschönes Bild, irgendwie sinnlich, verträumt.“

„Es war sein Lieblingsbild. Detlef wollte alle Bilder kaufen. Er hat mir viel Geld geboten. Aber die Kinder haben gesagt, ich sollte dies nicht tun.“

„Die Kinder?“

„Ellen, Valea und Sedar. Seine Freunde. Theo träumte davon, aus der Scheune ein Atelier zu machen mit einer Galerie. Valea und Sedar restaurieren die Scheune. Dann hängen wir Theos Bilder dort auf.“

„So eine Art Museum.“

„Mehr,“ meldet sich die junge Frau zu Wort, „Detlef hatte die Idee, die Scheune so auszubauen, dass jemand dort auch wohnen kann. Mit der Stadt Dassow haben wir dann abgesprochen, eine Stelle auszuschreiben, auf die sich angehende Künstler bewerben können, um ein Jahr lang in der Scheune kostenfrei zu wohnen und zu arbeiten. Am Ende des Jahres stellt der Künstler, der Dassower Stadtkünstler, das aus, was er in dem Jahr geschaffen hat, natürlich auch Werke darüber hinaus.“

„Interessante Idee.“

„Ja, Theo hatte immer ein großes Herz. Ich denke, genauso hätte er es gerne gehabt.“

„Oben hängen noch mehr Bilder.“

„Schade, dafür haben wir leider keine Zeit mehr. Wir müssen wieder los. Uns erwartet in Lübeck viel Arbeit.“

Betty bedankt sich, verabschiedet sich, tritt, gefolgt von Peter, vor die Tür, bittet Peter aber zu warten, geht ein paar Schritte nach vorne, dreht sich um, fordert Peter auf, ein paar Worte zu sagen. Sie sei der Täter. Kurzer Dreh und sie geht ein paar Schritte weiter, Peter noch still, ruft dann aber, „Es war ein Russe.“

Betty hält inne: „Warum sagst du Russe?“

„Na ja, war doch ein Russe.“

„Ja, damit liegst du nicht falsch. Genau das oder so ähnliches könnte dieser Matschke dem davongehenden Typen nachgerufen haben, dieser stutzte und wusste, da ist jemand der ihn identifizieren könnte.“

„Und warum hat er die Frau hinter dem Fenster nicht erschossen? Letztlich war sie es, die ihn beschreiben konnte.“

„Die hat er wahrscheinlich nicht gesehen. Schau mal auf das Fenster. Die Scheiben blenden, wenn die Sonne darauf scheint. Er hat sie nicht gesehen. Aber egal, es bringt uns nicht weiter. Nein, nicht unser Mann. Der Täter hier trat offen auf, hat sich nicht versteckt oder verkleidet und, er hat nicht die Intelligenz unseres Täters. Er dreht sich um, geht, kapiert erst nach ein paar Metern, dass er ja erkannt und identifiziert werden könnte und schießt erst dann, schwacher Killerinstinkt, ganz primitiver Killerinstinkt. Nein, unser Mann ist deutlich intelligenter.“

 

„In dem Bericht der Kollegen ist erwähnt, dass dieser Matschke in Hamburg eine Ausstellung hatte. Hast du dies gelesen?“

„Du meinst die Stelle mit den Hinterteilen?“ fragt Betty schmunzelnd.

„Genau. Hinterteile, nichts als nackte, blanke, weibliche Hinterteile. Und der Typ hat zwischen die Hinterteile Portraits von Politikern gehängt, unter anderen eines des russischen Präsidenten…“

„…Und du denkst jetzt, der Mord hängt mit der Ausstellung zusammen? Nicht dein Ernst?“

„Wäre eine Erklärung. Es muss ja nicht der Präsident selbst gewesen sein, der den Auftrag gab, da störten irgendwelche Russenfreunde die Ausstellung. Vielleicht einer von denen, keine unbeschriebenen Blätter, diese Typen.“

„Und wie bringt uns diese Erkenntnis in unserem Fall weiter?“

„Keine Ahnung…aber, findest du nicht auch, dass da ein paar Russen zu viel in der Geschichte herumlaufen?“

„Ja, eindeutig zu viele. Es ist schon eigenartig, dass sich die Täter so ungestört in diesem Land austoben können und dann einfach zurück in ihre Heimat reisen, wohlwissend, dass der Arm des deutschen Gesetzes nicht auf sie zugreifen kann. Das sind politische Lücken, die schamlos genutzt werden. Lücken, die wir nicht schließen können.“

„Meinst du, die Typen bewegen sich allein im Land oder haben die Unterstützer?“

„Schwer zu sagen. Ich denke es gibt temporäre und permanente Typen, aber gleichen Kalibers und nur die temporären Typen sind aktiv. Die permanenten Leute unterstützen. Das können Privatpersonen sein oder solche die den diplomatischen Dienst für ihre Zwecke missbrauchen. Ja, so denke ich mir das.“

„Was meinst du, gibt es auch gute Russen? Oder kommen die bösen Russen nur nach Lübeck?“

„Also, da kann ich dich trösten. Es gibt sicher eine Menge guter Russen, die fallen halt nicht auf. Gutes geht immer unter.“

„Oh, Betty ganz philosophisch.“

Sie schaut auf ihre Armbanduhr, wird Zeit für Henri, weist Peter an, den Hauptbahnhof anzupeilen, den jungen Weidtmann abzuholen. Peter ist angefressen, er glaubte für den großen Durchbruch verantwortlich zu sein, den Betty in Frage gestellt hat, was heißt, den Frustrierten aufzurichten. Sie zückt ihr Handy ruft Sandra an, fragt diese, ob es Neues aus Wismar gebe. Nein, noch nichts, zumindest sei bei ihr nichts aufgelaufen. Gut, müssten sie weiter hoffen.

„Du hoffst noch? Ich denke, du hast den Täter als unseren Täter ausgeschlossen?“

„Ausgeschlossen habe ich nichts, solange kein endgültiges Ergebnis vorliegt, nur glaube ich nicht, dass es eine Übereinstimmung gibt. Das sind zwei paar Schuhe, selbst wenn die Umstände sich ähneln.“

Das Verstummen und stumm bleiben zeigt Betty Peters Verstimmung, nun, halt nicht zu ändern, also plaudert sie zwanglos daher, über den Hof, die Entscheidung der Mutter, den Hof dem Freund zu übertragen und die Sache mit dem Atelier, ein Atelier für einen Toten, ja, das sei Freundschaft. Peter nickt nur, scheint in seiner eigenen Gedankenwelt zu wandern.

Am Bahnhof angekommen müssen sie noch ein paar Minuten warten, Gelegenheit, um eine Kleinigkeit zu essen, Peter im Burger-Laden, Betty bei einem Bäcker, Vollkornbrötchen mit Schinken, Ei und grünen Blättern, ein Wasser dazu, als Nachtisch ihre Pillen. Die Pause nutzt sie, schnell ihre Blase zu entleeren. Steht dann, an das Auto gelehnt, ihr Brötchen kauend, den Ausgang des Bahnhofs fest im Blick. Peter ist drinnen, isst im Sitzen seinen Burger, die Pommes und schlürft eine Cola.

Als Henri und seine Freundin erscheinen, ist Peter noch nicht zurück. Betty begrüßt die beiden, Henri wirkt unruhig, der Blick gesenkt, nur leise sein Gruß. Auch die Freundin, ganz ihm angepasst, wirkt verkrampft, Unsicherheit vor dem, was auf sie zukommt. Sie setzen sich in das Auto, der Kollege komme gleich und sie würden dann nach Haffkrug fahren, Henris Großvater abholen, der mitkommen wolle. Das sei ihm doch recht. Oh ja, meint Henri, er hatte eh vor, gegen Abend seinen Großvater zu besuchen. Opa wisse also, was geschehen sei. Ja, antwortet Betty, dumm nur, dass er es aus dem Fernseher erfahren musste. Auch für ihn sei es ein harter Schlag gewesen, aber er habe sich mittlerweile etwas gefangen.

Henris Freundin fragt zaghaft, wie das mit der Beerdigung sei, ob die Leichen denn freigegeben seien. Wusste Betty nicht, sie würden dies aber in der Gerichtsmedizin erfahren. Sie hätten keine Ahnung wie das gehe, das Beerdigen. Sie würden sicher gut beraten. Aus der Gerichtsmedizin kämen die Leichen in ein Bestattungsinstitut, das sie bestimmen könnten, oder sie nähmen das Institut, dass mit der Gerichtsmedizin zusammenarbeite. Die Bestatter hätten genügend Erfahrung, ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Peter steigt ein, überrascht, die beiden Gäste schon sitzen zu sehen, entschuldigt sich, aber die Ernährung käme in solchen Tagen wie diesen, eindeutig zu kurz. Betty nimmt den Geruch auf, der von Peter ausgeht, dieser typische Burgergeruch, den wahrscheinlich nur sie wahrnimmt. Ein süßlich riechender Mix aus abgestandener Gurke, klebrige Mayonnaise und angebratenes Fleisch. Kein Käsegeruch?

„Gut und jetzt nach Haffkrug.“

 

Verwunderter Blick bei Peter, sagt aber nichts, Betty kann sich denken, was ihn verwundert.

Betty fragt Henri nach seinem Befinden. Schlecht, flaues Gefühl im Magen, das sei alles so fern, so fremd, so sinnlos, ein riesengroßer Albtraum. Das verstehe sie, das Gefühl und die Last könne ihm aber niemand nehmen, nur lindern, sei leider so, weshalb er sich auf seine Freundin und seinen Großvater stützen soll. Betty erklärt den Ablauf in der Gerichtsmedizin, die kurze Wartezeit, dann das Herantreten an die Toten, wobei Betty ihm rät, nacheinander mit Pausen vor die Toten zu treten. Anschließend die Fahrt zum Anwalt, ob er wisse, was er von dem Anwalt wolle. Nicht so recht, ob er denn verlangen könne, dass ihm alle Geschäftsunterlagen ausgehändigt werden. Könne er, aber wahrscheinlich nur als Kopien, denn der Geschäftsbetrieb laufe weiter und dazu braucht der Anwalt, der die Geschäfte seines Vaters managt, die Papiere. Wichtig sei der Vertrag zwischen seinem Vater und dem Anwalt, sofern er selbst die Geschäfte übernehmen wolle, müsse er diesen Vertrag kennen, falls er ihn kündigen wolle.

„Ich habe nicht vor, die Geschäfte meines Vaters fortzuführen.“

„Du hast einen Plan?“

„Nein, keinen Plan, nur eine Idee.“

Henri schaut auf seine Freundin, sie lächeln sich an: „Uns schwebt eine Stiftung vor. Wie genau die aussehen soll, wissen wir noch nicht. Es ist nur eine Idee.“

„Hört sich vernünftig an. Aber auch eine Stiftung will gemanagt sein. Informiere dich gut. Ich kenne leider niemanden, der sich in solchen Dingen auskennt und das müsste derjenige, den du wählst.“

Peter rauscht über die A1, links und rechts vereinzelt stehende Bäume, Sträucher mit ockerfarbenen Blättern am Rand, Feuchte ausstrahlend. Beginnender Herbstblues, denkt Betty. Nicht ihre Lieblingsjahreszeit, die ist eindeutig das Frühjahr, wenn die Landschaft sich in saftiges Grün hüllt, schillerndes Gelb die Sonnenstrahlen absorbiert, die kurze Rapsblüte auf den Feldern im Duett mit dem Grün der Winteraussaat der Landschaft satte Farben verleiht, wenn die Blütenpracht in den Gärten, den Feldern, den Grünanlagen, die Trübnis des Winters vertreibt. Aber jetzt, nasse, graue Eintönigkeit.

Ob ihm zwischenzeitlich noch Dinge eingefallen seien, die für ihre Ermittlungen hilfreich sein könnten, verneint Henri zunächst, kratzt sich am Kopf und na ja, da war ein Vorfall, über den Steffi ihm geschrieben habe. Sein Vater sei ausgerastet, weil Steffi, vor etwa zwei Wochen, zwei Stunden verspätet nach Hause gekommen sei. Das sei zuvor nie vorgekommen und das eigenartig daran, dass sie sich nicht erinnern konnte, wie sie vor die Haustür gekommen sei, sie habe einen Filmriss.

„Steffi war aus?“

„Ja, in irgendeinem Club, wahrscheinlich mit Mareike.“

„Und hatte einen Filmriss, das heißt, sie konnte sich nicht erinnern, wie sie von dem Club und von dort nach Hause kam?“

„So schrieb sie es. Ja.“

Betty fallen sogleich K.-o.-Tropfen ein. Hängt das mit Steffis Kopfschmerzen zusammen? Vor vierzehn Tagen, das heißt, die vermutliche Zeitspanne, in der der Täter anfing, das Haus zu beobachten. Konnte es so sein? Sie fragt, ob Steffi danach über Kopfschmerzen geklagt habe. Nicht das er wüsste, nein, darüber habe sie kein Wort verloren. Nur über diese fehlenden Stunden und die Wut ihres Vaters, habe sie geschrieben.

 

Ob er wisse, wie der Club heißt, den Steffi besucht habe. Wisse er nicht, aber da wäre die Auswahl nicht groß und sie solle diesbezüglich Mareike fragen, denn Steffi sei mit Sicherheit nicht allein in den Club gegangen. Was bedeutet dies „keine Erinnerung mehr“? Laut Gerichtsmedizin war Steffi noch Jungfrau, also wurde ihr keine sexuelle Gewalt angetan während dieses Blackouts. Was dann? Zufall? Was aber war mit den zwei fehlenden Stunden? Wo war sie da? Doch ein Problem in ihrem Kopf? Betty spürt die Bedeutung dieses Vorganges, nur, wie bei den Kopfschmerzen, weiß sie nicht, wie ihn mit der Tat in Verbindung bringen. Vielleicht erinnert sich Mareike an den Vorfall. Gut, das Gespräch mit ihr steht eh auf ihrem Programm. Nur wann?

Betty fängt Peters Blick auf, ein fragender Blick, Peter würde gerne, verzichtet aber auf seine Frage, um den jungen Mann im Heck nicht weiter zu beunruhigen.

Vor dem Seniorenheim hält Peter den Wagen an, die beiden jungen Leute steigen aus, gehen die Eingangstür hinein, während Betty und Peter im Wagen warten.

„Hm, es passt zu deiner Annahme, dass es nur um die Tochter ging. Oder? Aber, warum setzt sie der Täter außer Gefecht? Ich sehe da keinen Sinn darin.“

„Es kann Zufall sein, Peter. Irgendein anderer Typ wollte sie sich gefügig machen…“

„Aber die junge Frau war noch unberührt. Das passt nicht!“

„Richtig. Das passt nicht. Ich kann mir auch noch keinen Reim darauf machen. Ich hatte eh vor, nochmals mit der Freundin der Tochter zu reden, vielleicht kann sie sich an den Vorfall erinnern.“

„Weiß Griebel eigentlich, dass wir hier Chauffeurdienste leisten? Das wird ihm nicht gefallen, Griebel ist nicht Hembach.“

„Ich bekomme die Prügel, im Falle, dass er sich aufregt. Aber so genau muss er es ja nicht wissen. Oder?“

„Hm.“

Herr Gräven tritt neben seinem Enkelsohn aus dem Heim, gefolgt von Henris Freundin. Herr Gräven geschäftsmäßig gekleidet, dunkler Anzug, weißes Hemd, dunkle Krawatte, ganz der Gegensatz zu Henri, der in Jeans steckt und eine gelbe Daunenjacke trägt, wahrscheinlich aussehend, wie er jeden Tag aussieht. Na ja, zwischen beiden stecken Generationen.

Betty steigt aus, begrüßt Herr Gräven, der zu den jungen Leuten steigt, Peter startet den Wagen und fährt zurück nach Lübeck. Opa und Enkel hatten sich einiges zu berichten, so ließ Betty sie miteinander reden und mischt sich nicht ein, gedanklich unterwegs, allerdings nicht auf der A1. Nur Fetzen des Gespräches auf dem Rücksitz bekommt sie mit, geht um die Geschäfte, um Henris Zukunft. In einer Redepause schaltet sich Betty dazwischen und fragt Henri, ob seine Schwester mit ihm über Krankheiten gesprochen habe, vielleicht über die Angst, eine ernsthafte Krankheit zu haben.

Nein, nichts dergleichen und bei Herrn Gräven, hätte sich Steffi da einmal zu diesem Thema geäußert.

„Wenn sie mich besuchte, gingen wir meist spazieren, die Promenade hin und zurück, mitunter kehrten wir in einem Café ein. Sie erzählte von ihren Eltern, der Schule. Wir redeten über die Natur, ihre Zukunft, aber nie über Krankheiten, selbst über meine nicht.“

Blackout, Kopfschmerzen, Visitenkarte eines Arztes in Betty keimt der Verdacht, Steffi ahnte ein Problem, dass sie anscheinend angehen wollte. War das so? Nur, das erklärte auch nicht, warum der Täter ihr den Kopf abtrennte. Merkwürdig, alles so merkwürdig.

 

Zügig, dank dem geringen Verkehrsaufkommen, keine Pendlerzeit, keine nervigen Touristen, die die Fahrbahn bevölkerten mit ihren Wohnmobilen oder Wohnwagen, kommen sie vor dem Gebäude der Gerichtsmedizin an. Die jungen Leute, blass, betroffen dreinschauend, Herr Gräven gefasst dem entgegenblickend, was nun kommen wird. Sie steigen aus, gehen die Treppe zum Eingang hoch, Betty drückt die Klingel, öffnet die Tür und bittet einzutreten. Sie mögen hier einen Moment Platz nehmen, sie gehe Professor Keeser holen, steigt die Treppe zum Keller hinab, wird unten allerdings von Doktor Petersen begrüßt.

„Professor Keeser ist leider verhindert. Er steht gerade vor seinen Studenten, aber er hat sich gefreut, dass endlich jemand von den Kriminalisten vorbeischauen würde. Er hat sich sehr gewundert, da die Kollegen aus der Kriminologie sonst in seiner Küche sind, noch bevor die Leiche auf seinem Tisch liegt. Und dieses Mal waren es gar drei Leichen auf einmal, die anscheinend niemand interessierten.“

„Wir haben seinen Bericht aufmerksam gelesen und die KTU hat uns bereits wie wichtigsten Informationen vorab mitgeteilt. Und, davon bin ich ausgegangen, die Leichen weisen keine nennenswerten Merkmale auf. Oder irre ich?“

„Na ja, dass eine Leiche kopflos hierherkam, finde ich schon nennenswert. Aber ansonsten haben Sie recht. Wir konnten nichts, keine Auffälligkeit vorfinden, außer vielleicht, dass beide Erwachsenen einen veritablen Leberschaden zu befürchten hatten.“

„Beide? Das Frau Weidtmann alkoholabhängig war, wussten wir. Aber Herr Weidtmann?“

„Ich würde sagen, er hat die harten Sachen geschluckt, Wodka, Whisky und derartige Sachen.“

Gut, die Angehörigen würden oben warten, wie er die Leichen zeigen wolle. Na ja, wie üblich, aus der Kühlbox ziehen, kurzer Blick darauf und wieder zurück. Kurz, solche Betrachtungen sollten kurz ausfallen, das lindere den Schmerz der Angehörigen. Wenn er das sage. Und die Leichen könnten in ein Beerdigungsinstitut überführt werden. Ja, sie seien mit ihnen fertig. Gut, Betty bittet Doktor Petersen die Herrschaften über das weitere Vorgehen zu beraten, da diese keine Erfahrungen im Umgang mit dieser Situation hätten.

Er sei zwar kein Sterbeberater, aber werde versuchen, die Anforderungen der Angehörigen zu erfüllen.

Damit geht Betty wieder die Treppe hoch, bittet Herrn Gräven und die jungen Leute ihr zu folgen, stellt, unten angekommen, Doktor Petersen vor, der vor die Kühlzellen geht, sechs an der Zahl, öffnet die erste, zieht über die Gleitschiene die Bahre hervor, sagt, zunächst Frau Weidtmann. Hörbares Schlucken, schluchzen, Annika die Hand von Henri fest umklammernd, treten langsam näher, Herr Gräven nähert sich von der anderen Seite. Doktor Petersen deckt das Gesicht des Leichnams auf, die Stirn mit einem Pflaster versehen. Herr Gräven steht steif, die Hände wie zum Gebet gefaltet vor seiner Tochter, zögerliche Tränen fließen lassend. Henri streicht über die Wange seiner Mutter, ganz gefasst. Herr Gräven nickt und Doktor Petersen schiebt den Leichnam zurück, holt den nächsten hervor, Herr Weidtmann, den die beiden Angehörigen nur zögerlich betrachten. Dem Vater folgt die Tochter, Henri bittet Doktor Petersen die Arme von Steffi freizulegen, was dieser tut und Henri über die Arme streichelt, schluchzt, weint, sich abwendet und eilig nach draußen geht, dicht gefolgt von seiner Freundin.

 

Draußen im Flur setzen sich die beiden ab, der Großvater dazu, drei, denen das Leid anzusehen ist, niedergeschlagen, ohnmächtig. Doktor Petersen tritt hinzu, erklärt das die Leichen freigegeben seien und an ein Bestattungsinstitut übergeben werden können, ob sie da einen Wunsch hätten, verständnislose Blicke erntend.

Henri hebt seinen trüben Blick auf Betty und fragt sie, was er tun solle, er könne doch seine Schwester nicht ohne Kopf beerdigen. Ob der Kopf noch gefunden würde. Betty beschwichtigt, sie würden suchen und ihn vielleicht finden, wohl wissend, dass sie damit eine Notlüge von sich gibt. Herr Gräven nennt dem Doktor ein Bestattungsinstitut, das er auch für sich selbst ausgewählt hat, die mögen die Leichname abholen, alles weitere würden sie mit dem Institut besprechen. Damit ist alles so weit geklärt, weshalb sie aufstehen und das Gebäude verlassen können, nachdem sich Betty von Doktor Petersen verabschiedet hat, Grüße an Professor Keeser ausrichten lässt.

Henri bittet Betty zunächst zum Anwalt zu fahren, nicht zum Haus, das er nicht betreten, stattdessen nach dem Besuch des Anwaltes zurück nach Münster fahren wolle. Während der Fahrt beraten Henri und sein Großvater wie sie beim Anwalt vorgehen wollen. Herr Gräven will das Gespräch führen. Betty teilt den beiden mit, dass sie nur auf Wunsch der beiden bei dem Gespräch anwesend sein wolle, denn der Besuch sei nicht Ermittlungsgegenstand. Wieder kurze Abstimmung und Herr Gräven lehnt dankend die Anwesenheit Bettys ab.

So warten die beiden Polizisten vor der Kanzlei, nutzen die Zeit, um zu telefonieren. Peter ruft Frau Kuracz an, deren Tochter sich meldet und kündigt seinen Besuch an. Ihre Mutter sei zu Hause, er könne jederzeit vorbeikommen.

„Die dort oben werden sicher längere Zeit benötigen. Ich fahre derweil bei der Familie Kuracz vor. Wartest du hier?“

„Ja.“ Und Betty wusste auch gleich, wo sie warten wird. Peter fährt davon, Betty geht hinüber zu dem Italiener, dessen Tür aber dummerweise geschlossen ist. Mittagsruhe. Also geht sie in die Kanzlei und nimmt im Vorraum Platz, wo sie der Dame am Empfang erklärt, dass sie auf die Angehörigen der Familie Weidtmann warte. Ihr wird ein Kaffee angeboten, zu dem sie nicht nein sagt.

Ihr geht die Frage durch den Kopf, was sie machen würde an Henris Stelle. Steffi einäschern, ohne Kopf, der dann eventuell doch noch auftaucht. Und dann? Oder eine Erdbestattung, den Sarg wieder öffnen, wenn der Kopf gefunden wird, egal wann? Absurde Überlegung, der sich Henri aber stellen muss. Sie tendiert zur Erdbestattung. Nur, gibt es die überhaupt noch? Und wie wird er die Familie bestatten lassen? Alle in einem Grab? Einem Familiengrab oder den Vater separieren? Nein, Henri ist nicht zu beneiden, nein, keine einfache Entscheidung.

Es ist ruhig in der Kanzlei, keine Laufkundschaft wie bei einem Arzt, obwohl die atmosphärische Stimmung durchaus ähnlich ist, nur das gelegentliche Telefongebimmel stört die Ruhe. Sie nippt an ihrem Kaffee, schaut rundum, ihr Blick haftet auf dem einen oder anderen Gemälde, wahrscheinlich Originale, von wem auch immer und fragt sich, was sie in dem Tresor vorfinden werden, wahrscheinlich stoßen sie auf Weidtmanns Vergangenheit, Originale seiner Vergangenheit, denn die hat er sicher in dem Tresor versteckt. Wo sonst? Oder hat er seine Vergangenheit gänzlich getilgt? Gut, wird sie sehen.

Sie schaut auf ihr Smartphone, ob irgendwelche Meldungen für sie vorliegen, nichts, googelt K.-o.-Tropfen, mit denen Betty bisher nichts zu tun hatte, nur gehört, gelesen, selbst aber wurde sie in keinem Fall mit dieser fiesen Masche konfrontiert. Überrascht aber liest sie, dass die Tropfen meist für räuberische, nicht für sexuelle Zwecke angewandt wurden. Gut, die Erklärung folgt auf dem Fuß, Raub wird eher angezeigt als sexuelle Übergriffe, zu groß die Scham der Opfer und zu ungewiss, was tatsächlich geschehen war.

Die Tropfen sind schon nach kurzer Zeit nicht mehr nachzuweisen, so dass eine eigenwillige Beweislage entsteht, bei dem die Opfer aufgrund der Erinnerungslücke keinerlei Angaben über den Tathergang machen können und das Vorhandensein der Substanz im Blut nicht mehr nachweisbar ist. Die Opfer bleiben Opfer, mit physischen und psychischen Rückständen. Aber bei Steffi wurde weder etwas gestohlen, noch wurden an ihr sexuelle Handlungen vorgenommen. Der Arzt! Shit, sie hat mit dem falschen Arzt gesprochen. Die Weidtmanns hatten sicher einen Hausarzt, den muss sie befragen, Henri wird den Arzt kennen.

 

Die Tür zum Arbeitszimmer von Anwalt Cirske geht auf, Henri, seine Freundin und sein Großvater erscheinen, mit Mienen, die Betty nicht interpretieren kann, gefolgt vom Anwalt, der sie verabschiedet, Betty sieht, auf sie zugeht und begrüßt, äußert sich überrascht, dass sie hier warte. Nun, es sei eine Familienangelegenheit, keine der Ermittlung, weshalb sie vor der Tür geblieben sei. Henri sagt, dass er nun zurück nach Münster fahren werde, aber übermorgen für einige Tage nach Lübeck komme, um alle anstehenden Angelegenheiten zu erledigen. Sie würden den Weg zum Bahnhof zu Fuß zurücklegen. Betty fragt ihn nach dem Hausarzt, ja, die Familie habe Doktor Burkhard konsultiert, wenn eine Krankheit vorlag, allerdings, soweit er wisse, ist Doktor Burkhard nicht mehr praktizierend. Wo die Eltern und Steffi danach sich behandeln ließen, wisse er nicht.

„Noch eine Frage. Hat deine Schwester Andeutungen gemacht, dass sie sich durch Kameras beobachtet fühlte, die sich im Haus befanden?“

Henri denkt nach, schüttelt mit seinem Kopf: „Nein, hat sie nicht.“

Sein Großvater schaltet sich ein, Henris Mutter habe ihm gegenüber die Kameras erwähnt als sie ihn in Haffkrug besucht habe. Allerdings nicht gesagt, wo die Kameras sich befanden, und sie sprach von Kameras, nicht von einer, sondern anscheinend mehreren. Gut, sie würden dies noch heute überprüfen, die Kollegen von der KTU seien schon vor Ort.

Kurzer Ruf an Peter, ob er schon zurück sei, gleich, er sei auf dem Weg, gleich da. Henri und seine Freundin verabschieden sich, Betty geht mit Herrn Gräven vor die Tür und wartet auf Peter. Ob das Gespräch mit dem Anwalt zufriedenstellend verlaufen sei. Schon, aber er müsse erst verdauen, was der Anwalt offenbarte, also das Vermögen, um das es geht. Es sei ihm unvorstellbar, wie sein Schwiegersohn so viel Geld und Besitz hat anhäufen können. Der Junge sei auch vollkommen perplex gewesen.

Henri habe ihr gesagt, eine Stiftung ins Leben rufen zu wollen, ob er dies weiterhin vorhabe. Sie würden sich übermorgen zusammensetzen, Henri, er und ein Rechtsanwalt oder Wirtschaftsberater, den Henri gut kenne und die Situation und unser weiteres Vorgehen beraten. Bis dahin hätten sie auch die Bilanzen, Verträge und die genaue Vermögensaufstellung vorliegen, die Herr Cirske zugesagt habe.

Peter rollt an, bremst ab, Betty und Herr Gräven steigen hinzu. Während der Fahrt zum Haus der Weidtmanns berichtet Peter, dass die Haushälterin den ganzen Freitag und Samstag im Haus gewesen, Frau Weidtmann nur am Freitagvormittag kurz außer Haus gewesen sei. Herr Weidtmann dagegen habe den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer verbracht, ja und Mittag sei die Tochter nach Hause gekommen. Samstag seien alle Familienmitglieder im Haus gewesen, also keine Chance für einen Eindringling, unbemerkt in das Innere zu kommen.

 

Peter stellt den Wagen vor der Villa ab, neben den Wagen der KTU, sie gehen auf das Eingangstor zu, Betty gibt den Code ein und sie betreten das Grundstück. Auf dem Weg hoch fällt Bettys Blick auf die Garage, die sich rechts auf dem Grundstück befindet, unterhalb des leicht ansteigenden Geländes hoch zum Haus liegend.

„Herr Gräven, kommt man von der Garage aus direkt in das Haus?“

„Nein, ich habe die Garage nachträglich bauen lassen, bewusst vom Haus entfernt.“

Na ja, hätte ja sein können, also kann sie auch diese Überlegung zu den Akten legen. Herr Gräven hat es nicht eilig, in das Haus einzutreten, seine Augen scheinen die Gegend zu scannen, um die Veränderungen wahrzunehmen, die seit seinem Auszug erfolgt sind. Betty gibt auch an der Haustür den Code ein, kopfschüttelnd quittiert von Herrn Gräven. Drinnen sind Geräusche wahrzunehmen, irgendetwas wird gerückt, jemand spricht, gibt anscheinend Anweisungen. Betty ruft ein Hallo, worauf der Kopf von Steprath auftaucht, dann der ganze Steprath, kurzes Hallo zu Betty, Peter und den älteren Herrn, den Betty nun als Herr Gräven vorstellt.

„Schon fündig geworden?“

„Ja, sind wir. In der Küche und im Zimmer der Tochter konnten wir jeweils eine Minikamera entdecken.“

„Im Zimmer von Steffi?“ fragt Herr Gräven mit Entrüstung.

„Ja.“

„Ist der Kerl denn total übergeschnappt, seine eigene Tochter zu bespitzeln?“

Steprath führt die Kollegen und Herrn Gräven in die Küche, wo er ihnen die beiden Minikameras präsentiert. Wirklich winzige Dinger. Unglaublich die Technik heutzutage. Wer aber hatte die Kameras angebracht? Weidtmann selbst?

„Ich rate mal, dass die Kamerabilder auf dem Computer aufliefen, der in Herrn Weidtmanns Arbeitszimmer stand. Die Übertragung erfolgte über WLAN?“

„Genau. Funk oder WLAN, leitungslos, die hätten vermutlich gesehen werden können. Wahrscheinlich konnte er die Kamerabilder sogar auf seinem Smartphone empfangen. Die meisten Überwachungskameras arbeiten auf vier Videokanälen. Diese reichen von 2,620 bis 2,460 Gigahertz. Ich gehe davon aus, dass die Kamera über Bewegungsmelder gesteuert wurde. Ist keine Hexerei, die Dinger zu installieren.“

„Was bezweckte der Kerl damit, seine Familie zu überwachen? Das ist doch verrückt. Ist seine Paranoia so weit fortgeschritten gewesen, dass er zu solchen Mitteln greift.“

Herr Gräven immer noch außer sich, Zornesfalten auf seiner Stirn. Betty zuckt ihre Schultern, dass könne man nicht sagen und fragen könne man leider auch nicht mehr. Aber er scheine sich extrem bedroht gefühlt zu haben und ja, auch sie verstehe diese Überwachung nicht. In der Küche, was könne es in der Küche zu sehen geben, in der überwiegend die Haushälterin aktiv gewesen sei?

Dass der Täter die Kameras installierte, kam nur kurz in ihren Kopf, schließt es aber nach kurzem Nachdenken aus. Wie hätte er das bewerkstelligen sollen? Das war Weidtmanns Aktivität. Keine Hexerei sagte Steprath. Gut, trotzdem, er könnte Hilfe gehabt haben.

„Gut, Herr Gräven, dann schauen wir einmal, was uns der Tresor an Überraschungen bereithält“

 

Gefolgt von Steprath laufen sie in das Arbeitszimmer des Opfers, Herr Gräven geht auf die Wand mit den Büchern und den leeren Stellen, an denen zuvor Ordner standen, zu, zieht, unter wachsamen Augen von Steprath, ein paar Bücher aus dem Regal. Bücher die fest miteinander verbunden sind, biegt sie, ein Griff dahinter, Herr Gräven drückt anscheinend auf einen Knopf und klappt drei Regalstufen auf, die sich öffnen wie eine Tür und eine Tresortür wird sichtbar. Na, da wäre er nicht darauf gekommen, stellt Steprath fest. Konzentriert dreht Herr Gräven an der Zahlenkombination, schüttelt mit seinem Kopf, nein, Joachim habe die Kombination geändert, was ja zu erwarten gewesen sei.

Steprath tritt vor, nimmt das Schloss ins Visier, geht aus dem Raum, ruft einen Namen, ein Ja? schallt zurück. Ein Mann in weißem Schutzanzug kommt herein, Steprath weist auf den Tresor, der Mann lächelt, geht darauf zu, nickt mit dem Kopf „Kein Problem. Kriege ich auf.“

Elmer Ehlert, Schlüsseldienst, mit besonderen Fähigkeiten, stellt Steprath den Mann vor und fordert sie auf, den guten Mann seine Arbeit tun zu lassen und draußen zu warten. Er selbst bleibt im Raum.

Betty, Peter und Herr Gräven gehen in das Wohnzimmer, die beiden Polizisten nehmen Platz, Herr Gräven streift umher, inspiziert sein ehemaliges Heim, mürrisch dreinschauend. Aus dem Arbeitszimmer dringt das Geräusch einer Bohrmaschine, gedämpfte Gespräche. Schlüsseldienst? Wen hat Steprath da an der Angel? Ist jedenfalls kein Kollege. Dienstbarer Geist? Wahrscheinlich. Egal, wenn er hilft.

„Was meinst du, waren die Kameras nur zum Überwachen oder hat er aufgezeichnet?“ will Peter wissen.

„Müssen wir Steprath fragen. Ich denke aber nicht, dass er aufgezeichnet hat. Aber, wie Herr Gräven, verstehe ich den Sinn dieser Überwachung nicht. Die äußeren Kameras dienen der Überwachung und der Sicherheit des Geländes. Aber hier drinnen? Wozu die Ehefrau überwachen, wenn die Ehe eh zerrüttet war? Oder ahnte er, dass seine Frau die Scheidung anstrebte? Das wäre für ihn teuer geworden und bestimmt nicht gewollt. Dieser ganze Fall ist voller Seltsamkeiten.“

„Stimmt.“

Herr Gräven setzt sich zu den beiden, schaut auf Betty und stellt fest, dass die Polizei im Dunkeln tappt, fragt, ob sie denn den Hauch einer Spur hätten. Es gäbe schon eine Vermutung, was passiert sein könnte, sie gingen von einem Exempel aus, dass an der Familie statuiert wurde, nur sei es extrem schwierig nachzuweisen, warum das Exempel, von wem ausgeführt und an wen gerichtet sei. Durch einen vermeintlichen Fehler seines Schwiegersohnes sei ein lukrativer Handel mit Kokain zusammengebrochen, mit Nachwirkungen. Das habe der Kopf des Ganzen anscheinend bestrafen wollen.

„Sie glauben also, dass sein Partner aus Russland hinter dem Verbrechen steckt. Würde der aber nicht zurückhaltend sein, weiter im Verborgenen bleiben. Mit den Morden hat er doch viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.“

„Das kann er. Er ist gut geschützt vor der deutschen Justiz und durch den starken Mann in Russland. Und diesem Jemand zu beweisen, dass er der Auftraggeber der Morde war, ist so gut wie unmöglich.“

„Sie werden ihn also nicht fassen!“

„Ich will Ihnen nichts vormachen, ja, genau das befürchte ich.“

 

Steprath kommt. Der Tresor sei offen. Gespannte Gesichter, die sich erheben und zurück in das Arbeitszimmer gehen. Herr Ehlert räumt seine Werkzeuge zusammen, der Tresor steht offen. Drei Ebenen, zwei davon mit gebündelten Geldscheinen belegt, dürfte eine hübsche Summe sein, keineswegs aber 3 Millionen Euro. die untere Ebene mit Papieren und auf den Papieren eine Pistole.

„Ist das etwa noch eine Makarow?“ fragt Peter.

„Makarow? Nein, steht Walther drauf, eine P5.“

„Eine Dienstwaffe? Wie kommt der Typ an eine Dienstwaffe?“

„Nur zum Teil eine Dienstwaffe. Es gibt genug Kanäle, sich so eine Waffe zu beschaffen.“

Steprath hat seine Hände in Plastikhandschuhe verpackt und greift nach der Waffe, wiegt sie in seiner rechten Hand, riecht daran, urteilt, aus der Waffe sei noch nie ein Schuss gefallen. Er entnimmt das Magazin, lädt die Patrone aus dem Lauf und legt sie auf dem Schreibtisch ab. Anschließend entnimmt er die Dokumente, trägt den Packen ebenfalls zu dem Schreibtisch, legt ihn dort ab, setzt sich auf den Bürostuhl, Betty, Peter und Herr Gräven stehen hinter ihm.

Die ersten Papiere: Lebensversicherungen für Frau Weidtmann, für Herrn Weidtmann, jeweils über 500.000,00 Euro, Ehevertrag, der Vertrag mit dem Anwalt, Kaufverträge für Immobilien, Urkunden, Auszeichnungen, allesamt auf Klaus Dönsch ausgestellt. Bingo, denkt Betty. Weiter, drei Pässe, Personalausweise, Steprath schlägt den ersten Ausweis auf, er lautet auf Klaus Dönsch. Betty, mittlerweile auch mit Handschuhen bestückt, greift nach dem Ausweis, das Passfoto entspricht dem des Herrn Weidtmann, Geburtsort: Rabenau. Sie zückt ihr Smartphone gibt Rabenau ein, bekommt einen Ort angezeigt, der unweit von Dresden liegt. Dann Familienstand: verheiratet. Dieser Dönsch war verheiratet! Geschieden? Also gibt es eine Frau Dönsch, die sicher heute anders heißt. Frau Dönsch? Könnte sie die Vergangenheit sein, für die sie bezahlt sein wollte? Was, wenn Weidtmann in Bigamie lebte, seine Frau ihn aufgespürt hatte. Das hätte viel Ärger bedeutet. Wollte Weidtmann für das Schweigen seiner Ex-Frau zahlen? Aber eine Frau? Daran hatte sie bisher keinen Gedanken verschwendet. Nein, ein solches Verbrechen, nein, nicht von einer Frau verübt. Kein noch so großer Hass der Frau könnte Triebfeder für solch eine Tat sein.

 

Steprath hat ihr die beiden anderen Ausweise hingeschoben, die Betty aufhebt. Ein russischer Pass, ebenfalls auf den Namen Dönsch, aber geboren in St. Petersburg mit abweichendem Geburtsdatum. Auch der dritte Ausweis ein russischer, allerdings hieß Dönsch darin Gregor Wassilov, geboren in Moskau und Foto von Weidtmann. Russische Pässe? Wozu? Gedacht zum Abtauchen? Die Pässe sind im Jahr 1984 ausgestellt worden, da war Dönsch/Weidtmann gerade einmal zwanzig Jahre, sofern die Lebensdaten stimmen, was sie mittlerweile anzweifelt. Welche Ausbildung hat er zu der Zeit genossen? Nein, Betty wird das allmählich zu viel, zu viele unerklärliche Wendungen. Wo führt diese Geschichte hin? Die Geschichte dieses Dönsch/Weidtmann ist eine ganz andere Geschichte, denkt Betty, die nichts mit dem Fall zu tun hat, sollen sich die anderen damit beschäftigen.

Herr Gräven sieht staunend, was sich auf dem Tisch ausgebreitet hat. Er fasse es nicht, verstehe immer weniger, wer sein Schwiegersohn war, und geht aus dem Zimmer, setzt sich auf einen Stuhl, vollkommen niedergeschlagen, in sich zusammengesunken. Betty wirft ihm einen mitleidigen Blick zu, hat einiges zu verdauen, der alte Mann. Weiter, sie bildet alle Seiten des Ausweises, die Urkunden und einige Dokumente ab und schickt die Aufnahmen an Lusi mit der Bitte, sie möge in Rabenau nach diesem Dönsch forschen, zur Not die Kollegen in Dresden um Amtshilfe bitten. Des Weiteren solle sie versuchen, herauszufinden, was aus der Frau des Herrn Dönsch geworden sei. Auch an Griebel sendet sie die Fotos des Ausweises und schreibt dazu, dass er die beiden Kollegen aus der Dresdener Zeit vorladen und sie in die Mangel nehmen könne, da sie die Unwahrheit ausgesagt und mehr wüssten als sie bisher mitgeteilt hätten. Näheres würde sie nach ihrer Rückkehr ins Büro mitteilen.

Griebel meldet sich unverzüglich telefonisch, ob sie nicht gleich kommen könne, er lasse Kunizka und Möhrick abholen, es wäre gut, wenn sie bei der Vernehmung anwesend wäre. Und ihr Schatten sei sauer, da sie ohne ihn ermittele, wenn ihn nicht alles täusche, hat er sich auf den Weg zum Haus der Weidtmanns gemacht, also wenn etwas zu verbergen sei, sie hätte noch ein paar Minuten Zeit. Betty sagt ihr Kommen zu und dass sie die Dokumente aus dem Tresor alle abgelichtet hätte, also könne das BKA sofern es wolle, gerne die Dokumente kassieren, nur, ob sie damit etwas anfangen könnten, bezweifle sie.

Gut, sie bittet Peter, Herrn Gräven wieder nach Haffkrug zu bringen, Steprath den Inhalt des Tresors in Verwahrung zu nehmen, es sei denn, dass BKA würde den Inhalt beanspruchen, das BKA wäre im Anmarsch. Sie bedauert sich hier verabschieden zu müssen, aber sie werde dringend im Präsidium erwartet, reicht Herrn Gräven ihre Hand und drückt ihm eine Visitenkarte in selbige, wenn er Fragen hätte oder ihm irgendetwas einfallen würde, was ihnen weiterhelfen könnte, er solle sich melden.

 

Sie verlässt die Villa. Im Vorbeigehen richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf die Garage, blickt zum Hoftor, hoch zum Haus, zur Garage. Hm, ist es möglich, dass der Täter bis zur Garage gekrochen ist, sich darin versteckte und abwartete, bis er hoch zur Haustür kriechen konnte. Die Hunde hätten ihn sicher aufgespürt und vor der Garage kräftigen Krawall veranstaltet. Trotzdem. Der Boden ist gepflastert, Steprath würde auf dem Kopfsteinpflaster keine Kriechspuren finden. Aber in der Garage? Also zurück zum Haus. Nein, die Garage hätten sie nicht untersucht. Ob er dies noch nachholen könne. Da er eh schon hier sei, kein Problem, könne er dort noch ein wenig schnüffeln.

Sie geht vor zur Landwehrstraße, schaut nach einem Taxi, sieht weiter vorne eine Bushaltestelle und geht darauf zu. Der Bus kommt nach kurzer Wartezeit, fährt zum zentralen Busbahnhof, umsteigen auf den Bus, der sie bis kurz vor das Präsidium bringt. Die Kollegen im Büro sitzen vor ihren Computern, recherchieren. Sie geht zu Lusi, doch die kann ihr noch nichts berichten, sie müsse sich bei der Frau, die das Standesamt verwaltet, erst autorisieren, bevor diese Auskunft gibt.

Die beiden Kollegen des Herr Weidtmann sind noch nicht hier, der Chef in seiner Kajüte, geht zu ihm hin, der fragt, was sie gefunden hätten und Betty klärt in auf, was sie die letzten Stunden herausgefunden hatten.

„Russische Pässe? Und eine Walther P5, keine Makarow. Sagt uns das etwas? Was hat der Typ bloß zu verschleiern?“

„Wir werden es bald erfahren.“

„Du denkst, die beiden Typen werden reden?“

„Ja, dazu müssen wir sie bringen. Wann treffen sie ein?“

„Müssten in Kürze hier aufschlagen.“

Betty geht an ihren Arbeitstisch, schaut was Ole und Driss machen, Ole irgendwie desinteressiert auf seinen Bildschirm blickend, Driss das Telefon am Ohr. Ob es Neues zu berichten gäbe, nicht wirklich, die Gruppe Dönsch habe es gegeben, aber so gut wie keine konkreten Hinweise zu finden. Und Driss, auch bei ihm nichts. Der telefoniere die eingegangenen Anrufe aus der Bevölkerung ab, da scheine einiges schiefgelaufen zu sein, da die, die anrufen, Herrn Weidtmann wiedererkannt hätten.

Zwei Polizisten vom Streifendienst begleiten einen Herrn und führen ihn in den Verhörraum, der Chef winkt ihr, Betty schnappt sich einen Stabel x-beliebiger Papiere, geht vor, fragt Griebel, wer von ihnen das Gespräch führt, sie, sagt Griebel und er knalle dann ab und zu dazwischen. Der Herr, der Herr Möhrick ist, sitzt relativ gelassen auf seinem Stuhl, Betty und Griebel betreten den Raum, setzen sich ebenfalls, ein Schlag, als Betty die Papiere gewichtig tuend auf den Tisch haut, strenger Blick auf Möhrick.

„Sie haben uns angelogen, Falschaussage und unsere Ermittlungen behindert, das sind Straftatbestände. Joachim Weidtmann ist Oberst Klaus Dönsch, ihr Chef zu DDR-Zeiten und ihr Chef in West-Zeiten und verantwortlich für Republikflüchtlinge und Ausreisewillige in seiner Dresdener-Stasi-Zeit. Was an ihrer Tätigkeit war so brisant, das die Familie Weidtmann sterben musste?“

Möhrick schweigt, blickt finster vor sich hin, anscheinend mit sich ringend, sagt schließlich, er würde gerne mit seinem Anwalt sprechen. Bitte. Er zückt sein Telefon, spricht mit jemand, sagt, Herr Seemann sei gleich hier. Betty und Griebel verlassen den Verhörraum.

„Seemann? Kennst du den?“

„Kennen? Nein. Aber irgendwo habe ich seinen Namen schon einmal wahrgenommen. Der Oberstaatsanwalt müsste ihn kennen. Weiß er denn Bescheid, dass wir die beiden verhören?“

„Oh, den habe ich vergessen.“

Das Vergessene nachzuholen, ruft Griebel den Oberstaatsanwalt an, lässt ausrichten, da er nicht anwesend ist, dass sie dabei seien, die beiden Mitarbeiter Weidtmanns nochmals zu verhören. Weiter in Raum zwei, in dem mittlerweile Herr Kunizka platziert ist, der entspannt auf die beiden Eintretenden schaut, Hände im Schoss gefaltet. Betty hält die gleiche Ansprache wie bei Möhrick mit gleicher Reaktion, auch er verlangt nach seinem Anwalt.

„Herr Seemann, nehme ich an?“

„Ja.“

„Gut,“ sagt Betty, „der ist im Anmarsch.“

Die beiden verlassen fürs erste den Raum, begeben sich in Richtung Griebels Büro.

„Die beiden haben sich abgesprochen. Sie haben geahnt, dass wir die Identität von Dönsch herausgefunden haben. Was haben sie zu verbergen? Wie ist dein Eindruck von den beiden?“

„Nun,“ setzt Betty an, „wie Typen, die einiges zu verbergen haben, wirken sie nicht. Sie wirken selbstbewusst. Möhrick scheint der unsichere von beiden, ihm sollten wir zuerst auf die Pelle rücken. Weidtmann hat Kunizka hier zu seinem Stellvertreter gemacht, das bedeutet, Weidtmann schuldete ihm mehr als Möhrick, der eine untergeordnete Rolle in Dresden gespielt haben dürfte.

 

Steprath kommt ihnen den Flur entgegengelaufen, überreicht Betty die Papiere, meint das BKA hätte gerne darauf zugegriffen, aber da es nur private Papiere sind, habe er dies dem Typen ausreden können, der sicher gleich erscheinen würde.

„Seid ihr in der Garage fündig geworden?“

„Weiß ich noch nicht. Ich habe ein paar Kollegen hinzugerufen und die sind gerade dabei, die Garage unter die Lupe zu nehmen.“

Lusi tritt hinzu, ihre Augen streifen die Kollegen, verraten, dass sie Neuigkeiten hat.

„Dönsch ist sein richtiger Name. Die Daten in dem Personalausweis stimmen. Und…er ist verheiratet, nicht geschieden. Die Ehe wurde erst vor fünfzehn Jahren annulliert. Das heißt Weidtmann war ein Bigamist. Von seiner Frau, Nora Dönsch geborene Wendel, allerdings noch keine Spur. Sie dürfte mittlerweile wieder verheiratet sein. Wird also nicht einfach, sie aufzuspüren. Aber, wenn ihr mich fragt, eine Frau ist zu solch einem Verbrechen nicht fähig und das Verlassen durch den Ehemann wäre ein absurdes Motiv.“

„Sehe ich auch so. Trotzdem, wir müssen auch dies im Auge behalten,“ meint Betty.

„Eigentlich dachte ich, wir ermitteln zusammen. Du hättest mir ruhig Bescheid geben können, was du vorhast,“ motzt der hinzugekommen Tönnes.

In Betty regt sich Zorn, sie poltert los: „Ich muss gar nichts und ehrlich gesagt, werde ich keinen Schritt mehr mit dir gehen. Du hast mein Vertrauen missbraucht, indem du dass, was ich dir mit der Bitte um Stillschweigen gesagt habe, unter den Kollegen verbreitet hast. Damit ist die Basis für einen Zusammenarbeit entzogen, ermittele mit wem du willst, aber nicht mehr mit mir.“

Irritierter Blick von Griebel und Steprath.

„Was habe ich da verpasst?“ will Griebel wissen und Betty erzählt die Geschichte, die sie eigentlich erst Montag erzählen wollte.

„Und? Wo ist das Problem? Ich habe auch gerade gewechselt. Wechsel sind normal. Aber ich verstehe dich, ich wäre auch sauer. So und jetzt haben wir Wichtigeres zu tun. Komm mit.“

Tönnes dumm dastehen lassend, gehen die beiden in Griebels Büro, der die Tür hinter sich schließt. Was sollten sie mit den beiden dort drinnen machen? Sie stünden nicht unter Verdacht, es läge nichts gegen sie vor, also, lange könnten sie sie nicht hierbehalten.

„Wie steht es eigentlich um diesen Geschäftsführer der Spedition. Er war doch auch einer aus Dresden und da er die Geschäftsführung erhalten hat, dürfte er für Weidtmann noch wichtiger gewesen sein als die beiden, die wir hier sitzen haben. Was wissen wir über den Geschäftsführer?“

Griebel reibt sich am Kinn, brummt ein „Hm“, meint, eigentlich wüssten sie nichts über den Typen, da er vom BKA behütet werde. Er würde mit Seibold reden. Es klopfte an die Bürotür. Ein „Ja“ von Griebel und die Tür öffnete sich. Ein junger Mann, adrett gekleidet in einem fabellosen Anzug, weiß-blau gestreiftes Hemd und blaue Krawatte, gegeltes, nach hinten gekämmtem, kräftigem Haar, ein Lächeln auf den Lippen und eine fast gestelllose Brille auf der Nase, streckt seinen Kopf herein, fragt „Darf ich?“

„Nur zu.“

„Seemann, Doktor Jörg Seemann. Ich vertrete die Herren Kunizka und Möhrick. Sie verraten mir sicher jetzt gleich, warum Sie meine Mandanten vorgeladen haben. Was werfen Sie ihnen vor?“

Blickwechsel zwischen Betty und Griebel, der es übernimmt zu antworten, dem Anwalt mitteilt, was sie den beiden vorwerfen, erklärt, dass sie nicht verdächtig seien, in die Ermordung der Familie Weidtmann verwickelt zu sein, aber wichtige Informationen zur Vergangenheit des Herrn Weidtmann zurückgehalten hätten, die ihnen hätten helfen können, dem Motiv für die Tat näher zu kommen.

„Verstehe, verstehe. Gut, dann können wir loslegen.“

Griebel betrachtet den jungen Anwalt von oben bis unten: „Ja gerne.“

„Herr Doktor Seemann, Sie sind nicht zufällig Anwalt in der Kanzlei Cirske, Dewald & Brockmann?“

„Ja, bin ich. Tut das etwas zur Sache?“

Betty wirft Griebel einen Blick zu, der einen Augenblick benötigt, um zu verstehen, warum Betty dem Anwalt diese Frage gestellt hat.

„Eigentlich nicht. Noch nicht. Gehen wir?“

Nur wer seinen eigenen Weg geht, kann von niemandem überholt werden. (Marlon Brando, Schauspieler)

 

Wie besprochen, starten sie mit Möhrick. Betty fragt verwundert, ob der Herr Anwalt nicht vorab allein mit seinen Mandanten reden möchte, was dieser verneint, gehe auch so. Doktor Seemann nimmt neben Möhrick Platz, zieht ein Schriftstück aus seiner Aktentasche und beginnt eine Erklärung seines Mandanten vorzulesen. Ja, Herr Möhrick kannte Oberst Klaus Dönsch. Er sei sein Abteilungsleiter gewesen. Der Abteilung seien alle Fälle von versuchter und möglicher Republikflucht auf den Tisch gekommen, aber ebenso die Anträge auf legale Ausreise. Durch ein in Ost-Berlin praktiziertes Verfahren, Ausreisewillige oder unbequeme Staatsbürger gegen einen Geldbetrag ausreisen zu lassen, sei Oberst Dönsch auf die Idee gekommen, ähnlich zu verfahren, allerdings um die Freikaufsumme nicht an den Staat abzuführen, sondern für sich einzubehalten. Dafür brauchte er Unterstützung. Er weihte zunächst Herrn Kunizka ein, dann Herrn Kerner. Letzterer habe Westkontakte gehabt und diese habe Herr Dönsch genutzt, um Kontakt zu einem Anwalt zu knüpfen, der bereits einige Personen im Auftrag freigekauft hatte. Kam nun ein Ausreiseantrag auf den Tisch von Herrn Dönsch, pirschte er sich an den Antragsteller, um herauszufinden, ob dieser über Vermögen oder einen vermögenden Kontakt im Westen verfüge. War dies der Fall, nannte er eine Summe, in der Regel zwischen 5.000,00 und 10.000 Deutsche Mark. Dieses Geld musste auf ein Konto des Anwalts eingehen, der zum Treuhänder des Geldes wurde. Wurde der Eingang bestätigt, fuhr Herr Kunizka und Herr Möhrick die betreffende Person zum Grenzübergang Herleshausen. Das sei die Aufgabe seiner Mandanten gewesen.

Nach mehreren erfolgreichen Ausreisen kam dann von dem Anwalt eine Liste mit Namen und Adressen mit der Bitte, für diese Herrschaften die Ausreise in den Westen zu organisieren. Dafür musste eine andere Lösung gefunden werden, da die Personen nicht zum Dienstbereich der Gruppe Dönsch gehörten. Nun kam Herr Kerner ins Spiel. Er war Leiter der Druckerei, in der gefälscht wurde, was es zu fälschen gab. Kerner habe für die Personen auf der Liste westdeutsche Pässe gefälscht, mit denen die Personen dann über Ost-Berlin nach West-Berlin ausreisen konnten. Herr Kunizka und Herr Möhrick fungierten als Boten der Pässe und Ausreisepapiere, begleiteten die Personen bis zum Grenzübergang Friedrichstraße. Oberst Dönsch habe die Sache übertrieben und so die Aufmerksamkeit der Stasi auf sich und die Abteilung gezogen. Deshalb habe er veranlasst, dass für alle Beteiligten und für sich selbst Pässe ausgestellt werden auf unterschiedliche Namen. Einer der Pässe lautete auf Joachim Weidtmann. Kurz nach der Maueröffnung sei Dönsch in den Westen gegangen und als Joachim Weidtmann in Lübeck ansässig geworden und habe seine ehemaligen Kollegen nachgeholt.

„Dieser Erklärung habe ich nichts hinzuzufügen. Wenn überhaupt, handelt es sich möglicherweise um Unterschlagung, die einerseits verjährt und andererseits ohne Ankläger ist. Weiter möchte ich hinzufügen, dass meine Mandanten keine Erklärung für die Ermordung der Familie Weidtmann haben.“

„Heißt das, dass Ihre Mandanten keine weiterführenden Aussagen geben werden?“

„Richtig, beide entschuldigen sich dafür, zunächst abgestritten zu haben, Herrn Weidtmann als Oberst Dönsch zu kennen. Sie wollten sich erst anwaltlichen Rat einholen. Dies ist erfolgt, das Ergebnis habe ich Ihnen vorgelesen. Ich möchte Sie deshalb bitten, meine Mandanten unverzüglich gehen zu lassen.“

 

Dass sie damit nicht zufrieden seien, verstehe er sicher, reagiert Griebel. Sie hätten da schon noch ein paar Fragen. Verstehe er, aber, wie gesagt, seine Mandanten hätten gesagt, was sie zu sagen gehabt hätten.

Die Tür geht auf, der Oberstaatsanwalt kommt herein, geht auf Seemann zu, begrüßt ihn wie einen alten Bekannten, was sie anscheinend auch sind, und weist Griebel an, die Mandanten von Doktor Seemann ziehen zu lassen, dem dieser offensichtlich zähneknirschend mit einem nicken zustimmt.

Möhrick steht auf, will den Raum verlassen, als ihn Betty anspricht:“ Eine Frage.“

„Nein,“ entgegnet der Anwalt.

Betty unbeirrt: „Was ist mit Frau Dönsch geschehen?“

Möhrick schaut zum Anwalt, zu Betty, zum Anwalt, scheint unsicher: „Was soll mit Frau Dönsch geschehen sein?“

„Das weiß ich nicht, weshalb ich es gerne wissen möchte.“

„Frau Sundberg, genug jetzt,“ räuspert der Oberstaatsanwalt.

Im Vorbeigehen haucht Möhrick Betty zu: „Sie heißt jetzt Kittel, wohnt in Leipzig.“

„Danke,“ haucht Betty zurück.

Nachdem der Anwalt und seine Mandanten gegangen sind, fragt Betty den Oberstaatsanwalt, ob er erklären will, wieso er interveniert habe.

„Nein, da gibt es nichts zu erklären und jede weitere Nachforschung in Richtung der Vergangenheit des Herrn Dönsch oder Weidtmann hat zu unterbleiben. Frau Sundberg, wie ich Sie kenne, werden Sie den Grund in Sekundenschnelle verstehen. Sie sind doch gut im Kombinieren.“

Na ja, da gibt es nicht viel zu kombinieren. Der Oberstaatsanwalt hat Druck bekommen. Von wem ist leicht zu erraten. Resignierter Stimmung verlassen Betty und ihr Chef den Verhörraum, Griebel gibt Betty ein Zeichen, ihm zu folgen. Er schließt hinter sich die Tür, schüttelt mit seinem Kopf: „Wer hat dem denn in den Kopf geschissen?“

„Siehst du die Herren vom BKA noch? Ich nicht.“

„Du meinst, die hätten uns in die Parade gefahren? Warum? Was gibt es zu verbergen?“

So wie sie das sehe, habe es längst eine Absprache gegeben, wie vorzugehen sei, wenn ihre Ermittlungen einer zu verbergenden Tatsache zu nahe kämen. Die Erklärung, die der Anwalt verlesen habe, habe schon Tage in dessen Schreibtischschublade gelegen. Es liege auf der Hand, dass der Anwalt, also Doktor Cirske, derjenige ist, der als Treuhänder des Herrn Dönsch fungierte und die Liste, die Dönsch in die Hand bekam, dürfte der Grund sein, weshalb sie aufhören sollen, in diese Richtung zu ermitteln. Da stecke ein schmutziger Deal dahinter. Sie habe zu viel Fantasie, meint Griebel, wo solle da Schmutz sein, Leute in den Westen zu holen. Nun, möglicherweise Leute mit dubioser Vergangenheit. Jedenfalls scheint das BKA auf eine lange Zusammenarbeit mit Dönsch/Weidtmann zurückblicken zu können. Ja, das Gefühl habe er auch. Die wollen diese Zusammenarbeit vertuschen, wahrscheinlich, weil er ihnen entglitten sei.

„Egal, dann lassen wir es halt. Oder?“

„Ich habe die Spur eh für nicht relevant gehalten, aber mit Frau Dönsch, beziehungsweise Kittel, würde ich schon ganz gerne reden. Schon aus Neugier.“

Griebel blickt auf, schaut Betty grübelnd ins Gesicht, will sicher fragen, wie sie auf Frau Kittel käme, unterlässt es aber, warum auch immer. Gut, solle sie machen, er wisse aber von nichts, und wolle auch nichts wissen.

„Und was machen wir jetzt? Keine Verdächtigen, kein Motiv, nur eine Spur ins Nirgendwo. Sonst nichts.“

„Weiter machen, auf kleiner Flamme.“

 

Was ist eine kleine Flamme? denkt Betty. Zunächst Feierabend, schaut auf ihre Armbanduhr, schon nach neunzehn Uhr. Sie wollte zu Harrie, ja, kann sie noch, nicht zu spät. Sie geht zu ihrem Schreibtisch, schnappt sich ihre Tasche und den Laptop, da kommt Peter auf sie zu, enttäuschter Gesichtsausdruck, gut, weiß sie schon Bescheid.

„Die Waffe ist nicht unsere Tatwaffe. Der Vergleich der Kugeln sei negativ. Wäre auch zu schön gewesen.“

„Mach Feierabend Peter. Mach was Schönes und vor allem dir keine Gedanken, die eh zu nichts führen.“

Damit verabschiedet sich Betty aus dem Büro, geht zur Bushaltestelle, fährt zum Busbahnhof, steigt um in den Bus, der sie in die Nähe des Kastanienweges bringt, kurzer Fußweg und sie erreicht Harries Wohnhaus, klingelt, Sonja öffnet, begrüßt Betty, drückt sie an sich, schaut an ihr auf und ab. Ja, sie sehe, die REHA habe sie verschlankt. Hinter ihr taucht Harrie auf, auch er begrüßt Betty, bittet sie herein, führt sie in das Wohnzimmer, wo sie sich absetzen.

„Nun erzähl mal Betty, wie ist es dir ergangen?“

Sonja ist gespannt, ebenso Harrie, der allerdings aus anderem Grund. Betty berichtet zunächst von ihren REHA-Erfahrungen und Erlebnissen, erzählt von Vera, von Ahrenshoop, den Abenden am Strand, diese neue Erfahrung. dem langsamen Hineinwachsen in einen völlig ungewohnten Tagesablauf, den sie aber zu schätzen gelernt habe, genauso wie die Notwendigkeit, diese Routine beizubehalten, weshalb sie den Polizeidienst quittieren werde, nach Hamburg und in die Wissenschaft gehe. Großes Erstaunen bei den Kohlbergs.

„Du willst aufhören? Du? Das überrascht mich. Ich dachte du bist Polizistin durch und durch. Doch das Trauma?“

„Trauma? Nein, na ja, so ganz will ich es nicht vom Tisch wischen. Möglich, dass das in meinem Unterbewusstsein gespeicherte Erlebnis in meine Entscheidung hineingewirkt hat. Meine Entscheidung ist allerdings nicht spontan, sondern schon länger in mir gereift. Andererseits spielen auch praktische Gründe eine Rolle.“

Sie erzählt ihnen die Sache mit dem Haus ihrer Großmutter. Ja, so sei das. Die beiden Kohlbergs gratulieren, wollen wissen, was sie mit dem Haus vorhabe, was, sagt Betty, sie noch nicht wisse, zu frisch die Sache, auf jeden Fall das Haus beziehen, der Rest werde sich finden.

 

Dann will Harrie natürlich wissen, wie es mit dem Fortgang ihres aktuellen Falles stehe. Gerne wäre sie, aber war ja zu erwarten, um den Bericht herumgekommen, also legt sie den beiden Zuhörern dar, wo die Ermittlungen stehen, schließt mit dem Eingriff des BKA und das sie quasi bei null stünden. Aber sie habe eh nicht mehr an die Vergangenheits- oder Rachespur geglaubt. Alles drehe sich um Steffi, ein Verdacht, den Betty näher erklären muss. Die Sache mit dem Blackout konnte Harrie noch nicht wissen. Während sie Harrie ihre Vermutung erläutert, bereitet Sonja ein paar Schnittchen zu, die sie nun auf den Tisch abstellt, sie solle zugreifen. Aber Betty ist im Erklärungsmodus, in dem Schnittchen nicht vorkommen. Sie müsse nochmals mit Mareike reden, da sie wahrscheinlich mit Steffi in diesem Club war. Mareike sei die ganze Woche dem Unterricht ferngeblieben. Wahrscheinlich könne sie erst Montag mit ihr reden. Nein, nicht in der Schule, sie würde gerne an einem neutralen, unverfänglichen Ort mit ihr reden, in einem Café oder Restaurant. Ob er ihre Telefonnummer habe. Nein habe er nicht, kann sie aber herausfinden. Morgen? Ja, gleich morgen früh, wird er sich kümmern.

„Du ermittelst also weiter, obwohl, wenn ich dich recht verstanden habe, der Fall bei deinen Chefs abgehakt ist.“

„Na ja, nicht unbedingt ermitteln, sagen wir, ich möchte noch ein paar Antworten erhalten, mehr aus Interesse, oder Neugier, die meine Vermutung erhärten könnten. Da ist etwas, was ich finden will, finden muss, also versuche ich, das zu tun, was mir möglich ist.“

Habe sie eine Erklärung dafür, warum der Oberstaatsanwalt auf die Bremse getreten sei, oder treten musste, möchte Harrie wissen. Möglich, aber sie könne da auch nur spekulieren, wenig Konkretes. Dann solle sie mal losspekulieren.

„Hm, da gibt es eine Sache, von der mir Hembach bei seinem Besuch in Ahrenshoop gesprochen hat. Ehemalige in der BRD steckbrieflich gesuchte RAF-Terroristen seien in der DDR untergetaucht, was Staatsgeheimnis dort war, streng gehütet und überwacht von der Stasi. Nach der Wende seien alle RAF-Leute aufgeflogen und in Haft genommen worden. Anscheinend haben sie ihre ehemaligen Beschützer an die Kollegen aus dem Westen, BKA oder BND, verraten. Da Dönsch Westkontakte hatte, könnte er einen Deal ausgehandelt haben, seine Unterschlagungen unter den Tisch fallen zu lassen…“

„…Wären die denn strafrechtlich verfolgt worden?“

„Nein, aber das konnte er zu dem Zeitpunkt nicht wissen. Dönsch war gut informiert und vernetzt. Er wusste mit Sicherheit um die untergetauchten RAF-Leute. Ich denke, er hat sie auffliegen lassen oder half zumindest dabei. Und zum Dank schützte das BKA den Ex-Stasi-Mann, der diesen Schutz für seine Geschäfte nutzte. Als diese Geschäfte durch unsere Ermittlungen aufflogen, könnte dies unangenehm für das BKA geworden sein. Sponsor für einen lukrativen Kokain-Schmuggel macht sich nicht gut. Also musste der Zusammenhang und die Vergangenheit des Herrn Dönsch vertuscht werden und bleiben.“

„Hört sich logisch an, nicht nach Spekulation. Und du kannst denen nicht nachweisen oder sagen wir, einen Strick daraus drehen?“

Nein, so verrückt sei sie nicht und es interessiere sie auch nicht weiter, andere Baustelle, politische Spiele, nicht ihre Sportart. Sie sehe den Fall Weidtmann etwas anders, leider nur sie. Weidtmann ist Opfer und Täter. Ich kümmere mich aber nur um die Opferseite. Ihr Chef meine, sie solle auf kleiner Flamme weiterköcheln, das werde sie machen und dann nach Hamburg entfleuchen.

„Wie ich dich kenne, aber mit keinem guten Gefühl im Magen.“

„Stimmt. Etwas bleibt immer hängen.“

 

Der Rest des Abends ist angefüllt mit dem Berichten von Miros und Senjas iranischer Hochzeit, den Feierlichkeiten, dem Pomp des Festes, den iranischen Speisen, so unbekannt wie wohlschmeckend, ein Fest für alle Sinne. Und die Schwangerschaft? Damit sei Senjas Mutter mittlerweile mit allem im Reinen. Da niemand aus der fernen Verwandtschaft eine Andeutung machte oder Fragen stellte, sei Senjas Mutter beruhigt gewesen und habe sich mit der Schwangerschaft arrangiert, nicht ohne weiterhin täglich zur Kirche zu rennen und um Vergebung für ihre Tochter zu bitten.

Es ist ein netter Abend geworden und während Harrie erzählt, finden auch ein paar der Schnittchen in Betty eine Abnehmerin, auch wenn sie nicht mit ihrem Diätplan übereinstimmen. Es geht bereits auf Mitternacht zu, da zückt Betty ihr Smartphone und ruft sich ein Taxi, da die Busse in später Abendstunde unzuverlässig fahren. Harrie, etwas irritiert, er hätte sie doch nach Hause gefahren. Warum sie ihn nicht gefragt hätte. Nein, so spät, wolle sie ihm keine Umstände machen.

Das Taxi setzt sie vor dem Haus ab, die Treppe hoch, kurzer Schluck Wasser, dann bettfertig machen und ab in die Kiste. Müde sinkt sie dahin.

Der Wecker muss ausdauernde Arbeit leisten, um Betty wach zu bekommen. Der Morgen noch jung und dunkel als Betty sich aus ihrem Bett bewegt. Sie muss, ja sie muss, auch wenn der innere Schweinehund anderer Meinung ist. Sie schlüpft in ihre Trainingsklamotten, verlässt die Wohnung, steht auf der kalten, feuchten, menschenleeren Straße, schaut nach rechts. Gut, gleiche Runde wie vorgestern.

Keine gute Idee. Der leichte Sprühregen, der sie die ersten Schritte begleitet, kein Problem, doch, je weiter sie voranschreitet, desto heftiger setzt Regen ein, noch dazu angepeitscht von einem zunehmenden Wind, feucht, nasskalt. Ostwind! Das Wasser läuft ihr bereits die Stirn herunter. Nein, das macht keinen Sinn. Sie stellt sich in einem Hauseingang unter, wird aber lange warten müssen, bis der Regen nachlässt oder aufhört, so wie der Himmel aussieht, geschlossene, graue Wolkendecke. Die Klamotten kleben an ihr, ihr wird unangenehm kalt, also zurück, abtrocknen, in frische warme Kleidung wechseln.

 

Der Regen strömt immer noch von oben herab, als sie sich zur Bushaltestelle aufmacht, allerdings nun bewehrt mit einem breiten Regenschirm. Im Büro sitzen bereits einige Kolleginnen und Kollegen, blicken, verspannungsgefährdend sitzend, auf ihren Bildschirm. Betty legt Tasche, Laptop und Mantel ab, bringt den Regenschirm in die Küche, wo er abtrocknen kann, gießt sich einen Kaffee ein und geht zu ihrem Platz. Die Besprechung wird der Chef leiten, weshalb sie sich keine Gedanken machen muss, wie sie was präsentiert. Wenn der Chef Fragen hat, soll er fragen, ihr wird die richtige Antwort einfallen.

Lusi ist noch nicht anwesend, Betty wollte ihr sagen, dass sie nicht weiter nach Frau Dönsch suchen müsse. Sie schlürft ihren noch sehr heißen Kaffee und fragt sich, was, wenn die Dönschs Kinder hatten, möglicherweise einen Sohn? Der müsste jetzt um die dreißig Jahre alt sein. Nein, vergiss es, sagt sie sich, warum sollte ein vergessener Sohn solch ein Verbrechen ausüben? Wegen dem Erbe? Hätte er darauf Anspruch? Nein, da ist ja noch Henri. Er müsste, um dem Verbrechen einen Sinn zu geben, als Erbe auftreten und so abgebrüht, wie er die Morde begangen hatte, würde er seine Ansprüche nicht geltend machen. Es käme einem Geständnis gleich. Bleibt die Erpressung. Genauso abwegig.

Sie wirft ihren Computer an, gibt Nora Kittel als Suchbegriff ein und erhält mehrere Treffer, präzisiert mit Leipzig. Die Treffer reduzieren sich, aber immer noch mehrere. Eine Nora Kittel bietet ihre Dienste als Physiotherapeutin an, könnte sie die Gesuchte sein? Gleich die Erste? Betty notiert sich deren Rufnummer, schaut auf ihre Armbanduhr, bis zur Besprechung hat sie noch ein paar Minuten Zeit, also wählt sie die notierte Rufnummer. Kurzes Warten, eine Frauenstimme meldet sich, aber nicht mit Kittel, nur im Nachgang, die Praxis läuft auf Frau Kittel. Frau Kittel sei in der Behandlung. Betty hinterlässt ihren Namen, ihre Funktion und ihre Rufnummer mit der Bitte um Rückruf. Sie klickt den Treffer an, der sie zur Home-Page der Praxis führt, eine größere Praxis mit mehreren Therapeutinnen und Therapeuten. Unter Unser Team ist auch ein Foto von Frau Kittel eingestellt. Eine Frau, so um die Fünfzig, schönes, kräftiges welliges Haar bis auf die Schultern fallend, fotogenes Lächeln, klare helle Augen. Könnte passen. Sollte sie tatsächlich so einfach und schnell fündig geworden sein?

Auch die anderen Treffer schaut sie sich an, aber nur zwei davon scheinen passend, auch von denen notiert sie sich die Rufnummern. Unruhe kommt auf, nach und nach stehen die Kolleginnen und Kollegen auf und bewegen sich vor zum Besprechungsraum.

 

Mit einem Notizblock bewaffnet, bricht auch sie auf, als ihr Telefon klingelt. So schnell? Doch es ist nicht Frau Kittel, sondern Harrie, der ihr die Handynummer von Mareike mitteilt. Betty bedankt sich, verspricht, sich nach dem Gespräch mit Mareike bei Harrie zu melden.

Die Besprechung zeigt: sie sitzen fest, kommen nicht weiter mit ihrer Aufklärung. Stepraths Leute konnten zumindest in der Garage Fremdpartikel finden, die es nun gilt, genauer zu analysieren, aber der Durchbruch wird auch dies nicht sein. Betty hält ihre Aktivitäten zurück, um keine falschen Erwartungen zu wecken. Na ja, da ist auch noch die verordnete Bremse. So bleibt dem Team nur, die Russenspur irgendwie konkreter zu machen. Nur, wie? Dies ginge nur, wenn sie am BKA vorbeiermitteln, was der Oberstaatsanwalt mit Augenrollen und einem „vergessen sie das mal ganz schnell“ quittiert. Ob denn wenigstens Frau Sundberg weitergekommen sei, will der Oberstaatsanwalt mit leicht aggressivem Unterton in der Stimme wissen. Nein, keinen Zentimeter.

„Herrschaften. Wir haben ein Gewaltverbrechen und Sie bieten mir nur Fragezeichen und Spuren, die schneller verwischen als sie aufgetaucht sind…“

„…Wir haben intensiv ermittelt, sind jeder möglichen Spur nachgegangen, dass diese sich als Irrwege zeigten, konnten wir nicht vorhersehen. Wir tun, was wir können, und an den Fragezeichen arbeiten wir, allerdings nicht alle, die daran arbeiten sollten.“

Natürlich versteht der Oberstaatsanwalt Bettys Einwurf und Kritik an den BKA-Kollegen, dumm halt, dass er zwischen den Stühlen sitzt.

Griebel übernimmt, teilt seine Mitarbeiter ein, die mittlerweile noch eine andere Aufgabe haben, ein tödlicher Verkehrsunfall mit Fahrerflucht, den Frau Weimann mit Herrn Dirks übernehmen soll. Erst jetzt merkt Betty, dass sie die Einzige ist, die den Chef duzt. Komisch. Wie kommt sie zu der Ehre?

Nach der Besprechung bleibt der Oberstaatsanwalt noch im Raum, bittet Betty zu warten und fragt, als sich der Raum geleert hat, ob es zutreffe, was er gehört habe, sie wolle Lübeck und den Polizeidienst dauerhaft verlassen. Kurzes ja. Das würde er sehr bedauern, sie wisse ja, wie sehr er und Hembach für die Stelle der Fallanalytikerin gekämpft hätten. Er hätte große Hoffnungen in sie gesetzt. Betty sagt, sie wisse dies alles sehr zu schätzen, aber persönliche, gesundheitliche Gründe lassen keine andere Entscheidung zu. Die Enttäuschung ist dem Oberstaatsanwalt anzusehen, aber nicht zu ändern, denkt Betty.

„Sie ermitteln immer noch in die von Ihnen vermutete Richtung?“

„Ja, ich werde heute nochmals mit der Freundin der Tochter reden, allerdings ohne große Hoffnung, einen großen Schritt weiterzukommen. Ach, und den Hausarzt der Weidtmanns, also den Ex-Hausarzt will ich aufsuchen.“

Den Grund dazu will der Oberstaatsanwalt wissen und Betty muss ihm die Sache mit dem Zeitloch bei der Tochter erklären, was der Oberstaatsanwalt aufmerksam aufnimmt.

„Der Tochter fehlen zwei Stunden, die muss ich rekonstruieren, sofern dies möglich ist. Ansonsten, wie Sie sagten, nur Fragezeichen und Spekulationen.“

„Gut, dann machen Sie da weiter. Herr Griebel wird die weiteren Ermittlungen übernehmen, was heißt, er sagt, was Sie tun sollen…Und Ihre Entscheidung ist endgültig?“

„Ja. Endgültig.“

 

Zwei Dinge liegen vor ihr, zwei Rufnummern. Gut, Frau Kittel ruft zurück (oder auch nicht), also Mareike anwählen. Sie meldet sich auch gleich, Betty grüßt sie, fragt nach ihrem Befinden, na ja, immer noch tieftraurig und lethargisch. Zeit heile Wunden, ein blöder Spruch, meint Betty aber etwas Wahres hat der Spruch. Sie würde sich gerne noch einmal mit ihr unterhalten, ob ihr das recht sei. Ja, könne sie machen. Nicht in der Schule, nicht im Präsidium, ob sie einen Ort kenne, wo sie sich in Ruhe und angenehmer Atmosphäre sprechen könnten. Kurzes nachdenken, ob sie das Café Tonfink in der Großen Burgstraße kenne. Nein, kenne Betty nicht, werde es aber finden. Gegen elf Uhr? Ja, das passt. Dann sehen wir uns gleich.

Sie schnauft aus, fragt sich, wie sie mit Frau Kittel umgehen soll. Alles am Telefon besprechen oder müsste sie nach Leipzig fahren. Die Entscheidung wird sie vom Gesprächsverlauf abhängig machen. Lusi kommt zu ihr, sie müsse jetzt zur Zeugenbefragung und will ihr nur mitteilen, dass sie mit Frau Dönsch nicht weitergekommen sei. Mache nichts, dankt ihr, sie solle sich ihrem Unfallflüchtigen widmen, den sie hoffentlich bald finden werde. Lusis Blick verrät Skepsis.

Erneutes Telefonklingeln. Dieses Mal Frau Kittel, die sich überrascht zeigt, von der Kriminalpolizei aus Lübeck kontaktiert zu werden, was denn anliege.

„Tut mir leid, Frau Kittel, Sie zu belästigen und in der Arbeit zu stören. Wir haben hier einen kniffligen Fall zu lösen, bei dem Sie eventuell helfen könnten. Bevor ich darauf eingehe, eine Frage, waren Sie mit Klaus Dönsch verheiratet?“

Stille, absolute Stille. Betty wartet geduldig ab, aufgelegt hat Frau Kittel nicht. Sie ist es, dies weiß Betty nun, sie muss sich nur sammeln, wahrscheinlich hat sie nie und nimmer damit gerechnet, dass ihr jemals diese Frage gestellt würde.

„Ja…Meine Güte. Wissen Sie, wie lange das her ist?“

„Ja, Ihr Ex-Mann kam nach dem Mauerfall in Lübeck an, wo er unter dem Namen Joachim Weidtmann lebte. Bis zum letzten Wochenende, an dem er ermordet wurde, nebst seiner Frau und seiner Tochter. Ich bin mir nicht sicher, ob das Telefon das richtige Medium für das Gespräch ist. Ich könnte auch nach Leipzig kommen, wenn Ihnen das lieber ist.“

„Ermordet, sagen Sie.“

„Ja.“

„Und er war verheiratet? Frau und Tochter ebenfalls tot?...Entschuldigen Sie, aber ich bin sehr verwirrt…Es ist lange her…trotzdem…Warum?“

„Das verstehe ich und die Verwirrung könnte steigen, wenn Sie die ganze Geschichte um Ihren Ex-Mann kennen. Ich denke, es ist besser, wenn ich nach Leipzig komme, wenn Ihnen dies recht ist. Es geht aber frühestens am Montag.“

„Ja, ich denke, Sie haben recht. Aber warum die ganze Familie?“

„Das versuchen wir herauszufinden. Eine unserer Vermutungen läuft darauf hinaus, dass es in seiner Vergangenheit etwas gibt, was dieses Verbrechen ausgelöst hat. Eventuell durch seine Arbeit für die Stasi, wie gesagt, eine Vermutung.“

„Stasi? Wieso Stasi? Was hatte Klaus mit der Stasi zu tun?“

„Sie wissen nicht, dass Ihr Ex-Mann Oberst bei der Stasi war?“

„Was? Nein…Bei der Stasi? Er war doch Finanzbeamter. Aber bei der Stasi?“

Meine Güte, die Frau hat anscheinend keine Ahnung, wer ihr Mann war. Ja, es gibt keine andere Möglichkeit, als nach Leipzig zu fahren, persönlich mit ihr zu reden, wobei, wie Betty nun einschätzt, es darauf hinauslaufen wird, das sie redet und erklärt und von der Frau, außer Ahnungslosigkeit, nichts zu erwarten hatte.

Sie würde sie im Laufe des Montags in der Praxis aufsuchen. Ja, sie werde sich freimachen.

 

Eine spontane Entscheidung. Betty wird für die Fahrt Urlaub nehmen. Wenn sie richtig gerechnet hat, stehen ihr noch drei Wochen Urlaub zu, den sie einsetzen wollte, die Zeit bis zu ihrem Abgang zu verkürzen. Drei Tage? Ja, müssten genügen und auf der Rückfahrt wird sie bei Vera vorbeischauen. Gute Idee, genau so wird sie es machen.

Noch etwas Zeit, bevor sie zum Treffen mit Mareike aufbrechen kann, die sie nutzt, sich über Fitness-Studios schlau zu machen, ruft Google auf, gibt den Suchbegriff ein und erhält acht Treffer. Ein Treffer erregt ihre Aufmerksamkeit proDonna, ein Fitness-Studio nur für Frauen, liest sich gut, die Fotos auf der Homepage des Studios ansprechend und nicht allzu weit vom Präsidium entfernt, so dass sie nach Dienstschluss zu Fuß dorthin gehen kann. Passt. Folge, einen Termin für ein Probetraining vereinbaren. Nur, wann? Heute noch? Morgen? Nächste Woche? Wenn sie zurück ist? Heute noch! Also wählt sie die Rufnummer der proDonna, vereinbart ein Probetraining für den späten Nachmittag, gegen siebzehn Uhr. Gut, wäre das auch erledigt.

Und jetzt auf, Mareike treffen. Sie gibt die Adresse des Cafés ein, aktiviert die Navifunktion ihres Smartphones, schnappt sich ihre Umhängetasche, kurz zum Chef ins Büro, ihm mitteilen, dass sie nächste Woche, drei Tage Urlaub mache. Urlaub, fragt Griebel erstaunt. Ja, sie werde nach Leipzig fahren, Frau Kittel, ehemals Dönsch, sprechen. Die Frau sei völlig ahnungslos, was ihr Mann beruflich gemacht habe, die Frau brauche Aufklärung, werde nichts zur Aufklärung des Falles beitragen, weshalb sie die Reise nach Leipzig als Privatsache ansehe. Na ja, wenn sie das so sehe, sie müsse wissen, was sie tut.

„Und die Reise birgt keine Gefahr? Im Magazin ruht deine Dienstwaffe. Wird es nicht langsam Zeit, sie wieder in Besitz zu nehmen?“

„Stimmt, die Waffe habe ich total vergessen. Bei Gelegenheit hole ich sie mir ab. Einen Grund auf mich zu schießen, dürfte die Frau nicht haben, also keine Gefahr in Verzug.“

Was sie nicht zu tun gedenkt. Sie braucht keine Waffe mehr. Ihre restlichen Tage wird sie unbewaffnet hinter sich bringen.

Sie zieht los, holt den mittlerweile trockenen Regenschirm aus der Küche, der sogleich wieder nass werden wird, denn der Regen des Tages hält sich hartnäckig, geht vor zur Bushaltestelle, fährt in die Innenstadt und läuft den restlichen Weg zur Großen Burgstraße zu Fuß. Mareike ist noch nicht eingetroffen, Betty auch etwas zu früh. Sie bestellt sich einen Cappuccino, verkneift sich das Croissant, dass ihr kurzzeitig durch den Kopf huscht, blickt hinaus auf die wenig belebte Straße, die der Regen mit Pfützen in der porösen Belagdecke angefüllt hat. Umweltschützer raten dazu, Schlaglöcher in den Straßen grundsätzlich nicht mehr auszubessern, weil dadurch das Regenwasser besser ablaufen könne. Komischer Gedanke, wer kommt auf so eine bekloppte Idee? Die Nässe da draußen spürt sie bis hoch in die Oberschenkel. Scheißwetter.

Mareike ist im Anmarsch, ohne Regenschirm, dafür in gelbem Friesennerz, Kapuze über dem Kopf, strebt sie das Café an, tritt ein, schüttelt die Nässe von sich, entledigt sich des Mantels, ihre Wollmütze lässt sie auf und geht auf Betty zu.

„Moin, Frau Sundberg.“

„Betty. Moin Mareike.“

„Ach so, ja.“

 

Betty lässt Mareike erst ihr Bestellung aufgeben, merkt an, sie sei die ganze Woche nicht in der Schule gewesen, wäre vielleicht besser gewesen, um dort Trost zu finden. Mareike schaut erstaunt auf Betty, fragt „Trost?“ Sie denke, niemand in ihrem Kurs, vielleicht mit Ausnahme von Herr Kohlberg, könne Trost spenden, die seien alle zu sehr mit sich und ihren elektronischen Gehirnen beschäftigt. Empathie habe eine schnelle Verfallszeit.

„Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, in einem Klassenraum zu sitzen und zu wissen, dass der Platz neben dir nie wieder besetzt sein wird und wenn du auf den Platz schaust, immer an die erinnert wirst, die vorher dasaß. Ich habe Angst vor diesem Szenario.“

„Ich verstehe das. Nur, ewig kannst du dich nicht vor dieser Begegnung drücken.“

„Ich weiß.“

Könnte Harrie etwas für Mareike tun? Er eher als sie, also mit ihm reden, ihm die Bedenken Mareikes mitteilen, ihm wird die richtige Reaktion einfallen.

Vorsichtig, nachdem die Latte Macchiato vor Mareike steht, versucht Betty ihr Anliegen vorzubringen, berichtet von dem Treffen mit Henri, vom Besuch in der Gerichtsmedizin, dass Henri am Montag für mehrere Tage nach Lübeck kommen werde und die Beisetzung im Laufe der nächsten Woche erfolgen werde.

„Wie beerdigt man jemand, dessen Kopf nicht vorhanden ist? Das geht doch nicht. Oder?“

„Ja. Henri wusste dazu noch keine Lösung, wird sie aber finden müssen, denn ich glaube nicht daran, dass wir Steffis Kopf wiederfinden.“

„Das ist so grausam, so würdelos. Ich kann nicht verstehen, wieso dies jemand einem anderen Menschen antut.“

Leise, sorgsam spricht Betty auf Mareike ein, stimmt ihr zu, erläutert, wo sie überall nach dem Kopf gesucht hatten und dass auch ihr, das Motiv vollkommen unerklärlich sei. Vielleicht helfe, mehr zu wissen, wie Steffi die letzten Wochen verbracht habe und da sei eine Sache, die ihr wichtig erscheine.

„Henri sagte mir, dass Steffi Stress mit ihrem Vater hatte, weil sie zwei Stunden zu spät nach Hause gekommen sei, das war an einem Samstag vor knapp drei Wochen. Hat Steffi diesen Vorfall dir gegenüber erwähnt?“

Mareike denkt kurz nach, nippt an ihrem Latte Macchiato.

„Du meinst die Sache mit dem Blackout?“

„Ja, genau die.“

Ja, Steffi habe diesen Filmriss angesprochen, habe von ihr wissen wollen, ob sie das mitbekommen habe und wollte natürlich wissen, wo sie die ihr fehlenden Stunden verbracht habe. Aber sie habe davon nichts mitbekommen. Überhaupt nichts? Nein, nicht den Hauch. Es sei eigentlich wie immer gewesen, sie hätten getanzt, gequatscht, in der Clique zusammengesessen, Steffi ab und zur Bartheke gegangen, sie habe sich gerne mit Andy unterhalten.

Wer dieser Andy sei, hakt Betty nach, der Barkeeper. Irgendwie hätten die beiden ein Faible füreinander gehabt, also keine Beziehung, eher eine Freundschaft. Gut, muss sich Betty merken, mit ihm reden. Ob sie denn mitbekommen habe, wie Steffi den Club verlassen habe, oder habe sich im Laufe des Abends ein Typ ihr genähert. Nein, habe sie nicht. Steffi sei, wie immer, irgendwann aufgebrochen und meistens mit einem Taxi nach Hause gefahren. Meistens? Ja, mitunter, wenn es vor einundzwanzig Uhr war, nahm sie auch manchmal den Bus. Und ein Typ, Steffi sei ständig angesprochen worden, allerdings erinnere sie sich nicht, dass da ein Typ länger neben ihr verweilte.

„Und sie konnte dir auch nicht erklären, was da vorgefallen war?“

„Nein, aber sie hatte furchtbare Angst…was da in den zwei Stunden mit ihr passiert sein könnte. Die Ungewissheit, die nagte noch Tage an ihr und…es kam sogar vor, dass ihr Tränen kamen.“

„Mein erster Gedanke war, sie wurde mit K.-o.-Tropfen betäubt, aber dann erinnerte ich mich an die Kopfschmerzen, die sie hatte und die Visitenkarte eines Arztes, eines Doktor Seiler, so dass ich überlegte, ob sie eventuell ein gesundheitliches Problem hatte, das ihr Schmerzen und Angst machte.“

„Ein gesundheitliches Problem? Im Kopf? Du meinst, so etwas wie einen Tumor?“

„Ja. Hätte Steffi sich dir anvertraut?“

„Ich denke schon…aber da war nichts, nein, ich glaube nicht, dass sie einen Tumor hatte, das waren Knockout-Tropfen….Ähm, du sagtest, sie hatte eine Visitenkarte von Doktor Seiler. Das ist mein Hausarzt. Wie kam sie an die Karte?“

„Das weiß ich nicht. Ich dachte, sie hätte dich nach einem Arzt gefragt, wegen ihrer Kopfschmerzen.“

„Nein. Nein. Wir haben über keinen Arzt gesprochen. Aber wie kommt sie auf Doktor Seiler?“

„Mareike, das weiß ich nicht. Hattest du denn zu Hause eine Visitenkarte des Arztes?“

„Nein.“

„Seltsam.“

„Seid ihr immer in den gleichen Club gegangen?“

„Ja, meist in das Hüx, manchmal auch in das Sound, an dem Abend waren wir im Hüx.“

 

Sie reden noch eine kurze Zeit weiter, sprechen über dies und jenes, aber dem Kern der Sache kommt Betty keinen Schritt näher. Ab wann sie diesen Andy sprechen könne. Der Club öffne gegen zwanzig Uhr, Andy sei jeden Tag hinter der Theke und wahrscheinlich schon früher im Club. Betty verspricht Mareike, ihr sofort Bescheid zu geben, sobald sie weiß, wann die Beisetzung stattfinden wird, und verabschiedet sich in den Regen.

Wie kam Steffi nach Hause? In ihrem Zustand dürfte sie kaum in einen Bus gestiegen sein, bleibt ein Taxi oder, auch das ist denkbar, der Täter selbst hat sie vor ihrer Haustür abgesetzt. Den Taxifahrer suchen? Muss sie, ja muss sie, denn der dürfte ihren Zustand bemerkt haben. War ihr Zustand auffällig, waren es die Tropfen, ansonsten war es doch ein Gesundheitsproblem. Also den Taxifahrer ausfindig machen.

Wird ein langer Abend werden, vielleicht besser, den Termin im Fitness-Studio abzusagen, nein, da muss sie jetzt durch, sonst wird das nichts mehr. Sie fährt mit dem Bus zurück ins Präsidium, holt sich, bevor sie dieses betritt, bei einem Bäcker um die Ecke ein belegtes Brötchen. Nur Driss im Büro und der Chef, der aber abgeschirmt in seinem Büro sitzt.

„Na Driss, du hältst die Stellung. Wo ist der Rest der Truppe?“

„Sind alle unterwegs, klappern die Autowerkstätten ab oder sprechen mit Zeugen, wegen dem tödlichen Unfall. Und ich schaue mir die Videos von Überwachungskameras an, die die Herren vom BKA uns überlassen haben. Ehrlich, ich habe keine Ahnung was und wie ich da jemand finden soll.“

„Macht nichts, die Spur führt eh ins Nirwana. Unser Täter hat alles so organisiert und inszeniert, dass wir ohne Spuren sind und auf den letzten Metern über die Grenze oder am Flughafen wird er nicht so blöd sein, sich jetzt eine Blöße zu geben. Die Spur ist von Anfang an eine falsche Spur gewesen.“

„Na, du bist ja motivierend.“

„Das hat nichts mit Motivation zu tun, reiner Instinkt.“

Irritierter Blick von Driss. Musst du jetzt nicht verstehen, denkt Betty.

Das Brötchen auspackend, nimmt sie an ihrem Schreibtisch Platz, beißt in das Brötchen, schaltet den Computer an. Zunächst die Taxiunternehmen. Etwas mehr als zehn Taxiunternehmen listet ihr Google auf, sie kopiert Namen, Adresse, Telefonnummer, setzt sie untereinander in Word und druckt die Seite aus, beginnt sich von oben nach unten durchzuarbeiten, ruft an, sagt, wer sie ist und bittet, herauszufinden, ob einer der Fahrer am 20. September zwischen 22:00 Uhr und 23:00 Uhr eine junge Frau vom Club Hüx am Hüxterdamm in die Roeckstraße gefahren habe. Sie hinterlässt ihr Handynummer und hofft auf eine schnelle Reaktion.

Und jetzt? Gut, nochmals in Ruhe in den Bericht der KTU schauen, sie ruft ihn auf, interessiert sich nur für die Untersuchungsergebnisse im und um das Haus, stellt fest, dass die Garage in dem Bericht noch nicht erwähnt ist, wählt die Nummer von Steprath. Der nimmt nach kurzem Bimmeln ab.

„Moin, Hein, störe ich dich? So kurz vor einem langen Wochenende.“

„Ja, hast du. Ich habe gerade meine Gehirnzellen vibrieren lassen, was nun rabiat unterbrochen wurde…“

„Gehirnzellen? Hört sich interessant an. Was hast du denn vibrieren lassen? Sicher Hochspannendes. Oder?“

„Du nervst.“

„Na, komm schon, raus damit.“

„Die Garage. Du könntest recht gehabt haben. Unser Täter könnte sich dort umgezogen, wahrscheinlich auch dort gewartet haben…“

„…Ihr habt Spuren gefunden?“

„Ja, Haare, die wir Frau Weidtmann zuordnen konnten und, jetzt wirst du dich freuen, zwei Fäden und ein Partikel gleichen Materials, die ich dem Overall zuordne. Diese Teilchen zu finden bedeutet, es war kein neuer Anzug. Er wurde schon einmal vielleicht sogar mehrmals benutzt. Aus einem neuen Anzug hätten sich diese Teilchen nicht gelöst.“

„Das ist doch was. Toll! Damit kommen wir der Frage näher, wie unser Täter in das Haus gekommen ist.“

„Ja, aber mach mal halblang. Das Labor prüft noch. Ich glaube zwar, dass es ist, wie ich sagte, aber letztlich hat das Labor das letzte Wort.“

„Ich bin gespannt. Und das mit den Gehirnzellen, das ist doch eine andere Baustelle, wenn ich mich nicht täusche.“

„Auch da hast du wieder einmal recht. Ja, ich überlege die ganze Zeit, wie unser Täter zu dem forensischen Wissen gelangt ist, denn, das muss er gehabt haben, denn er wusste genau, was wir wo und wie suchen und hat alles vermieden, auch nur den Hauch einer Spur zu hinterlassen. Bis halt auf die Fäden und diesen einen Partikel. Eine winzige Unachtsamkeit.“

 

Forensisches Wissen? Heißt das, das eventuell ein Kollege oder Ex-Kollege hinter der Sache steckt? Wir erwirbt man forensisches Wissen? Na ja, eigentlich ganz einfach, jeden Sonntag Tatort schauen oder sonst einen dieser Serienkrimis. Ansonsten gibt es genügend Bücher, in denen die Arbeit der Forensiker haarklein beschrieben wird. Also kein Problem sich entsprechend gegen die Forensik zu wappnen.

„Also, ich denke mir das so, der Typ hat die Kameraleiste am Hoftor angebracht, liest den Code aus, öffnet sich das Tor und kriecht zur Garage, zieht sich dort um und wartet ab. Aus der Garage kriecht er weiter bis zur Haustür, an der ebenfalls eine Kameraleiste angebracht war und kommt so ungesehen in die Villa.“

„Und die Hunde?“

„Zwischen Kriechen zur Garage und von der Garage zum Haus könnten ihm die kurzen Strecken ausgereicht haben, um den Hunden auszuweichen. Das Dumme ist, Kriechspuren auf dem Kopfsteinpflaster zu finden, ist sicher nicht möglich.“

„Hm, richtig, aber auch nicht unmöglich und stelle dir vor, der kriecht tatsächlich über die Steine, da könnte es doch sein, dass sich weitere Partikel oder Fäden aus seinem Overall gelöst haben. Ergo, du meinst, ich sollte morgen nochmals das Pflaster untersuchen. Stimmts?“

„Habe ich nicht gesagt, aber gute Idee.“

„Nun denn, für heute zu spät, aber für morgen früh werde ich ausrücken lassen.“

„Dank dir Hein. Wenn du eine Erfolgsmeldung für mich hast, rufe mich an. Ich bin allerdings von Sonntag bis Mittwoch unterwegs

„Unterwegs. Kurzurlaub?“

„Urlaub ja, kurz auch, aber mehr ermittlungstechnisch unterwegs. Ich werde Frau Dönsch in Leipzig treffen.“

„Dönsch? Ich dachte wir sollten die Finger von dem Typ lassen.“

„Lasse ich ja, es ist Frau Dönsch, die ich besuche und ich habe mir dafür Urlaub genommen, bin also privat unterwegs.“

„Betty, Betty, ich fasse es nicht und du willst aus dem Polizeidienst ausscheiden? Ich kenne keine Polizistin, die so vollblütig in ihre Fälle einsteigt. Meine Güte, was geht uns da verloren?“

„Ne Menge Gewicht, mehr nicht.“

Beide lachen auf. Betty wünscht ein schönes Wochenende und legt auf. Der Blick auf den Computer gerichtet, hebt die Augen, Lusi kommt auf ihren Schreibtisch zu, wirkt genervt, was sie auch ist. Sie schimpft über die Zeugen, die, fast wie üblich, nur widersprüchliche Aussagen von sich gaben. Zwanzig Zeugen, zwanzig verschiedene Autos. Nimm die drei, die sich ähneln und bastle dir daraus das Auto, rät ihr Betty. Verarschen könne sie sich selbst, schnauzt Lusi. Nein, sie meine das ernst. Nimm die drei Aussagen, die sich ähneln, vergleiche sie, abstrahiere und du wirst eine Annäherung an das wirkliche Fahrzeug finden. Nachdenkend steht Lusi vor Betty, traut Bettys Aussage nicht, nickt aber dann mit ihrem Kopf, meint, gut, wird sie versuchen.

Sie komme doch morgen Abend, stutzen von Lusi, ah ja, ja, sie komme. Allein? Wie sie das meine. Nein, Lusi scheint heute auf dem Schlauch zu stehen. Ob sie einen Begleiter mitbringe. Ja, Peter. Die Frau steht neben sich.

 

Nachdem Lusi nachdenklich zu ihrem Arbeitsplatz wechselt, nimmt sich Betty einen Zettel. In ihr ist ein Gedanke aufgekommen, die markantesten Punkte aufzulisten, die sie dem Täter zuschreibt, beginnend mit sehr intelligent. Er ist planvoll vorgegangen, war empathielos und treffsicher, hat IT-Wissen und Forensik-Wissen, war sehr achtsam. Sie notiert geldsüchtig und rachsüchtig, abgebrüht und er musste Zeit haben. Sie betrachtet ihre Notizen. Was damit anfangen? Sie in Beziehung setzen? Zu wem? Allzu viel Auswahl hat sie nicht. Einerseits der Berufskiller. Ihn vergleichen mit einem Mitarbeiter der SecTec? Den hat Betty noch nicht abgehakt, auch wenn dort alle Saubermänner waren. Hm, fällt ihr ein, sie müsste den Geschäftsführer anrufen, fragen, ob er zu einem Ergebnis gekommen sei, aber nein, war nicht mehr ihre Sache, zurücknehmen Betty, zurücknehmen, sollte sich Lusi darum kümmern.

Sie priorisiert ihre Aufschriebe, nach Wichtigkeit macht zwei Spalten, eine für Killer (Russe?) und eine für SecTec-Mitarbeiter:

 

                                               Killer (Russe?)         SecTec-Mitarbeiter

sehr intelligent                        nein                             ja

planvoll                                   ja                                 ja

empathielos                            ja                                 ja

IT-Wissen                               nein                             ja

Forensik-Wissen                    nein                             ja

musste Zeit haben                 ja                                 nein

achtsam                                 ja                                 ja

abgebrüht                               ja                                 ja

treffsicher                               ja                                 ja

rachsüchtig                             ?                                 ?

geldsüchtig                             nein                             ?

 

Fast übereinstimmend, nur in den relevanten Punkten spricht einiges für einen Mitarbeiter der SecTec als Täter. Zwar hatten sie alle Mitarbeiter überprüft und nichts gefunden. Aber wirklich alle Mitarbeiter? Hatten die Auszubildende? Aushilfen? Leihkräfte? Mit ihrem Zettel geht Betty vor zu Lusi, reicht ihr das Blatt Papier, fragender Blick zu Betty, dann auf das Papier.

„Was willst du mir damit sagen?“

„Es spricht einiges dafür, dass wir unseren Täter im Umfeld der SecTec finden könnten. Das Thema Zeit scheint mir interessant, denn die braucht unser Täter. Der Killer hat die Zeit per se, der SecTec-Mitarbeiter nicht. Er muss Urlaub nehmen. Bei eurer Befragung gab es da Mitarbeiter, die zum fraglichen Zeitpunkt in Urlaub waren, oder sich krank gemeldet hatten? Und, ihr habt nur Mitarbeiter befragt, keine Auszubildenden, Aushilfen oder Leihkräfte? Richtig?“

„Äh, ja, nur die, die für die Entwicklung, Programmierung und Installation der Systeme in Frage kommenden Mitarbeiter. Von Auszubildenden oder anderen Mitarbeitern war nicht die Rede und ich denke auch nicht, dass die welche haben.“

„Hm, ich habe ja nichts mehr zu sagen, aber ich denke, es wäre sinnvoll, nochmals in dieser Richtung nachzuhaken, möglich, dass uns da etwas durch die Lappen gegangen ist.“

Lusi wirkt leicht verunsichert, schaut zu Betty hoch, die neben ihr steht, nickt, meint gut, werde sie überprüfen. Klang eher lästig als willig. Betty nimmt sich ihren Zettel und geht zurück auf ihren Platz, schaut auf die Uhr, Zeit zu gehen. Nach Hause, sich eine Kleinigkeit zuzubereiten, dann ab ins Fitness-Studio, von dort zu diesem Club und hoffen, dass sie vorzeitig eingelassen wird.

Sie packt ihre Tasche, schlüpft in ihren Mantel, hängt die Laptop-Tasche um, verabschiedet sich mit einem „bis morgen Abend“ von Lusi, die erstaunt, „du gehst schon?“, fragt.

„Ja, ich treffe meinen Fitness-Trainer und gehe anschließend in die Disco.“

„Disco?“

 

Zu Hause blickt Betty in einen fast leeren Kühlschrank und ein genauso leeres Tiefkühlfach. Sie muss unbedingt einkaufen, nur heute nicht mehr. Mit nichts kann sie nichts zubereiten, allerdings unterwegs eine Kleinigkeit zu sich nehmen, dafür reicht die Zeit nicht, also eins Scheibe Vollkornbrot mit Frischkäse. Schmale Kost heute, die sie appetitlos zu sich nimmt. Anschließend packt sie ihre Sportklamotten in die Sporttasche, verlässt die Wohnung, geht vor zur Bushaltestelle und lässt sich dem Fitness-Studio entgegenfahren.

Am Empfang wird sie von einer Nanni begrüßt, eine junge Frau, gertenschlank, blonde zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare, in einem T-Shirt steckend mit über einem über die Brust aufgebügeltem proDonna. Betty hat das Gefühl, dass die junge Frau sie irgendwie ironisch anblickt, die Mundwinkel ziehen sanft nach unten, Betty kann sich aber auch täuschen. Nanni lächelt freundlich, begrüßt sie herzlich bei proDonna, fragt, ob sie bereits Erfahrung mit einem Fitness-Studio habe, im gewissen Sinne ja, sie sei vier Wochen über diese Geräte gejagt worden. Versteht die junge Frau nicht, lacht aber. Sie wolle sicher Fett abbauen, an den Geräten könnten spezielle Programme abgerufen werden, die den Fettabbau unterstützen würden. Wieso sie auf den Gedanken komme, dass sie Fett abbauen wolle, will Betty wissen. Sorry, sagt Nanni, ich dachte halt…Weil sie so gewichtig sei? Die junge Frau nun verlegen dreinblickend. Sie wolle sich einfach nur beweglich halten und wenn dabei Fett verloren ginge, kein Problem, sie habe genug davon. Wieder ein auflachen bei Nanni.

Nach der Begrüßung führt Nanni Betty durch das Studio, zeigt die Umkleide, die Sauna, die Massageräume, die Duschen, den Kursraum, die Trainingsfläche. Nanni fragt Betty, ob sie einen Körpercheck wünsche, nein, sei nicht nötig, sie sei die letzten Wochen intensiv gecheckt worden. Nach dem Umkleiden dann die Einweisung in die Geräte, deutlich moderner als die in der REHA-Klinik, weshalb sie die Erklärungen von Nanni benötigt.

Laufband und Ergometer mit Bildschirm, auf dem sie das aktuelle Fernsehprogramm verfolgen oder im Internet serven oder sich ein Video aufrufen kann, mit dem sie verschiedene Landschaften auswählen könne, durch die sie laufen oder fahren möchte. Gut, kein Fernsehen, kein Internet, Garda-See, danach ist ihr jetzt. Das Laufband rotiert und sie bewegt sich im Laufschritt am Ufer von Limone sul Garda in Richtung Sopine. Die Kamera stur auf den Weg gerichtet, aber mit Blicken rechts zum See, links auf die den See umringenden Berge. Nett, aber dämlich, weil glotzen, was sie nicht mag, sie denkt lieber nach, während sie läuft oder fährt. In der Bewegung kommen ihr oft die besten Gedanken. Aber so recht wollen diese nicht kommen, da das Geflimmer unter ihr sie ständig nach unten blicken lässt. Hilft nur abstellen.

Danach Radfahren durch Las Vegas, war so voreingestellt, und verschiedene andere Geräte für die Muskulatur, Beinpresse, Rückentrainer, Schulterpresse, Beinstrecker, Bauchpresse, ein wenig Rudern, damit dann mehr als genug für heute. Die Atmosphäre im Studio angenehm, dezente Musik, kein nerviges Technogehämmer, im Hintergrund, Nanni freundlich und hilfsbereit. Gut, hier wird sie die nächsten Wochen auflaufen, weshalb sie vorerst nur eine Monatskarte und keinen langfristigen Vertrag möchte. Nanni nicht gerade begeistert, letztlich aber auch damit zufrieden. Duschen, denn sie hat Schweiß produziert, und dann ab in die Disco.

 

Es geht doch Zeit verloren, wenn man mit den Öffentlichen unterwegs ist, nicht jede Buslinie bringt sie direkt dahin, wo sie hinwill. Sie muss umsteigen, mal hier, mal dort warten. Wird in Hamburg auch nicht einfacher, vielleicht sollte sie sich doch entschließen, einem Fahrlehrer den Nerv zu rauben und, da ist sich Betty sicher, das würde sie tun. Nach zweimaligem Umsteigen steigt sie in der Nähe des Clubs aus, läuft zu ihm hin, Licht leuchtet, keine Personen vor dem Club, auch noch zu früh, trotzdem klopft Betty an die Tür, eine stabile Tür, die ihr Pochen wahrscheinlich nicht bis zum Innenraum tragen wird. Keine Klingel, vielleicht ein Nebeneingang. Sie schaut nach, aber nichts dergleichen. Also kräftig auf die Tür hämmern.

Anscheinend genervt öffnet ein Mann in mittleren Jahren die Tür, sagt, sie hätten noch geschlossen, wieso sie so einen Aufstand mache. Sie zückt ihren Ausweis, sagt sie sei Bettina Sundberg, Kripo Lübeck, und wolle einen Andy sprechen. Der sei noch nicht hier, müsse aber gleich kommen, sie möge bitte eintreten.

„Hat Andy etwas ausgefressen?“

„Nein, es geht um eine Routinefrage zu einem aktuellen Fall.“

„Was zu trinken? Sicher wegen Steffi?“

„Ein Wasser würde ich nehmen und ja, es geht um Steffi. Sie kannten sie auch?“

„Kennen ist zu viel gesagt. Ich sitze meist im Büro, der Lärm hier drinnen ist nichts für mich. Ja, Steffi und Andy verstanden sich gut, war nicht zu übersehen. So kenne ich sie, zwei, die sich gerne unterhalten haben. Mehr weiß ich von Steffi nicht.“

Der Mann schenkt ihr ein Glas Mineralwasser ein, schiebt es zu ihr hin.

„War Steffi oft hier?“

„Oft? Nein, meist Samstag oder Sonntag und seltsamerweise nie lange. Das fiel mir auf, weil sie irgendwann, wenn der Laden so richtig anfing zu brummen, verschwunden war. Fand ich seltsam. Ah, da kommt Andy. Hi Andy, Besuch für dich, die junge Dame ist von der Polizei, wegen deiner Steffi.“

Andy verharrt einen Moment auf der Treppe, betrachtet Betty. Überrascht? Nein, Andys Gesichtsausdruck verrät Besorgnis, aber keine Überraschung. Betty ist eigentlich frei von Vorurteilen, aber Andys Anblick sagt ihr, schwuler Typ, blondiertes Haar mit rötlichen Strähnen, Ohrringen, einen in der Nase, Kettchen an Arm und um den Hals, Klamotten, schrill in einer Zusammenstellung die Betty als abenteuerlich einstuft, gelbe Hosen, giftgrüner Pullover mit weißem Zackenmuster und ein braunes Jackett. Na ja, seine Sache.

Andy geht auf Betty zu, die an der Theke lehnt, reicht ihr die Hand: „Hi, ich bin Andy. Sie wollen sich mit mir über Steffi unterhalten?“

„Ja, würde ich gerne.“

„Gut, setzen wir uns,“ und weist auf die bunten Sitzgelegenheiten, in U-Form angeordnete, mit Kunststoffleder bezogene Sitzelemente, ein kleiner Beistelltisch, davor knallig bunte Kuben, gleichfalls aus Kunststoffleder. Betty lässt sich auf einem der Kuben nieder, verursacht Geräusche, die dem des Luftablassens bei Blähungen gleichkommen, zudem sackt sie Zentimeter um Zentimeter abwärts. Nein, kein Platz für Betty, also umsetzen auf die Sitzgruppe, auch da tiefes Einsacken, unbequem, aber da muss sie halt jetzt durch.

 

„Andy, ich darf doch Andy sagen?“ Zustimmendes Kopfnicken. „Ich bin Betty. Vor fast drei Wochen war Steffi hier. Von dem Abend fehlen ihr zwei Stunden, ein Blackout, ihr wurden wahrscheinlich K.-o.-Tropfen verabreicht. Kannst du dich an den Abend erinnern?“

„Ja. Sie kam, ganz ungewöhnlich für Steffi, am Montag oder Dienstag, ich weiß nicht mehr genau wann, in den Club, um mich genau das zu fragen. Sie habe einen Filmriss, den sie sich nicht erklären könne. Ich konnte ihr nicht helfen und sie auch nicht beruhigen, denn das war sie, unruhig, nervös. Der Vorfall verursachte ihre unverkennbare Angst. Als sie wieder weg war, habe ich versucht, mir den Abend aufzurufen, aber da war nichts, alles wie immer und im Geschäftstrubel entgehen mir halt viele Dinge…“

„Sie war aber dann noch einmal hier. Oder?“

„Ja, Samstag, bevor sie ermordet wurde.“

„Wie üblich, bis dreiundzwanzig Uhr?“

„Die genaue Uhrzeit kann ich dir nicht sagen. Sie verschwand irgendwann einfach. Sitzt eben noch da und ist gleich danach verschwunden. Nicht ungewöhnlich, war immer so.“

„Du mochtest Steffi? Über was habt ihr euch so unterhalten?“

„Ich mochte Steffi, ja, weißt du, sie hat mich voll akzeptiert, so wie ich bin. Irgendwie entsprachen wir beide nicht der Norm, das findet schnell zueinander. Wir konnten uns über alles Mögliche unterhalten, ihre Eltern, meine Eltern, meine Erfahrungen, ihre Erfahrungen, über Politik, Liebe, Einsamkeit, verstehst du, kein Thema war tabu, aber immer viel zu kurz, zu abgehackt. Sie kam meist gleich nach Öffnung, zusammen mit Mareike und deren Typ. So bis neun, halb zehn war ich noch nicht so beschäftigt, da kann man von Unterhaltung sprechen, danach wurde es hektisch und das Gespräch wurde stetig unterbrochen. Steffi ging dann tanzen, immer allein und verschwand dann. Doch, ich habe sie sehr gemocht.“

„Noch einmal zurück zu dem Abend. Hast du irgendjemand bemerkt, der länger und intensiver auf Steffi zugegangen ist?“

„Nein, wenn du meinst, ob ich mitbekommen habe, ob ihr jemand etwas ins Getränk geschüttet hat, muss ich dich enttäuschen. Nein, nichts dergleichen. Wäre auch nicht einfach. Steffi saß immer in der Ecke, wo die Theke endet, nur vor ihr konnte jemand sitzen, ob, das kann ich dir nicht sagen. Wenn sie tanzen ging, trank sie ihr Glas immer leer. Sie ließ nie ein teilweise gefülltes Glas zurück, das weiß ich, das war immer so. Also, von daher, ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemand gelungen sein könnte, ihr die Tropfen in das Glas zu tröpfeln.“

Ob er allein hinter der Theke sei. Nein, unter der Woche seien sie zu zweit, an den Wochenenden zu dritt. Die Kollegen bedienen die linke, er sei für rechte Seite zuständig. Seien die Kollegen auch schon länger im Club beschäftigt? Nein, ich bin dauerhaft und schon länger hier, die Kollegen sind meist Studenten, die auf Abruf kommen. Das bedeute, sie wüssten gar nicht, wann sie mit Dienst dran seien. Richtig. Wenn ihm noch etwas einfalle, dass ihr weiterhelfen könne, solle er sich bitte melden. Ob sie denn das Verbrechen aufklären würden. Warum sollten sie dies nicht. Nun, die Gerüchteküche spreche von einem Berufskiller der Steffi und ihre Eltern getötet habe und so Typen sind doch nur selten zu fassen. Ob es tatsächlich ein Killer oder sonst wer war, sei noch vollkommen offen, sie gehe aber davon aus, dass sie den Täter früher oder später dingfest machen können.

Im Hintergrund beginnt die Musik sich langsam hochzuschaukeln, dumpfe Elektronikklänge, frisch aus dem Computer gemixt, nicht Bettys Musik, also, raus aus dem Laden, in dem die ersten Gäste eintreffen.

 

Der Abend ist noch jung, jung genug, um sich doch noch ein leckeres Abendessen zu gönnen. Betty geht vor zu einer Hauptstraße, läuft die entlang, aber weit und breit kein Lokal zu sehen, schlägt den Weg zur Innenstadt ein, überquert die Trave und in der Altstraße findet sie ein Restaurant, in das sie eintritt, ablegt, sich setzt und die Bedienung erwartet. Aus der vorgelegten Karte entscheidet sie sich für ein Rindersteak, nur Gemüse als Beilage und das übliche Wasser.

Während sie auf ihr Bestellung wartet, schaut sie in ihrem Smartphone nach, ob eventuell eines der Taxiunternehmen sich gemeldet hatte. Nein, nichts dergleichen. Warum dauert das so lange? Mit dem Gefühl, leicht gestärkt zu sein, läuft sie den Rest ihres Weges quer durch die Innenstadt zur Friedrichstraße, in ihre Wohnung. Unterwegs gehen ihr die Gespräche mit Mareike und Andy durch den Kopf. Sie kann es nicht verstehen, wie jemand so auffällig war, wie Steffi, und doch so unauffällig, dass niemand ihrer Freunde an dem fraglichen Abend eine Abweichung bemerkte.

Betty steckt in einer Sackgasse. Mit dem ehemaligen Hausarzt wollte sie auch reden, fragt sich, was das bringen soll. Und auch ihr Besuch bei Frau Dönsch wird sie keinen Schritt weiterbringen, einzig, danach weiß sie, dass ihr Latein an der Stelle zu Ende ist. Sie ist festgefahren und weiß nicht, wie sie wieder flott wird. Ein Gefühl, dass sie kennt, dass genau so ist, wie nachdem der Pfleger verschwunden war. Ohnmachtsgefühle, Hoffnungslosigkeit, wieder ein Fall, der ungesühnt als ungelöster Fall eingemottet wird, sofern keine weiteren Morde geschehen. Und dazu kommt jetzt noch Muskelkater, die Oberschenkel runter bis in die Waden ziehen sich die Muskelschmerzen, die sie, je weiter sie läuft, zu spüren beginnt. Alles ist gegen sie. Hätte langsamer tun sollen, sowohl bei ihrem Training als auch ihren Ermittlungen. Warum hat sie nicht die drei Tage noch abgewartet, anstatt, trotz Krankenstand, sich in den Fall zu stürzen? Nur, hätte dies etwas an der Sache geändert? Eher nein.

Die nächsten Tage werden Abstand bringen, sie fährt weg, auch weg von dem Fall. Vera noch anrufen, ihren Besuch ankündigen? Nein, macht sie Sonntag auf der Rückfahrt. Sie legt ab, setzt sich ab, lauscht dem abgeflauten abendlichen Verkehr von draußen, der gedämpft in ihre Wohnung kommt, knipst die Stehlampe an, schnappt sich die Hundejahre, will die letzten Kapital lesen, merkt aber schnell, dass das nichts wird, zu müde, die Augen angestrengt, wollen heute Abend nicht. Gut, ein Kapitel, ist ja nicht so lang.

 

Samstagmorgen, nach dem Frühstück, geht Betty aus dem Haus, muss einige Meter laufen, um den Fleischer zu erreichen, einer der wenigen, in der Stadt, der noch seinem Handwerk nachgeht, fragt sich, wieso das so ist. Sie kann sich an Zeiten erinnern, da gab es genügend Fleischer, genauso wie Bäcker und heute sind selbständige Fleischer die Ausnahme, eine Rarität, und wenn ein weiterer schließt, folgt nur selten ein anderer nach, fast so wie bei den Ärzten, zumindest denen auf dem Land. Und Bäcker, selbständige Bäcker, gibt es nicht mehr, nur noch Ketten, beliefert aus Brotfabriken mit lieblosen Massenbackwaren.

Die Fleischerei Stöver, eine der letzten in Lübeck, ist teuer, ja, stimmt, teurer als die frisch aus den Schlachthöfen angekarrte Ware in den Supermärkten, dafür von guter Qualität und die hat bekanntlich ihren Preis. Ein Grund für das nachlassende Interesse an guter Fleischerware.

Dass es nur noch so wenig Fleischer in Land gibt, hat sicher nicht seine Begründung darin, dass die Deutschen den Hinweisen aus der Wissenschaft folgen, wonach Rindfleisch, generell rotes Fleisch, ungesund, weil krebsfördernd sei und deshalb weniger Fleisch konsumieren. Nein, bestimmt nicht, denn sobald der Regen wärmer wird, schieben die Norddeutschen ihre Grillstationen aus dem Wohnzimmer wieder hinaus auf die Terrasse, den Balkon oder in den Garten und bewerfen den Grill mit jenem roten Fleisch, das so ungesund ist, allerdings bezogen aus dem Supermarkt, nur noch selten vom Fleischer oder dem Direktvermarkter, dies weiß Betty aus Erfahrung. Gerade die Norddeutschen haben das Grillgen in sich. Bei der Vergabe dieses Gens scheint Betty zu kurz gekommen zu sein, denn Einladungen zum Grillen hat sie sich stets entwinden können. Sie mag kein verkohltes Fleisch.

Bevor sie losgeht, hat sie ihre Kochbücher auf der Suche nach einem Gericht durchgeblättert, dass sie heute Abend zubereiten wird. Sie entscheidet sich für Schweinegulasch mit roten Paprikaschoten, Champignons und als Beilage Kartoffelklöße. Sie selbst wird den Gulasch ohne Klos, na ja, vielleicht einen Klos essen. Gut, so wird sie es machen. Als Ausgleich einen Kopfsalat dazu.

Dumm nur, was ihr nun einfällt, dass sie keinen Topf hat, indem sie die Klöße zubereiten könnte. In die Haushaltswarenabteilung von Karstadt pilgern? Uff, eigentlich hatte sie keine Lust darauf. Kurze Überlegung, umdisponieren, kalte Vorspeisen, nein, kalt-warme Vorspeisen, gebratene Zucchini, Paprika und Auberginen, dazu griechische Beilagen, dicke Bohnen in Tomatensauce, gefüllte Weinblätter, Peperoni, Oliven, Ziegenkäse, Skordaliacreme, Taramocreme, Tzatziki, Schäfskäsecreme, scharf mit Peperoni, Auberginencreme, Hirtensalat, Pita und was sie sonst noch so vorfinden wird, in dem Laden von Enver, der in der Beziehung einiges zu bieten hat, zwar Türke, aber alles Griechische im Angebot hat, was Betty sich vorstellt. Eigentlich viel zu viel, aber egal, dann hat sie die nächsten Tage zu Essen.

Der Laden des Fleischers ist bereits gut gefüllt. Es dauert eine Zeit, bis Betty an die Reihe kommt. Frau Stöver selbst bedient sie. Grobe Bratwürste, vier Rindersteaks, vier Schweineschnitzel, ein Kilo Schweinegulasch und ein Kilo Hackfleisch vom Schwein, gekochten Schinken, etwas Salami, auch wenn die fett ist und roher Schinken, Parma-Schinken, gut, das war es. Betty zahlt, bringt den Einkauf nach Hause, um anschließend in Envers-Einkaufsmarkt um die Ecke zu gehen, die Vorspeisen, Obst, Gemüse und sonstiges einzukaufen.

Ihr Smartphone summt in der Umhängetasche, holt es hervor, schaut darauf, unbekannte Nummer, wahrscheinlich eines der Taxiunternehmen. Ja, City Taxi, eine Frau Radschick oder so ähnlich teilt Betty mit, von Ihren Fahrern habe keiner in der fraglichen Zeit die Roeckstraße angefahren. Betty bedankt sich, bleiben noch neun Möglichkeiten, die nach und nach schrumpfen, denn bis zum Abend rufen weitere Taxiunternehmen an, jeweils mit negativer Aussage, sodass, als am Abend ihre Gäste kommen, nur noch drei Möglichkeiten bleiben.

 

Zwei schwere Einkaufstaschen links und rechts tragend, verlässt sie Envers Laden, der ihr angeboten hat, ihr die Lebensmittel nach Hause bringen zu lassen, aber Betty dankt, sie bekomme das schon hin. Stimmt, aber sie hätte es einfacher haben können, ist nicht weit, trotzdem spürt sie das Gewicht in ihren Armen und die Muskelschmerzen in ihren Beinen. Zurück in der Wohnung, räumt sie aus und ein, muss noch einmal los, Getränke kaufen. Sie hat nichts im Haus, dass sie ihren Gästen anbieten könnte, außer dem Wasser aus dem Wasserhahn, geht natürlich nicht. Sie ruht erst einen Moment aus, brüht sich einen Kaffee, trinkt ihn genüsslich, nimmt einen Anruf entgegen, HL-Taxi, sie könnten ihr leider nicht helfen. Da waren es nur noch zwei, genau, wie bei den zehn kleinen Negerlein. Hm, darf man das heute noch so singen? Dumm nur, dass sich die Verse ohne die Negerlein nicht reimen. Die hatten früher keine Ahnung, was politische Korrektheit ist, war irgendwie einfacher. So viele kulturelle Minen Ja, es hat sich einiges gewandelt in den letzten Jahren, so verbeigerauscht an ihr, plötzlich damit konfrontiert, ist sie überrascht. Egal.

Enver hat nur Softgetränke, also muss sie in den kleinen Nahkauf gehen, Wein, Bier und Cola holen. Nochmals schleppen, nimmt die beiden Einkaufstaschen wieder auf und zieht los. Verhangen der Himmel, aber trocken, ist doch was. Nur der Wind, der kalte Ost-Wind, der müsste nicht sein, unangenehm, der Wind. Langsam schält sich ihr der Gedanke durch, dass der Täter selbst es war, der Steffi vor deren Hoftür abgesetzt hatte, also so richtig abgesetzt. Was die Frage anschließt, was hat er mit dem Mädchen die zwei Stunden angestellt? Entblößte Fotos aufgenommen? Hm, könnte sein, setzte den Vater mit den bloßstellenden Fotos unter Druck. Aber drei Millionen Euro, die er zudem ausschlägt? Nein, und welchen Sinn sollte der Mord in diesem Zusammenhang haben. Zwei Stunden, die können kurz oder endlos sein, Steffi hat weder das eine noch das andere erlebt. Betty kann sich keinen Reim darauf machen, was der Täter mit Steffi beabsichtigte, oder war es vielleicht sogar ein vollkommen anderer Vorfall, der nichts mit dem Mord zu tun hatte?

So gedanklich unterwegs, wäre Betty beinahe an dem Einkaufsmarkt vorbeigelaufen. Sie beißt sich sanft auf die Unterlippe, zu viele Gedanken, zu viele Gedanken, die ins Leere laufen. Im Laden sucht sie zwei Flaschen Weißwein, zwei Flaschen Rotwein aus, sechs Flaschen Bier müssen reichen, Cola und Ginger Ale. Schnaps? Ein Ouzo? Na ja, griechische Vorspeisen, da gehört ein Ouzo dazu, zahlt und trägt die beiden Taschen nach Hause. Zu Mittag bereitet sie sich eine Kohlrabipfanne zu, ein Zucchino, eine Zwiebel, eine Kartoffel, alles kleingeschnitten, mit Salz und Pfeffer gewürzt. Gemüsebrühe und ein wenig fettarme Sahne darüber, fertig. Danach Geschirr spülen, die Wohnung aufräumen, durchsaugen und dann ist alles so weit erledigt.

Sie hat sich Musik aufgelegt, setzt sich in ihren Sessel und lauscht, was die Philharmoniker aus ihren Instrumenten holen, die Berliner, unter der Leitung von Claudio Abbado, steht auf der CD-Hülle, wer der Typ ist, Betty hat keine Ahnung, aber von Gustav Mahler, dessen Symphonie Nr. 1 sie darboten, hat sie schon gehört. Wie sie zu der CD gekommen ist, ist ihr entfallen, egal, schöne Klänge, die sie sich erinnern lassen, wie sie barfüßig den Sandstrand der Ostsee entlanggewandert ist, fühlt förmlich wie der Sand zwischen ihren Fußzehen rieselt, wie sie leicht einsackt an den Stellen, wo das Wasser den Sand befeuchtet hat. Doch, die Erinnerung daran ist noch da. Sie hat noch etwas Zeit, könnte Vera anrufen, bevor sie das am Sonntag vergisst, was sie tut.

 

Vera meldet sich nach kurzer Wartezeit, hocherfreut, von Betty zu hören. Wie geht’s, wie stehts, das übliche Abfragen. Holger sei da, wären gerade aus dem Garten zurück. Hört Betty nicht so gerne, hatte gehofft, Vera allein anzutreffen, doch, wie Vera mitteilt, Holger müsse Sonntag wieder zurück. Schade, könne sie ihn nicht antreffen, denn sie habe vor, nächste Woche auf einen kurzen Besuch vorbeizuschauen. Wie das? Beruflich habe sie in Leipzig zu tun und auf der Rückfahrt wolle sie Montagabend in Wismar ankommen und könne bis Mittwochabend bleiben.

Beruflich? Was sie beruflich nach Leipzig führe, will Vera wissen. Sie müsse eine Befragung durchführen, aber zu lange, die Geschichte, um sie am Telefon zu erzählen, dazu hätten sie genügend Zeit, wenn sie da sei. Sie habe die Verbindungen noch nicht herausgesucht, sobald sie dies getan hätte, würde sie ihr die Reisedaten zumailen.

„Und sonst, alles klar bei dir?“

„Ja, der Fall zäh und festgefahren, ziemlich ernüchternd, aber vielleicht gelingt uns doch noch ein Durchbruch. Die Hoffnung…“

„Ich freue mich auf dich. Dann sehen wir uns Montag.“

„Ja. Und grüße Holger von mir.“

Nachdem sie Vera weggedrückt hat, begibt sie sich an ihren Kühlschrank, entnimmt was sie für ihre Vorspeisenplatte benötigt, und beginnt die Vorbereitungen für das Abendessen. Auberginen, Zucchini, Paprika, Chilischoten, Peperoni, schneidet alles in Streifen, gibt sie zunächst in einen Teller, anbraten dann später. Frage, wie die Creme anrichten? Ihr fehlen ausreichend Schälchen oder kleine Teller. Bleibt nur, zu nehmen, was sie hat, das ist nicht viel, wird reichen, ist reichlich bunt. Für den Hirtensalat nimmt sie eine leicht übergroße Schüssel. Chaos, denkt Betty, als sie die auf dem Küchentisch stehenden Tellerchen und Schälchen besieht, nun, es kommt ja darauf an, was drinnen oder darauf ist. Die Uhr zeigt an, dass sie noch gut eine Stunde Zeit hat. Was tun?

Kurzer Entschluss, sie wird die beiden ausstehenden Taxiunternehmen anrufen, damit auch dies nicht auf, sondern vom Tisch ist. Die Dame, die den Hörer beim ersten Unternehmen abnimmt, gibt sich ahnungslos, Betty wiederholt ihr Anliegen, oh, da müsse sie Montag wieder anrufen, war sicher Leoni, aber die sei erst Montag wieder da. Nächstes Unternehmen, besser im Bilde, aber die Befragung der Fahrer sei noch nicht durch, Urlaub, Krankheit und die Aushilfen verzögern die Befragung, aber sie sei dran, es sei nicht vergessen, bisher allerdings erfolglos.

Hm, die Annahme, dass der Täter Steffi selbst vor dem Haus abgesetzt hat, wird immer realistischer, zumal es ja auch konsequent gewesen wäre, so bekam niemand Steffis Zustand mit. Was aber hat er mit ihr angestellt? Vielleicht eine Injektion? Wieso und wovor hatte Steffi Angst? Hatte sie eine Veränderung an ihrem Körper bemerkt? Im Bericht der Gerichtsmedizin stand nichts von einem Einstich oder ähnlichem am Körper von Steffi. Der Bericht war vorläufig. Sie schnappt sich ihren Laptop, logt sich in den Dienstordner ein, ruft den Bericht der Gerichtsmedizin auf und beginnt ihn zu lesen.

 

Erst das Läuten ihrer Klingel reißt sie von dem Bericht los, den sie zweimal gelesen, aber nicht das gefunden, was sie gesucht hat. Lusi kommt mit Peter, jeweils mit einer Flasche Wein unter dem Arm. Die beiden machen einen abgeschlafften Eindruck, sie waren den ganzen Tag im Büro oder unterwegs, und der Bericht darüber füllt die ersten Minuten des Abends aus. Lusi hatte tatsächlich Bettys Tipp umgesetzt und einen Autotyp generiert, der als Tatfahrzeug in Frage kommt, einen schwarzen SUV der Marke BMW. Das Foto ihren Zeugen vorhaltend, stimmten etliche der Zeugen zu, die zuvor gar von einem roten Golf oder blauem Audi gesprochen hatten, was Lusi fast verzweifeln ließ. Nach dem SUV hatten sie über die Region hinaus eine Suchaktion eingeleitet, alle Werkstätten, auch die einschlägig bekannten, und die BMW-Niederlassungen informiert, teilweise aufgesucht, Streifen hingeschickt. Nun hieß es, geduldig abwarten. Kommt Betty bekannt vor.

Als sie Griebel über den Ermittlungsstand informiert habe, meinte dieser, sie sollten sich die Besitzer von Döner-Läden, Spielhallen und so weiter vornehmen. Diese neu- und gernreichen Kanaken würden solche SUV’s fahren. Deren Selbstbewusstsein würde einen empfindlichen Klacks bekommen, wenn ihr Prachtstück verletzt sei.

„Der hat wirklich Kanaken gesagt?“ Betty kann es nicht glauben.

„Hat er!“

Nicht zu fassen, denkt Betty, der Typ hat anscheinend nichts dazu gelernt oder ist sich seiner selbst sehr sicher.

„Ich sags ja, ein Arschloch,“ schnaubt Peter vor sich hin.

„Hm, ich bin gespannt, wie er Montag reagiert, wenn unser neuer Mitarbeiter, Kriminalkommissar David Omur, vor ihm steht. Der ist ziemlich dunkelhäutig.“

„Du hast ihn schon kennengelernt?“

Nein, hat Lusi nicht, aber die Personalie gegoogelt und auf dem Foto mit den Absolventen der Polizeischule war Omur aufgelistet, vordere Reihe, dritter von rechts. Hm, der Arme, meint Betty. Den Kriminalkommissar könne das Arschloch nicht in den Streifendienst abschieben, sie sollten auf den neuen Kollegen achten. Peter schaut teilnahmslos, Lusi nickt, meint, wird schwierig, Chef ist Chef. Ob sie wisse, wer der zweite neue Kollege sei, fragt Betty. Ja, der komme aus Celle und scheine mit Griebel gut bekannt zu sein, ein Hauptkommissar und wie sie es sehe, ein zweiter Dietmann. Läuft auf schöne Zeiten hinaus, mit denen Betty ja nichts mehr zu tun habe. Na ja, sie sei schon noch ein paar Wochen da, allerdings habe sie nicht vor, diese zu durchleiden, sie werde das Beste aus der Zeit machen und dazu gehöre es auch, dem Chef zu widersprechen und ihn darauf hinzuweisen, welche Funktion er in der Abteilung hat.

„Trotzdem, du kannst den Mund aufreißen, bist weg. Wir aber bleiben und müssen mit dem Typ klarkommen. Da ist ein kleiner entscheidender Unterschied.“

Da hat Lusi natürlich recht. Betty ist in einer privilegierten Rolle und Lusi offensichtlich deswegen angefressen. Ist so. Nicht zu ändern.

Betty hat im ersten Trubel vergessen, die Auberginen, Zucchini und Paprika anzubraten, was sie nun, sich weiter unterhaltend, nachholt.

Nochmaliges Klingeln, Mentel, mit, was auch sonst, zwei Flaschen Wein in den Händen, weiß und rot, nun, damit war Wein genug im Haus. Kurzes Halli und Hallo, die ersten Flaschen werden geöffnet, zugeprostet und ein netter Abend kann beginnen.

Betty hat die warmen, gebratenen Vorspeisen auf zwei großen Tellern angerichtet, die Schälchen und Tellerchen, das Weißbrot, Fladenbrot und die Pita in ein Körbchen gelegt, den Bohnensalat und Thunfischsalat von Enver auf dem Tisch platziert, zwei Kerzen auf dem Tisch hingestellt, die nun leuchten, dazu den Rot- und Weißwein, soll sich jeder nehmen, was er möchte. Alle langen zu.

 

Mentel muss Auskunft geben, was in der Stadt so los war, die letzten Tage. Es war tatsächlich einiges los, vor allem die Schüler, die den Freitag nutzten, ihre klimapolitischen Forderungen öffentlich durch die Straßen zu tragen, den Verkehr in der Innenstadt stundenweise zum Erliegen brachten und heute seien Beschäftigte des öffentlichen Dienstes durch die Straßen gezogen, fordern mehr Lohn, woraus sich ein intensives Gespräch unter den vier entwickelte. Ausgangspunkt war die Feststellung von Dirk, das vom Protest betroffene, feststeckende oder umgeleitete Verkehrsteilnehmer stinkesauer auf die Schüler waren, weniger auf die protestierenden Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, für die sie sogar Verständnis zeigten. Diese Diskrepanz versteht Dirk nicht, letztlich sei doch die Bedrohung, die der Klimawandel mit sich bringe, viel elementarer als ein paar Prozent mehr Geld auf dem Konto.

„Das sagst du. Aber ich schaue am Ende des Monats auf mein Konto und hoffe, das keine ungebetene Rechnung, irgendwelche Nachforderungen oder die Erhöhung von irgendwas in meinem Briefkasten liegt. Nein, Dirk, ich lebe von der Hand in den Mund und freue mich über jedes Prozent mehr an Lohn, von dem wir eh zu wenig haben. Das ist mir wichtiger als das Klima, von dem ich nicht sehe, dass es mein Leben tangiert. Im Gegenteil, das es im Sommer im Norden wärmer wird, finde ich nicht schlecht und was in dreißig oder vierzig Jahren ist, interessiert mich heute einen feuchten Dreck.“

„Da denkst du zu kurzsichtig Lusi. Das Thema ist global. Inseln versinken. Länder veröden, werden zu Wüsten. Stürme, Brände, Überschwemmungen werden sich häufen und an Intensität zunehmen. Menschen verlassen ihr Land, strömen dahin, wo noch Leben möglich ist. Und was dies bedeutet, wage ich mir gar nicht vorzustellen. Denn allzu viele dieser Orte wird es nicht mehr geben.“

„Ich lebe hier und jetzt und würde gerne besser leben als die letzten Jahre. Verstehst du? Mein Leben jetzt ist mir wichtiger als das Klima in ein paar Jahren. Und überhaupt, Demos bringen nur Ärger, aber keine Veränderungen.“

„Stimmt so nicht,“ schaltet sich Betty ein, „Vor einigen Jahren gingen Menschen montags auf die Straßen, drüben im Osten, um für mehr Freiheit zu demonstrieren. Und sie haben damit ein System zum Einsturz gebracht. Ergo, Demos bringen etwas.“

„Was haben sie denen schon gebracht? Die D-Mark, Reisefreiheit und sonst noch ein paar Kleinigkeiten, vor allem aber Ärger über das, wie die Übernahme passierte und das Versprechen bis heute nicht eingehalten wurden. Und überhaupt war der ganze Staat marode, finanziell am Ende, der wäre auch ohne die Demos eingestürzt.“

 

Hm, denkt Betty, nicht gut drauf, unsere Lusi, ist streitlustig. Periodenfrust? Oder ist das tatsächlich ihre Meinung? Dann ist sie gedanklich nicht weit von Griebel entfernt. Eigentlich wollte Betty von ihrem geerbten Haus berichten, aber, wie es scheint, kein günstiger Augenblick dafür und was Missgunst an Auswüchsen generieren kann, weiß Betty zu gut, also wird sie es sich aufsparen, irgendwann erzählen, verbunden mit der Einladung, sie in Hamburg zu besuchen.

„Kinders,“ schaltet sich Betty ein, „beides ist wichtig, für eine radikale Klimawende einzutreten und den Verdienst zu erhalten, den wir verdienen, was, da muss ich Lusi recht geben, leider nicht der Fall ist. Da fällt mir ein, habe ich dir gesagt, dass du nicht weiter nach Frau Dönsch forschen musst?“

„Nein, hast du nicht. Hat unser Oberstaatsanwalt nicht gesagt, wir sollten die Finger von dem Herrn lassen? Daran halte ich mich, also hätte ich, auch wenn du mir dies gesagt hättest, nicht weiter gesucht.“

„Dann ist es ja gut.“

Lusi schaut auf Betty, fragender Blick, ahnt das Bettys Frage nicht grundlos gestellt war.

„Wieso fragts du mich das? Hast du sie gefunden?“

„Ja, allerdings nicht Frau Dönsch, sondern Frau Kittel, so heißt die Frau Dönsch jetzt. Sie lebt in Leipzig, wo ich am Montag hinfahren werde, um mit ihr zu reden.“

„Du bist total bekloppt. Was soll das bringen? Der Chef und Travens sagen, es handele sich um einen Auftragsmord desjenigen, dem das Auffliegen von diesem Toten geschadet hat. Alles andere zu verfolgen ist Zeitverschwendung. Was erwartest du von der Frau zu hören? Und dass du Ärger provozierst, ist dir wohl klar. Anscheinend ist dir dies aber egal, da du eh bald von hier verschwunden bist.“

Peter, bisher schweigend das Gespräch verfolgt, schilt Lusi, dass sie ungerecht sei, Betty habe sicher ihre Gründe, mit der Frau zu reden und ja, sie habe nicht mehr viel zu befürchten, also warum sollte sie Rücksicht nehmen?

Nehme sie schon, sie habe drei Tage Urlaub genommen und fahre ganz privat nach Leipzig.

Überraschter Blick von Lusi, sagt nichts, grübelt aber, weiß der Teufel, was sie hat. Mentel fragt, ob es wirklich so um den Fall stehe, wie Lusi sagt. Ja, meint Betty, es ist die einzig realistische Spur, die sich dummerweise im Nirwana auflöst, was Betty ohne Überzeugung sagt, da sie ja einen anderen Hintergrund vermutet.

Um abzulenken, erzählt Betty von ihrer REHA, vom Besuch Hembachs, von Ede, wie sie der erstaunten Tischrunde mitteilt. Wahrscheinlich weile er derzeit in Kiew bei Mytro. Meinst du, fragt Peter skeptisch. Wir können ihn ja fragen. Betty holt ihr Smartphone, verfolgt von sechs Augen, die ein wenig zu leuchten beginnen.

Hembach ist auch gleich am Telefon, ist überrascht und hocherfreut, Bettys Stimme in seiner idyllischen Einsamkeit zu hören, hoffe aber, dass nichts Besonderes passiert sei, was den Anruf rechtfertige. Nein, nein, nichts passiert, sie würden nur zusammensitzen, Lusi, Dirk und Peter und über alte Zeiten reden und da gehöre er nun einmal dazu. Oh, na, dann wollen wir mal sehen, sagt Hembach, aktiviert die Videofunktion und ein vollbärtiger, kaum wiederzuerkennender Hembach wird sichtbar. Betty aktiviert ebenfalls die Videofunktion. Es entsteht eine Unruhe, da die vier sich nun so platzieren, dass sie dicht beieinandersitzen und sie Hembach ihnen zuwinkend sehen können.

 

Er sitze noch auf Usedom, werde auch noch ein paar Tage bleiben, bevor er nach Danzig aufbrechen werde. Mit Mytro habe er telefoniert, werde ihn nicht besuchen, denn der sei überraschend nach Odessa versetzt worden und Odessa sei ihm eindeutig zu weitab von seiner Route, obwohl durchaus reizvoll, also lasse er es sein. Natürlich habe er ihm die Frage aller Fragen nicht gestellt. Fragende Blicke bei Lusi und Peter. Hembach wechselt sogleich das Thema, seinen Fehler schnell bemerkt und erklärt, dass er sich bemühe, ein Visum für Kaliningrad zu erhalten. Die Stadt wolle er aufsuchen, bevor er weiter nach Litauen fahren wird. Er habe es zwar nicht so mit den Russen, aber dafür könne die Stadt ja nichts, und die wolle er sich unbedingt ansehen. Wie stehe es um den Fall ihrer kopflosen Leiche, will Hembach wissen.

Die vier schauen sich kurz an, Betty denkt, weit ab vom Schuss, dennoch auf dem Laufenden. Nein, so richtig Abschied vom Polizeidienst, scheint der alte Chef noch nicht genommen zu haben. Betty fühlt sich nicht berufen, ihm den Stand der Ermittlungen zu erläutern, animiert Peter zu antworten, was dieser tut und die derzeitige Sicht auf den Fall schildert. Was sucht ihr euch auch immer solch komplizierten Fälle aus, kommentiert Hembach, sie sollten den Fall zu den Akten legen und wieder Lübecker Kleinkram bearbeiten, denn den Arm nach Russland zu strecken, sei vergebene Mühe. Schön wäre es. Kein Zweifel, sie habe sich schnell wieder in die Niederungen des Verbrechens eingefunden, Hembach fragt nach Bettys Wohlbefinden, was sie ihm darlegt. Mentel spricht über seine Versetzung, Lusi über die tote Radfahrerin und Peter meint, jetzt wisse er alles, also brauche er nicht mehr reden. Kurzes Geplänkel noch, dann wünschen sie dem ehemaligen Chef eine gute Weiterreise und viele tolle Eindrücke und Erlebnisse.

Kaum aufgelegt, fragt Lusi Betty, was es mit der Frage aller Fragen auf sich habe. Tja, das frage sich Betty auch, womit das Thema abgehakt ist, aber für Lusi, die misstrauisch Betty betrachtet, noch nicht. Den Rest des Abends reden sie über das Früher, über Hembach, nicht alle Anekdoten kennt Betty, die die Sache mit Dietmann wiedergibt. Lusi mittlerweile etwas besser gelaunt, macht der Wein, auf den gut zugegriffen wird. Irgendwann nach Mitternacht löst sich das Treffen auf, die Schälchen, Tellerchen und zu großen Schüsseln gut geleert, bleiben nicht viele Reste, hat Betty anders erwartet.

An der Tür kann sich Betty nicht verkneifen, Lusi zu fragen, ob sie ein Problem habe, was diese erstaunt mit einem wieso beantwortet, dem ein klares Nein folgt, allerdings in einem patzigen Ton formuliert und Betty nun erst recht überzeugt ist, das Lusi ein Problem privater Natur oder gar mit ihr hat, was allerdings jetzt nicht zu klären ist.

Sie schaut den Davonziehenden nach, erschreckt, dass Peter die Tür zu seinem Wagen öffnet und Lusi und Dirk zusteigen. Keine gute Idee. Zurück in der Küche, sieht Betty die Arbeit stehen, für die sie aber nun zu müde ist. Macht sie morgen, müsste dafür früh aufstehen, denn spätestens um zehn Uhr will sie nach Hamburg fahren. Wecker stellen. Wecker am Sonntag.

 

Nach kurzer Nacht fällt ihr das Aufstehen schwer, müht sich aus dem Bett, geht ins Badezimmer, stellt sich auf die Waage, sieht ernüchternd auf die Anzeige, ihr Gewicht kaum verändert, Stagnation und dies wird die nächsten Tage so bleiben. Bis Donnerstag kein Fitness-Training, unregelmäßiges Essen, die Gefahr, etwas Falsches zu essen, groß und damit auch die Zunahme an Gewicht. Gut, sagt sie sich, aber Donnerstag wird alles anders.

Um frühstücken zu können, muss sie erst den Tisch leerräumen, alles in die Spüle, Spülmaschine hat sie keine. Wozu? Schneidet sich Kochschinken klein, lässt in kurz anbraten, ebenso die Cocktailtomaten, schlägt zwei Eier mit der Gabel rührig, gibt sei dem Schinken zu, toastet zwei Scheiben Vollkorn-Toastbrot, verbotenes Brot, aber das andere ist noch tiefgefroren, fertig das Frühstück.

Aufräumen, Geschirr spülen, anschließend im Rechner die Fahrkarte nach Hamburg kaufen, hin und zurück am gleichen Tag. Das Ganze auf das Smartphone laden, fertig. Den Laptop wird sie mitnehmen, im Zug, das eine oder andere erledigen. Um zehn Uhr dreißig fährt der Zug ab, wenig besetzt, so dass Betty in Ruhe ihre Zugverbindungen für morgen erkunden kann. Regionalzug nach Hamburg, ICE nach Berlin, ICE von Berlin nach Leipzig, insgesamt fast fünf Stunden unterwegs, was heißt, früh loszufahren. Nach Wismar wieder mit dem ICE nach Berlin und von Berlin mit dem Regionalzug nach Wismar, Dauer fünfeinhalb Stunden. Sie schaut nach den Verbindungen, in Lübeck um 07:25 Uhr nach Hamburg, die Anschlüsse knapp, aber machbar. In Leipzig müsste sie um 17:16 Uhr abfahren und um 22:37 Uhr in Wismar ankommen. Von Wismar zurück nach Lübeck ist die Strecke, die sie auch gefahren ist, als sie von Ahrenshoop zurückfuhr, knapp eineinhalb Stunden Fahrzeit. Sie bestellt die Fahrkarten, zahlt und speichert sie auf ihrem Smartphone ab, danach kurze WhatsApp an Vera mit ihrer Ankunftszeit und die Entschuldigung für die späte Ankunft. Kein Problem, kommt zurück, sie freue sich.

Die restliche Zeit googelt Betty, um sich über Fenster zu informieren, Doppelglasfenster, auch dies ein teures Vergnügen. Nach dem Dach und dem Tapezieren und Streichen der Wände im Haus, wird der Austausch der Fenster das nächste und vorerst letzte Renovierungsprojekt sein. Küche, Möbel, Heizung hat Zeit, später. Kurze Blicke aus dem Fenster, nur leicht bewölkt, trocken, gut so.

Vom Bahnhof nimmt sie den üblichen Bus, fährt bis zum Hohenzollernring, geht die Straße hinunter bis zur Seniorenresidenz, überlegt, kurz im Haus vorbeizuschauen, verschiebt es auf später, wird sie machen, bevor sie zu Professor Giede aufbrechen wird. Am Empfang der Residenz vorbei geht sie zum Aufzug, sagt sich nein, und nutzt die Treppe, um hoch zu dem Zimmer ihrer Großmutter zu gelangen. Einige Stufen muss sie nehmen, aber gutes Training. Oben angekommen muss sie durchschnaufen, hat Schweiß unter den Achseln, sogar auf der Stirn. Egal.

Sie klopft an, hört das komm herein und betritt das Zimmer der Großmutter, das sich unübersehbar gefüllt hat, wirkt chaotisch zugestellt. Viel Platz, um sich zwischen den Möbeln zu bewegen ist nicht mehr da. Die Wände behängt, jedes freie Plätzchen auf und in den Schränken vollgestellt mit dem Schnickschnack der Jahrzehnte und mittendrin ihre Großmutter, sie lächelnd anblickend, am Tisch sitzend vor sich drei aufgeschlagene Ordner. Katharina winkt ihre Enkeltochter zu sich, fordert sie auf, sich zu ihr zu setzen, sie habe die Ordner vom Haus gefunden. Die Baupläne, Kaufvertrag, alle Rechnungen, die die Instandhaltung des Hauses bisher erzeugt haben, die gesamte Geschichte des Hauses in Papierform.

„Komm setzt dich. Schau dir das an.“

 

Oma strahlt, schwelgt in Erinnerungen. Wieso sie diese Ordner durchsehe, will Betty wissen. Das wisse sie nicht, sie habe gar nicht gewusst, dass sie sie eingepackt habe, na ja, und jetzt durchblättere sie halt ihre Vergangenheit, sie habe die Zeit dazu.

„Weißt du, jede Reparatur, über die ich lese, ruft mir Leopold ins Gedächtnis. Er stand hinter jedem Handwerker und hat genau verfolgt, was dieser wie getan hat, nicht um später selbst Hand anzulegen, sondern damit dieser keine Minute Zeit vergeudet. Er war es gewohnt, seine Leute zu kontrollieren und das machte er genauso bei den Handwerkern. War ziemlich nervend, aber das war halt dein Großvater. Jede Rechnung ist eine Erinnerung. Ich weiß Kindchen, das verstehst du nicht. Wir alten Leute sind sehr sentimental. Und Sentimentalität ist etwas Schönes, sehr schönes,“ plaudert Katharina mit einer verträumten Miene und einem süffisanten Lächeln.

„Nein, ich habe mir Gedanken gemacht über deine Renovierungsabsichten. Du hast recht, es wurde lange nichts gemacht, also nicht die großen Renovierungen, die notwendig gewesen wären. Die hast du nun vor der Brust. Mach alles, was du für Notwendig erachtest, ich finanziere dir das. Es ist ja eh dein Geld, dass du halt früher erhältst und später weniger bekommst.“

Betty geht zu ihrer Großmutter, umarmt sie, drückt sie fest an sich, dankt ihr, gibt ihr ein Küsschen auf die runzlige Stirn.

„So und jetzt gehen wir lecker essen. Ilse geht auch mit. Die wird dich löchern, des Verbrechens wegen. Da ich nicht auskunftsfähig bin, wird sie das Original anzapfen, also sei gefasst auf die neugierige Ilse.“

Großmutter schlüpft in einen eleganten Wollmantel, modisches Design, mit Fächermuster in grauen und schwarzen Farbtönen. Sie verlassen das Zimmer, holen Ilse ab, die kaum angeklopft, fix und fertig in Schale geworfen, vor die Tür tritt, Betty begrüßt und mit „dann mal los“, den Aufbruch diktiert. Draußen verharren sie kurz, eines dieser Mamut-Containerschiffe schleicht auf der Elbe in den Hafen ein, nicht alltäglich, zumindest für Betty nicht, dieser Anblick. Anlass, über die Veränderungen in Hamburg, in der Welt zu reden, die Bauten, die in Hamburg in die Breite schießen, viel Grün rauben, über die Chinesen, die sich immer weiter in der Welt ausbreiten und Deutschland mit Billigware zuschütten. Ja, die beiden alten Damen sind voll informiert, auf dem Laufenden, weil ihnen keine Nachrichtensendung entgeht.

Das Il Gambero gut besucht, wohlweislich hat Bettys Großmutter einen Tisch reserviert. Kaum sitzen sie, da kommt auch schon die Frage von Ilse, wo sie denn mit ihrer Ermittlung stehe.

“Es sind nicht meine, es sind unsere Ermittlungen und die treten auf der Stelle. Alle Spuren haben sich im Nichts aufgelöst, bis auf eine, und zwar die, die von Anfang an im Raum stand…“

„…Die mit den Russen?“

„Ja. Und mit dieser Spur kommen wir nicht weiter. Also wird der Fall in den nächsten Tagen an Priorität verlieren, unter Fernerliefen gestuft und schließlich zu den Akten gelegt.“

„Und dieser Mörder geht straffrei aus. Und er kann weiter morden. Stimmst?“

„So ist es.“

„Ärgert dich das nicht? Ich meine, ist das Gerechtigkeit?“

„Ach Ilse, auf Gerechtigkeit kann man hoffen, aber nicht an sie glauben.“

„So und jetzt widmen wir uns dem eigentlichen Thema, sofern uns die Bedienung die Ehre erweist, uns eine Speisekarte vorzulegen.“ Katharina sagt dies laut und deutlich, damit die vorbeihuschende Bedienung ihre Bemerkung hört. Doch die scheint schwerhörig, ignoriert den Tisch. Böser Blick von Katharina, der die Ungeduld anzusehen ist. Betty entschuldigt die Bedienung, die anscheinend allein für die Gäste zuständig ist und damit einiges zu tun habe. Der verdiene sich doch hier dumm und dämlich, da sei es das Mindeste, eine zweite oder dritte Bedienung einzustellen.

 

Schließlich, und es war tatsächlich eine geraume Zeit vergangen, knallt die Bedienung drei Speisekarten auf den Tisch, zieht davon, ohne ihren Getränkewunsch abzufragen. Der Zorn lässt Falten auf Katharinas Stirn ziehen. Sie steht urplötzlich auf, raunt ein, wir gehen, den beiden zu. Wechselnde überraschte Blicke, erst Ilse, dann auch Betty stehen auf, holen an der Garderobe ihre Jacken und Mäntel ab, gehen auf den Ausgang zu. Katharina dreht sich zum Tresen, sieht aber nicht den Chef, ruft dennoch laut und deutlich, dass dies das letzte Mal gewesen sei, wo sie dieses Lokal frequentiert habe, irritiert aufblickende Gäste, keine Reaktion der Bedienung oder hinter dem leeren Tresen. Wütend stürmt sie aus dem Restaurant hinaus, im Schlepptau Ilse und Betty, die diese Seite ihrer Großmutter nicht kannte. Der Scherrer sei ja auch viel besser. Nur, der hat wieder nur ein Gericht zu Mittag, heute: Rinderroulade mit Rotkohl und Kartoffelklößen. Gut, denkt Betty, aber ohne Klöße.

Anders als beim Il Gambero, werden sie freudig von Katty begrüßt, die Katharina und Ilse umarmt, ihnen einen Tisch zuweist und unterrichtet, was heute auf den Tisch kommt, sie aber längst wissen, da Ilse im Vorbeigehen das Hinweisschild gelesen hat, aber egal, Katty gibt sich Mühe, die Roulade richtig rüberzubringen, also sprachlich.

Wieso es eigentlich hier immer nur ein Gericht gebe, will Betty von Katharina wissen. Nun, dem Chef sei der Koch abhandengekommen, jetzt stehe er selbst und allein in der Küche, bis Ersatz gefunden ist und das scheint nicht einfach zu sein. Seine Frau stehe hinter dem Tresen und Katty bediene, da sei kein Spielraum für eine ausführliche Speisekarte.

Katharina hat die frische Luft und der kurze Fußweg nicht beruhigen können, Bettys Argumente für die überlastete Bedienung von vorhin prallen an ihrer Großmutter ab, gewohnt, dass ihr Respekt entgegengebracht wird.

Betty hatte sich auf frischen Fisch beim Italiener eingestellt, die Roulade nicht so ihr Ding. Nach dem Essen noch den Kaffee, dann zurück in den Turm, ihre Großmutter wieder zurück auf der Erde. Ilse verabschiedet sich zur Mittagsruhe. Im Zimmer reicht Bettys Großmutter ihr einen Zettel, auf dem die Daten verschiedener Behörden, Versicherungen, der Telekom und andere Adressen stehen. Diese müsse sie anschreiben und alles auf ihren Namen ummelden, was keine Eile habe, aber gemacht werden müsse. Hatte Betty nicht auf ihrem Radar, aber klar, muss sie unbedingt machen. Sie dankt ihrer Großmutter, die offenbart, dass sie diese Anschriften alle aus den Ordnern habe, nur deshalb auch daran gedacht habe, diese zusammenzuschreiben.

Sie reden noch kurz über Bettys kurzfristige Pläne, das Gespräch mit Professor Giede, die Fahrt nach Leipzig und zu Vera. An den Wochenenden wolle sie nach Hamburg kommen, vorbereiten, was vorzubereiten ist und das weitere Vorgehen planen. Bevor sie dann weiter zu Professor Giede fährt, sucht sie das Haus im Philosophenweg auf, wundert sich, dass trotz des vollen Zimmers ihrer Großmutter noch etliches Mobiliar in den Zimmern steht. Aber warum sie hier ist, weiß sie selbst nicht. Machen kann sie nichts, außer die Luft inhalieren, diese Luft des eigenen Heimes, wobei die Luft noch immer vom Duft der Großeltern geprägt ist.

 

Professor Giede wohnt in Hamburg-Berne, im nördlichen Teil der Stadt, wohin sie mit der U-Bahn fährt. Im U-Bahnhof-Berne steigt sie aus und geht zu Fuß in die Farenland-Straße, wo der Professor mit seiner Frau Elvira das obere Stockwerk eines zweistöckigen Mietshauses bewohnt. Giede öffnet ihr die Haustür, nachdem sie geklingelt hat, begrüßt sie mit einem „Hallo Betty“ und führt sie in die Wohnung, direkt in sein Arbeitszimmer.

„Wie viel Zeit haben Sie mitgebracht?“

„Nicht viel. Ich fahre heute Abend noch nach Lübeck zurück.“

„Der Fall ruft nach Ihnen. Nehmen Sie Platz.“

Auf einem Couchtisch stehen Tee und Kekse bereit. Sie setzen sich in die Sessel und Professor Giede fragt Betty zunächst nach dem Stand der Ermittlungen, den ihm Betty schildert. Ihre Version des Falles schiebt sie nach, erklärt dem Professor die Zusammenhänge, so wie sie sie sieht.

Hm, nun, die Spur nach Russland liegt auf der Hand, das müssen Sie so akzeptieren. Für Ihren Verdacht sehe er keinen plausiblen Beweis. Habe der Gerichtsmediziner nach Einstichstellen im Körper der jungen Frau gesucht?

„Hat er, ja, aber nichts dergleichen gefunden.“

„Es sind ungefähr zwei Stunden, die der Täter die absolute Gewalt über sein Opfer hatte, aber diese Gewalt nicht ausübt. Das ist sehr ungewöhnlich. Und welche Droge er konkret verabreicht hat, ließ sich nicht mehr feststellen?“

„Nein. In ihrem Blut wurde nichts gefunden.“

„Um sie nackt abzulichten, hätte er eine Droge verwenden müssen, die das Opfer in Ekstase versetzt. Schwer sie in diesem Zustand aus dem Club zu lotsen. Waren es Knockouttropfen, hätte er keine Fotos arrangieren können, die das Opfer in verfänglicher Pose gezeigt hätte. Keine Einstiche im Körper. Bleibt der Kopf. Er hat etwas mit dem Kopf gemacht, weshalb er ihn abgetrennt und verschwinden hat lassen. Ich denke, im Kopf steckt die Lösung des Falles.“

„Ich sehe das genauso. Allerdings sind meine Vorgesetzten anderer Meinung. Der Oberstaatsanwalt nennt meine Vermutung gelinde gesagt, ein Hirngespinst, dem er mich zwar nachgehen lässt, aber nur, um die anderen nicht zu verunsichern. Ich brauche den Kopf. Das weiß aber auch unser Täter, also wird er ihn gut versteckt oder sicher entsorgt haben.“

Es klopft an die Tür, der Professor reagiert mit einem „Herein“ und seine Frau, die Betty noch nicht kennt, es ist Giedes dritte Frau, einmal geschieden, einmal verwitwet und seit sechs Jahren mit der Cello-Spielerin Elvira liiert, die Betty fragt, ob sie zum Abendessen bleiben werde, was Betty nach kurzem Nachdenken verneint. Giede stellt seine Partnerin vor, erzählt habe er ja schon von ihr, nun würde sie Betty endlich von Angesicht zu Angesicht sehen. Die beiden Frauen gaben sich die Hand, Elvira sagt, sie hätte schon viel von Betty gehört, Evald würde immer in höchsten Tönen von ihr reden.

Sie bräuchte sich keine Umstände ihretwegen machen. Noch genügend Tee da? Solle sie noch einmal Tee aufsetzen? Nein, alles bestens. Damit zieht sich Elvira wieder zurück. Der Professor gießt Tee nach, will wissen, wie Bettys Gesundheitszustand sei. Bis auf die gelegentlichen Kopfschmerzen sei sie schmerzfrei, habe ihren Gleichgewichtssinn zurück und auch sonst keine Nachwirkungen von dem Niederschlag.

 

Danach erläutert Giede wie es um die Stelle steht. Die Stellenausschreibung sei dieses Wochenende in verschiedenen regionalen und überregionalen Zeitungen inseriert. Eingehende Bewerbungen werden sofort bearbeitet und entschieden. In drei Wochen soll dann eine Anhörung stattfinden, der Personalrat, der Unidirektor und er würden das Gespräch führen. Und dies hieße, sie müsse ihre Bewerbung im Laufe der kommenden Woche einreichen. Giede reicht Betty einen Brief, die Bewerbung des früheren Assistenten von ihm, die könne sie so eins zu eins übernehmen. Auf der Rückseite hat Giede aufnotiert, welche Unterlagen sie der Bewerbung beifügen müsse.

„Das alles ist ein lästiger und unsinniger Formalismus, aber am Ende wird das herauskommen, was wir beide wollen. Bleibt die Frage, wann können Sie die Stelle antreten?“

„Anfang November findet der Abschlusslehrgang statt mit anschließender Prüfung. Ich habe noch gut drei Wochen Urlaub, den ich danach nehmen werde, so dass ich theoretisch, Mitte bis Ende November anfangen könnte, versicherungstechnisch aber noch bei der Polizei wäre.“

„Grob überschlagen müsste ich Sie viermal vertreten. Das bekomme ich hin. Ich denke, wir werden keinen Ärger bekommen, wenn sie zwei oder drei Wochen Diener zweier Herren sind. Gut, dann machen wir das so.“

Kurz vor dem Aufbruch noch schnell der Gang zur Toilette, der Tee drückt gewaltig auf ihre Blase. Zurück gibt ihr der Professor einen weiteren Zettel auf dem Buchtitel stehen, ein paar der Bücher könne er ihr mitgeben, andere müsse sie sich ausleihen. Die Bücher seien die Grundlage für das Erstsemester. Der Professor erläuterte Betty ihre zukünftige Aufgabe, die zunächst darin besteht, das Erstsemester in die Kriminalpsychologie einzuführen, die Doktorandentreffen zu organisieren und zu begleiten, seine Vorlesungen vorzubereiten. Später kämen Tutorien dazu und die Abhaltung fachspezifischer Seminare. Sie wird einige Zeit aufwenden müssen, sich in die jeweiligen Themen einzulesen, aber das kenne sie ja noch.

Kennen ist gut, sagt sich Betty, vieles von dem, was sie vormals in sich geschafft hatte, liegt heute vergraben in ihrem inneren Keller, im hintersten Winkel. Ja, es wird ein intensives Einarbeiten werden, aber sie freut sich darauf. Sie plaudern noch ganz allgemein. Zum Abschluss fragt der Professor noch, ob sie glaube, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, immerhin sei sie eine anerkannte und erfolgversprechende Ermittlerin. Im Studienbetrieb sei sie nur noch ein vermittelndes Rädchen. Das wisse sie, sie sehe die neue Aufgabe als Chance, nicht nur junge Menschen zu entwickeln, sondern sich auch besser um ihre Gesundheit zu kümmern.

Fünf Fachbücher sucht Giede zusammen, die Betty in ihrer Umhängetasche verstaut. Schließlich reicht er ihr noch ein Skript, das beschreibt, welche Aufgaben sie in ihrem zukünftigen Arbeitsgebiet zu erwarten hat. Bei Fragen, jederzeit anrufen, gibt ihr der Professor mit auf den Weg.

 

Diesen schlägt sie, nach dem Abschied von dem Professor und seiner Frau, zügig ein, geht vor zum U-Bahnhof, wartet kurz, steigt ein und fährt in Richtung Hauptbahnhof. Die Dunkelheit ist bereits fortgeschritten, das Abteil nur schwach besetzt. Im Hauptbahnhof angekommen, muss sie hochfahren zu den Bahnsteigen der Nah- und Fernverkehrszügen.

Der Bahnhof am Abend, kein Ort zum Wohlfühlen, na ja, auch tagsüber nicht. Ankommende, Abfahrende hecheln mit oder ohne Gepäck durch die Flure; Hierbleibende liegen in diskreten Ecken, die Nacht, weil ohne Alternative, hier verbringend; Herumstehende, Lauernde, auf eine Chance oder ein Geschäft Wartende, manch eine oder anderer in schwankendem, bewusstseinsgetrübtem Zustand, schwer einzuschätzende Typen, die die Atmosphäre des Bahnhofsvorplatzes und des Innenraumes beeinflussen, ein beklemmendes Gefühl in Betty auslösen, weshalb sie den Weg zu ihrem Bahnsteig zügig nimmt, dort noch einige Zeit in zugiger Luft verbringen muss bis ihr Zug einfährt. Die Beklemmung ist noch in ihrem Kopf, als sie in einem Abteil platz nimmt. Schon seltsam, denkt sie, da liegen Menschen ohne Heim, nur sich und das wenige Gepäck neben sich besitzend und ihr fällt ein ganzes Wohnhaus in den Schoß. Nein, Gerechtigkeit herrscht nicht in dieser Welt.

Die Fahrt durch die Dunkelheit nur gelegentlich erhellt, wenn der Zug ein Dorf, eine Stadt durchquert, nur zweimal anhält. Das Zugabteil nur dünn besetzt. Köpfe ruhen an den Scheiben oder den Kopfstützen des Sitzes angelehnt, erschöpft, von was auch immer, vielleicht auch weil zu sehr dem Alkohol gefrönt. Jugendliche beim üblichen Starren und Tippen, gelegentlich aufjauchzen, etwas aus dem Netz ist lustig, muss kommentiert werden. Niemand zu sehen, der ein Buch oder eine Zeitung liest, niemand der sich mit seinem Nachbarn oder einem anderen Fahrgast unterhält. Rollende Einsamkeit.

Betty schaut aus dem Fenster, durch das es nicht viel zu sehen gibt und denkt darüber nach, wie sie ihre letzten Wochen in Lübeck organisieren wird. Meine Güte fällt ihr ein, sie hatte noch nicht die Wohnung gekündigt, muss sie wohl einen Monat Leerstand zahlen. Die Fahrt morgen, passt überhaupt nicht, sie hat so viel zu organisieren, bei immer knapper werdender Zeit. Locker bleiben, sagt sie sich, einfach locker blieben, es kommt, wie es kommt.

Statt Bus nimmt sie sich ein Taxi. Zwei Rückmeldungen stehen noch aus, kommt ihr dabei in Erinnerung, muss sie nachhaken. Zu Hause zurück, bereitet sie sich einen Bohnensalat aus weißen Bohnen, Paprika, Salatgurke, Lauchzwiebeln und Tomate zu, gewürzt mit Ajvar, Salz und Pfeffer, dazu zwei Scheiben Mehrkornbrot und eine Tasse grünem Tee, schmeißt ihre Tabletten in sich.

Nach dem Abendessen sucht sie sich ein paar Kleidungsstücke für die kommenden drei Tage zusammen, packt ihren Rollkoffer provisorisch, den Rest dann morgen früh. Danach macht sie es sich in ihrem Sessel bequem, den Grass in den Händen und bringt die Hundejahre zu Ende. Müde gelesen, müde geworden, geht sie zu Bett.

 

Der Regionalzug nach Hamburg verlässt pünktlich in der Frühe den Bahnhof Lübeck, vollgestopft mit denen, die ihrer Arbeit entgegenfahren. Es herrscht eine feuchte wabbelige Luft, ausgeströmt aus den vielen Körpern, von denen einige im Gang stehen müssen. Betty sitzt auf einem Platz für Schwerbeschädigte, ohne sich dabei unehrlich zu fühlen. Eine schweigende, stille Masse, die durch die Landschaft Richtung Hamburg gefahren wird.

In Hamburg umsteigen in den ICE, für den sie eine Platzreservierung hat, die auch notwendig ist, denn auch der ICE ist gut besetzt, überbesetzt. Genauso wie die Gepäckablage, alles vollgeräumt. Was schleppen die Leute auch nur alles mit sich, wenn sie auf Reisen gehen? Sie sucht eine Lücke für ihren Rolli, die sie findet, ein Stück entfernt von ihrem Sitzplatz, ohne Sichtkontrolle auf seine Unversehrtheit. Andererseits, ein kleiner Koffer voller übergrößiger Klamotten wäre für jeden Dieb eine große Enttäuschung. Es sei denn, es wäre ein 4XL-Dieb, so einen gibt es aber nicht, glaubt Betty.

Sie hat zwei junge Frauen, wahrscheinlich Studentinnen gegenüber sich sitzen, einen Mann mittleren Alters neben sich, dürfte ein Vertreter, vielleicht ein im Politikbetrieb Berlins beschäftigter Mensch sein, der, kaum dass er sitzt, sein Notebook hervorzieht und damit zu arbeiten beginnt, irgendeinen Text, den er bearbeitet, wie Betty aus den Augenwinkeln schielend erkennt. Die beiden jungen Frauen reden vertraut miteinander. Betty überlegt, ihren Laptop zu aktivieren, verzichtet aber noch, holt stattdessen das Buch, das sie sich eingepackt hatte, aus ihrer Umhängetasche hervor, den nächsten Grass, Katz und Maus. Sie hat Gefallen gefunden an dem schnauzbärtigen Schreiber, dessen verdrehten Sätzen, schrulligen Wörtern, den Geschichten, die von einer großen Liebe an das Verlorene geprägt scheinen.

Die beiden jungen Frauen sprechen eine Fremdsprache, portugiesisch, wenn sich Betty nicht irrt. Spontan fragt sie die beiden auf Englisch, ob sie als Touristen nach Berlin fahren würden, was die eine bejaht. Sie touren durch Europa, seien im Norden gewesen, Schweden und Dänemark, in Hamburg und nun Berlin, danach Heidelberg, Stuttgart und München, die Schweiz, Italien und über Spanien zurück nach Portugal. Ob sie sich mit der Reise belohnen würden. Die beiden lachen, ja, sie hätten ihr Abitur abgeschlossen und bevor sie ihr Studium beginnen würden, haben sie sich diese Reise gegönnt (Sicher großzügig gesponsert von den Eltern). Betty wünscht ihnen eine schöne Zeit und viele tolle Eindrücke. Der Notebooktipper lässt seine Finger ungerührt über sein Notebook gleiten.

Ob sie aus Berlin sei, will eine der beiden jungen Frauen wissen. Nein, sie sei nicht aus Berlin, sei aus Lübeck, nein eigentlich aus Hamburg und würde nur Berlin durchqueren, um weiter nach Leipzig zu fahren. Sie sei auch noch nie in Berlin gewesen, was die junge Frau erstaunt zur Kenntnis nimmt. Die Einfahrt ins Berliner Stadtgebiet lässt die beiden jungen Frauen aufgeregt aus dem Fenster schauen. Betty kann die Aufregung nicht verstehen, da sie nur graue, unansehnliche Häuserwände sieht, viel grau, viel unverputzte Fassaden. Fahren sie durch den Ostteil? Industriebrachen, Geschäftsflächen mit den üblichen billig sein wollenden Märkten, vollgestopfte Straßen und Wohnblocks wechseln sich ab. Je näher der ICE dem Zentrum kommt, desto größer werden die Gebäude, Glasfassaden lösen die Backsteinfassaden ab, in der Ferne kann sie die Reichstagskuppel erkennen. Berlin. Kein Sehnsuchtsort. Betty verspürt nicht die geringste Lust, hier auszusteigen und der Stadt ihren Besuch zu widmen.

Der ICE fährt in den Hauptbahnhof ein, die ersten Leute stehen auf, um möglichst zu den ersten zu zählen, die dem Leib des Zuges entrinnen. Betty bleibt sitzen, will warten, bis sich der Zug entleert, das Perron von der aussteigenden zum Ausgang strebenden Masse befreit ist, da sie es hasst, mit der Menge im Strom zu schwimmen. Masse ist ihr unheimlich, weshalb allein die Vorstellung, einem Stadionkonzert beizuwohnen, ihr den Atem nehmen kann. Als sich die Lage beruhigt hat, holt sie ihren Rollkoffer, steigt aus, geht zum Gleis 12, wo sie den ICE nach Leipzig erwartet. Dieser, nicht ganz so gefüllt wie der vorherige ICE, trifft fast pünktlich ein. Wieder ein Fensterplatz, wieder umringt von vier Fahrgästen, die nach und nach ihre Plätze einnehmen, sogleich mit einer Beschäftigung mit Notebook oder Smartphone beginnen, der Mann ihr gegenüber stöpselt sich Kopfhörer in sein Ohr, knipst die Welt um sich weg. Schöne neue Welt.

 

Die Fahrt über betrachtet Betty die vorbeiziehende Landschaft, als suche sie ein Motiv, dass sie abbilden kann, nur, malen hat sie noch nie gekonnt, kein Talent, keine Fantasie. Wobei, stimmt so nicht, sie hat Fantasie, nur nicht die Fähigkeit ihre Fantasie auch auf Papier zu bringen. Aber ihr Blick auf die Landschaft hat sich verändert. Sie sieht Landschaft, saugt sie auf, schwebt in ihr, gibt hinzu, was fehlt. Eine einsame Eiche, mitten im Feld stehend, zieht ihr Aufmerksamkeit auf sich. Früher hätte sie die Eiche nicht gesehen, wäre an ihr unbeachtet vorbeigerauscht. Sie hätte die ganze Landschaft noch nicht einmal wahrgenommen, die war halt da. Na und? Doch, ihr Blick hat sich geschärft, ist aufnahmebereit, dank der Landschaftsmaler aus Ahrenshoop und Nidden, und des Erlebens von Landschaft, die Blicke zum Horizont, über das Wasser, das wird ihr, so dahinfahrend, bewusst.

Ab und an schließt sie die Augen, aber nicht zu einem Nickerchen fähig, liest in Katz und Maus, ohne von dem Inhalt ergriffen oder gar mitgerissen zu werden, Frau Kittel, Steffi und Vera hängen in ihrem Kopf fest. Die Fahrt verläuft ruhig, jeder um sie mit sich selbst beschäftigt. Einmal muss Betty die Toilette aufsuchen, schält sich aus ihrem Sitz, quält sich an dem in seinem Sitz ungerührt verharrenden Kopfhörer vorbei, trifft überall auf das gleiche Bild mit sich beschäftigten Menschen.

In Leipzig angekommen wieder das Abwarten bis der erste Rummel verflossen ist, dann zieht sie los, den Rolli hinter sich herziehend. Den durch Leipzig schleppen? Nein! Sie hält Ausschau nach den Schließfächern, strebt sie an, verstaut den Koffer in einem der größeren Schließfächer und geht dem Ausgang entgegen, diesen hinaus zu dem Taxistand, der reichlich gesegnet mit wartenden Taxis ist.

Sie steigt in das vorderste Taxi ein und gibt dem Taxifahrer die Adresse der Physiotherapie-Praxis an, citynah. Dort angekommen, zahlt Betty das Taxi, betritt das Geschäftshaus, in dessen zweitem Stock sich die Praxis befindet. Am Tresen bittet Betty Frau Kittel zu informieren, sie sei mit ihr verabredet. Die Praxis hell, die Wände, der Tresen, die Türen, alles in sanften Grün- und Weißtönen gehalten, etliche Gemälde und Fotografien an den Wänden, einheitliche Kleidung aller Angestellten, freundliche Wohlfühlatmosphäre. Frau Kittel tritt aus einem Zimmer, sicher ihr Büro, gekleidet in einen Mantel, also werden sie auswärts ihr Gespräch führen, geht auf Betty zu, begrüßt sie, stellt sich vor und bittet sie ihr zu folgen. Sie werden ins Café Central gehen, dort sei es gemütlicher und privater, was dem Gesprächsinhalt sicher dienlich sei. Es sei nicht weit, über die Hauptstraße und dann noch ein paar Schritte.

Das Café, hochmoderner Einrichtungsstil, grelle Farben an den Wänden, das Mobiliar ebenso bunt wie die Konditorware in den Vitrinen. Ein Paradies für Leckermäuler, die Hölle für eine Diabetikerin, aber gut, sie muss ja nichts bestellen, nur einen Kaffee. Gut frequentiert das Café, würde noch voller werden, gleich beginne die Mittagszeit, erläutert Frau Kittel. Es habe sich viel verändert, seit der Wende. Hier wirke das Geld. Das sei auf dem Land anders, aber da wohne sie ja nicht mehr. Smalltalk in den ersten Minuten, abtasten, dann die Bitte von Frau Kittel, ihr die ganze Geschichte zu erklären, deswegen sei sie doch hier.

Ja, die Bedienung stellt den Kaffee vor den beiden ab und Betty beginnt damit, die Geschichte des Herrn Weidtmann zu schildern, die sich Frau Kittel anhört, teilweise großes Erstaunen in ihrem Gesicht, nur gelegentlich eine Zwischenfrage, weil sie das Gehörte so nicht glauben kann, also muss Betty mehr erklären als sie will. Mit der Ermordung der Familie setzt Betty den Schlusspunkt. Frau Kittel zunächst sprachlos, nein, sie sagt, es sei unfassbar, dass sie so wenig, eigentlich gar nicht gewusst habe, wer ihr Mann war, obwohl sie hätte es wissen können, hätte sie nur nachgefragt. Aber das Fragestellen sei keine Eigenschaft von DDR-Bürgern gewesen. Betty stellt keine Fragen, lässt Frau Kittel reden, weiß, dass diese eine gewisse Zeit brauchen wird, Erinnerung und Gegenwart zu einem Bild zu fügen.

„Können Sie das verstehen? Eine Ehefrau, die keine Ahnung hat, wer ihr Mann wirklich war.“

„Ich maße mir dazu kein Urteil an. Ihr Nichtwissen rührt sicher aus den Lebensverhältnissen in der DDR, von denen ich nun wieder keine Ahnung habe, wobei ich überzeugt bin, Sie sind nicht die Einzige, der es so erging.“

„Meinen Sie?“

„Ja.“

Betty versucht mit einem versöhnlichen Blick der Frau die Verwirrung zu nehmen. Auch Trauer liegt im Gesicht der Frau. So plötzlich ist die Vergangenheit, von der sie sich längst verabschiedet hatte, zurück und ihr wieder ganz nah.

 

Mit belegter Stimme, will Frau Kittel wissen, ob der Täter denn gefasst worden sei. Nein, und Betty erklärt den Stand der Ermittlung, deutet aber nur die Russenspur an, die schwer zu verfolgen sei.

Mit den Russen habe es die Familie Dönsch immer gehabt, wendet Frau Kittel ein. Ihr damaliger Schwiegervater sei vor Hitler nach Russland emigriert und habe in der Roten Armee gegen die Wehrmacht gekämpft. Im befreiten Deutschland sollte er Oberbürgermeister von Dresden werden, hat sich aber für die weitere Militärkarriere entschieden und sei ein hohes Tier in der Volksarmee geworden. Erst im Nachhinein habe sie sich einiges erklären können, die Russenbesuche im Haus Dönsch, Onkel Rudy, der auch bei ihnen in der Wohnung aufgetaucht sei.

„Onkel Rudy? Der Name ist mir auch in Lübeck im Umfeld des Herrn Weidtmann begegnet. Er war auch Russe?“

„Ja. Er war jünger als mein Schwiegervater, irgendwie hatten die beiden eine gemeinsame Vergangenheit. Ich nehme an, bereits aus Russland. Wenn er bei uns in der Wohnung war, sind Klaus und Onkel Rudy meist in den Garten gegangen, um miteinander zu sprechen. Ich habe nie nachgefragt, was dieser Onkel gewollt habe. Klaus hat kein Wort über den Besuch fallen gelassen. Ja, es war dubios, aber andererseits auch fast normal, wenn man die Familie Dönsch berücksichtigt.“

„Wie haben Sie sich kennengelernt?“

Frau Kittel zog ein Grinsen auf. Es gehe mit Russen weiter. Sie habe die sozialistische Erziehung und Laufbahn durchlebt, sei Mitglied der Jungen Pioniere, anschließend der Freien Deutschen Jugend gewesen und selbstverständlich Mitglied der Staatspartei. Sie sei aber nie Kommunistin, vom System oder der Ideologie überzeugt gewesen, sei mitgelaufen, um ihr Leben leben zu können. Und Leben hieß, etwas zu erleben. Natürlich seien sie parteipolitische beeinflusst worden, aber es gab viele Dinge, die den jungen Leuten gefallen hätten, die Fahrten an die See, die Spiele, die Treffen, Versammlungen. Das sei Gemeinschaft gewesen, und sie, als junge Dinger, empfanden das als Wohlfühlort. Es werde viel zerredet was damals war, aber es sei nicht alles schlecht gewesen in der DDR, an manches erinnere sie sich gern. Gut. Mit Beginn des Studiums sei sie zur FDJ-Sekretärin bestimmt worden. Eine ihrer Aufgaben sei es gewesen, eben jene Versammlungen und Treffen vorzubereiten und, besondere Feierlichkeiten. So das Deutsch-Sowjetische-Freundschaftsfest, das einmal im Jahr im Kulturpalast in Dresden veranstaltet wurde. Meine Aufgabe lag in der Organisation im Vorfeld und der Überwachung des Ablaufes.

„Und hierbei lernte ich Klaus kennen, der ebenfalls eine Überwachungsfunktion hatte, eine politische, wie er mir erklärte. Was politisch heißt, hat er mir nicht erläutert, ich habe nicht nachgehakt, wohlweislich. Ich hatte das Personal in Küche und Service zu überwachen, vor allem, dass keine der aufzutischenden Köstlichkeiten einen anderen Weg, als den in den Festsaal nahm (ein Schmunzeln zeigt sich auf ihrem Gesicht). Wir kamen ins Gespräch und viel später zur vorgerückten Stunde als die Russen schon nicht mehr tanzen konnten, tanzten wir. Daraus wurden weitere Verabredungen und schließlich wurden wir ein Paar. Klaus lebte sozusagen auf großen Füßen. Er konnte im Intershop Westware einkaufen, was mir, ehrlich gesagt, imponierte. Er hatte immer Westgeld, D-Mark und sogar US-Dollars in der Tasche und ich Jacobs-Kaffee in der Tasse, Sarotti-Schokolade im Kühlschrank, abends Riesling von der Mosel auf dem Tisch. Unsere Küche war gut gefüllt mit Westprodukten. Das dies dekadent war, darüber habe ich keinen Gedanken verschwendet. Ich habe es genossen.

Er erklärte mir das damit, dass er als Abteilungsleiter der Steuer- und Finanzaufsicht gewisse Privilegien habe, über die ich aber besser schweigen sollte. Und das tat ich. Nach knapp einem dreiviertel Jahr unseres Zusammenseins fragte er mich, ob ich ihn heiraten wolle. Wollte ich. Also heirateten wir. Das war ungefähr zwei Jahre bevor die Mauer fiel, die Risse im Staat traten schon deutlich hervor. Das war auch die Zeit, wo Klaus spät nach Hause kam, manchmal auch über Nacht wegblieb. Angeblich wurde er nach Berlin zitiert. Er wirkte beunruhigt und gestresst. Ungewöhnlich für einen DDR-Bürger. Aber, ich habe ihm geglaubt. Übrigens kam Onkel Rudy in dieser Zeit öfter als vorher zu uns nach Hause. Immer haben sie getuschelt. Aber ich habe nie gefragt, mir meine Gedanken gemacht, die aber nicht weit gingen, da mein Horizont gering war, also nicht der geistige, der örtliche und der politische. Und dann, als ich an einem Abend nach Hause kam, lag ein Zettel auf dem Küchentisch Muss untertauchen. Mehr nicht, das war alles, was er mir hinterließ. Sie fragen sich jetzt sicher, warum ich keine Vermisstenanzeige gestellt habe, nicht gleich, aber später. Aber es waren nur zwei Worte, die sagten, ich gehe freiwillig und muss mich verstecken. Ich ließ es auf sich beruhen und wartete, wartete drei Jahre in dem wiedervereinigten Land, um dann die Aufhebung der Ehe zu beantragen. Irgendwann wurde mir klar, er wird nicht wiederkommen. Und ich begann all die Merkwürdigkeiten im Leben meines Mannes zu addieren und war überzeugt, er war nicht der, für den ich ihn gehalten habe. Was er war, konnte ich mir nicht recht erklären. Vielleicht verweigerte ich mich auch einfach vor der Wahrheit. Wie er hatten auch seine Eltern das Land verlassen. Ich nehme an, sie gingen zurück in die Sowjet-Union.“

 

Und jetzt sei er tot. Fast dreißig Jahre her, sie wisse nicht, warum sie jetzt Tränen vergieße. Wegen Klaus? Wegen ihrer Naivität? Dessen grausamen Schicksal? Nein, sie wisse es nicht. Sie habe ihn geliebt, hatte mit ihm ein kurzes, aber intensives Zusammenleben, und ja, je länger er abwesend war, desto weniger verstanden, warum er sie nicht nachholte, warum er sie verlassen hatte. Mitunter sei ihr gar der Gedanke gekommen, sie sei nur Fassade gewesen, nur habe sie nicht verstanden, für was.

Betty reicht ihr ein Papiertaschentuch, Frau Kittel tupft sich die Augen, wischt an der Nase entlang, schaut auf Betty, die kurz überlegt und glaubt, nun sei der richtige Zeitpunkt, die Frage zu stellen, weswegen sie eigentlich hier ist.

„Sie hatten kein gemeinsames Kind? Es wäre sicher viel schwerer für Sie geworden.“

„Nein, wir wollten noch keine Kinder, wollten warten, wie Klaus meinte. Er wusste, glaube ich, was kommen würde, deshalb wollte er noch kein Kind.“

Also gibt es keinen rächenden Nachwuchs aus der Vergangenheit, womit sie auch die letzte verbliebene Verdachtsspur abräumen kann.

„Sie haben mich nicht ausgefragt, wie eine Polizistin dies normalerweise macht. Sie wussten, dass ich Ihnen nicht gerade behilflich sein werde.“

„Ja. Ich bin nicht hier als Polizistin, irgendwie schon, aber nicht aus Ermittlungsgründen. Ich denke, Sie hatten ein Recht darauf, zu erfahren, was aus ihrem Ex-Mann wurde. Keine schöne Wahrheit, aber eine, mit der Sie Ihre Vergangenheit abschließen können.“

Frau Kittel hob ihre Hände, die sie in ihrem Schoß hatte ruhen lassen und strich mit einer Hand die Hand von Betty: „Und dafür danke ich Ihnen.“

Frau Kittel erzählt Betty noch, wie sie mit ihrem zweiten Mann zusammenkam, einem Münchner, der in Leipzig eine Niederlassung seiner Modekette etabliert hatte, sie sich auf die Anzeige als Geschäftsführerin bewarb, ihn so kennenlernte und ja, er ging nicht mehr nach München zurück, blieb hier. Parallel habe sie eine Ausbildung als Physiotherapeutin begonnen, die sie mit Unterstützung ihres Mannes abschloss, er ihr die Praxis einrichtete und sie nun ein glückliches, ausgefülltes Leben führen würde. Das freue sie für sie, kommentiert Betty, die sich nun doch eine Kleinigkeit zu Essen bestellt, Frau Kittel, die zurück in die Praxis muss, verabschiedet, ihr ihre Visitenkarte mitgibt, falls ihr noch etwas einfalle oder eine Frage habe, jederzeit anrufen.

Die Frau verlässt das Café, dass sich mittlerweile gut gefüllt hat, die Bedienung serviert ihr noch einen Tee und den gemischten Salat Nizza, den Betty mit zwei Schnitten Toastbrot serviert bekommt, gut, kann sie ja liegen lassen. Für Leipzigs Innenstadt hat sie noch gut zwei Stunden, die sie für einen Bummel nutzt, am Museum der Bildenden Künste vorbei, hineinzugehen fehlt ihr die Zeit, schlendert durch die Mädler-Passage, Geschäfte wie überall, geht dann vor zur Oper Leipzig, formaler, eher langweiliger Bau, und von dort zum Bahnhof, der nicht weit von der Oper liegt. Alles neu, alles frisch aufgeputzt. Doch, hier scheint das DDR-Grau wirklich Vergangenheit zu sein, zumindest im Zentrum.

Im Bahnhof genehmigt sie sich noch einen Espresso, sucht die Toilette auf, geht zum Bahnsteig und wartet, bis ihr Zug einläuft, nicht ganz pünktlich, aber war nicht anders zu erwarten, steigt ein, ihr Platz frei, zwei Herren, geschäftsmäßig beschäftigte Herren und eine Frau, adrett gekleidet, nicht weniger geschäftig auf ihrem Smartphone tippend, sitzen bereits auf den anderen Plätzen. Der Herr, der Betty Platz machen muss, sie hat einen Fensterplatz, schaut irritiert zu ihr auf, nicht gewohnt, gewichtige Personen neben sich zu haben.

 

Viel Land, freies Land, das sie unterwegs sehen kann, bevor die Dämmerung diesen Blick nicht mehr zulässt, Land mit riesigen einseitigen landwirtschaftlichen Flächen. Der Schein der untergehenden Sonne gibt den Flächen eine eigenartige rotbraune Tönung, fast romantisch, denkt Betty. Gelegentlich unterbrechen kurze Waldstücke die Monotonie, was sich erst vor Berlin ändert, doch die Dunkelheit lässt keinen weitschweifenden Blick mehr zu.

Je näher sie Berlin kommt, desto eindringlicher kommt ihr das Aufeinandertreffen mit Vera in den Kopf, Vorfreude macht sich breit, sorgt für eine zufriedene Stimmung bei ihr. Das Gespräch mit Frau Kittel lässt sie durch ihren Kopf passieren. Alle Bedenken und Überlegungen zerstreut, einzig Onkel Rudy haftet ihr an, vermutet einen KGB-Mann, einen Ex-KGB-Mann hinter Rudy, denn, er dürfte mittlerweile in die achtziger Jahre gekommen sein. Er ist die Verbindung zu all den Russlandgeschäften und zum Kokainschmuggel, dessen ist sich Betty gewiss. Aber egal jetzt, nicht ihr Bier. Nicht mehr.

Ihre Sitznachbarn sind beschäftigt, wieder kein Gespräch möglich. So ist die Welt halt heute. Die Frau ihr gegenüber hört mit geschlossenen Augen Musik, wahrscheinlich, so wie ihre verträumte Miene andeutet, klassische Musik. Die Ohrhörer, modisch in rosa Farbe, kaum zu erkennen unter den darüber hängenden Haaren. Betty stutzt einen Moment. Die Lösung steckt im Kopf, sagte Professor Giede, sieht sie genauso. Aber steckt sie im Kopf? Konnte es sein, dass der Täter in den zwei fraglichen Stunden ihr etwas eingepflanzt hat, einen Chip oder ähnliches, der von außen gesteuert werden kann, Impulse abgab, die zu Schmerzen führten? Zu Kopfschmerzen? Kann das sein? Geht das und wenn ja, wie? Oder sind dies Hirngespinste von ihr? Sie hat sich versteift, festgefahren in den Glauben, an einen anderen als den Ablauf, den der Oberstaatsanwalt oder ihr Chef für den tatsächlichen Ablauf halten.

Aber sie wird ihrem Gedanken nachgehen. Sie weiß, dass Hunde oder andere Tiere gechippt werden. Warum nicht auch Menschen? Dunkel erinnert sie sich gar, dass älteren Menschen ein Chip unter die Haut gesetzt werden kann, um den Rettungskräften im Notfall sofort Zugang zu den wichtigsten Gesundheitsdaten des Patienten oder Opfers zu ermöglichen. Aber war das nicht Zukunftsmusik? Sie weiß es nicht. Und wenn, die Chips konnten doch nur ausgelesen werden, mehr nicht. Oder war mehr möglich? Ob Google Rat weiß?

 

Sie zieht ihr Smartphone hervor, den Laptop hervorzuziehen ist ihr zu lästig, raubt Platz. Nur, so wie die Leute um sie herum will sie nicht sein, lässt es sein, verschiebt es auf später, wenn sie in dem hoffentlich dünner besetzten Regionalzug nach Wismar sitzt. Aus dem heraus kann sie auch Steprath anrufen, der heute den Vorhof der Villa nochmals mit seiner Technik abgesucht hat. Ob der sich mit diesen Chips auskennt? Gut, ihn zu fragen, kann nicht schaden. Nein, zu spät, längst nicht mehr im Dezernat, sie denkt aber, da er sie noch nicht kontaktiert hat, dass es keine weiterführenden Ergebnisse gibt.

Dunkelheit umgibt den Zug, was sich erst ändert, als sie den Berliner Stadtrand erreichen. Die Lichter der Stadt, noch dezent, werden heller je näher sich der Zug dem Zentrum nähert. Was ihr die Stadt aber auch nicht sympathischer macht. Der Zug fährt ein, hastiges Gepäck aufnehmen, sich ausstöpseln, abschalten, oder einschalten, durchgeben, dass man angekommen ist, sich im Gang stauen, nicht abwarten können, dass die Türen aufgehen. Wie üblich, abwarten bei Betty, entsteigt als letzte dem Abteil, geht zu ihrem Bahnsteig, wo sie gut eine halbe Stunde auf ihre Regionalbahn warten muss.

Zeit, um sich etwas zum Essen zu besorgen, nur, sie hatte keine Lust, sich nach oben zu bewegen, um sich aus dem ungesunden Angebot der dort postierten Fastfood-Läden mit Essbarem zu versorgen. Sie muss aber, ihr Magen grandelt murrend vor sich hin, will gefüttert sein, also erhebt sie sich, zieht den Rolli nach sich und steigt die Treppe hoch, schaut sich das Übliche an, findet aber dann doch einen Laden, der unter anderem ansprechende Sandwiches anbietet, allerdings weiches Toastbrot. Sie ordert ein Sandwich belegt mit Schinken, Käse, Blättern vom Eisbergsalat, genauer, zwei Stück. Dünne, wenig schmackhafte Kost, die wahrscheinlich den Hunger nur kurzweilig vertreiben wird. Zurück auf dem belebten Bahnsteig, setzt sie sich wieder ab und kaut lustlos das Sandwich Stück um Stück ab.

 

Zug um Zug fährt ein, lädt sich aus, lädt sich voll und setzt seine Fahrt fort. Welch eine Hektik, welch beschauliche Ruhe zu Hause, zu Hause in Lübeck. Noch knapp zwei Stunden und sie wird Vera in ihre Arme schließen. Sie freut sich.

Noch etliche Werktätige, die zu ihrem Feierabend in die umliegenden Dörfer und Städte fahren, sitzen abgeschlafft im Regionalzug, der pünktlich ein- und abfährt. Betty hat eine Bank für sich, hat ein paar Minuten nachdenken müssen, bevor sie ihren Laptop hervorholt. Eigentlich hat sie keine Lust, ist auch müde, sich wieder in diese vermaledeite Sache einzufinden, aber sie hat eineinhalb Stunden Zeit, die sie sich mit der Chip-Recherche vertreiben kann, also klappt sie ihren Laptop auf, der anzeigt, dass sein Akku eine Nachladung erhalten möchte. Tja, so weit ist die Bahn leider noch nicht, aber für eine kurze Recherche wird es reichen.

Die ersten Hinweise auf das Chippen findet sie bei Tieren, vornehmlich Hunden, den ein Chip, Reiskorngroß unter die Haut implantiert wird, angefüllt mit den Gesundheits- und Abstammungsdaten des Hundes, der nur über ein entsprechendes Lesegerät aus kurzer Distanz ausgelesen werden kann. Kein Auslesen auf größere Entfernung. Ein Bericht stellt das Vorhaben von diesem Musk dar, der eigens eine Firma gegründet hat, um Forschung für Chips zu betreiben, die dem Menschen einen Chip ins Gehirn implantiert, mit dem Ziel Erkrankungen zu heilen, vor allem Lähmungen. Passt irgendwie nicht zu diesem Typ, dementsprechend ist die Kritik nicht weit. Die Forschungen sind noch im Versuchsstadium, bei Tierversuchen, die einige Tiere nicht überlebt hätten. Betty zieht den Schluss, dass die Idee mit implantierten Chips präsent ist, Möglichkeiten bietet, aber nur im Rahmen fast körpernahen Auslesens. Ihr Gedanke aber ist, der Täter hat Impulse über eine größere Distanz gesendet, die die Kopfschmerzen auslösen. Diese Möglichkeit ist aber nirgendwo nachzulesen, in keinem Bericht auch nur der geringste Hinweis darauf, dass dies möglich ist.

Ihr fällt das Navi im Dienstwagen ein, gesteuert durch ein GPS-System. Eine Verbindung beider Systeme? Nein, auch das ist noch Zukunftsmusik. Gegenwärtig ist die Musik die, die ihr sagt, gleich wird der Saft ihres Laptops an sein Ende kommen. Nun, mehr würde sie vorerst nicht herausfinden. Sie packt den Laptop wieder ein und lässt ihre Gedanken durch das Abteil fliegen. Zukunftsmusik, ja, sie hat über Zukunftsmusik spekuliert, Science-Fiction. Nein, mit dem Verdacht kann sie nicht vor den Oberstaatsanwalt treten, der würde denken, die Alte hat nen Knall. Sie muss Abstand nehmen, die zwei Tage bei Vera nutzen, auf andere Gedanken zu kommen.

 

Wo sind wir überhaupt? Der Zug fährt und Betty hat keine Ahnung, wo sie sind. Irgendwo im Nirgendwo, auch zu dunkel, um etwas zu erkennen, selten Lichter, mal näher, mal weiter von der Strecke entfernt. Zwei Tage mit Vera. Was sie wohl tun werden, den ganzen Tag quatschen? Wohl eher nein. Womöglich Gartenarbeit, Zeit des Umgrabens der abgeernteten Beeten. Muss nicht unbedingt sein, na ja, Vera hat sich bestimmt ein Programm überlegt. Sie wird sich überraschen lassen. Laut ihrer Armbanduhr dürften es nur noch wenige Minuten sein, bis der Zug Wismar erreicht. Die ersten Lichter tauchen aus der Dunkelheit auf, die Vorfreude erwacht.

Aus dem Fenster des langsam einfahrenden Zuges kann Betty Vera, aufgeregt nach ihr Ausschau haltend, sehen. Sie winkt, Vera entdeckt sie, eilt in die Richtung, in der der Zug anhalten und Betty aussteigen wird. Diese schlüpft in ihre Jacke, hängt die Umhängetasche um, greift den Rolli und zieht zum Ausstieg und in die Arme von Vera, die sie freudig begrüßt.

„Schön dich hier zu haben. Willkommen in Wismar. Ich freue mich riesig und hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen werden. Nun komm, hattest du eine ruhige Fahrt. Hat wahrscheinlich an jeder Milchkanne gehalten, gibt zum Glück nicht so viele Milchkannen auf der Strecke. Oder? Ach Betty, ich freue mich so.“

Betty muss erst diesen Überschwang überstehen, bevor sie antworten kann, ja sie freue sich auch und die Fahrt, ihr sei gar nicht bewusst, dass sie unterwegs angehalten haben, da fehle ihr etwas, sicher weil sie so müde sei. Vera führte sie vom Bahnsteig weg, zum Parkplatz vor dem Bahnhof, wo sie ihr Auto abgestellt hat, öffnet die Heckklappe und Betty hebt ihren Rolli hinein. Auf der Rückbank wird freudiges Hundegehechel deutlich, ein Kopf hebt sich über die Rückbank, ein Schwanz schlägt aufgeregt gegen den Vordersitz.

„Du hast noch jemand zum Empfang mitgebracht?“

„Helmut. Ja, das ist Helmut. Der Hund meines Vaters, der aber jetzt zu mir umgezogen ist.“

„Helmut? Nicht dein Ernst? Dein Hund heißt wirklich Helmut? Wie der Wendehelmut?“

„Genau, wie der. Mein Vater hat ihn so getauft und freut sich, wenn er Helmut Befehle erteilen kann und dieser ihm gehorcht.“

Betty lacht „Wenderache?“

„Nein, Rache würde ich das nicht nennen. Es ist eher eine kleine Genugtuung, die sich Papa gönnt. Du wirst ihn übrigens kennenlernen. Wir treffen ihn Mittwoch.“

Seltsame Blüten, die diese Wiedervereinigung treibt, aber egal, wenn der Vater Spaß daran hat, richtet ja keinen Schaden an.

 

Sie besteigen das Auto, schwanzwedelnd von Helmut begrüßt, seine Schnauze an Bettys Jacke reibt, die sich umdreht, Helmut über den Kopf streichelt, Hundeunerfahren ist Betty, grüßt Helmut, der ihr gar über das Gesicht lecken will, was Betty nicht zulässt. Unhygienisch.

Vera lacht, sie müsse das schon erdulden, sie habe Helmut von Bettys Besuch erzählt und natürlich freue sich Helmut, einmal jemand anderes um sich zu haben, als immer nur sie. Na, das wird was werden.

Vera fährt los durch die späte Nacht, aus der Stadt hinaus, von der Betty wenig zu sehen bekommt. Vera tröstet sie, Mittwoch würden sie einen Ausflug nach Wismar machen, muss Betty gesehen haben. Wogegen sie nichts hat. Sogleich will Vera wissen, ob ihr Besuch in Leipzig den erwünschten Erfolg gebracht habe. Nein, sie habe aber auch nicht mit einem Erfolg gerechnet, es sei eh mehr ein Höflichkeitsbesuch gewesen, was sie Vera später ausführlicher mitteilen würde, sei zu umfänglich für eine kurze Autofahrt.

Die Fahrt führt durch ein paar Dörfer, eher Weiler, viel freie Ackerfläche, durch Grevesmühlen zum Hof von Vera und Holger, direkt an der B105 gelegen. Durch das offenstehende Hoftor biegt Vera in den Innenhof ein, in dem ein großes Backsteinhaus sichtbar wird, beleuchtet von Lampen und ein längliches, flaches Nebengebäude, das nur von einer Lampe matt beleuchtet ist. Der Hof gepflastert, Kopfsteinpflaster, inmitten des Hofes ein Baum, eine Linde, denkt Betty, die begonnen hat, ihre Blätter abzusondern. Nun ist sie auf dem Land, was beim Aussteigen sofort ruchbar wird.

Vera lacht, ja, das sei kein Eau de Cologne, das sei Eau de Grevesmühlen von drüben, dem Schweinemastbetrieb. Sie müsse das Tor schließen, sei gleich wieder bei ihr.

Vera führt sie in das Haus, ein geräumiges Haus, ein breiter Eingangsflur, von dem aus eine Treppe nach oben und zwei Flure, links und rechts abgehen. Gleich hinter dem Eingang die Tür zur Wohnküche, dahinter das große Wohnzimmer mit offenem Kamin. Vorratsraum, ein Gäste-WC, ein Badezimmer, ein Zimmer, in dem ein Herd steht, der mit Holz und Kohle befeuert werden kann. Auf allen Fensterbänken ruhen Grünpflanzen. Es riecht nach Holz, der Fußboden mit Holzdielen ausgelegt. Aus der Decke ragen Holzbalken der Fachwerkstruktur und trotzdem wirkt alles nicht altmodisch. Ein Haus mit Charme, dem Betty die Mühe ansieht, die die Besitzer investiert haben. Vera führt dies alles vor, gibt kurze Kommentare dazu ab und hinter ihnen her läuft Helmut, höchst interessiert.

 

„Toll, ein richtig tolles zu Hause. Ihr habt sicher einige Arbeitsstunden investiert, um es so herzurichten.“

„Das kannst du laut sagen. Als wir den Hof kauften, hatten wir keine Vorstellung, was auf uns zukommen würde. Vieles haben wir erst bemerkt als wir mit der Renovierung anfingen. Am schlimmsten waren die Leitungen im Haus, sowohl für Wasser als auch für die Elektrik, mussten alle erneuert werden. Dann die feuchten Wände, die wir trocknen und isolieren mussten, ungeahnte Arbeiten, ungeahnte Kosten. Aber jetzt, wo alles fertig ist, alles vergessen. Wir sind angekommen…Du hast sicher noch Hunger. Zwar spät, aber eine Kleinigkeit könntest du vertragen. Oder?“

„Ja, gegessen habe ich heute wenig, macht aber nichts, freut sich die Figur. Aber gegen eine Scheibe Brot spricht nichts. Zuerst muss ich aber die Toilette benutzen. Macht sie. Vera legt für Betty Brot und Wurst zurecht, stellt eine Flasche Apfelsaft auf den Tisch. Bediene dich, fordert Vera Betty auf als diese zurückkommt. Von dem Brot müsste sie eine Scheibe abschneiden, ob sie eine Maschine habe, nein, lacht Vera, sowas machen wir manuell, nimmt den Laib Brot zur Brust und schneidet eine gerade Scheibe ab. Betty belegt die Scheibe mit magerer Wurst, den Apfelsaft meidet sie, zu viel Zucker, trinkt stattdessen ihr übliches Mineralwasser.

„Nun schieß mal los. Was war das für eine Sache in Leipzig.“

„Bist du nicht müde? Die Geschichte kann sich ziehen.“

„Hm, stimmt, gleich Mitternacht. So spät gehe ich sonst nicht zu Bett. Lege einfach los, ich werde schon nicht einschlafe.“

Die ganze Geschichte, von der kopflosen Leiche bis zu ihrem Besuch bei Frau Dönsch, jetzige Frau Kittel, spult Betty ab, interessiert verfolgt von Vera und Helmut, der zwar in seinem Körbchen liegt, aber gelegentlich den Kopf hebt, als hätte er genau verstanden, was Betty sagt.

„Wärst du nicht zu dieser Frau gefahren, hätte die dann nie erfahren, was mit ihrem Ex geschah?“

„Kann ich dir nicht sagen. Möglich, dass die Kollegen vom BKA ihr einen Besuch abstatten, wenn sie die Identität der Frau Kittel entdecken. Noch weiß anscheinend nur ich davon.“

„Meine Güte, das ist eine Geschichte nach Papas Geschmack, weil nicht untypisch für uns Ostler.“

Sie reden noch etliche Minuten, bereits nach ein Uhr, als beide merken, wie müde sie sind, und beschließen, es für heute gut sein zu lassen. Vera zeigt Betty ihr Zimmer im oberen Stock, auf dem auch das Schlafzimmer der Eheleute ist, ein Badezimmer und zwei weitere Zimmer. Betty Zimmer ist hübsch eingerichtet, fast wie eine Ferienwohnung, Einzelbett, Schrank, ein Tisch, zwei Sessel, ein Stuhl. Kurz „eine gute Nacht wünschend“ machen sich beide fertig für die Nacht, die für Betty lang, für Vera kurz werden wird.

 

Als Betty ihre Augen öffnet, ist es bereits zwanzig nach acht, was sie erstaunt feststellt. Ungewohnt lange hat sie geschlafen, steht nun auf, geht ins Badezimmer, lässt Wasser aus und Wasser über sich laufen, schlüpft in frische Unterwäsche. Noch schlaftrunken steigt sie die Treppe hinab in die Küche, ruft nach Vera, von der aber nichts zu vernehmen ist. Auch Helmut liegt nicht an seinem Platz. Auf dem Küchentisch steht geschnitten Brot, Wurst, Käse, ein Frühstücksei, noch warmer Tee. Sie bedient sich, schaut aus dem Fenster und sieht Vera in Gummistiefeln über den Hof eilen, setzt sich wieder hin und frühstückt weiter. Das Brot lecker, auch wenn es kein Vollkornbrot ist, wird schon nicht schaden, wird der Messwert später zeigen.

Als sie fertig ist, will sie den Tisch abräumen, weiß aber nicht wohin mit den Sachen. Gut Wurst und Käse in den Kühlschrank, das Geschirr in die Spüle, den Rest legt sie auf dem Küchenschrank ab. Vera kommt, flötet einen guten Morgen, Helmut hinter ihr, sei spät geworden, aber ihrem Vieh ist das egal, das hat seine Zeit, auf die es besteht. Da alle versorgt seien, wie sie sehe auch Betty, habe sie nun die Muse, sich dem Müßiggang hinzugeben, auf der Couch im Wohnzimmer, wohin sich die beiden zurückziehen.

Sie quasseln über die REHA, stellen fest, dass sie beide die unbeschwerten Tage in der Klinik missen. Vera zeigt ihr eine Textnachricht von Lisette, die aus einer Klinik grüßt, ein Selfie, sie im Bett liegend, betitelt, es wird schon wieder werden. Natürlich habe Vera ihr gleich die Frage gesendet, was mit ihr los sei, aber keine Antwort bekommen, trotz mehrfacher Nachfrage. Seltsam, diese Frau. Auf dem Foto ist nicht zu erkennen, was ihr geschehen ist. Sicher wieder das Herz.

Dann berichtet Betty von ihrer Großmutter, ihrer Erbschaft, dem Haus und was sie alles damit vorhat. Vera konnte aus ihrer Erfahrung schöpfen und ihr Tipps geben, was sie wie angehen sollte, vor allem, wie sie die Kosten im Griff behalten kann, denn ein Angebot kann schnell aus dem Ruder laufen. Festpreise seien gut, hätten aber auch ihre Risiken.

Gemeinsam bereiten sie das Mittagessen zu, Rosenkohl aus dem Garten, Kartoffeln aus dem Garten und Bratwurst vom Nachbarhof, denn Schweine hätten sie noch keine, seien aber in der Überlegung. Nach dem Essen dann die ausführliche Besichtigung des Hofes. Auf den ersten Blick mutet Betty der Hof an, wie der von diesem Opfer, der mit dem Kopfschuss, nur das der noch eine große Scheune beinhaltet, die Veras Hof nicht hat.

Vom Hühnerstall, weiter zum Stall der Ziegen, danach folgen zwei leere Räume, die demnächst zusammengelegt und für Veras Hofladen ausgebaut werden sollen. Von dem Nebengebäude will Vera Betty hinter in den Garten führen, dem Nebengebäude entlang, an dessen Ende Betty eine Holztür auffällt, in deren obere Hälfte ein kleines Herz ausgeschnitten ist. Ein Raum für Kinder? Sie betrachtet die Tür intensiv, überlegt, ob sie Vera nach der Tür fragen soll, lässt es aber, könnte die falsche Frage sein. Vera aber hat den fragenden Blick Bettys gesehen und erklärt ihr, dies sei ihr Plumpsklo.

„Ein Plumpsklo? Ihr habt doch drinnen neue Toiletten?“

„Den nutzen wir nur, wenn es notwendig ist.“

„Heißt was?“

Vera schaut Betty an mit einer Miene, die sagt, oh je, du hast keine Ahnung.

„Weißt du, es ist doch so, Wasser kommt aus der Leitung, ist da. Strom kommt aus der Steckdose, auch da. Wir heizen mit Öl, im Keller stehen Tanks, die einmal im Jahr gefüllt werden, unseren Müll sortieren wir in die Tonnen, die alle vierzehn Tage abgeholt werden. Haben wir uns gelöst, drücken wir die Taste und weg ist es. Alles so einfach, alles so praktisch. Wir sind rundum versorgt. Umsorgte Gewohnheit oder gewohnte Selbstverständlichkeit. Was aber, wenn all das nicht mehr funktioniert? Dafür haben wir vorgesorgt. Wir haben einen Brunnen, aus dem wir uns mit Wasser versorgen können. Ist kein Strom da, haben wir Kerzen und einen Herd, den wir mit Holz anmachen können, um zu kochen. Und entfällt unsere Heizung, haben wir den offenen Kamin, um das Haus warm zu halten, zumindest den unteren Teil. Für den Müll haben wir einen Komposthaufen, manches können wir verbrennen und für die Toilette, falls das Wasser ausfällt, haben wir das Plumpsklo, falls es notwendig wird. Wir sind nicht abhängig, wir leben sozusagen dual.

Wir versorgen uns größtenteils selbst, ich backe mein Brot, wecke Obst ein, koche Marmelade, friere Gemüse ein, wie früher bei Muttern.“

„Na ja, selbst wenn ich wollte, von meiner Mutter hätte ich so etwas nicht lernen können, eher von meiner Großmutter, aber auch bei ihr nur in eingeschränktem Maß. Aber ich finde das toll, was du machst.“

„Komm!“ Und, Vera voran, Helmut bereits weit voraus, gehen sie zum Garten.

 

Ein großer Garten, aufgeteilt in Nutzfläche, Streuobst, eine kleine Rasenfläche und am Zaun, der das Grundstück abschließt, eine Gartenhütte, umrahmt von Ziersträuchern und Blumen, von denen allerdings nur noch ein paar Astern blühen, einen Kräutergarten, Rosmarin und Salbei noch erntebereit, die restlichen Kräuter, wie Basilikum bereits brachliegend und eine Brachfläche. Vier Hochbeete stehen am Rande der Brachfläche, bis auf ein Beet aber weitgehend abgeerntet. Vera weist auf die Beete mit dem Rosenkohl, dem Lauch und dem Feldsalat, ein paar Möhren, Pastinaken und Petersilienwurzeln sitzen ebenfalls noch in den Beeten. Die Brachfläche will Vera später bepflanzen, wenn ihr Hofladen aufnahmefertig ist für die zusätzlichen Ernten. Sie hätten schon jetzt einen Überschuss und die Tiefkühltruhe sei voll und wegwerfen, dafür sei ihr ihr Angebautes zu schade. Ein Stück würde frei bleiben für Betty. Im Frühjahr, dann müsse sie unbedingt kommen und einsäen oder einsetzen, was sie gerne ziehen würde. Ziehen? Was sollte sie ziehen wollen? Keine Ahnung, aber egal, Vera wird es richten.

Zurück in der Küche, stellt Betty fest, dass sie zwei Anrufe auf ihrem Smartphone hat, zweimal Steprath, scheint wichtig zu sein, ruft zurück. Steprath nimmt an, ja, er habe versucht, sie zu erreichen, allerdings nichts Wichtiges. Sie hätten keine weiteren Fäden auf dem Weg zum Haus gefunden, aber er habe die Fäden mit den Produkten verschiedener Hersteller vergleichen lassen, mit dem Ergebnis, dass der Täter seinen Anzug von der gleichen Firma bezogen haben muss, wie ihre Schutzanzüge. Kurzes Nachdenken von Betty.

„Du willst mir sagen, die Fäden, die du in der Garage gefunden hast, stammen von dem Anzug einer unserer eigenen Leute?“

„Exakt. Du bist wirklich schnell von Begriff. Ich weiß sogar, wer die Garage durchsucht hat, übrigens ohne mein Wissen.“

„Na ja, machen wir einen Haken dahinter…und sonst, irgendetwas Neues?“

Sie hatten den Unfallverursacher ermittelt, das Kraftfahrzeug eingezogen, tatsächlich ein BMW-SUV und einem Spielhallenbesitzer gehörend. Griebel habe sich für seinen Riecher selbst gelobt und sich den Fahndungserfolg an sein Revers gehängt. Arme Lusi, denkt Betty.

„Dienstlich?“ fragt Vera, nachdem Betty das Handy wieder auf den Tisch ablegt. Ja, aber es sei nichts von Bedeutung gewesen. Helmut, in seinem Körbchen liegend, beobachtet Betty genau und als sie sich auf dem Sofa niederlässt, erhebt er sich, geht zu Betty, legt seinen Kopf auf ihre Oberschenkel und schaut sie intensiv an.

„Muss ich jetzt was tun?“

„Ihn graulen. Am Kopf.“

Und Betty grault Helmuts Kopf.

„Er mag dich. Deine Stimme scheint ihm vertraut, sie gefällt ihm.“

„Meine Stimme?“

„Ja, Hunde hören, ob sie einem Menschen vertrauen können. Helmut vertraut dir.“

„Hm. Was ist das für eine Rasse?“

„Ein Labrador. Ob noch andere Gene in ihm vorhanden sind, kann ich dir nicht sagen.“

Sie reden den Nachmittag über dies und jenes, Betty begleitet Vera bei der Fütterung, lernt die Hühner und die Ziegen kennen. Danach Abendbrot und Gespräche in die Nacht hinein. Bevor sie zu Bett gehen, der nochmalige Hinweis von Vera, dass sie morgen nach Wismar fahren würden, durch die Stadt bummeln und sich zum Mittag mit ihrem Vater treffen würden.

 

Um am Morgen mit Vera die Fütterrunde zu drehen, hat Betty die Weckfunktion in ihrem Smartphone aktiviert. Weibliche Solidarität hat sie sich gesagt, sie muss aus Solidarität Anteil an Veras Leben nehmen. Also steht sie auf, als der Wecker um sechs Uhr ihr anläutet aufzustehen, was sie tut, hatte gut geschlafen, fühlte sich ausgeschlafen und der Rest wird von der Dusche erledigt. Hm, denkt Betty, was ist die Alternative für die warme Dusche? Vera und Holger würden sich kalt am Brunnen abwaschen. Gut, muss sie nicht.

Als sie dann in der Küche erscheint, staunt Vera nicht schlecht. Ich werde dir heute Morgen zur Hand gehen, sagt Betty. Gut, ich füttere und du sammelst die Eier ein, ist Veras Antwort. Zunächst aber frühstücken sie gemeinsam.

„Warum bleibst du eigentlich nicht noch Donnerstag?“

„Nun, die Arbeit ruft und ruht nicht.“

„Am Donnerstag?

Betty versteht Veras Reaktion nicht, schaut sie fragend und schulterzuckend an.

„Donnerstag ist Feiertag. Tag der Deutschen Einheit. Klingelt da was?“

Verdattert schaut Betty drein, ja, wie konnte sie das vergessen, hat sie vollkommen von ihrem Schirm verdrängt. Vera hat ein breites Schmunzeln im Gesicht.

„Du, das habe ich total vergessen. Ich habe halt keinen Grund zu feiern, wahrscheinlich ist mir der Feiertag deshalb entgangen. Ja, theoretisch könnte ich demnach noch bleiben, aber praktisch muss ich zurück, ich habe eine Menge persönlichen Papierkram zu erledigen und bevor ich dafür Nachtschichten fahre, kann ich den freien Tag nutzen. Weißt du, ich muss meine Wohnung kündigen und alle auf meine Großmutter laufenden Dokumente ummelden auf mich.“

Irgendwie peinlich. Doch, Betty ist dieser Aussetzer peinlich, aber sie hat nun einmal nichts mit diesem Tag am Hut. Was hat sie mit der Vereinheitlichung zu tun? Das sie jetzt hier sein kann? Stimmt, dann wäre alles anders gekommen. Wer den Tag feiern will soll dies tun, aber sie nicht, nein, keinen Grund dazu. Vera lässt Bettys Antwort so stehen, räumt den Tisch ab, spült das Geschirr ab, Betty trocknet ab, dann gehen sie hinaus, Vera füttert, mistet aus und Betty versucht, die Glucken zu scheuchen, um an die Eier zu kommen, Vera muss lachend unterstützend eingreifen, wahrscheinlich grinst auch Helmut, der aus der Distanz das Tun von Betty beobachtet.

Nach dem alle Arbeit getan ist, machen sich die beiden für die Fahrt nach Wismar fertig. Helmut darf auch mit, nimmt auf dem Rücksitz platz. Als Vera den Wagen aus dem Hof auf die Straße steuert wird Betty erst bewusst, wie einsam der Hof liegt. Ob sie denn keine Angst habe, so allein, so abseits zu leben. Darüber habe sie sich noch nie Gedanken gemacht und wüsste auch nicht, wovor sie Angst haben sollte. Und, sie habe ja Helmut an ihrer Seite. Der Nachbar links wohnt gut achthundert Meter entfernt, der zur rechten Seite gut acht Kilometer. Ein einsames Wohnen, denkt Betty.

 

Vera preist während der Fahrt Wismar an, wie alle Hansestädte sei auch Wismar eine Stadt der Norddeutschen Backsteingotik, mit wunderschönen, wieder in alten Glanz gesetzten Bürgerhäusern. Es sei viel investiert worden, was der Stadt sehr gutgetan habe. Ihr werde die Stadt gefallen. Vera erzählt davon, wie sie in der Stadt aufgewachsen sei, nur das trübe, graue Gemäuer kannte, die holprigen mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen, die kleinen Läden, die im Grunde nichts anzubieten hatten, Kinos, die die DEFA-Filme zeigten, wobei einige Filme interessant waren, oder Filme aus den sozialistischen Bruderländern. Aber es habe auch Ecken gegeben, wo sich so etwas wie eine alternative Kultur, abseits vom sozialistischen Kulturbetrieb entwickelt habe, Blues- und Punkbands traten in Kellern auf, wurden teilweise sogar toleriert, natürlich streng überwacht, was sie gewusst hätten, aber gestört habe dies niemand. In so einem Kellerclub habe sie Holger kennengelernt, der der Musik wegen dort war, nicht weil er Punk oder ähnliches gewesen wäre. All den Mangel ausgeklammert, sei es eine schöne Zeit gewesen. Es habe in einem Keller sogar so etwas wie eine Diskothek gegeben, in der aus dem Westradio mitgeschnittene Musik gespielt wurde, allem voran die Stones, die in der DDR verboten waren, aber die die kamen, habe das nicht gestört. Sie waren auf dem aktuellen Stand der Musik des Klassenfeindes, allerdings immer wieder mal unterbrochen durch das Eingreifen der Staatsmacht. Ja, so sei dies gewesen.

Sie parkt den Wagen am Bahnhof, sie steigen aus, überqueren die Straße und beginnen den Rundgang am Rande der Altstadt, der Grube entlang, vor zum Schiefen Gewölbe und zurück bis zur Kirche St. Nikolai, in die Vera Betty führt. Helmut muss vor der Tür warten, weshalb Vera die Führung im Schnelldurchgang absolviert. Mehr unwillig als willig, betritt Betty die Kirche, die, wie alle Kirchen, nicht unbedingt ihr Ding ist. Die Kirche aber wird vielseitig genutzt, zeigt Stadtgeschichte, Kirchengeschichte. Es ist kalt in der Kirche und die Luft muffig, aber beeindruckend die Basilika, das Mittelschiff, der Chorumgang. Vera spult Erklärungen ab, die Betty vernimmt, akustisch, aber nicht abspeichert.

Kultur in Überfluss, Haus für Haus stellt Vera vor, Schabbelhaus, Reuterhaus, dann den Fürstenhof, die Wasserkunst, einst Versorgungsbrunnen für die Stadt, das Rathaus und das Restaurant „Alter Schwede“, sei eine Erinnerung an zweihundert Jahre schwedische Herrschaft über Wismar, was Betty, unwissend, sehr überrascht. Zweihundert Jahre schwedisch? Wow, alter Schwede.

In dem Restaurant werden sie nachher essen, ihr Papa komme hinzu. Und weiter geht es zur Stadtkirche St. Georgen, zum Glück nicht hinein, denkt Betty, aber hinauf. Wieder muss Helmut unten warten, erträgt es aber stoisch. Herrlicher Blick über Wismar und das Umland und die Ostsee.

Schließlich noch die Kirche St. Marien, von der allerdings nur noch der Turm steht, das Schiff haben staatliche Akteure des Arbeiter- und Bauernstaates weggesprengt, gegen den Willen entsetzter Bürger, aber was waren schon entsetzte Bürger. Die restaurierten Grundrisse zeugen von der Größe der Kirche. Platz, denkt sich Helmut und legt seinen Haufen innerhalb des Grundrisses ab. Vera zückt einen Kotbeutel und entsorgt Helmuts Geschäft, interessiert von ihm verfolgt.

Doch, eine sehr schöne Stadt, die in vielem an Lübeck erinnert, na ja, sei halt alte Hansetradition. Schade, dass sie Vera, wenn sie einmal komme, nicht in Lübeck begrüßen könne, würde ihr sicher auch gefallen, aber auch Hamburg habe seine schönen Seiten. Sie schlendern durch die Altstadt, Vera zeigt ihr noch das Gründungshaus von Karstadt, der sein Kaufhaus-Imperium aus Wismar startete, kommen am „Alten Schweden“ an, vor dem bereits Veras Vater steht. Kaum erkannt, zieht Helmut mit immenser Kraft Vera auf deren Vater zu, springt an ihm hoch, der Schwanz wedelt hektisch, die Zunge versucht Vaters Gesicht zu erreichen. Meine Güte denkt Betty, muss der den Mann lieben. Vera, gezogen von Helmut, steht vor ihrem Vater, drückt ihn an sich, wendet sich zu Betty und stellt ihrem Vater Betty vor, der ihr höflich die Hand reicht.

„So so, du bist also die Polizistin aus’m Westen. Vera hat mir viel von dir erzählt. Wir haben nicht viele Westkontakte, sind noch ganz provinzielle Ostler. Ich bin Hermann mit einem r, sei gegrüßt,“ wobei er verschmitzt lächelt.

 

Sie betreten das rustikal eingerichtete Restaurant, riecht nach Holz, Bier und feuchter Wärme. An der Decke schweben Schiffe (müsste eigentlich „Fliegender Holländer“ heißen, denkt Betty), offenes Mauerwerk, stillvolle rustikale Möbel, offener Kamin und eine Speisekarte, die einiges bietet, wie Betty feststellt, nachdem die Bedienung sie ihnen vorgelegt hat. Sie sei selbstverständlich eingeladen, also keine Zurückhaltung. Sie wählen aus, Betty bestellt die Wismarer Fischpfanne, ohne Bratkartoffeln, nur einen Beilagensalat dabei.

„Nun, wie hat dir die Stadt gefallen? Ist viel passiert in den letzten Jahren, nur leider nicht in den Köpfen der Leute. Statt zu würdigen, motzen die ungeniert, nicht alle, aber ein Großteil.“

„Die Stadt hat etwas. Und besonders gut finde ich, dass die Erneuerung sich am Alten orientiert hat, nicht alles abgerissen und neumodische Zweckbauten Platz machen musste. Ich wohne derzeit in Lübeck, da ist beim Wiederaufbau nach den Weltkriegszerstörungen einiges schiefgelaufen. Doch, das ist eine gelungene Stadtsanierung. Allerdings weiß ich nicht, wie es davor aussah und ob das Geld auch woanders geflossen ist, außer in die Altstadt.“

„Schlimmer. Es sah viel schlimmer aus, was schnell vergessen wird. Und ja, das meiste Geld ist in die Altstadtsanierung geflossen. Die, die drumherum wohnen, haben wenig von dem Segen abbekommen. Na ja, kommt auch kein Tourist hin…Ich denke, du wirst nicht gerne über deine Arbeit reden, aber ich bin neugierig. Dein Fall hat ja mit uns zu tun, also mit uns Ostlern.“

„Du denkst immer noch in Ost und West?“

„Na ja, an der Geographie hat sich ja nicht viel geändert. Ist, wie es war. Wir sind im Osten, ihr im Westen und das wird auch so bleiben.“ Dabei lächelt Veras Vater süffisant vor sich hin, meint das anscheinend nicht so wie er es sagt.

„Dein Fall hat dich nach Leipzig geführt. Eine Ost-West-Geschichte?“

„Ich würde eher sagen, eine West-Ost-Geschichte, wobei der Ost-Anteil im Grunde irrelevant ist.“

„Wie das?“

Ihre Essen kommen, serviert von zwei Bedienungen, die sich nach einem „Guten Appetit“ zurückziehen. Zeit, in der sich Betty überlegt, wie sie aus der Nummer wieder herauskommt, denn ihr ist absolut nicht danach, über die Sache zu reden, aber der erwartungsvolle Blick von Veras Vater lässt ihr keine Wahl.

„Die zeitweilige Annahme, das Verbrechen könnte aufgrund vergangener Vergehen des Opfers geschehen sein, hat sich erledigt. Herr Weidtmann oder Oberst Dönsch hat zwar einige krumme Geschäfte abgewickelt. Dafür gibt es allerdings keinen Kläger. Anscheinend wurde niemand geschädigt. Also kein Anlass, dass ein solches Verbrechen gerechtfertigt hätte.“

„Vera sagte mir, dieser Oberst, hat Leute mit Ausreisebewilligungen versorgt, gegen gutes Geld. Aber, nicht jeder konnte bezahlen. Der Typ musste eine Quote erfüllen, wir hatten schließlich unsere Planwirtschaft. Und Linientreue zeigt sich in einer guten Quote, die mussten die erbringen, die nicht zahlen konnten oder wollten. Nun stell dir einmal vor, da stellt jemand einen Ausreiseantrag und kann nicht bezahlen. Ein Klassenfeind! Er wird verhaftet, eingesperrt, ebenso seine Ehefrau, die Kinder werden in eine Pflegefamilie gegeben oder in ein Kindererziehungsheim. Tagtäglich, wochenlang, wird er widersinnigen Verhören unterzogen, die einzig dazu dienen, ihn zu brechen, zu demütigen, ihm seine Würde zu nehmen. Und das Gesicht seines Peinigers hat er stets vor Augen, ein Gesicht, das er vergessen will, aber nie wieder vergessen wird. Dann kommt die Wende, der Vater aus der Haft frei und muss feststellen, seine Frau hat sich in der Haft das Leben genommen und von seinen Kindern keine Spur. Und Jahre später trifft er zufällig auf das Gesicht, das er nicht vergessen kann. Meinst du nicht, der Mann hätte allen Grund, eine Familie auszulöschen, der es eindeutig besser erging als seiner Familie? Weißt du, solche Geschichten gab es. Und es waren keine Einzelfälle. Ich sage nicht, dass es so war, aber ihr solltet viel genauer auf diese Vergangenheit schauen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich dich wirklich ermuntern soll, tiefer zu bohren. Um Dönsch ist es nicht schade, aber die Frau und das Mädchen, die konnten nichts dafür, die hätte der Täter, wenn dem so wäre, nicht ermorden dürfen.“

„Du weißt, dass dies spekulativ ist, allerdings mit einem wahren Kern. Wir sind, soweit wir bisher ermitteln konnten, aber auf keinen derartigen Fall gestoßen, wobei die Aktenlage der Abteilung Dönsch stark ausgedünnt ist. Da ist viel Papier in Rauch aufgegangen.“

„Tja, er hat gewusst, warum er das tat. Ich habe mir Gedanken über diesen Mann gemacht, also soweit mir dies aus den Erzählungen von Vera möglich war, alles wirst du ihr auch nicht anvertraut haben, aber der Kerl war viel zu jung für den Titel eines Obersten. Und das lässt vermuten, dass er protegiert wurde. Und das wiederum heißt, die Geschichte ist größer als du denkst.“

„Dönschs Vater war, wenn ich das richtig verstanden habe, General bei der Volksarmee und irgendwelche Russen gingen bei den Dönschs ein und aus. Ich würde sagen, da gab es ein Beziehungsgeflecht, ja, wahrscheinlich auch ein Protegé oder mehrere, die den Jungen dahin setzten, wo er nützlich war. Die Geschichte ist viel zu verworren, dass es für uns einfache Landpolizisten so gut wie unmöglich ist, aufzudecken, was es aufzudecken gibt.“

 

Und damit schneidet er sich ein Stück seines Schnitzels ab und führt es sich nicht in den Mund, sondern unter den Tisch, wo Helmut geduldig wartet, das es weiter geht, erfreut über das panierte Stück Fleisch. Betty bedenkt, was er sagte. Na ja, möglich wäre es. Sie haben diese Opferspur nicht weiterverfolgt, nicht weiterverfolgen sollen, aber das muss Veras Vater nun nicht wissen. Um das Kapitel zu beenden, fragt Betty Veras Vater, ob er denn mit der Stasi in Konflikt geraten sei, was dieser verneint. Eine eigentlich belanglose Vorladung, mehr nicht. Aus heutiger Sicht aber, greife er sich an Kopf, wie naiv sie gehandelt haben. Vera sei noch ein Kind gewesen, ein beeinflussbares Kind, vor dem sie offen ihre systemablehnende Haltung gelebt hätten. Eine falsche Bemerkung von ihr und sie hätten sicher mächtig Ärger bekommen. Vera habe sich aber nie verleiden lassen. Sie sei ja bei den jungen Pionieren gewesen und die hatten nicht nur Spiel, Spaß und Freude, sondern oft Sonderaufgaben zu erfüllem, wie das Spähen nach auf den Dächern nach Westen ausgerichtete Fernsehantennen. Die Aktionen wurden bewusst spontan angesetzt, aber Vera habe es immer geschafft, sie rechtzeitig zu warnen.

„Du kannst dir nicht vorstellen, was das für Zeiten waren. Ich ärgere mich heute noch, wenn ich daran denke, welchen Gewissensbissen wir Vera ausgesetzt haben. Hätten wir rüber gekonnt? Hätten wir. Aber wir hatten ein Haus, wir hatten Arbeit und ich liebe meine Heimatstadt. Ich wäre nicht glücklich geworden, anderswo.“

Das Essen zieht sich, Bettys Fisch fast so kalt wie frisch aus dem Meer. Vera ist die Einzige, die, weil schweigend zuhörend, ihren Teller vor dem Erkalten leeren kann. Sie hatte, während ihr Vater redet, ihre Hand auf seine Schulter gelegt und gemeint, er habe alles richtig gemacht, müsse sich nichts vorwerfen.

Nach dem Essen noch einen doppelten Espresso, danach die Fortführung des Rundganges durch Wismar, nun begleitet von den Erläuterungen des Vaters, der aus der Erinnerung heraus erklären konnte, wer wo wohnte, welche Geschichten sich mit bestimmten Häusern verbanden, wo die Stasi, wo die Russen, also die geheimen Russen, saßen. Er ist prallvoll mit Geschichten. Der alte Hafen, der neue Hafen, allerdings fast schiffslose Häfen, bis auf ein paar alte Segler, bilden den Abschluss des Rundganges. Noch eine kurze Einkehr in ein Café am Hafen, durch das Wassertor zurück. Veras Vater verabschiedet sich, drückt Betty herzlich.

„Ich werde die Vergangenheit nicht los. Ihr habt nach fünfundvierzig aufgeräumt, wenn auch nicht voll und ganz und teilweise verspätet, aber ihr habt aufgeräumt und euch bekannt. Hier wurde zu wenig aufgeräumt. Helmut hatte andere Sorgen (Helmut schaut auf Veras Vater und erwartet eine Anweisung seines Herrchens, die aber ausbleibt). Ihr habt eure Erinnerungskultur, die haben wir nicht und da gibt es noch mehr, was wir nicht haben. Das wird noch lange das Trennende sein. Aber ich bin froh und glücklich damit, dass alles so gekommen ist wie es ist. Ich hoffe, du löst den Fall und sorgst für einen gerechten Ausgang. Komm gut nach Hause und bald wieder.“

Helmut verfolgt pinsend den Abgang seines Herrchens, der ihn ohne eine Streicheleinheit zurücklässt. Armer Hund, denkt Betty, versteht er nicht. Veras Vater geht in Richtung der Innenstadt, Betty und Vera vor zum Bahnhof, zu Veras Auto und fahren zurück zum Hof, wo sie noch Zeit haben, bis Betty zu ihrem Zug muss, dem vorletzten, der am Abend nach Lübeck fährt.

 

Zurück auf dem Hof, die Fütterungsrunde, kurzes Ausruhen, dann vorbereiten für das Abendessen, wobei Betty Vera bremst, nichts Warmes, einfach eine Scheibe Brot.

„Papa kann nervend sein. Stimmts?“

„Wieso nervend? Er hat ja recht, aber, und das darfst du ihm auf keinen Fall weitergeben, ich kann nicht, wie ich will. Heißt, eine höhere Macht will, dass wir nicht weiter in Dönschs Vergangenheit wühlen. Damit hängt der Fall fest, zumindest in dieser Richtung und die in die ich denke, nun ja, ist nicht die offizielle und nicht gerade realistisch. Würde ich meine Version behaupten, würde ich wahrscheinlich in einen Topf mit Verschwörungstheoretikern geworfen, wobei, so restlos überzeugt bin ich von meiner Theorie auch wieder nicht. Also werde ich stillhalten, mich hinter meinen Schreibtisch setzen und die Zeit bis zu meinem Abgang irgendwie herumbringen.“

„Klingt resigniert. Aber du wirst schon einen Weg aus dem Dilemma finden.“

„Lebt dein Vater allein? Wir haben nie über deine Mutter gesprochen. Er hat sie auch nicht erwähnt.“

Ihre Mutter sei vor sechs Jahren gestorben (was Betty bedauert), Magen- und Darmkrebs, zu spät erkannt, habe sie keine Chance gehabt. So viel sie wisse, habe ihr Vater eine Beziehung, über die er aber nicht spricht. Sie bedränge ihn deshalb nicht. Er brauche seine Zeit, um sich zu öffnen. Er komme noch sehr gut alleine zurecht, wenn dies nicht mehr möglich ist, würde sie ihn auf den Hof holen. Vera teilt Betty ihre Pläne mit, ab dem Frühjahr will sie wieder zwei, drei Kinder als Tagesmutter aufnehmen. Im Sommer, spätestens im Herbst, den Hofladen eröffnen, die Ziegenzucht erweitern und ihren eigenen Ziegenkäse herstellen. So reden sie in den Abend hinein, bis Betty den Aufbruch verkündet, Vera sie nach Wismar zum Bahnhof bringt, Betty ihr das Versprechen gibt, spätestens zu Weihnachten vorbeizukommen. Mit kleinen Tränen in den Augen verabschiedet sich Vera winkend von der davonfahrenden Betty.

 

Donnerstag, der überraschende Feiertag, dient Betty dazu, auszuschlafen, den Tag gemächlich anzugehen, sich den Zettel und den Ordner ihrer Großmutter vorzunehmen, um alle Ummeldungen schriftlich vorzunehmen. Müllgebühren, Grundsteuer, Wasserversorgung, Telefon, Gasversorgung, Stromversorgung, verschiedene Versicherungen, da gilt es einiges zu ändern. Irgendwann hält sie inne, addiert die Beträge, die anfallen, und stellt fest, dass einige Kosten auf sie zukommen, an die sie bisher nicht denken musste, nicht gedacht hat. Allein die Gasversorgung. Da galt es ein Haus zu heizen, keine zwei Zimmer. Und ihr Gehalt wird sich erheblich reduzieren, grob geschätzt, um fast eintausendfünfhundert Euro. Also finanziell ist sie als Kommissarin eindeutig bessergestellt. Doch ein Fehler, dieser Wechsel? Finanziell ja, aber Gesundheit kann man sich halt nicht kaufen, und die geht nun einmal vor. Egal, irgendwie wird sich alles einrenken. Think pink!

Den Nachmittag verbringt sie lesend auf der Couch, keinen Grass, Eva Menasse Dunkelblum, eine Buchempfehlung, woher auch immer, neugierig gemacht hatte, sie das Buch erworben, abgelegt und sich nun gegriffen. Schnell wird ihr klar, es geht wieder um die Vergangenheit, um die unbewältigte Vergangenheit. Auch wenn sie nicht Teil davon ist, ist sie trotzdem Teil davon. Sie muss sich mehr damit beschäftigen, mehr hinterfragen, das nimmt sie sich fest vor. Später schaut sie noch kurz in den Fernseher, nichts, was zum kurzen Verbleib geeignet ist.

Freitag im Büro führen ihre ersten Schritte zum Chef, dem sie von dem Gespräch in Leipzig berichten will, der aber abwinkt, interessiere ihn nicht, dürfe er ja gar nicht wissen und überhaupt liege der Fall in die Hände von Hauptkommissar Kelting, ihr neuer Kollege, seit Montag im Dienst. Sie könne sich nun ganz auf ihre Aufgabe als Fallanalytikerin konzentrieren und ihre Expertise einbringen, wenn dies gewünscht wird. Eine veränderte Tonlage, die Betty wahrnimmt, dem Gesagten nichts entgegnet, wohlwissend, dass nun eine ruhige, vielleicht langweilige Zeit beginnt, bevor Lübeck Geschichte ist.

Teil 2: Hamburg

 

Im Leben kommt es nicht darauf an, ein gutes Blatt in der Hand zu haben, sondern mit schlechten Karten gut zu spielen.

(Robert Louis Stevenson, schottischer Schriftsteller, 1850-1894)

 

 

Die Zeit ist um. Betty klappt ihren Laptop zu, schaltet ihn aus, schaut in die Runde. Auch Bettys Studentinnen und Studenten raffen ihre Sachen auf, verstauen sie, erheben sich murmelnd, verlassen geräuschvoll nach und nach den Raum. Drei ihrer Studentinnen verweilen noch, haben Fragen an Betty, die sie sich anhört, Antworten gibt und schließlich verlassen auch diese drei Studentinnen den Raum, in dem ihr jetzt erst der Mann auffällt, der an der Fensterfront angelehnt steht, die Arme vor der Brust verschränkt und Betty still betrachtet.

Kurzes überraschtes Stirnrunzeln bei Betty, sie kennt den Mann.

„Rainer? Ich fasse es nicht. Rainer, was zum Teufel machst du hier?“

„Hallo Betty. Es freut mich auch, dich wiederzusehen. Was mich hertreibt? Kurz gesagt, eine Frauenleiche ohne Kopf.“

Betty eben noch stehend, setzt sich, starrt auf Rainer Drewes, ihren ehemaligen Kollegen aus der Mordkommission in Hamburg. Ihr Herz macht Sätze, pocht heftig, Wärme schwallt in ihr hoch. Sie weiß, was das bedeutet, eine Frauenleiche ohne Kopf. Drewes bewegt sich vom Fenster weg auf Betty zu.

„Als ich die Leiche sah, habe ich mich sofort an euren Fall in Lübeck erinnert. Da habe ich noch vom Fundort der Leiche in Lübeck angerufen. Dein Kollege, dein ehemaliger Kollege, sagte mir, dass du den Polizeidienst verlassen hättest und nun an der Uni lehrst, in Hamburg. Das hat mich fast umgehauen. Egal, daraufhin habe ich Giede angerufen und der hat mir bestätigt, dass du bei ihm lehrst, also habe ich mich sofort losgerissen, um herzukommen…Betty, ich brauche dich Betty. Dringend. Mit Giede habe ich gesprochen. Er ist einverstanden, dass du uns kurzfristig unterstützt.“

Betty ist sprachlos, atemlos. Der Schreck hat sie sich gekrallt. Eine kopflose Leiche? In Hamburg? Der Lübecker Fall innerlich fast abgehakt, in ihrem Hinterkopf abgelegt, aber doch nicht weggelegt, plötzlich präsent, wieder da, so präsent. Sie blickt zu Rainer.

„Setzt dich. Das muss ich erst verdauen.“

„Nein, nicht setzen. Ich möchte dich bitten, mitzukommen. Ich habe angeordnet, die Leiche liegen zu lassen, damit du sie dir genau anschauen kannst. Wir sollten losfahren. Wir können während der Fahrt reden. Komm schon. Es ist alles geregelt, Giede weiß Bescheid und ist einverstanden.“

Nein, damit hat sie nicht gerechnet. Aber schlagartig wird ihr klar, dass alle damaligen Überlegungen bezüglich der Russen- oder Vergangenheitsspur obsolet sind, ihre eigene Ansicht neuen Auftrieb erhält. Aber abwarten. Alles in Ruhe wirken lassen. Gedankenversunken erhebt sie sich, geht auf Rainer zu, klopft ihm auf die Schulter.

„Gut, dann lass uns fahren.“

 

„Was wisst ihr bis jetzt über die Leiche?“

„Nicht viel. Sie hat keine Papiere bei sich. Der Gerichtsmediziner schätzt sie auf sechszehn bis achtzehn Jahre. Tatzeit, ungefähr zwischen zwei und vier Uhr am Morgen. Fundort ist nicht gleich Tatort. Aus den umliegenden Häusern hat niemand etwas mitbekommen.“

„Die Leiche liegt wo?“

„Auf einem Grünstreifen unter einer Eiche und auf dem Boden.“

„Hört sich alles an, wie bei dem Fall in Lübeck.“

„Nun, deshalb habe ich dich aktiviert.“

Sie eilen durch die Universitätsgebäude, streben dem Ausgang zu, vor dem Rainer seinen Dienstwagen abgestellt hat. Er öffnet die Türen, Betty nimmt auf dem Beifahrersitz Platz, schiebt den Sitz nach hinten. Rainer startet den Wagen und fährt los.

Sie müsse ihn zunächst aufklären, wie es kam, dass sie den Polizeidienst verlassen habe. Er habe immer gedacht, sie sei eine zielstrebige Vollblutpolizistin. Ob dies mit ihrem Unfall zu tun habe. Indirekt ja und Betty teilt Rainer ihre Geschichte mit, vom Niederschlag über die REHA bis zu ihrer Entscheidung, ihrer Gesundheit den Vorzug zu geben. Tja, und nun sei sie seit drei Wochen in Hamburg und arbeite sich langsam in den Lehrbetrieb ein und aus dem Polizeidienst heraus, bis er aufgekreuzt sei. Ob sie diese Entscheidung auch ohne das Angebot von Professor Giede getroffen hätte, wisse sie nicht. Es sei aber zum richtigen Zeitpunkt gekommen und nicht zuletzt hat das Haus ihrer Großmutter, dass sie nun bewohne, dazu beigetragen nach Hamburg zurückzukehren. In Lübeck wäre sie, egal wie es gekommen wäre, nicht verblieben. Es habe sich zu vieles negativ entwickelt, ohne Hembach. Ob sie wisse, wie es diesem gehe, will Rainer wissen. Der sei zur Reisetante, nein Reiseonkel, geworden, fahre seinen Ruhestand durch die halbe Welt, was sie mit einem Lachen sagt.

 

Sie erreichen die Walderseestraße in Othmarschen. Die Meute der Polizeifahrzeuge, das Absperrband, Leute in weißen Overalls, Polizisten, die den Fundort vor neugierigen Blicken schützen, Reporter, Kameras, alles da, alles schon fast vergessen. Sie werden eingelassen, ein Kollege hebt ihnen das Absperrband hoch, Rainer parkt mitten auf der Straße, sie steigen aus. Über dem Leichnam ist ein Zelt stehend. Betty geht auf die Leiche zu, nimmt sie in Augenschein. Sie liegt auf der Seite, nicht auf dem Rücken, die Beine angewinkelt, ein Arm liegt unter der linken Körperhälfte, der andere fällt lose nach unten. Andere Haltung als die damalige Leiche. Die Finger verkrampft. Der Kopf wieder sauber getrennt. Sie liegt auf dem Boden, wieder ein junges Ding. Das rechte Bein ist angewinkelt. Betty bückt sich, der Winkel ist unnatürlich. Sie folgt der Linie, die die Spitze des Winkels anzeigt und ihr Blick mündet in ein Haus, drei Grundstücke vom Fundort entfernt.

„Mein erster Eindruck. Entweder es ist der gleiche Täter wie in Lübeck oder ein Nachahmer. Letzteres werden wir gleich erfahren. In welchem der Häuser dort drüben habt ihr niemand angetroffen?“

„In zwei Häusern.“

„Eines davon ist das dort drüben.“ Sie zeigt auf das Haus, das auf der Linie des Winkels liegt und Rainer nickt, nicht überrascht, trotzdem leicht verdutzt.

„Gut, da müssen wir hinein. Wenn es der gleiche Täter ist, wirst du dort zwei weitere Leichen finden. Weißt du schon, wer dort wohnt?“

Oberkommissar Drewes winkt einen Kollegen herbei.

„Wer hat die Befragung der Anwohner durchgeführt?“

„Valerie.“

„Schick sie her.“

 

Die Sache sei sehr ernst. Könne es sein, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun haben? Betty zuckt mit den Schultern, sei schwer zu sagen, aber sie würden schnell dahinterkommen. Schnell? Wie meine sie das?

„Wir haben in Lübeck in die falsche Richtung ermittelt, die Richtung beibehalten, und als wir an unsere Grenzen gestoßen sind, aufgegeben. Hier ist die Richtung eine andere als in Lübeck. Sie ist offen.“

Valerie steht vor Rainer, der sie fragt, ob sie wüsste, wer in dem Haus, auf das er zeigt, wohne. Nein, kein Namensschild an der Torklingel.

„Lass uns gehen,“ fordert Betty Rainer auf.

„Ähm Betty, das ist Valerie, meine Kollegin und Valerie, das ist Betty unsere Kriminalpsychologin. Sie wird uns in diesem Fall beraten.“

„Hallo Betty, hab schon von dir gehört, Rainer war immer auf dem Laufenden. Hast ja aufregende Fälle hinter dir. Und jetzt? Was machen wir dort drüben?“

„Die Tür einschlagen!“

Valerie schmunzelt Betty an, ein Blick, der sagt, nicht dein Ernst. Sie überqueren die Straße, beäugt von der Presse, den Schaulustigen, die ahnen, dass nun der nächste Akt folgt. Vor dem Haus hält Betty inne, betrachtet sich das Haus, auch hier eine Villa, allerdings nicht so prächtig wie die der Weidtmanns. Auch das Grundstück deutlich kleiner, umringt von einer Mauer. Sie sucht die Pfosten und Ecken nach Kameras ab, entdeckt zwei Stück, eine links, eine rechts auf den Ecken des Grundstücks. Im Torpfosten der verdeckte Kasten mit einer Tastatur, allerdings erweitert gegenüber der Tastatur bei den Weidtmanns, versehen mit einem Feld, für einen RFID-Code oder eine Chipkarte. Sie mutmaßt, wer diese Anlage installiert hat, zückt ihr Smartphone, schaut auf das Display, interessiert beäugt von den beiden Polizeikollegen, ja, Stupi ist noch gespeichert, drückt auf Anrufen. Kurzes Gepiepse, eine Frau meldet sich, sie wolle Herrn Stupi sprechen, Frau Sundberg sei am Telefon, Kripo Hamburg. Schweigen. Er sei nicht vor Ort. Schlecht, vielleicht könne sie ihr helfen, sie stehen vor dem Haus Walderseestraße 138, das anscheinend mit der Sicherheitstechnik von SecTec ausgerüstet sei, ob sie feststellen könne, ob dies zutreffe. Sie möge bitte warten oder besser, in fünf Minuten noch einmal anrufen. Ginge das? Gut.

„Sehe ich das richtig, dass die gleiche Firma für die Sicherheit zuständig ist, wie in dem Haus in Lübeck?“

„Exakt. Im Moment noch eine Vermutung, aber wir werden in fünf Minuten wissen, ob dies so ist.“

 

Fragezeichen im Gesicht von Valerie, lassen Rainer erklären, warum Betty hier ist, was sie mit dem Fall zu tun hat und dass sich in Lübeck ein fast gleicher Mordfall ereignet hat, in dem Betty damals ermittelt habe. Parallelen seien da und scheinen sich weiter zu bestätigen.

„Mach dir schon einmal Gedanken, wie wir in das Haus kommen. Wenn wir über die Mauer steigen, wird sicher ein Alarm ausgelöst, möglich das Hunde auf uns losstürmen, aber damit sind wir noch nicht im Inneren des Hauses und rechtlich abgesichert sind wir auch nicht.“

Nochmaliger Anruf, die Dame nimmt wieder ab, bestätigt, dass die Anlage im Haus Koci von ihnen ist. Herr Stupi solle so schnell wie möglich herkommen.

„Koci, klingelt es da bei dir?“

Rainer schaut Valerie an, die öffnet vorsichtig die Lippen, ja, Adnan Koci, sei ihr kein Unbekannter. Er sei der Sohn von Sadri Koci, Besitzer mehrerer Restaurants in und um Hamburg und stehe in Verdacht der Geldwäsche und des Drogenhandels, allerdings ohne dass ihm ein konkretes Vergehen nachgewiesen werden konnte. Die Familie stamme aus dem Kosovo. Betty geht ein Licht auf. Es kann kein Zufall sein, dass beide Opferfamilien, wobei ja noch nicht klar war, dass auch diese Familie Opfer wurde, woran Betty allerdings nicht zweifelt, kriminell vorbelastet sind, um es vorsichtig auszudrücken. Diese Leute würden sich hüten, mit der Polizei zu kooperieren, was der Täter anscheinend in seinem Plan berücksichtigt hat. Er konnte also erpressen, wohlwissend, dass seine Opfer nicht die Polizei einschalten würden. In Bettys Kopf zeichnet sich langsam ein Bild ab, dass sie aber noch dort behält, noch fehlen ein paar Indizien, um damit herauszurücken.

 

„Nun, bist du zu einem Entschluss gekommen? Rein müssen wir. Wenn nicht jetzt, dann gleich.“ Betty schaut fordernd auf Rainer, der unschlüssig ist, seinen Chef befragen muss. Er ruft seinen Chef an, erklärt die Situation, vor der sie stehen. Der Chef bittet, mit Betty zu sprechen.

„Moin Frau Sundberg, Sören Hansen, wir haben uns nicht mehr kennengelernt, aber, wenn ich recht erinnere, sind wir uns schon über den Weg gelaufen. Schön Sie an unserer Seite zu sehen. Wie sicher ist es, dass in dem Haus zwei Leichen liegen?“

„Ich würde sagen, achtzig Prozent sicher und zwanzig Prozent wahrscheinlich.“

„Das ist eine präzise Ansage. Dann geht da rein, Gefahr in Verzug. Ich besorg die Lizenz dafür.“

Dieses Go gibt Betty weiter. Rainer und Valerie schauen sich um. Die Mauer gut zwei Meter hoch, keine Leiter weit und breit, einen Wagen heranfahren, auf ihn und über die Mauer steigen. Guter Plan, meint Betty, und sieht die Delle, die sie auf dem Autodach hinterlassen wird, sofern sich die Tür nicht von innen öffnen lässt.

„Warte noch mal. Wohnt der Vater auch in dem Haus?“

„Soviel ich weiß, nein.“

„Habt ihr eine Telefonnummer, um ihn zu erreichen. Er kennt sicher den Türcode. Wenn er schnell hier sein kann, könnten wir uns den Kraftakt ersparen.“

„Da müsste ich im Präsidium rückfragen.“

„Nein, dauert zu lange. Rüber mit dir und schau, ob das Tor von innen geöffnet werden kann.“

Rainer bittet einen Kollegen von der Streife mit seinem Fahrzeug dicht an die Mauer zu fahren, was dieser tut, steigt auf den Wagen, verärgert beobachtet von dem Wagenlenker, hievt sich auf die Mauer und lässt sich auf der anderen Seite hinab. Alles bleibt ruhig, kein Alarm, aber Hundegebell. Valerie springt schnell auf den Wagen, zieht ihre Waffe aus dem Halfter und hält sie bereit, ihren Kollegen zu schützen. Rainer eilt zum Tor, sucht nach einem Drücker, findet ihn und kann das Tor öffnen. Von oben stürzen zwei Hunde heran, Rottweiler. Durch das offene Tor gehen Betty und der Streifenpolizist, Rainer hebt die Arme, ruft die Hunde an, „Aus“, „Aus“, was die Hunde anscheinend nicht verstehen, der Kollege von der Streife schreit ebenfalls und Valerie gibt zwei Warnschüsse ab. Erst die lassen die Hunde stoppen, aber weiter mit flotten Schritten auf die Eindringlinge zulaufend, mit knurrenden, wütenden Mäulern, aus denen Sapper läuft, als seien sie heiß auf frisches Fleisch. Sie bleiben auf Distanz, stehen bellend, scheinen über das, was da vor ihnen passiert, irritiert zu sein, zumal weitere Polizeibeamten, aufmerksam geworden durch den kleinen Tumult, durch das Tor streben.

„Holt Ann,“ fleht Rainer, die alarmiert durch das Hundegebell längst auf dem Weg ist, die Situation erfasst, zurück zu ihrem Wagen eilt, Hundekuchen entnimmt, der eigentlich für Nero vorgesehen ist, als Belohnung dafür, den Kopf des Mädchens gefunden zu haben, was er nicht hat, also belohnungslos bleibt, zurückeilt und den beiden immer noch zähnefletschenden Rottweilern den Hundekuchen zuwirft. Die beiden nun vollends verwirrt, nehmen das Leckerli auf, der eine legt sich ab, der andere setzt sich und Ann, die Hundeführerin, beruhigt die beiden Hunde, bis sie gänzlich verstummen.

„So, dann können wir endlich. Lasst hier niemanden hinein. Ole und Kemper kommt mit,“ weist Rainer an und geht zielstrebig auf das Haus zu, gefolgt von Betty, Valerie, Ole und Kemper.

 

Vor der Haustür halt, Betty sagt, kein reinkommen, auch die Tür sei sicher nur mit einem Türcode zu öffnen, was so ist. Sie müssten rundum schauen, eventuell über die Terrasse ins Haus kommen. Sie umkreisen das Haus, auf dem Betty weitere Kameras entdeckt, steigen eine kleine Treppe aus dem Garten zur Terrasse führend auf.

Bleibe nur ein Schlag, was sicher einen Alarm auslösen würde, aber egal, Gefahr im Verzug. Die Schusswaffe als Hammer nutzend schlägt Rainer die Scheibe neben dem Türgriff ein, das Geheul der Anlage geht los, greift nach dem Türgriff, aber abgeschlossen und kein Schlüssel steckt. Er benutzt nun seine Füße und tritt alles Glas weg, um durch die Öffnung in die Wohnung zu gelangen. Zu schmal für Betty, die versucht sich vorzustellen, wie es gehen könnte, sich hier durchzuquälen, sagt, sie gehe vor zur Haustür, die Rainer bitte öffnen solle. Valerie, eine junge Frau mit schmaler Gestalt dagegen hat kein Problem, ihrem Kollegen zu folgen. Hurtig vor zur Eingangstür, sie ist aufgeregt, will nichts verpassen, will, das, was sie sich zurechtgedacht hat, so eintrifft. Sollte sie nicht wollen, aber sowieso nicht zu ändern.

Vorne angekommen hat Rainer bereits die Tür geöffnet, schaut Betty gespannt an, fragt „Wohin?“

„Das Schlafzimmer der Eltern suchen. Wahrscheinlich oben. Schauen wir zunächst aber unten nach. Und zieht euch Überschuhe und Handschuhe an. Ihr lauft in einem Tatort herum.“

„Ist das so?“ fragt Valerie betroffen.

„Vermutlich.“

Nur, Schutzanzug und Handschuhe haben sie natürlich nicht in den Hosentaschen, also muss Rainer einen Beamten vor der Tür damit beauftragen, ihnen das zu beschaffen, zumindest Überzieher und Handschuhe. Derweil hört Betty in das Haus hinein. Völlige Ruhe, wäre das ferne wieder aufgeflammte Gebell der Hunde nicht gewesen. Mit ihrer Nase zieht sie kräftig Luft ein, versucht wahrzunehmen, ob der Geruch des Todes bereits im Haus steht, kann aber nichts außer den Geruch nach Reinlichkeit aufnehmen. Hm, der hat wieder sauber gemacht. Der Kollege zurück, mit dem Gewünschten in der Hand, sie ziehen sich die Überzieher an, die Handschuhe über, durchsuchen das untere Geschoss. Keine verdächtigen Spuren, alles scheint ordentlich an seinem Platz zu stehen. Nach oben und damit ein steigendes mulmiges Gefühl im Magen. Gleich das erste Zimmer das Schlafzimmer der Eheleute. Rainer, der die Tür geöffnet hat, verharrt, dreht sich um, schaut resigniert auf die beiden Frauen, macht einen Schritt zur Seite. Der Kopf einer Frau, kleines blutiges Loch in der Stirn, wird sichtbar. Das akkurat gemachte Bett neben ihr leer.

Rainer ruft die KTU herbei. Die beiden Frauen nähern sich der Toten. Wie Frau Weidtmann liegt sie da, all die Bilder, die vergessenen Bilder in ihrem Kopf, erscheinen wieder.

„Du hast es nicht gewusst, aber geahnt. Ist es wie in Lübeck? Der gleiche Täter?“

„Ja, ich habe jetzt keinen Zweifel mehr. Das gleiche Szenario, der gleiche Täter. Komm, wir haben noch nicht alle Leichen gesehen. Dies Paar hat getrennte Schlafzimmer.“

„Rainer, die KTU soll als erstes das Badezimmer auf Blutspuren untersuchen. Die Leiche da draußen wurde sicher im Badezimmer enthauptet und ist übrigens die Tochter der Kocis.“

 

Das nächste Zimmer, eine Art Herrenzimmer, Bürotisch und -stuhl, Computer auf dem Tisch, Sessel, Couch, auf der liegt Herr Koci, kleines Loch in der Stirn. Ein Foto auf dem Schreibtisch zieht Bettys Aufmerksamkeit auf sich, sie geht hin, hebt es an, sieht eine Frau, ein Mann, ein Mädchen und noch ein Mädchen. Die beiden Mädchen noch Kinder, eines der Kinder liegt draußen auf dem Seitenstreifen. Wo ist das andere? Finden sie noch eine Leiche oder ist diese Tochter dem Massaker entkommen, weil sie, wie Henri, andernorts studiert? Die Gewissheit stellt sich im nächsten Zimmer ein. Ein junges Ding liegt dort in den Kissen mit einem blutigen Kranz auf der Stirn. Scheißeaberauch, flucht Betty innerlich, blickt tief betrübt auf Valerie, die auch entsetzt auf das starrt, was da vor ihr liegt.

Mit den einrückenden Leuten der KTU stürmt auch Rainers Chef die Treppe hoch, geht fragenden Blickes auf Rainer zu, der die Situation erklärt. Hansen, als er hört, wer die Toten sind, schlägt sogleich Rache im Milieu als Tatmotiv vor. Rainer blickt zu Betty, die schüttelt mit dem Kopf, gibt aber keinen Kommentar dazu ab, wendet sich ab und steigt die Treppe hinunter ins Parterre, sucht sich einen Platz, um sich abzusetzen, setzt sich und stiert vor sich hin. Was ist das? Eine Wiederholung? Ein Déjà-vu? Warum sie? Warum in Hamburg? Reist der Typ ihr nach? Sollte es doch mit ihrem letzten Fall zu tun haben. Der Pfleger wieder in Aktion? Spielt mit ihr, wie er schon einmal mit ihr gespielt hat? Wieder diese Unsicherheit, die in sie zieht, von ihr Besitz ergreift.

Rainer setzt sich neben sie.

„An die Milieurache glaubst du nicht. Um was geht es hier?“

„Lass uns folgendes machen. Rufe deine Leute im Büro zusammen. Es gibt Aufgaben zu verteilen. Wenn diese die Antworten bringen, die ich vermute, erkläre ich dir, um was es geht. Im Moment ist es mir noch zu früh dafür, wäre mehr Spekulation als auf Fakten gestützt.“

Ihr Smartphone rasselt, nimmt an, Herr Stupi, was denn so wichtig sei.

„Herr Stupi, wir sind uns bereits in Lübeck begegnet, der Fall Weidtmann. Sie erinnern sich?“

„Und wie. Und sie sind die Frau Sundberg von damals.“

„Genau die. Im Haus Koci hier in Hamburg ist das Gleiche passiert wie in Lübeck. Sie verstehen, was so wichtig ist? Und fahren Sie nicht wieder mit Ihrem Geschäftswagen vor.“

„Oh nein, nicht schon wieder. Ich bin sofort da.“

„Wer war das?“

„Der Geschäftsführer der Firma SecTec. Wir hatten vermutet, dass einer seiner Leute in die Sache verwickelt war, da vieles auf Insiderwissen hinwies, konnten unseren Verdacht aber nicht nachweisen. Ich denke, ihr müsst die Firma noch einmal auf den Kopf stellen, denn es kann kein Zufall sein, das erneut das System der Firma unterlaufen wurde. Ach, sage deinen Leuten da draußen, dass sie ihn hereinlassen sollen. Er wird gleich auftauchen. Und noch eines, seiner Firma droht großer Schaden, wenn publik wird, dass seine Anlagen in zwei Fällen ausgetrickst wurden. Wir müssen ihn und seine Firma deshalb fürsorglich behandeln.“

 

Er werde alle verfügbaren Leute zusammentrommeln. Achtzehn Uhr im Präsidium, ob das okay sei. Muss es. Draußen bricht plötzlich wildes Geschrei los, die einen brüllen nein und stopp und eine andere, tiefe Stimme: mein Sohn, mein Sohn. Betty erhebt sich, eilt zur Haustür, vor der sich der Tumult abspielt. Mehrere Beamte umringen einen wild um sich schlagenden Mann, versuchen, ihn irgendwie in den Griff zu bekommen. Die Arme in die Hüften gestützt, baut sich Betty in der Haustür auf, betrachtet gelassen das Geschehen und sagt mit leiser Stimme „Beruhigen Sie sich, Herr Koci.“ Der tobt weiter, flucht, weint, schreit seine Wut heraus. Betty etwas lauter „Beruhigen Sie sich, Herr Koci.“ Er blickt sie an.

„Was ist mit meinem Sohn? Ich will meinen Sohn sehen! Mein Sohn, mein Gott, mein Sohn.“

„Später, Herr Koci, später. Erst, wenn Sie sich beruhigt haben.“

Doch der hat nicht die Absicht, sich zu beruhigen. Schließlich brüllt auch Betty, er solle endlich ruhig sein, so werde das nichts. Brüllend sei kein Gespräch möglich. Einer der Streifenpolizisten teilt Rainer mit, Herr Koci sei mit seinem Auto durch die Absperrung gerast, hätte fast den Beamten an der Sperre überfahren, habe zwei Beamten niedergeschlagen und jetzt sei er hier und wollte in das Haus stürmen.

Herr Koci überrascht über Bettys plötzlichen harschen Ton wird ruhiger. Sie geht auf das Bündel Menschen zu, bleibt vor Koci stehen, blickt ihm in die Augen.

„Können wir jetzt, wie normale Menschen miteinander reden?“

Ein brennender Blick auf sie, in dem sich Wut, Hass, Abneigung, Widerwillen bündeln. Betty bittet die Kollegen, Herrn Koci loszulassen. Unverständnis bei den Kollegen, unsicher, wer die Frau ist, die ihnen da eine Anweisung gibt. Sie schauen auf Rainer, der nickt, sie lassen den alten Koci los, der schüttelt sich, als hätten ihn die Hände der Polizisten beschmutzt, seine Augen auf Betty gerichtet.

„Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen. Aber nur, wenn Sie sich benehmen, sonst greifen die Kollegen wieder zu und führen Sie ab. (Mit Nachdruck) Verstanden?“

Schweigendes Nicken, immer noch aggressive Mimik. Mit ihrer Hand hinter ihrem Rücken gibt sie Rainer ein Zeichen, ihnen nicht zu folgen. Sie greift nach Kocis Arm, als wolle sie sich unterhaken, was er schon im Ansatz abwehrt. Auch egal, denkt sich Betty. Sie wandeln auf dem schmalen Pfad, der zwischen Haus und der Rasenfläche entlangführt.

„Sie wissen, was da drinnen passiert ist. Woher?“

Schweigen.

„Egal. Trotzdem verstehe ich Ihre Reaktion nicht. Sie schreien nach Ihrem Sohn. Was ist mit den beiden Enkeltöchtern und der Schwiegertochter? Zählen die nichts in Ihrer Familie?“

Schweigen. Vor Zorn funkelnde Augen.

„Herr Koci. Ich weiß vieles. Ob ich den Täter überführen kann, weiß ich nicht, aber ich gebe ihn mein Versprechen, alles zu unternehmen, ihn zu finden. Und, ich verspreche Ihnen, Sie zu ihrem Sohn zu führen, bevor dieser von der Gerichtsmedizin abgeholt wird. Sehen Sie mich nicht als Ihren Feind. Ich bin keine Polizistin, sondern Kriminalpsychologin, die kein Interesse daran hat, Ihnen aus Ihren ungesetzlichen Aktivitäten einen Strick zu drehen. Was Sie mir sagen oder auch nicht, bleibt allein bei mir. Uns hört niemand zu. Ich weiß, dass es Ihnen ein Gräuel ist, mit der Polizei zu kooperieren, aber Sie sollten dies tun. Sie helfen mir, ich Ihnen.“

 

Herr Koci bleibt stehen, betrachtet Betty, die ihn überragt, die Miene leicht entspannt. Wieder ein sanftes schweigendes Nicken.

„Haben Sie den Namen Joachim Weidtmann schon einmal gehört? Gut, ich werte Ihr Schweigen als ein Nein. Die Spedition Gräven & Heuer in Lübeck kennen Sie aber bestimmt, denn von der beziehen oder bezogen Sie das Kokain, das Sie in Umlauf bringen (ein Schuss ins Blaue).“

Schweigen.

„Herr Weidtmann erlitt das gleiche Schicksal, wie die Familie Ihres Sohnes. Ihm gehörte die Spedition, die Kokain über Russland nach Lübeck schmuggelte. Das heißt, er führte kriminelle Geschäfte, genauso wie Sie oder Ihr Sohn. Und das wusste der Täter. Er hat damit kalkuliert, dass sie unter keinen Umständen zur Polizei gehen werden und auch sonst sich in Schweigen hüllen würden, denn, davon gehe ich aus, wie Herr Weidtmann, wurde auch Ihr Sohn erpresst. Drei Millionen Euro sollte er zahlen, für was auch immer. Peinlich, der Kollegenkreis hätte sicher Spott über die Familie Koci ausgeschüttet, die sich hat vorführen lassen. Die Frage lautet also, hat Ihr Sohn, Sie um Bargeld gebeten, um drei Millionen Euro?“

Innehalten, kurzes ausschnaufen, nachdenklicher, aber nicht überraschter Gesichtsausdruck.

„Sie scheinen eine kluge Frau zu sein. Ich respektier und schätz kluge Frau.“

„Schön. Und? Was können Sie mir sagen?“

„Ich kenn keinen Weidtmann. Kenn keine Spedition. Mein Sohn und ich mache keine kriminelle Dinge. Er wollt kein Geld von mir.“

„Gut, wenn Sie das sagen, aber glauben tue ich Ihnen das natürlich nicht. Ich weiß es anders, aber egal. Hat jemand Ärger oder einen Grund auf Sie und Ihre Familie wütend zu sein? Ein Konkurrent? Ein politisches Motiv? Jemand aus dem Milieu? Das glaubt zumindest der Chef der Mordkommission. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was dieser Verdacht bedeutet. Da wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Der Mord wird viel Staub aufwirbeln und die Polizei unter gewaltigen Erfolgsdruck setzen, was heißt, die Szene wird aufgemischt.“

Ein intensiver Seufzer entweicht ihm. Er ringt mit sich, glaubt Betty, aber der grauhaarige und -bärtige Mann schweigt weiter, stiert vor sich hin.

„Warum hat Ihr Sohn das Haus sicherheitstechnisch so aufgerüstet? Fürchtet er sich? Vor was oder wem?“

„Hören Sie, Frau…“

„…Sundberg, Bettina Sundberg…“

„…Frau Sundberg. Ich hab andere Gedanke. Ich hab Trauer. Verstehn Sie? Geben Sie mir Zeit. Ich red mit Ihnen. Aber ich brauch Zeit.“

Eigentlich hätte sie ihm jetzt ihre Visitenkarte reichen müssen, nur, sie hat keine einstecken. Der Fall kam zu überraschend, um sich entsprechend auszurüsten. Sie zückt ihr Smartphone und zeigt Herrn Koci ihre Mobilnummer, er solle sie anrufen, wenn er so weit sei, ihr sagen, wann und wo sie sich zusammensetzen können. Auch Herr Koci zückt ein Handy und übernimmt Bettys Rufnummer.

„Danke. Frau Sundberg.“ Schüttelt mit seinem Kopf: „Hätt nie gedacht, dass ich Danke zu eine Polizist sag.“

„Die ich nicht bin. Hatte ich Ihnen gesagt. Gut, dann gehen wir zurück. Normalerweise dürfen Sie den Tatort nicht betreten. So sind die Regeln. Ich werde jetzt eine Ausnahme für Sie durchsetzen und Sie versprechen mir, dort oben keinen Aufstand zu machen, sondern ruhig von ihren Angehörigen Abschied nehmen. Versprechen Sie mir das?“

Koci richtet sein Gesicht auf Betty, das sie an eine Reklame für Knoblauchpillen erinnert, muss schon eine geraume Zeit her sein, aber dieses Bild des alten grauköpfigen Mannes mit dem lebensgegerbten Gesicht, mit dem die Pillenfirma für ihr Produkt warb, hatte sich bei ihr eingebrannt.

„Ich verspreche Ihnen.“

 

Mit langsamen, gefassten Schritten kehren sie zum Vordereingang zurück, wo sie auf einen ziemlich aufgeregten Herrn Stupi treffen.

„Moin Herr Stupi, so schnell sieht man sich wieder.“

„Äh ja, aber sind sie nicht in Lübeck?“

„Wo Leichen sind, bin auch ich, sozusagen eine Leichenwanderin. Gedulden Sie sich noch zehn Minuten oder besser, erklären Sie Herrn Drewes, was sie hier installiert haben.“

Verwirrt, er scheint verwirrt, nervös, unsicher, Herr Stupi ist durch den Wind, sieht Betty.

„Beruhigen Sie sich erst einmal. Ich bin gleich bei Ihnen.“

„Frau Sundberg. Ähm, Sie kennen meine Sorgen. Dieses Mal wird es schwierig werden, den Deckel drauf zu halten. Oder?“

„Nun, einmal ist normal, aber beim zweiten Mal kommen mir Zweifel. Das hier ist kein Zufall, wir haben einiges zu besprechen.“

Sie fasst Herrn Koci leicht am Arm und will ihn die Treppe hochführen, Rainer will sie aufhalten, was sie da vorhabe, will er wissen, ihn seinen Sohn sehen lassen. Das gehe nicht, Hansen würde ausrasten. Nun, er solle ihn ruhigstellen, sie werde alles nachher erklären. Damit begleitet Betty Herrn Koci ins Haus, die Treppe hoch, verfolgt von den erstaunten Blicken der Kollegen. Am oberen Ende der Treppe steht Hansen mit versteinertem Blick, Rainer überholt die beiden, greift sich Hansen, zieht den Widerstrebenden vom Treppenabsatz weg, spricht auf ihn ein. Koci strebt das Schlafzimmer der Eheleute an, Betty hält ihn auf, falsches Zimmer, schiebt ihn zu dem Zimmer, in dem die Leiche seines Sohnes unter der Decke ruht. Er scheint überrascht, ihn hier vorzufinden, schweigt aber vor sich hin. Mit kurzen zögerlichen Schritten nähert er sich der Leiche seines Sohnes, hält kurz inne, fällt auf die Knie, hält sich beide Hände vor das Gesicht, schluchzt, weint, jammert still vor sich hin. Betty legt ihm ihre Hand auf die rechte Schulter, ohne dass er reagiert, lässt sie dort ruhen. Zwei, drei Minuten verharrt er so, erhebt sich dann, schaut Betty ins Gesicht, nickt fast unmerklich und sagt nochmals ein Danke.

Er wendet sich ab, tapst mit schweren Schritten auf die Treppe zu, ohne einen Blick auf seine Enkeltochter und seine Schwiegertochter geworfen zu haben. Gut, denkt Betty, die kosovarischen Wurzeln dominieren. Hansen blickt die beiden zornig an. Er scheint Koci bestens zu kennen, kondoliert noch nicht einmal, wäre angebracht. Vor der Haustür wendet sich Koci Betty zu, fragt sie, ob sein Sohn aufgeschnitten würde. Könne sie nicht sagen, vermute aber eher nicht, da die Todesursache eindeutig sei und die Hamburger Gerichtsmedizin auf dem Stand der neuesten Technik sei, was hieße, sie bediene sich der virtuellen Autopsie. Der Körper wird mittels Computertomografie durchleuchtet und im 3-D-Format dokumentiert. Ob er erstaunt dreinschaut, kann Betty nicht feststellen, aber irgendwie ist sein Blick ungläubig, nickt aber, als sei er einverstanden.

„Ich melde mich.“

„Ach, noch eines, Herr Koci, Sie wissen, dass ihr Auftritt heute strafrechtliche Folgen haben wird. Das sollten Sie sich selbst und nicht der Polizei anlasten.“

Hätte sie besser nicht gesagt, wieder dieser düstere wütende Blick, aber egal.

 

So und jetzt zu Stupi. Wo ist der abgeblieben? Oder nein, erst Rainer und Hansen erklären, was ihre Erkenntnisse aus dem Auftritt des Herrn Koci sind. Die beiden sind immer noch oben im Flur. Hansen poltert gleich los, was ihr einfalle, sich hier so aufzuspielen, sich über Regeln hinwegzusetzen.

„Ganz ruhig, Herr Hansen, ein ungewöhnlicher Fall erfordert ungewöhnliche Methoden.“

„Frau Sundberg, Ihr Ton gefällt mir nicht.“

„Hören Sie mir jetzt bitte zu?“

Hansen ist verärgert, zu viel Stress und Rainer rollt mit den Augen. Egal.

„Also, ich denke, Vater Koci weiß oder ahnt, was passiert ist. Schweigt natürlich. Er wird nun versuchen, alle seine Kanäle zu aktivieren, um den Täter aufzuspüren, aber schnell an seine Grenzen stoßen. Dann braucht er meine Hilfe und wir brauchen seine. Deshalb bitte ich Sie, nichts in seine Richtung zu unternehmen, die Füße still zu halten und abzuwarten. Das er mit Ihnen kooperiert ist sehr unwahrscheinlich, aber ich glaube, er hat Vertrauen zu mir gefasst. Und das will ich nutzen. Es ist ein schwerer Schlag für den Mann. Sein einziger Sohn?“

Betty schaut Hansen an, der zustimmend nickt.“

„Habe ich mir gedacht. Damit ist das Ende der Kocis schneller gekommen, als der alte Mann gedacht hat. Unser Opfer hat zwei Töchter, von einem Sohn keine Spur, mit dem Opfer hätte die Linie geendet. Es sei denn, es gibt einen Bruder, Neffen oder was auch immer. Koci hat um seinen Sohn getrauert, nicht um seine Schwiegertochter und seine Enkelkinder, auf die er keinen Blick geworfen hat. Ich glaube, dass es ein längeres Zerwürfnis gibt, zwischen Vater und Sohn und der Sohn eigene Wege gegangen ist. Natürlich hat der Alte ihn kontrolliert und hierin steckt das Wissen, das uns weiterhelfen könnte. Ich habe Koci gesagt, dass ich wüsste, dass sein Sohn erpresst worden sei…“

„…Erpresst? Was reden Sie da? Woher…“

„Herr Hansen, das Opfer in Lübeck wurde erpresst. Der Täter verlangte drei Millionen Euro und es ist meine feste Überzeugung, dass dies auch hier der Fall ist. Koci war weder überrascht, noch stritt er es ab. Er wusste es, zumindest vermutete er es. Und es gibt noch eine Verbindung zum Opfer in Lübeck. Der junge Koci bezog sein Kokain aus Lübeck aus der Spedition Gräven und Heuer. Die Ware kam aus Afghanistan über Russland nach Lübeck. Die Zwischenhändler holten die Ware in der Spedition ab und Koci war einer dieser Zwischenhändler. Meine Vorgesetzten sind davon ausgegangen, dass der Täter ein Berufskiller war, der Weidtmann, das Opfer, abstrafte, weil der gesamte Schmuggel aufgeflogen war. Die Berichte darüber sind allerdings beim BKA, die den Fall übernahmen und sich uns gegenüber wenig kooperativ zeigten. Aber an diese Rachespur habe ich nur zu Beginn der Ermittlung geglaubt. Warum, erkläre ich später in der Besprechung. Und noch eines, Koci wusste, als er hier anstürmte, was hier vorgefallen war und dass sein Sohn tot ist. Frage ist, woher wusste er das? Meiner bescheidenen Meinung nach nur von jemand, der hier im Haus ist.“

„Sie meinen nicht im Ernst, einer meiner Leute wäre ein Zuträger.“

„Das habe ich nicht gesagt. Es könnte etwas im Haus sein, eine Kamera vielleicht, oder eine Wanze, die vom alten Koci abgehört wurde. Ich weiß, Science-Fiction, aber irgendeine Erklärung muss es geben. Ich weiß, Herr Hansen, ich mag nervend sein. Sie müssen mir vertrauen und sich in Geduld üben. Es braucht noch ein paar Bestätigungen und ich kann Ihnen meine Einschätzung präsentieren. So, und jetzt möchte ich gerne mit Herrn Stupi reden. Halt, zuvor, Rainer, kannst du die KTU informieren, dass sie sich umschauen nach Kameras in dem Haus, vorzugsweise in diesem Arbeitszimmer und im Wohnzimmer?“

„Thiele wird sich freuen.“

„Stupi? Und wer ist das nun wieder?“ fragt Hansen.

„Der Geschäftsführer der SecTec, die das Sicherheitssystem hier im Haus installiert hat. Übrigens die gleiche Firma, die auch das Haus in Lübeck aufgerüstet hatte.“

 

Während Rainer nur innerlich grinst, steht Hansen mit fragender Miene im Flur. Er braucht dringend eine Erklärung, anscheinend hat ihn Rainer nicht ausführlich genug informiert, wer Betty ist und warum sie hier herumturnt. Gut, muss er noch ein wenig warten, aber auch er kann schlau gemacht werden.

„Wo steckt Stupi?“

„Ich denke, im Arbeitszimmer.“

„Dann komm bitte mit.“

Gefolgt von Rainer, schlägt Betty den Weg in das Arbeitszimmer des jungen Koci ein, das sich im Erdgeschoss befindet. In dem Zimmer sitzen ein weißverhüllter KTU’ler und Herr Stupi, mit Handschuhen und Überziehern versehen.

„Wurden Sie fündig? Egal was?“

Die beiden vor dem Bildschirm drehen sich um, Herr Stupi erhebt sich: „Es ist wie in Lübeck. Alles gelöscht. Eine Katastrophe. Allerdings ist die Anlage hier im Haus nicht so umfangreich, wie die in Lübeck. Wir haben nur fünf Kameras und nur ein Computer, also einfach zu hacken…Auch von außen.“

„Sagen Sie, Herr Stupi, wissen Sie eigentlich, wer Ihre Kunden sind? Wissen Sie, sowohl Herr Weidtmann als auch Herr Koci gelten als kriminell. Sie haben doch sicher Konkurrenz? Wieso haben beide Sie beauftragt? Das kann kein Zufall sein…Sie verstehen, worauf ich hinauswill?“

„Ähm, nein, also, ich frage nicht, wer meine Kunden sind, nur, was meine Kunden wünschen.“

„Ich sehe dies so, sowohl die Art und Weise, wie die Anlagen ausgeschaltet wurden als auch die Kenntnis über die Hintergründe der Kunden, lässt mich darauf schließen, dass der Täter im Umfeld ihrer Firma zu suchen ist, was heißt, wir werden wieder anrücken. Nur, dieses Mal müssen wir richtig tief bohren. Aber als erstes hätte ich gerne eine Liste Ihrer Kunden, und zwar über die letzten fünf Jahre. (Sie wendet sich Rainer zu) Kannst du Herrn Stupi deine Karte geben, damit er dir diese Liste zumailen kann? (Wieder zu Stupi gewandt) Die Liste eilt. Eilt sehr! Wann wir bei Ihnen auftauchen werden, teilt Ihnen Oberkommissar Drewes mit. Wir werden auf Diskretion achten, können aber nicht versprechen, dass kein Schaden entsteht. Der Fall wird großes mediales Interesse erregen. Ach, und da wäre die Frage, wie ist der Täter dieses Mal in das Haus gekommen? Wieder über die Kameraleiste?“

„Unmöglich, nein unmöglich. Wir haben alle Anlagen sofort nach dem Verbrechen in Lübeck auf Ihren Hinweis hin durch Sensoren gesichert. Das heißt, sobald jemand versucht, die Tastatur zu manipulieren, entsteht ein Alarm, der im Haus, als auch bei uns in der Zentrale ausgelöst wird…Ähm, also, alles deutet daraufhin, dass die Anlage von außen abgeschaltet wurde. Eine andere Erklärung sehe ich nicht.“

„Gut, also die Liste, bis zum späten Nachmittag hätten wir die gerne.“

 

Sie wendet sich zum Gehen, Stupi zückt sein Handy, erteilt Anweisungen. Betty und Rainer verlassen das Zimmer. Sie schaut auf ihre Armbanduhr, eigentlich müsste sie gleich eine Sprechstunde für fragebedürftige Studentinnen und Studenten abhalten, muss sie absagen oder Professor Giede muss sie vertreten. Sie ruft ihn an, erreicht ihn aber nicht, nur die Institutsassistentin, die sie bittet, einen Zettel an ihr Büro zu hängen, dass die Sprechstunde heute ausfallen müsse, würde morgen, gleiche Zeit, nachgeholt.

„Und jetzt?“ fragt Rainer.

„Bist du hier fertig? Wenn ja, dann fahren wir in dein Büro.“

„Sag mal, geht es auch eine Spur gemäßigter. Die Kollegen staunen nicht schlecht, wen du alles wortgewaltig durch die Gegend scheuchst. Nicht jeder von denen hat dich noch auf dem Radar.“

Ja, Rainer hat recht. Sie ist wieder voll im Ermittlungsmodus, sprüht geradezu vor Tatendrang, obwohl sie nur eine Beratungsfunktion innehat. Sie muss sich bremsen!

„Tut mir leid Rainer, ich weiß, ich bin zu forsch. Aber wer Betty bestellt, bekommt auch Betty. Das wird sich legen…spätestens morgen.“

„Na, das beruhigt mich jetzt sehr. Und überhaupt, wieso schiebst du alles auf Morgen? Wir ermitteln jetzt, heute.“

„Ganz einfach, es gibt einiges zu tun. Das werden wir gleich besprechen. Die Erkenntnisse aus diesen Ermittlungen werden frühestens morgen Früh vorliegen und wenn sie das bestätigen, was ich vermute, dann nehme ich mich zurück und du kannst den Rest erledigen.“

„Du hast einen ziemlich schrägen Humor und überhaupt, was heißt den Rest erledigen? Ist dann der Fall gelöst und mir bleibt nur noch, das Parkett sauber zu machen?“

Betty lacht, klopft Rainer auf die Schulter, meint, er brauche keine Angst zu haben, der Rest wäre ein Berg von Arbeit, nur nicht mehr ihr Berg.

„Du gehst mir auf den Geist mit deinen sybillinischen Andeutungen. Kannst du nicht mal Klartext reden?“

Ablenken, denkt Betty, fragt, ob sein neuer Chef nicht vorher Leiter der Sitte gewesen sei. War er, ja, von der Sitte zu den Morden, kein üblicher Aufstieg, aber so entschieden worden. Ob er sich Hoffnung auf den Job gemacht habe, verneint Rainer, nicht das Alter, nicht erfahren genug. Wie er Hansen einschätzt. Würde der bei seiner Milieurache-These bleiben oder sich von einer anderen Spur überzeugen lassen. Im Moment sehe auch er kein anderes Motiv als einen Racheakt unter Geschäftsfreunden. Er dürfe sie im Übrigen daran erinnern, dass ihr ehemaliger Chef den Fall für gelöst erklärt habe, genau mit der Motivlage wie im jetzigen Fall, Rache im Milieu. Zwei Mal war ein Profikiller am Werk, der für irgendwen für eine Bereinigung der Geschäftsvorgänge sorgte.

„Vergiss den Profikiller. Der Täter ist viel zu intelligent für einen Killer. Er täuscht den Profi nur vor. Oder bist du schon einmal einem Profikiller begegnet, der in der IT so firm ist, einen Profi in dem Geschäft, blass aussehen zu lassen? Und bei Weidtmann lag ein Fehlverhalten vor. Gut, das konnte man gelten lassen, aber bei Koci? Was hat der falsch gemacht, dass ein solches Verbrechen rechtfertigt?“

„Dann sag mir jetzt endlich, was du denkst.“

 

Soll sie oder soll sie nicht? Gut, sie soll, nein, sei muss, sie braucht Rainer, um ihre Anweisungen zur Ermittlung durchzusetzen, denn Hansen wird nicht dem Spekulativen, sondern dem Realen, dem Naheliegenden nachgehen wollen. Also erklärt sie Rainer während der Fahrt ins Präsidium, wie sich für sie der Fall darstellt. Rainer hört aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen, kneift ab und an die Augen zusammen, nickt kaum merklich, kurze Blicke auf Betty. Das Nicken verstärkt sich, nachdem Betty endet, er noch eine kurze Zeit nachdenklich vor sich hin stiert.

„Klingt alles logisch und nicht ganz unmöglich, auch wenn ich leichte Zweifel habe, dass ein Schmerz von außen provoziert werden kann. Geht das denn? Und, warum diese Morde?“

„Nun, das ist der Rest, von dem ich sprach. Das musst du herausfinden, also beweisen. Ich denke, im Kopf der jungen Frau steckt etwas, was wir nicht finden sollen, weil dann das Motiv offenliegt und sich unsere Untersuchungen anders fokussieren würden. Gleiches gilt auch für die Handys der Familie. Sowohl in Lübeck als auch hier sind alle persönlichen elektronischen Geräte verschwunden, was heißt, darin oder darauf befinden sich Informationen, von denen der Täter nicht will, dass wir sie in die Hände bekommen.

Die Ermordung hat mit der Erpressung zu tun. Weidtmann wollte nicht zahlen, hat sich aber im letzten Moment umentschieden, anscheinend aber zu spät. Bei Koci könnte es ähnlich gewesen sein. Ehrensache unter Ganoven, sich nicht erpressen zu lassen, wäre schlecht fürs Geschäft und den Ruf, dann aber, weil die Tochter wahrscheinlich Qualen litt, klein beigegeben.“

„Und warum sind die nicht zu einem Arzt gegangen, wenn die Kleine Schmerzen hatte?“

„Gute Frage. Was, wenn der Erpresser erfuhr, dass sie zu einem Arzt gehen wollten? Musste er da nicht handeln? Schnell handeln? Kurzen Prozess machen? Hm, die Kameras! Die Kameras im Haus der Weidtmanns. Lässt sich mit so einer Minikamera auch mithören, was in dem Raum gesagt wird? Wir haben nicht herausfinden können, wer die Kameras installiert hat, auf jeden Fall nicht die SecTec. Wir sind davon ausgegangen, Weidtmann hat sie selbst angebracht, um seine Familie zu überwachen. Sie könnten aber auch vom Täter installiert worden sein. Kannst du mal nachhören, ob die KTU eine oder mehrere Minikameras in Kocis Haus finden konnte?“

 

Thiele würde ja nachher bei der Besprechung dabei sein, sie könnte ihn direkt fragen. Rainer ist nicht ganz überzeugt, ist vorsichtig. Sie soll, bevor sie vor versammelter Mannschaft ihre Sichtweise schildert, mit Hansen reden. Er müsse überzeugt werden, sonst würde er die Richtung der Ermittlungen in seinem Sinne steuern.

„Ich habe dir meine Hypothese erklärt, nur dir. Ich habe nicht vor, sie vor versammelter Mannschaft breitzutreten. Nicht jeder ist einsichtig, was heißt, wir führen unnötige Diskussionen. Und meine Vermutungen müssen sich erst noch beweisen. Aber gut, mit Hansen zu reden, kann nicht schaden.“

„Da stört mich noch was. Ich meine, wenn der Typ Geld verdienen wollte, warum bringt er dann seine Cashcows um. So gesehen hat er sechs Millionen Euro gemeuchelt. Macht das einen Sinn?“

Nun, auf diese Frage erhoffe sie sich eine Antwort aus dem Kundenstamm der SecTec GmbH. Dass der Täter anscheinend nur oder hauptsächlich die Systeme dieser Firma hackte, könne bedeuten, dass er sich gut damit auskenne, so dass die Kundenliste Hinweise auf weitere Opfer geben könnte. Wie das, will Rainer wissen. Ganz einfach, sie müssten die Liste durchsuchen nach Hausbesitzern, die im Ruf stehen, dem organisierten Verbrechen nahezustehen und, die Töchter im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren hätten.

„Du meinst, er hat bereits abgesahnt und kann locker auf sechs Millionen verzichten? Das klingt mir zu abenteuerlich. Wer verzichtet schon auf sichere sechs Millionen?“

„Das ihm das leicht viel, glaube ich nicht, aber er musste morden und damit verzichten, sonst hätten seine Opfer Schritte unternommen, die ihm hätten gefährlich werden können.“

„Und warum die jüngere Tochter? Wieso dieses unschuldige Kind ermorden?“

„Schwester tuscheln gerne miteinander. Vielleicht hat sich die ältere Tochter der jüngeren anvertraut. Unter Schwestern lässt sich vertrauensvoller reden als mit den Eltern. Und, davon gehe ich aus, er hat bei dem Tuscheln gelauscht.“

Nein, verstehe er nicht. Den Mord verstehe er nicht.

„Er handelt rational, wie ein Mathematiker. Es zählt nur Logik.“

„Wie kommst du nur auf solche Gedanken?“

„Bauchgefühle und Spürsinn. Apropos Bauchgefühle. Ich bin um meine Mittagspause gekommen. Das mag mein Bauch gar nicht. Er braucht Zufuhr.“

„Zufuhr? Wo soll ich halten?“

„An einem Laden der Brötchen verkauft.“

 

Lusi, fällt Betty plötzlich ein, sie hat die Untersuchung bei der SecTec GmbH geführt, macht es Sinn, sie nach Hamburg zu rufen? Ja, macht Sinn.

„Sag mal, ist mir gerade eingefallen, kannst du meine frühere Kollegin Lusi Weimann aus Lübeck anfordern, dich ein paar Tage zu unterstützen. Sie kennt den Fall von Anfang an und hat unter anderem die Mitarbeiter der SecTec durchleuchtet. Sie kennt sich aus und könnte die Unterlagen zu dem Fall mitbringen.“

„Muss Hansen einfädeln, aber sicher kein Problem.“

„Er muss aber auf Lusi bestehen. Wie ich Griebel kenne, versucht er seinen Adjutanten Kelting zu schicken, der aber mit dem Fall nicht vertraut ist, außer ihn schnellstmöglich zu den Akten zu legen.“

„Dein Wunsch wird erfüllt.“

Kurze Zeit später hält Rainer vor einem Dönerladen. Er schaut sie an, sie ihn, versteht nicht, was seine Blicke ihr sagen sollen, schließlich sagt er, sie seien da. Da? Wo? Na ja, vor dem Bäckerladen. Da sei aber kein Bäcker, sondern ein Türke mit viel gegrilltem Fleisch. Wo da der Unterschied sei, der Türke verkauft auch Brötchen mit was drauf. Und ansonsten sei dies der letzte bäckerähnliche Laden vor dem Präsidium.

„Du verkennst den Ernst meiner gesundheitlichen Lage. Weißbrot mit Fleischeinlage, im besten Fall wabbelige Teigware mit breit geschlagenem Fleischklopps, ekelhaftem Tomatenketchup und sonstigem ungesundem Zeug. Dies mutest du mir zu? Ich brauche ein Vollkornbrötchen mit magerem Schinken oder einer Scheibe Käse. Oder halt…der Türke hat sicher einen gemischten Salat, der geht auch.“

„Sag ich doch, ist wie Bäckerladen.“

Was Rainer ziemlich komisch findet und herzhaft lacht. Betty steigt aus, betritt den Laden und ordert einen gemischten Salat, nur mit etwas Salz, Pfeffer und ein paar Tropfen Öl angemacht, zum Mitnehmen. Der junge Mann, mit einem schicken Käppi auf dem Kopf, nimmt sich einen Plastikteller und befüllt ihn mit aus der Theke entnommenen Zutaten, gibt spärlich Salz, Pfeffer und Öl darüber sowie einen Deckel drauf, schaut provozierend in Bettys Gesicht, fragt, ob es recht so sei. Recht so, antwortet Betty, zahlt und verlässt den Laden, steigt wieder zu Rainer in den Wagen, der meint, auspacken lohne nicht, sie seien gleich im Präsidium.

„Jetzt weiß ich, was ich an dir vermisse. Die ganze Zeit habe ich überlegt, was an dir nicht stimmt. Du hast Pfunde verloren. Richtig?“

„Nicht Pfunde, Rainer, Kilos. In Kürze knacke ich die vierzig Kilo Marke.“

„Du meinst es ernst? Bist gnadenlos zu dir. Finde ich gut…und man merkt es dir schon an, du bist nicht nur geistig wendiger geworden.“

Schluss mit dem Gefasel, faucht ihn Betty an, vor ihnen würden ernsthafte Dinge liegen.

Den Salat in der Hand folgt Betty Rainer in das Präsidium, schlägt aber eine andere Richtung ein, gibt Rainer Bescheid, sie komme nach, kenne sich ja noch aus und deutet auf die Toilette, die Behindertentoilette. Den Salat vor sich abgestellt, stülpt sie die Hose herunter, entleert ihre Blase, kurz die Hände waschen, dann steigt sie hoch in die Räume der Mordkommission. Hier und da schallt Betty ein Hallo entgegen, na, ganz so vergessen ist sie nicht. Petra und Kalle lachen ihr entgegen, wieder hier, schön, nein, nicht hier, beziehungsweise nur besuchsweise. Rainer nimmt sie in Empfang und führt sie in Hansens Büro, der noch am Telefon hängt, sie den Salat noch in Händen hält.

 

Anscheinend spricht er mit dem Staatsanwalt, spricht davon, dass vermutlich, wie in Lübeck ein Mafia-Killer am Werk gewesen sei, was bei Betty Stirnrunzeln auslöst. Seitenblick zu Rainer, der mit den Augen rollt. Als er endlich auflegt, setzt Rainer an, zu erklären, dass Frau Sundberg eine andere Theorie habe als die mit der Mafia-Rache. Es sei deshalb sinnvoll, sich vor der Besprechung abzustimmen, um keine Irritationen unter den Kollegen hervorzurufen. Hansen wirkt genervt, für ihn sei der Fall klar, aber bitte, wenn Frau Sundberg da anderer Meinung sei.

Erneutes darlegen ihrer Vermutung, nur detaillierter als Rainer gegenüber, da Hansen überzeugt werden muss, der langsam hellhörig wird, interessiert aufnimmt, was Betty offenlegt.

„Ich sage nicht, dass es so ist, aber so sein könnte. Auch stelle ich Ihre Sichtweise nicht in Frage. Wir sollten jeder Spur nachgehen. Ich bitte sie nur, die Ermittlungen, die meine Annahmen bestätigen könnten, zu priorisieren. Wenn diese so zutreffen, wie ich vermute, dann haben wir nur noch eine Spur und damit die Chance, den Täter aufzuspüren, bevor er weiteren Schaden verursacht.“

Hansens Blick geht von Betty zu Rainer, den er fragt, ob er die Vermutung Bettys teile, was dieser bejaht.

„Wenn ich recht erinnere, gilt der Fall in Lübeck als abgeschlossen und sie machen jetzt noch einmal den Deckel auf. Das wird ihrem Ex-Chef in Lübeck nicht gefallen.“

„Er wird von diesem Fall spätestens morgen erfahren und sich ein paar Fragen stellen, stellen lassen müssen.“

 

Hansen scheint schnell verstanden zu haben, dass ihm der gleiche Fehler unterlaufen könnte wie dem Lübecker Kollegen, andererseits wäre es so wie Betty sagt, wäre der Fall noch spektakulärer als gedacht, was Aufmerksamkeit bringt, Ansehen. Also entscheidet er, Betty soll die Besprechung so leiten, wie sie es für richtig hält. Die Bilanz würden sie morgen Nachmittag ziehen. Bevor sie Hansens Zimmer verlassen, um in den Besprechungsraum zu gehen, bittet Betty Rainer nachzusehen, ob die Kundenliste der SecTec bereits vorliege und mit Hansen die Anforderung von Lusi zu klären.

Im Besprechungsraum sind bereits einige erwartungsvolle Kollegen versammelt. Betty wird wie eine alte Bekannte begrüßt, von jetzt unvermummten und kenntlichen Kollegen, Hände schütteln, Schulter klopfen und die Frage, ob sie wieder voll einsteige. Gleich, gleich kann Betty nur erwidern.

Hansen klopft auf den Tisch, überblickt die Anwesenden, gut, die wichtigsten der Kollegen sind anwesend, gut, dann starten. Er stellt sich in Positur, wünscht einen guten Abend, bittet Betty neben sich, die ihren Salat auf dem Tisch abstellt.

„Dem einen oder anderen ist Frau Sundberg…“

„…Betty,“ wirft Betty ein.

„…gut, Betty, ja, heute bereits begegnet, anderen kennen sie vielleicht noch von vor ein paar Monaten, da war sie hier Ihre Kollegin, bevor sie nach Lübeck ging. Nun ist sie allerdings nicht mehr im Polizeidienst, sondern am Institut für Kriminalpsychologie beschäftigt, dem Institut, dem Professor Giede vorsteht, den die meisten von Ihnen kennen. Betty wird uns in dem Fall, der uns heute in Aufruhr versetzt hat, beraten. Warum, auch das will ich Ihnen sagen. Gleiches Verbrechen, also der Mord an einer kompletten Familie sowie einer enthaupteten Leiche, ist in Lübeck geschehen. Und in Lübeck hat Betty die Ermittlung geleitet, steckt also wissend mittendrin in dem Verbrechen…“

„…Sorry, wenn ich Sie erneut unterbreche. Ich hatte nur am Anfang die Ermittlung inne. Im Laufe meiner Ermittlungen habe ich eine andere Spur für die Wahrscheinlichere gehalten, so dass ich die Ermittlung abgegeben habe. Ein zweifelnder Polizist sollte keine Ermittlung in so einem heiklen Fall führen, zumindest nicht aktiv. Aber in meinem Kopf ging die Ermittlung weiter. Das, was hier in Hamburg geschehen ist, hat mich in meinen Annahmen bestätigt.“

 

Sie dreht sich zu Hansen, erwartet, dass er weiterspricht, was er aber nicht vorhat, ihr deshalb das Weitere überlässt. Sie sammelt sich. Wo anfangen? Wo enden? Sie schaut auf Thiele, den sie noch aus ihrer Hamburger Zeit kennt, ob sie im Haus versteckte Kameras gefunden hätten. Die Kollegen seien noch dabei zu suchen. Bisher sei nur eine Kamera entdeckt worden, und zwar im Arbeitszimmer des Herrn Koci, so eingestellt, dass der Blick auf seinen Schreibtisch und den Computer gerichtet gewesen sei. Wie er das werten würde. Sich selbst bei der Arbeit zu beobachten sei abwegig, jemand habe ihn beobachtet.

Kurzer Augenkontakt mit Rainer.

„Ich gehe davon aus, dass diese Kamera nicht von der Firma SecTec angebracht wurde.“

Das wisse er nicht, mit dem Mann von der Firma habe er nicht gesprochen. Sei es möglich, mit diesen Kameras auch die Personen im Raum abzuhören, will Betty wissen. Ja, das sei heutzutage kein Problem. Allerdings unverkabelt, und das sei die Kamera gewesen, müsste der Täter in relativer Nähe abhören. Sie bittet Thiele der Frage tiefer nachzugehen, und ein Szenario zu skizzieren, wie diese Ausspähung erfolgt sein könnte.

„Die Tatwaffe dürfte eine Makarow, neun Millimeter, gewesen sein. Die gezielten Kopfschüsse deuten auf einen Profikiller hin, der er aber nicht ist. Unser Täter ist hochintelligent und versucht, unsere Ermittlungen in eine bestimmte Richtung zu lotsen. In Lübeck ist ihm das vollauf geglückt, denn das Ergebnis dort war, die Ermittlungen einzustellen, den Fall als geklärt zu deklarieren. Zur Waffe, Herr Thiele, bitte lassen Sie sich den ballistischen Bericht der KTU-Kollegen aus Lübeck kommen. Ein Vergleich, da müsste ich mich schon sehr täuschen, wird ergeben, es war die gleiche Tatwaffe wie in Lübeck. Handy, Laptop oder ähnliches wurden nicht gefunden? (Blick zu Thiele).“

„Nein, nichts, bis auf den toten Computer nichts. So war es auch in Lübeck?“

„Ja. Wir konnten keine elektronischen Geräte vorfinden. Der Täter hat sie mitgenommen, denn ein Haus, zumal mit Teenagern, ohne elektronische Geräte gibt es nicht. Verwertbare Spuren, ein DNA-Nachweis haben Sie sicher nicht gefunden (Bestätigendes kopfnicken bei Thiele). In Lübeck hat der Täter einen Overall getragen, wie ihn die KTU nutzt, von daher wurden auch dort keinerlei Spuren gefunden. Nächster Punkt: Die enthauptete junge Frau in Lübeck klagte in den Tagen vor ihrem Tod über teils heftige Kopfschmerzen, die sie zuvor nie hatte. Des Weiteren wurden ihr vierzehn Tage vor ihrem Tod K.-o.-Tropfen verabreicht. Zwei Stunden fehlten ihr, zwei Stunden, in denen der Täter etwas an ihr vornahm, allerdings keine sexuelle Handlung. Für die Ermittlung heißt das, mit Mitschülerinnen und Mitschülern, Freundinnen, dem Freund, den sie sicher hatte, sprechen, die Lehrer befragen, den Hausarzt konsultieren. Hatte die Tochter von Herrn Koci ebenfalls Kopfschmerzen, einen ungeklärten Blackout…?“

„…Moment. Worauf willst du hinaus?“ fragt Petra und das Gemurmel im Kollegenkreis zeigt eine gewisse Verwirrung an. Betty muss, ob sie will oder nicht, konkreter werden.

„Es ist eine Vermutung von mir, eine unbewiesene Vermutung, dass der Täter der jungen Frau etwas in ihrem Kopf injiziert hat. Ein Chip, wie bei einem Hund. Einen Chip, den er von außen manipulieren und damit heftige Schmerzen erzeugen kann. Trifft dies zu, müssen wir den Ort finden, wo dies geschehen sein könnte, eine Disco, ein Club. Warum ein Chip im Kopf? Nun, weil er drei Millionen Euro erpressen wollte, sozusagen Schmerzensgeld. So zumindest in Lübeck, so vermute ich auch hier, was heißt, die Hausbank und andere Quellen zu überprüfen, ob Herr Koci versucht hat, an Bargeld zu kommen…“

„…Bargeld? Ein intelligenter Täter, der drei Millionen als Bargeld möchte? Ist das nicht ein Widerspruch zum IT-Genie? Der müsste doch Bitcoins fordern oder zumindest sich das Geld an eine Bank überweisen lassen, von der aus das Geld seine nicht mehr nachvollziehbare Reise antritt?“

„…Ja, der Einwand ist berechtigt. Wir konnten uns das auch nicht erklären. Möglich, dass er es im Fall Koci anders machen wollte. Wir müssen es herausfinden…Sowohl das Opfer in Lübeck als auch Herr Koci dürfte sich zunächst geweigert haben zu zahlen. Letztlich hat der Zustand ihrer Töchter überwogen und sie sich entschieden, zu zahlen, was allerdings zu spät war. Warum, kann ich nicht genau erklären, spielt auch im Moment noch keine Rolle, wichtig ist, Parallelen zwischen dem Lübecker und dem Hamburger Fall zu ziehen. (Mit Blick zu Rainer) Liegt die Kundenliste vor (Rainer reicht sie ihr, sie wirft einen Blick darüber. Eine stattliche Zahl von Kunden, gut, sind immerhin fünf Jahre).“

 

Im Raum herrscht eine angespannte Stimmung, Betty fühlt Skepsis, große Zweifel bei einigen Kollegen, so manche Mimik sagt ihr, dass ihre Ausführungen Unverständnis auslösen. Aber konkreter kann sie nicht werden, ihre Vermutungen stehen auf wackligen Beinen, aber da muss sie jetzt durch. Sie hebt die Kunden-Liste hoch, wedelt damit in der Luft.

„Dies ist eine Liste mit den Kunden der Firma SecTec, die Firma, die die Häuser in Lübeck und Hamburg mit ihrem Sicherheitssystem ausgestattet hat. Ich halte das für keinen Zufall. Diese Liste gilt es abzuarbeiten. Die Frage ist, gibt es weitere Kunden, die illegaler Machenschaften verdächtig werden, wenn ja, wer davon hat Kinder, vornehmlich Töchter im Alter zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren. Mein Verdacht ist, der Täter sucht seine Opfer in genau diesem Personenkreis aus und die Kenntnis darüber kann nur ein Insider der SecTec haben…“

„Oder ein Hacker,“ wendet Thiele ein. „Das Sicherheitssystem kann von außerhalb gehackt worden sein, um in das Haus zu kommen. Den Computer kann der Täter nach seiner Tat in Ruhe geleert haben. Anscheinend ein gewiefter Hacker und der dürfte auch in die IT der SecTec eingestiegen sein. Es muss also nicht unbedingt ein Insider sein. Mit einer Spionagesoftware einen Computer zu infiltrieren ist kein Problem, so etwas geschieht in Sekundenschnelle und es muss nicht einmal ein Profi sein.“

„Hm, kein Profi? Wir haben damals jeden Mitarbeiter, der mit der Entwicklung, Programmierung und Installation der Systeme zu tun hatte überprüft und nicht den Zipfel eines Verdachtes gegen irgendwen gefunden. Könnte denn zum Beispiel eine Reinigungskraft diese Software installieren? Denn, wenn ich recht erinnere, wurden dieser Personenkreis nicht in die Untersuchungen eingebunden.“

„Na ja, nicht unbedingt eine Reinigungskraft. Aber in die Reinigungsbranche einzusteigen, geht Knall auf Fall. Schaut euch diese Leute genau an, es sind nicht immer nur Leute mit Migrationshintergrund.“

„Du hast recht, wir waren nicht genau. Deshalb müssen wir uns die Firma noch einmal intensiv anschauen. Der Geschäftsführer ist sehr kooperativ, weil er ein großes Interesse daran hat, den Schaden für seine Firma klein zu halten. Ich brauche euch nicht zu sagen, was es für eine Firma bedeutet, die Sicherheit als Geschäftsmodell hat, wenn ruchbar wird, dass ihre Systeme versagt haben. Die Untersuchung muss also sehr diskret erfolgen, wobei (blickt zu Hansen) uns eventuell meine frühere Kollegin aus Lübeck unterstützen wird, die die Untersuchung bei der SecTec durchgeführt hat. Gibt es dazu bereits eine Rückmeldung (Hansen schüttelt mit seinem Kopf). Gut, sollte es sich bestätigen, dass weitere halbseidene Personen zu den Kunden zählen, müssen wir mit denen reden. Nur, mit denen können wir versuchen zu reden, sie werden aber nicht mit uns reden. Unser Täter ist so schlau, dass er sich genau die Opfer ausgesucht hat, die die Polizei meiden, wie der Teufel das Weihwasser und sie werden nicht als die Blamierten im Milieu dastehen wollen, die von einem viel cleveren Täter gelinkt worden sind. Am Tatort, im Haus der Kocis, haben mich einige mit dem Vater eines der Opfer vertraulich sprechen sehen. Ich möchte, trotzdem er die erste Adresse in den Ermittlungen sein müsste, ihn zunächst außen vor lassen, da ich versuchen will, ihn mit denen sprechen zu lassen, die wir identifizieren können…“

„…Das wird schwierig. Koci, auch, nicht ohne Grund, von uns Kotzi genannt, ist ein harter, unnachgiebiger Brocken, den nichts erschüttern kann. Wir hatten ihn so oft in der Mangel, konnten ihm nichts nachweisen und wenn, hat sein Anwalt ihn in Minutenschnelle herausgepaukt. Er ist wie ein Aal, glatt, nicht zu greifen. Er wird sich nicht vor unseren Karren spannen lassen.“

„Na ja, Herr Hansen, ich sage nie nie. Ich will es versuchen, eine andere Chance werden wir wahrscheinlich nicht bekommen. Die kosovarische oder albanische, so genau weiß ich das nicht, Seele, sehnt sich nach Rache. Koci wird einiges in Bewegung setzen, um den Täter ausfindig zu machen. Er wird nicht weit kommen und diesen Seelenzustand will ich nutzen. Heißt zugleich, wir müssen ein unauffälliges Auge auf ihn haben. Er könnte Dummheiten machen. Ach, die Presse dürfte sehr neugierig sein und schnell den Zusammenhang zu Lübeck herstellen, draus lässt sich eine tagelange Geschichte stricken. Es wäre gut, vor der Presse das Verbrechen als Racheakt darzustellen. Der Täter sollte nicht wissen, dass wir in eine andere Richtung ermitteln. Er könnte unruhig werden. Wiegen wir ihn weiter in Sicherheit und der Gewissheit, dass sein Plan aufgeht.“

 

Gemurmel und Getuschel, skeptische Kolleginnen und Kollegen. Betty hat Verständnis für das Unbehagen, das sicher einige der Kollegen empfinden. Sie weist nochmals daraufhin, dass ihre Vermutungen zutreffen könnten, sie aber auch vollkommen daneben liegen könne. Deshalb sollte auch der zweite Ermittlungsstrang weiterverfolgt werden, nämlich die, dass es sich bei dem Mord um einen Racheakt aus dem Milieu handele. Die Einteilung der Teams bittet sie Rainer vorzunehmen, was dieser tut. Hansen bittet Betty in sein Büro. Dankt ihr, sie habe ihre Sache gut gemacht. Die Kollegin aus Lübeck sei ihm noch nicht zugesichert, da der Kollege dort, ein Herr Griebel (?) ziemlich unwirsch auf seine Anfrage reagiert habe, der Fall sei abgeschlossen und habe mit Vorkommnissen in Hamburg nichts zu tun.

Griebel sei erst kurz vor dem Fall Chef der Abteilung für Schwerstkriminalität geworden und nicht freiwillig. Von den Ermittlungen habe er sich zunächst zurückgehalten, da ihm die Abläufe im Team nicht geläufig gewesen seien. Der vorherige Chef, Ede Hembach, sei ein hervorragender Dirigent gewesen, der wusste seinen Chor zu führen. Griebel habe keine Ahnung, wie Musik erschaffen wird, kurzum, er habe sich aus dem Fall herausgehalten, von Anfang aber Rache der Russenmafia unterstellt. Dem habe sie entschieden widersprochen, was dazu führte, dass sie aus den Ermittlungen genommen wurde und sie sich auf ihre Funktion als Fallanalytikerin zurückgezogen habe, auch weil sie nur noch einige Tage in Lübeck abzusitzen hatte. Griebel habe schließlich in einer Pressekonferenz sich als derjenige präsentiert, der den Fall gelöst habe, leider den Täter nicht habe ermitteln können, da dieser sich rechtzeitig abgesetzt habe. Es ging ihm nur um die Profilierung seiner Person. Wenn die Presse nun von dieser Fehleinschätzung erfährt, wird es ungemütlich für Griebel, weshalb er mauert, nur, lange hält er das nicht durch. Besonders dann nicht, wenn eintrifft, was sie erwarte.

„Hm, dann hoffe ich, dass dies so kommen wird.“

Rainer betritt das Zimmer, wartet, bis Hansen geendet hat und fragt Betty, wie sie sich die Untersuchung bei der SecTec vorgestellt habe. Bei dieser Untersuchung wäre sie gerne dabei und er solle auf jeden Fall ebenfalls mitkommen sowie zwei Kollegen, die in der IT bewandert sind. Zuvor sollten sie die Berichte über die Befragung nach den Morden in Lübeck durchgehen.

„Warten wir die Erkenntnisse aus der Kundenliste ab und entscheiden dann, wie wir weiter vorgehen werden. Oh, mein Salat.“

Zurück im Besprechungsraum findet sie den Platz, an dem sie den Salat abgestellt hatte, vom Salat befreit vor. Ärgerlich. Rundumblick ohne Ergebnis. Hat ihn jemand, fürsorglich gedacht, in den Kühlschank gestellt? Sie geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank, alles Mögliche nur nicht der Plastikteller mit ihrem Salat. Krallt sich einen Joghurt, egal wem der ist, einen Löffel und fällt über die dürftige Mahlzeit her.

 

Sie hat ihre Schuldigkeit hier und für heute getan, verabschiedet sich von Hansen und Rainer, der sie bis zur Treppe begleitet, sie fragt, wie sie sich das weitere Vorgehen vorstelle. Wie sie schon gesagt habe, die Teams ermitteln lassen und morgen Nachmittag Nägel mit Köpfen machen in der Hoffnung, dass alle liefern können, und sollte sich Wichtiges ergeben, sie sei ja telefonisch zu erreichen.

„Soll ich dich nach Hause fahren oder fahren lassen?“

„Lass nur, es gibt ja die Öffentlichen. Du hast derzeit wichtigeres zu tun als mich durch die Gegend zu kutschieren. Ich nehme an, du machst noch keinen Feierabend. Mein Privileg, den nun anzugehen. Solltest du übrigens meinen Salat antreffen, ich gönne ihn dir, aufheben musst du ihn nicht.“

„Du bist schon eine Nummer, Betty. Ich bin froh, dass du dabei bist.“

Balsam auf ihre Seele. Denn, so richtig wohl fühlt sie sich nicht in ihrer Haut. Der Gedanke nagt an ihr, was, wenn sie total daneben liegt. Das würde ihr ewig anhängen und sie als kriminalpsychologische Beraterin auf lange Zeit disqualifizieren. Spott reibt auf, zermürbt und hält sich. Es muss einfach so kommen, wie sie denkt.

So, und jetzt? Wie kommt sie nach Hause? Früher war die Richtung klar, doch der Philosophenweg liegt in der entgegengesetzten Richtung. Eine Haltstelle ist nur ein paar Meter entfernt, geht darauf zu und wartet. Der erste Bus, der kommt und hält, fährt in die Innenstadt, gut, kann sie nehmen. Zweimal umsteigen und sie erreicht ihr Ziel, geht die Straße abwärts, biegt aber nicht in den Philosophenweg ein, hat sich entschieden Silvio in seinem Il Gambero auszusuchen. Wird, was ihre Großmutter ihr übelnehmen würde, wenn sie es wüsste, im Il Gambero zu Abend essen. Das ist dringend notwendig und im Übrigen hat sie es sich verdient.

Sie geht hinunter zum Elbuferweg und vor zum Restaurant, sucht sich einen ruhigen Platz mit Blick auf die Elbe und hinüber zu den Lichtern des Hafens, setzt sich. Eine junge Frau, italienisches oder südländisches Aussehen, nicht die Bedienung, die ihre Großmutter so verärgert hat, legt ihr die Speisekarte vor, verweist auf die Tafel an der Wand, auf der die Extras des Tages aufgeführt seien. Betty bestellt ein Mineralwasser und einen, ja den gönnt sie sich, Pinot Grigio, liest sich die Speisekarte durch, schaut auf die Tafel an der Wand, entdeckt die ganze Dorade auf Ratatouille mit Reis, für die sie sich spontan entscheidet, den Reis entfallen lässt.

Natürlich schwebt der Tag ihr durch den Kopf, die Tat, die Vermutung. Wenn es tatsächlich so ist, dass der Täter von außen die Schmerzen steuern konnte, fragt sie sich, wie weit entfernt darf er sein. Und, was, wenn er seine Opfer tatsächlich abhörte? Das geht sicher nicht mit einem simplen Laptop, dazu ist mehr Equipment notwendig. Sie erinnert sich, während ihrer Ausbildung an der Polizeischule ein Einsatzfahrzeug zur Überwachung gesehen zu haben. Ein Sprinter oder ein VW-Bus, jedenfalls ein größeres Fahrzeug, vollgestopft mit Technik. Und ein solches Fahrzeug in der Nähe des Tatortes müsste aufgefallen sein. In Lübeck nicht. Hier in Hamburg?

Sie will gerade Rainer diesbezüglich fragen, da kommt Silvio, der Chef des Il Gambero und stellt vor ihr den Gruß der Küche ab, erklärt, was es ist, Betty versteht, dass es ein Sardinenpaté ist. Silvio fragt nach der Großmutter, die er vermisse. Oh, meint Betty, die wird auch vorerst nicht mehr kommen. Sie ist gestorben? Nein, nein, sie hat sich nur so über Ihre Bedienung geärgert, dass sie das Restaurant nicht mehr betreten werde. Silvio ist erstaunt, fragt, welche Bedienung und wann dies gewesen sei. Schon ein paar Wochen her, Ende September. Besorgte Miene, nachdenklich, dann aufhellen und ein Lächeln, seine Frau, seine Frau habe damals bedient, ein Streit mit ihr sei dem vorausgegangen. Er bedauere das sehr und bittet Betty, ihrer Großmutter seine Entschuldigung zukommen zu lassen. Er werde dieses Ungeschick wieder gut machen und lade die Frau Großmutter ein, sein Gast zu sein. Sie werde es ihr ausrichten, aber Oma ändere selten ihre Meinung.

 

Das Paté schmeckt hervorragend, der Wein passend dazu, aber eigentlich wollte sie Rainer anrufen, was sie tut, ihn erreicht, fragt, ob diejenigen, die die Nachbarn befragt hätten, diese nach außergewöhnlichen Fahrzeugen in der Straße gefragt hätten. Nicht das er wüsste. Warum hätten sie dies tun sollen, will er wissen und Betty teilt ihm ihre Überlegung zu dem auffälligen Fahrzeug mit, dass der Täter benutzt haben könnte, um sein Vorhaben vorzubereiten und umzusetzen. Er kümmere sich darum und übrigens hätten sie bereits drei Familien identifizieren können, die als Opfer in Frage kämen.

Wow, alle im Norden?

„Nicht ganz, eine Familie in Hannover, eine in Essen und eine in Herne. Von Geldwäsche über Menschenschmuggel, Drogen, Raubüberfalle alles dabei. Essen und Herne scheinen Libanesen zu sein, Clan-Familien. Deine Rede, die werden sich einen Teufel tun, um mit uns zu reden.“

„Oh, meine Dorade kommt. Ich muss endlich meinen Magen zufriedenstellen. Und mache endlich Feierabend, morgen wird wieder ein langer Tag.“

Die Dorade liegt friedlich in voller Gänze auf dem Teller, aufgebettet auf köstlich duftende Ratatouille. Obwohl sie Hunger hat, isst sie zunächst mit dem Auge und der Nase, nimmt das Fischmesser und die Gabel und beginnt, die Dorade zu filetieren. Ihr Smartphone, noch auf dem Tisch liegend, vibriert, kurzer Blick darauf, Lusi, auch das noch. Sie nimmt an.

„Hallo Lusi. Du, kann ich dich in zehn Minuten zurückrufen, ich bin mitten in einem Gespräch.“

„Wenn du meinst. Ich warte.“

Hm, Lusis Ton gefällt ihr nicht. Den Ton kennt sie. Hätte sie doch gleich mit ihr reden sollen? Egal, die Dorade hat Vorrang. Das Smartphone vibriert erneut, tänzelt auf der Tischplatte, leise gestellt, stört niemand. Hartnäckige Lusi? Nein. Das Display zeigt an, dass Giede anruft. Nein, nicht jetzt. Jetzt zählt nur die Dorade. Herrlich der Duft nach frischen Kräutern, der Geschmack bestätigt, was sie riecht, dazu der nussige Geschmack der Kruste, mit der die Dorade überzogen ist, der Geschmack von Knoblauch nur leicht zu spüren. Das Fleisch des Fisches nicht zu weich, genau richtig, die Ratatouille kein Matsch, bissfestes Gemüse, gedünstet in Tomatensauce, abgeschmeckt mit Kräutern. Sage einer, Diabetiker können nicht schlemmen. Oh ja, sie genießt ihr Essen, lässt sich den Wein schmecken. Silvio schaut vorbei, fragt, ob alles recht sei, und Betty schwärmt ihm ein köstlich entgegen, was diesen sich, zufrieden lächelnd, zurückziehen lässt.

Ein Dessert verwehrt sie sich, obwohl sie sich dies verdient hat, aber keine noch so kleinen Ausreißer will sie zulassen. Nur einen ungesüßten doppelten Espresso erlaubt sie sich, zahlt und macht ich auf den Heimweg. Im Haus angekommen, wirft sie ihre Umhängetasche auf das Sofa, sich gleich daneben, kurzes Verschnaufen, dann Smartphone greifen, Lusi anrufen, die auch gleich annimmt.

 

„Hallo Lusi. Wann kommst du?“

„Was? Wovon redest du?“

Betty ist überrascht.

„Du rufst nicht an, weil du kommst?“

„Wohin soll ich kommen? Was redest du für ein Zeug?“

„Langsam. Der Leiter der Mordkommission Hamburg hat dich zur Unterstützung bei Griebel angefordert. In Hamburg wurde die enthauptete Leiche einer jungen Frau gefunden und im Haus gegenüber, drei weitere Leichen. Verstehst du?“

Schweigen, lautloses Schweigen.

„Nicht dein Ernst? Aber, was hast du damit zu tun?“

Betty klärt Lusi in groben Zügen auf.

„Das heißt, du hattest recht mit deinem Verdacht und Griebel dürfte ein Problem bekommen und nein, Griebel hat mich nicht angesprochen. Er weiß also, was in Hamburg geschehen ist? Seit wann?“

„Hansen hat vor gut drei Stunden in Lübeck angerufen und mit Griebel gesprochen, der habe abgestritten, dass es ein Fall sei, hat sich darauf versteift, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Hm, ich denke, ich rufe Travens an, wir brauchen dich hier, inklusive der Fallakten…Du willst doch? Oder?“

„Ich wollte schon immer einmal mit Profis ermitteln. Nur, wie kann ich euch helfen? Ich bin nicht Betty.“

„Rede keinen Unsinn. Du kennst den Fall. Du kennst alle Überlegungen dazu, hast mit Stupi gesprochen und den müssen wir erneut aufsuchen. Du bist wichtig und Betty bin ich selbst. Du bist Lusi, die Ermittlerin. Macht dich nicht immer so klein.“

„Betty, die Psychologin. Ich würde kommen und wenn es nur dazu dient, dich wiederzusehen, nur, der Marschbefehl steht leider aus.“

„Klar, dass du bei mir übernachtest. Aber jetzt muss ich erst Druck auf Griebel aufbauen. Er wird sein Verhalten noch bedauern…Aber sag mal, warum hast du eigentlich angerufen, wenn du nicht dein Kommen ankündigen wolltest?“

„Betty? Weißt du, wann wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben? Das war kurz nach deinem Abgang. Ich wollte deine Stimme mal wieder hören. Von dir aus war ja Funkstille.“

Stimmt, sie hatte die Kontakte nach Lübeck vernachlässigt, selbst Vera hat sie nun schon längere Zeit nicht mehr kontaktiert, wollte sie zwar tun, aber immer wieder auf morgen verschoben und morgen hatte sich an morgen gereiht. Sich in ihre neue Aufgabe einzuarbeiten, mehr einzulesen, hat viel Zeit in Anspruch genommen, wird dies weiterhin tun. Routine wird sich erst nach Jahren einstellen. Es gibt keine halben Sachen bei Betty, also kniete sie sich in die Materie und ja, hat vergessen, dass es noch anderes gibt. Also entschuldigt sich Betty bei Lusi für ihre Funkstille. Sei schon gut, sie reden ja.

 

Kaum aufgelegt ruft Betty Rainer an, der anscheinend nicht daran denkt, Feierabend zu machen, bittet ihn, Hansen nochmals zu drängen, mit Griebel zu sprechen, da Frau Weimann noch nichts von einer Hamburgreise wisse. Sie solle kurz warten, Stille in der Leitung, im Hintergrund Papiergeraschel, dumpfe Stimmen. Rainer wieder am Hörer, ihm sei ein Herr Kelting aus Lübeck avisiert. Kelting? Der habe keine Ahnung von dem Fall, sei Griebels Anhängsel. Irgendwo haben die Beiden eine gemeinsame Vergangenheit, die nicht rühmlich gewesen sei, schweiße aber zusammen. Er sei das Sprachrohr von Griebel und würde die Ermittlungen eher behindern als fördern. Sie bräuchten Lusi. Kelting solle zu Hause bleiben, sie würde ihre Kontakte in Lübeck nutzen, um Druck auf Griebel auszuüben, seine Entscheidung zu revidieren und falls Kelting trotzdem im Kommissariat auftauche, solle er ihn zum Teufel jagen.

„So schlimm der Typ?“

„Ja, er scheint, wie Griebel, rechts angehaucht zu sein, übrigens der Versetzungsgrund bei Griebel. Er kam zusammen mit einem Kollegen in unsere Abteilung. Der Kollege ist dunkelhäutig. In einer Besprechung fragte Kelting, was unser afrikanischer Kollege dazu zu sagen hätte. Verstehst du? David ist in Deutschland geboren, hier die Schule besucht, sein Abitur gemacht, sich dem Staatsdienst verpflichtet und dieses Arschloch macht ihn so an. Ich bin wütend geworden und habe ihn scharf angegangen. Danach hat er kein Wort mehr mit mir gewechselt. Kennzeichen, rassistische, sexistische Sprüche, unangenehm der Typ. Kein Freund, kein Helfer.“

Er werde mit Hansen reden, ob der noch da sei, wisse er aber nicht.

 

Und jetzt noch Giede, den sie zu Hause antrifft und dem sie berichtet, was sich ereignet hat, die Überscheidungen mit Lübeck deutlich seien und ja, sie könne die Ermittlung durch ihre Mitwirkung beschleunigen, was allerdings bei ihr einiges durcheinanderwirbeln würde. Sie solle sich keine Gedanken machen. Die Aufklärung gehe vor und alles weitere werde sich finden. Gut, wenn er das so sieht. Sie stimmen sich kurz für den morgigen Tag ab, wo sie das Vormittagsseminar halten wird, die Sprechstunde am Nachmittag aber wieder ausfallen lassen müsse.

Aufgelegt, überlegt sie, Vera anzurufen. Sie hatte vor, Vera über die Weihnachtstage zu besuchen. Nur, Frank dürfte da zu Hause sein, was heißt, das Terrain vorsichtig abzuklären, bevor sie Vera von ihrem Besuch in Kenntnis setzen würde. Nein, sagt sie sich, verschiebt es auf morgen, ebenso wie den eigentlich anstehenden Besuch im Fitness-Studio, den sie gleich in der Frühe absolvieren wird. Travens! Sie wollte doch Travens anrufen, um Druck auf Griebel zu machen. Nur, der wird nicht mehr in seinem Büro sein, aber egal, sie wird ihm auf die Sprachbox sprechen. Das Smartphone liegt noch bereit, klickt die Kontakte an, scrollt auf Travens und lässt wählen. Bandansage, die Bürozeiten, Nachrichten können auf Band gesprochen werden. Schön!

„Moin, Herr Doktor Travens, Bettina Sundberg am Telefon. Wahrscheinlich haben Sie mittlerweile von dem Gewaltverbrechen in Hamburg erfahren. Duplikat der Tat in Lübeck, allerdings ohne Russen-Mafia-Hintergrund (den Seitenhieb kann sie sich nicht verkneifen). Die Mordkommission hat auf mein Anraten Kontakt mit Lübeck aufgenommen, um Frau Weimann, die sich bestens in dem Fall auskennt, nach Hamburg zu entsenden. Herr Griebel wiegelt das Ersuchen ab, schickt anscheinend stattdessen Herrn Kelting, der von dem Fall nicht viel Ahnung hat. Es wäre schön, wenn Sie im Sinne der Hamburger Kollegen Einfluss auf Herrn Griebel nehmen könnten. Meine Nummer haben Sie, bei weiteren Details rufen Sie mich bitte an. Ach, es wäre gut, gegenüber Herrn Griebel nicht zu erwähnen, dass ich hinter dem Ersuchen stecke. Besten Dank. Bis demnächst.“

 

Der Abschied aus Lübeck war herzlich, zumindest was die Staatsanwaltschaft anging. Travens hatte die kleine Abschiedsfeier organisiert, was Betty allerdings erst im Nachhinein erfuhr, Griebel hätte dergleichen sicher nicht getan. Die letzten Tage waren sehr frostig gewesen, besonders, nachdem sie mit Kelting aneinandergeraten war. Mit dem Chor von früher hatte die Abteilung nichts mehr zu tun, worunter besonders Lusi litt, die mittlerweile mehr Kriminalassistentin als Kriminalbeamtin war. Wenn Außeneinsätze anstanden, dann fuhr Kelting mit Peter raus oder Peter und David zogen los, Lusi durfte nur noch die Recherchearbeiten für die Herren machen. Die eigentliche Kriminalassistentin hatte sich versetzen lassen, warum auch immer, und Griebel unternahm nichts, die Stelle neu zu besetzen. Das sorgte für Frust bei Lusi, der sich noch steigerte mit jedem Tag an dem Bettys Abschied näher rückte, denn die war ihr letzter Halt, dementsprechend war ihr Verhältnis leicht ängstlich unterkühlt.

Hembach hätte es sicher geschafft, Lusi nach Hamburg zu bugsieren, vorausgesetzt, Lusi wollte den Wechsel. Vielleicht kann Rainer helfen, aber dazu müsste Lusi erst einmal nach Hamburg kommen und danach sieht es derzeit nicht aus. Nun, was wird, wird sich zeigen. Die Füße auf dem Couchtisch, eingesunken in ihr Sofa, denkt sie nach, an Lusi, an die Lübecker Zeit, an die Toten in der Walderseestraße. Sie könnte googeln, was der Herr zur Überwachungstechnik zu sagen hat, nein, vielleicht morgen, heute nicht mehr, kurz sich durch das Fernsehprogramm zappen, vielleicht hängen bleiben, und dann ab ins Bett. Oder lesen? Sie hat die letzten Wochen so viel Fachliteratur verschlungen, dass ihr die Lust auf einen entspannenden Roman vergangen ist. Gut, also zappen. Sie schnappt sich die Fernbedienung, drückt auf den Anlasser, das Bild erscheint, ein Krimi, was sonst, drückt weiter, Dokus, Serienzeug, Realityshows, Quiz-Sendungen, die keinen Menschen schlauer machen, Schlager des Monats, öde dargebotenes Gereimtes, schrecklich, einfach nur schrecklich, selbst Arte hat heute nicht zu bieten. Aus. So einfach ist das.

Eigentlich hätte sie im Haus zu tun. Noch ist nicht alles an seinem Platz, vieles noch provisorisch, hat dem Haus ihren eigenen Stempel noch nicht aufgedrückt. Oma-Betty-Mischmasch, trotzdem fühlt sie sich wohl in ihrem zu Hause. Das Dach ist noch nicht gemacht, genauso wenig wie die Fenster erneuert oder die Wände neu angelegt. Der Zimmermann war hier, riet, das Dach neu zu decken, die Dachlatten seinen teilweise morsch und von Isolierung keine Spur, danach die Fenster, die er praktischerweise auswechseln kann, erst dann, so seine Empfehlung die Malerarbeiten starten. Gut, Betty erteilte ihm den Auftrag, der allerdings erst im Frühjahr mit den Arbeiten beginnen kann. Es eilt ihr nicht.

Musik? Ja! Schöne klassische Musik. Ihre CD-Auswahl ist beschränkt, wählt Gustav Mahler aus, schiebt die CD in den Recorder, legt sich auf der Couch ab und lässt die schwingenden Töne auf sich einwirken. Reitende Menschen durchqueren den Wald, sie stellt sich das Rauschen der Eichen, das seichte Getrampel der Hufe auf dem modrigen Untergrund vor und schläft langsam ein.

Nicht Lärm, nein die Ruhe, lässt sie aufschrecken, schlechte Gedanken waren in ihrem Kopf, nein, keine Erinnerung, keine Ahnung, um was es ging. Die Uhr zeigt weit nach Mitternacht an, mühsam, schläfrig steigt sie auf, geht ins Badezimmer, sich für die Nacht rüsten.

 

Aufwachen, seufzen, die Träume der Nacht ausstöhnen, starrt an die Decke, nach vorne, auf den alten Kleiderschrank ihrer Großmutter, nun gefüllt mit ihren Klamotten. Der muss raus, muss endlich raus, genau wie das Bett, in dem sie liegt, unbequem liegt, aber noch keine Zeit gefunden hat, einen Zug durch Möbelhäuser zu starten. Wird sie machen, wird sie endlich angehen, wenn sie frei ist vom Ballast des Mordfalles.

 

Alles in der Welt ist nur für den da, der Augen hat, es zu sehen. (Eduard Spranger)

 

Ihre Augen wandern durch das Schlafzimmer, sie ist kribbelig, unruhig, ein innerer Drang will sie ins Präsidium ziehen, sie will wissen, hören, agieren. Geht aber nicht. Erst die Pflicht, dann die Kür. Dementsprechend macht sie sich nach der Morgentoilette und dem Frühstück auf den Weg zur Universität, wo sie heute nicht dozieren muss, zum Glück, denn ihre Gedanken wären nicht bei der Sache, stattdessen hat sie zu kommentieren und zu moderieren. Zwei Referate stehen an: Einführung in die forensische Psychologie und Aufbau eines psychologischen Gutachtens, die zwei ihrer Studentinnen sich vorgenommen haben. Um kommentieren zu können, muss sie zuhören, was ihr nicht so recht gelingt, da sich ihre Gedanken auf Abwege begeben, Resultate, Ermittlungsergebnisse schreiten durch ihren Kopf, mal negativ, mal positiv ausgehend. Sie rätselt und spekuliert, ist angespannt und wird von Minute zu Minute aufgewühlter, während die erste junge Dame ihren Text vorliest, endet und erwartungsvoll ihre Augen auf Betty richtet.

Ein beachtliches Referat lobt Betty, von dem allerdings große Teile ihren Kopf nicht erreicht haben. Sie bittet um Wortmeldungen, die bleiben aus: Sie muss zu Fragen anregen, aber die Seminarteilnehmer verharren schweigend vor sich hinstarrend. Was das Schweigen bedeute, will Betty wissen. Ein Student lamentiert, dass es zu früh gewesen sei für dieses Referat, sie seien thematisch noch nicht so weit. Nun, führt Betty aus, das Referat sei eine Einführung in das Thema gewesen, eine unzulängliche Einführung (Was keine Kritik an ihrer Arbeit sei, versichert sie der Referentin). Mag sein, dass das Thema verfrüht kam, aber da es sich um einen der Kernbereiche ihres zukünftigen Arbeitsfeldes handle, sollten sie das Referat als ersten Schritt verstehen, tiefer in die Materie einzusteigen, denn das müssten sie schon selbst leisten.

„Die forensische Psychologie ist ein zentrales Element Ihrer zukünftigen Arbeit, um sich mit geistigen, sozialen sowie psychischen Ursachen der Verbrechensentstehung und Verbrechensdurchführung auseinanderzusetzen. Ihre Urteile werden gefragt sein, wenn es um die Schuldfähigkeit von Angeklagten, der Glaubhaftigkeit von Zeugen geht. Sie forschen nach Ursachen und Motiven von Täterinnen und Tätern nicht nur bei begangenen Straftaten, sondern auch präventiv. Was führt zu kriminellem Verhalten? Kriminalprognostik genannt. Sie dürfen sich nicht nur auf das verlassen, was Ihnen hier gelehrt wird, sondern müssen eigene Anstrengungen unternehmen, Anregungen weiter vertiefen und solche Referate, wie gehört, sollen Sie dazu anregen. Machen Sie aus Nichtwissen Wissen!“

 

Nein, es will keine Diskussion aufkommen, nur eine diffuse, passive Betroffenheit. Dann halt das nächste Referat, ein trockenes, eher formales Thema, aber für die Studierenden notwendig. Die Studentin setzt zu ihren Ausführungen an. Nach kurzem Zuhören weicht Betty wieder gedanklich ab, wieso hat sie sich noch keine Gedanken darüber gemacht, was im Kopf des Täters vor sich geht. Warum verübt er so brutale Verbrechen? Des Geldes wegen? Was treibt ihn an? Und warum Familien mit kriminellem Hintergrund? Doch so etwas wie eine Abrechnung mit dem Milieu? Eine Art von Selbstjustiz, da die Opfer der Justiz bisher nicht greifbar waren? Das wäre ein Motiv, muss Rainer nachforschen lassen.

Betty schrickt plötzlich auf, da alle Augen auf sie gerichtet sind. Sie hat nicht bemerkt, dass die Referentin ihr Referat beendet hat und nun alle gespannt auf Bettys Reaktion sind.

„Entschuldigung. Ich bin abwesend. Meine Gedanken sind ganz woanders. Vielleicht haben Sie von dem Mord an einer jungen Frau gehört, die enthauptet wurde (Geraune entsteht) und ihrer Familie, die förmlich hingerichtet wurde. Ich wurde zu diesem Fall als Beraterin hinzugezogen und das Thema heute hat mich auf diesen Fall zurückgeworfen. Es hat von mir Besitz ergriffen, was es eigentlich nicht sollte. Auch das eine Lehre, halten Sie Verbrechen auf Distanz, Sie könnten sonst ihre Objektivität verlieren.“

„Lassen Sie uns über den Fall sprechen. Das ist praktische forensische Psychologie.“

Prasselndes Fingerklopfen auf den Tischen. Obwohl das Seminar fast zu Ende ist, keine Spur von Aufbruch, die Kommilitonen wollen reden.

 

Betty fragt, wer von dem Fall gehört oder gelesen hat. Fast alle im Raum Anwesenden heben ihren Arm in die Höhe. Klar, die Generation Smartphone, die alles direkt auf die Hand geliefert bekommt. Die jungen Leute wollen die Gelegenheit beim Schopf packen, ein aktueller Fall und eine an der Aufklärung Beteiligte direkt vor Ihnen. Live. Die Chance bekommt nicht jeder oder jede Studierende, aber Betty, obwohl sie gerne möchte, kann nicht, geht nicht, nicht im jetzigen Stadium.

„Es ist mit leider nicht möglich, über den Fall zu sprechen. Auch das müssen Sie lernen. Wann sage ich was? Können Worte die Verbrechensverfolgung beeinflussen? Wie können Worte taktisch eingesetzt werden? Wann rede ich mit der Presse? Was teile ich zu welchem Zeitpunkt mit? Wann ist es ratsam, die Öffentlichkeit um Hilfe zu bitten? Wann kann das Verschweigen von Fakten gefährlich werden? Sie alle kennen die zwei Worte: ermittlungstechnische Gründe. Der Täter darf nicht wissen, wie nahe ihm die Ermittlungsbehörde ist. Im aktuellen Fall dürften ihre Messager-Dienste nur Spekulationen, wilde Überlegungen und Gerüchte ausspucken, da die Ermittlungen erst am Anfang stehen, viele Fragen nach Antworten suchen, also glauben Sie nie, was sie zu lesen vorgesetzt bekommen. Verfolgen Sie den Fall aber weiter, ich bin gerne bereit, zum geeigneten Zeitpunkt darüber zu sprechen.“

Enttäuschtes Gemauschel.

„Aber Sie sind weiter, als die Presse weiß,“ insistiert einer ihrer Studenten.

Betty wägt die Antwort ab und meint, ja, erst am Nachmittag wird die Presse geladen und mit Einzelheiten versorgt. Die Presse. Bei ihrem letzten Fall hatte Hembach irgendeinen Deal mit einem Journalisten der Nachrichten geschlossen, an den sich Betty aber nur dunkel erinnert. Diesen Journalisten könnte sie kontaktieren und auf Griebels Fehlhandlung aufmerksam machen, wobei, spätestens wenn er von dem Hamburger Fall erfährt, wird er eins und eins zusammenzählen. Nur, Betty hatte ein paar Details, die diesen Journalisten sicher interessieren würden. Soll sie oder soll sie nicht? Gut, ist abgespeichert, kann bei Bedarf aktiviert werden.

Über das zweite Referat kommt es zu keiner Aussprache mehr. Etwas über der Zeit endet das Seminar. Betty hängt sich ihre Tasche um, will gehen, zwei Studenten halten sie auf, haben Fragen zu ihren Referaten, die sie in einer der kommenden Sitzungen halten werden, Betty verweist auf die Sprechstunde nächste Woche, was die beiden nicht zufriedenstellt, aber, es tue ihr leid, es gehe im Moment nicht anders.

 

Sie verlässt den Seminarraum, wandelt den Flur entlang, am Fenster, nach draußen blickend, ein Mann, den Betty wahrnimmt, aber nicht weiter beachtet, geht vor zu ihrem Büro, schließt auf, geht hinein, setzt sich auf ihren Bürostuhl und atmet durch. Noch Zeit, bis sie zur Mensa gehen kann, nimmt sich Giedes Liste für Literatur vor, die dieser für seine Vorlesungsreihe zusammengestellt haben möchte. Muss sie heute noch in die Wege leiten.

Auf welchem Stand wohl die Ermittlungen sind? Auf ihrem Smartphone, das sie während des Seminars stummgeschaltet hatte, zwei Anrufe, beide von Travens, einer davon mit Sprachnachricht: „Hallo, Frau Sundberg. Ich bin über Ihren Anruf überrascht, muss leider nun in eine Verhandlung, versuche Sie zwischendurch zu erreichen. Ich habe mit Griebel gesprochen, der ziemlich verärgert ist über die Hamburger Kollegen. Aber die Parallelen, was ich bisher erfahren konnte, sind so frappierend, dass wir den Fall wieder aufrollen werden. Ich melde mich.“

Schön, aber nicht das, was sie hören wollte, hieß Rainer anrufen, schon um ihre Unruhe zu besänftigen. Rainer meldet sich, ist in der Gerichtsmedizin, Professor Klinger, der Gerichtsmediziner könne aber nur das bestätigen, was sie eh schon wüssten, keine Besonderheit, schmerzloser, leiser Tod. Die Waffe, mit der die junge Frau enthauptet wurde, könnte ein Schwert gewesen sein, wahrscheinlich ein Samuraischwert. Ob jemand aus Lübeck gekommen sei. Ja, der Typ, Kelting (?) sei ins Dezernat geschneit. Er sehe nicht aus wie eine Frau, habe er zu ihm gesagt, sie hätten eine Frau Weimann erwartet und keinen Herr Kelting, der im Zusammenhang mit dem Fall nicht erwähnt worden sei. Da sei er falsch informiert, er sei es gewesen, der den Fall in Lübeck abgeschlossen habe und jetzt nicht recht wüsste, was er hier solle. Gut, dann könne er geradewegs wieder nach Hause fahren. Er sei noch einen Moment verharrt, habe sich umgedreht und ward nicht mehr gesehen. Die Fallakte aus Lübeck habe er natürlich auch nicht mitgebracht. Um die Akte kümmere sie sich, sichert im Betty zu.

 

„Aber etwas anderes. Mir ist da noch ein Gedanke gekommen. Unser Täter sucht gezielt Familien mit kriminellem Hintergrund aus, was mich fragen lässt, warum ausgerechnet solche Familien. Ist da in der Vergangenheit etwas vorgefallen, was diese Handlungsweise erklären könnte? Also zum Beispiel eine Tat, bei der eine ihm nahestehende Person zu Schaden kam, ein Drogenopfer, Schussopfer oder ähnliches. Die Tat nicht gesühnt wurde, entweder der Verdächtige kommt mangels Beweisen frei, oder wird erst gar nicht angeklagt. Könntest du jemand darauf ansetzen, um herauszufinden, ob solch ein Vorgang aktenkundig ist, in Hamburg, dann erweitert auf Schleswig-Holstein und eventuell Niedersachsen?“

„Hm, könnte was dran sein. Ja, ich lasse dies nachprüfen. Ansonsten scheint alles auf das hinauszulaufen, was du vermutet hast. Bisher haben wir zweiundzwanzig Namen auf der Kundenliste gefunden, die wir in Verbindung mit illegalen Geschäften bringen können…“

„…Und wie viele davon haben Töchter?...“

„Das ist schwierig, da die Treffer nur Hinweise auf den Verdächtigen geben, nicht auf die Familienangehörigen, da müssen wir über die Meldeämter gehen, das dauert noch an. Aus der Schule haben wir erfahren, dass Luana, das Enthauptungsopfer, in den letzten Tagen verändert wirkte, ernster, in sich gekehrt, aber von K.-o.-Tropfen sprach keine der Freundinnen. Auch eine ihrer Lehrerinnen meinte, sie sei abwesend gewesen, und zwar auffällig abwesend.“

„Wahrscheinlich getraute sie sich nicht, mit jemand über ihr Erlebnis zu sprechen. Kein Freund?“

„Freund? Doch. Den konnten wir noch nicht sprechen. Er studiert in Flensburg. Die Kollegen sind dran.“

„Es könnte Angst, Unsicherheit gewesen sein, die zur Verhaltensänderung der jungen Frau geführt haben. Sie hatte noch nicht den Mut, sich jemand anzuvertrauen. Und Kopfschmerzen, gibt es da Hinweise?“

„Laut einer Freundin ja, Luana habe vor Schmerzen geweint und sich sogar übergeben auf dem Nachhauseweg, weshalb sie Luana bis vor die Haustür begleitet habe. Und, was diese Freundin auch sagte, war, die Mutter, die Luana in Empfang nahm, sei nicht überrascht gewesen, sie hätte das Gefühl gehabt, die Mutter wusste von ihrem Zustand. Für sich hat sie den Schluss gezogen, Luana könnte schwanger sein.“

„Hm, heißt, sie hatte diese Kopfschmerzen überwiegend zu Hause. An welchem Tag war dieser Schmerzanfall?“

„Freitag.“

„Passt. Letzte Drohung und Aufforderung zur Zahlung, Samstag das Eindringen in das Haus, Sonntagfrüh die Ermordung und Montagfrüh das Ausstellen der Leiche. Zu dem Zeitpunkt wusste der Täter längst, dass Koci nicht zahlen wollte, oder konnte. Woher? Und warum nochmals die Schmerzattacke? Eigentlich zwecklos, weil er längst entschieden hatte, die Familie zu liquidieren. Ich muss unbedingt mit Koci reden. Hast du eine Rufnummer, unter der ich ihn erreiche?“

„Langsam, nicht so schnell mit die alten Pferde. Die Freundin vermutet eine Schwangerschaft. Was, wenn sie recht hat, dann haut das mit deinen Kopfschmerzen nicht mehr hin…“

„…Was sagt die Obduktion dazu? Wurde überhaupt nach einer Schwangerschaft gesucht?“

„Augenblick.“

Betty hört, dass Rainer mit dem Professor spricht, versteht aber nicht was, der Professor antwortet, was sie auch nicht mitbekommt. Rainer wieder direkt am Handy, nein, wurde nicht untersucht, werde aber nachgeholt.

Gut, trotzdem bräuchte sie die Rufnummer von Koci Senior. Habe er nicht. Koci wolle nicht erreicht werden, aber sie könne versuchen, ihn in einem seiner Restaurants zu erreichen oder zumindest eine Nachricht dort hinterlassen. Die Namen der Restaurants schicke er ihr auf ihr Smartphone. Dann verabschiedet er sich auf später.

„Warte noch, wir müssen mit Stupi sprechen, kündige unseren Besuch für den frühen Nachmittag an.“

„Mach ich. Soll ich dich irgendwo abholen?“

„Nein, brauchst du nicht, ich nutze die Öffentlichen für die Fahrt. Bis dann.“

 

Das Smartphone noch in der Hand, wählt sie Steprath an, der sie begrüßt, überrascht eine fremde Nummer auf seinem Handy zu sehen. Sie habe Glück gehabt, dass er angenommen habe, mache er sonst nicht. Ohne Umschweife erklärt Betty den Grund ihres Anrufes, fragt, ob er den ballistischen Bericht bereits nach Hamburg gesendet habe. Dass er das sollte, darum habe ihn keiner gebeten. Ärgerlich, ob er das gleich ändern könne, die Kollegen in Hamburg würden sehnlichst darauf warten. Klar, würde er sofort machen. Wohin? Das hatte Betty nicht auf dem Schirm. Sie würde die Mail-Adresse heraussuchen und sie ihm übermitteln. Ob sie doch wieder im Polizeidienst eingetreten sei, will Steprath wissen. Nur vorübergehend, als Beraterin in dem Fall, da sie sozusagen Expertin für Mordfälle mit kopflosen Frauen sei, was sie trocken von sich gibt, sollte ironisch, nicht witzig klingen. Steprath versteht, ob er schmunzelt, kann Betty natürlich nicht sehen, aber das kurze okay, sagt ihr, er hat es richtig aufgenommen.

Und jetzt noch Lusi, ruft sie an, sie nimmt an, ob es Neuigkeiten gebe. Nein, meint Lusi, Kelting sei nach Hamburg gefahren, Griebel habe nicht mit ihr gesprochen. Ja, sie habe schon vernommen, dass er hier aufgekreuzt, aber sei gleich wieder davongezogen. Die Fallakte habe er nicht dabeigehabt. Das bedeutet großen Ärger für ihn und Griebel.

„Ärger, nein Betty. Ärger nur für mich. An mir werden sie es auslassen und Griebel ist hinterfotzig genug, sich aus der Sache herauszuwinden. Kelting hat, wie ich am Rande mithören konnte, vermutet, dass du dahintersteckst. Er nennt dich übrigens, die Dicke, ich bin die Dünne und David ist der Schwarze. Peter ist noch namenlos. Die haben die gleiche Sprache. Griebel scheint dies nicht zu glauben, wolle dem aber nachgehen. Und da er dich nicht fassen kann, bekomme ich seinen Zorn ab. Verstehst du?“

„Hm, ja, das traue ich dem Arsch zu. Sag mal, würdest du von Lübeck weggehen, wenn sich dir die Möglichkeit bietet?“

„Du meinst nach Hamburg?“

„Ja.“

„Darüber habe ich mir noch keinen Kopf gemacht…Hamburg ist mir zu groß, zu wuchtig, zu viel Verbrechen. Ich weiß nicht, ob ich dies will und kann.“

„Überlege es dir. Ich denke, ich kann da nachhelfen. Hat sich Travens bei dir gemeldet?“

„Travens? Nein. Warum sollte er?“

„Ich habe ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass Griebel mauert.“

„Nicht gut.“

Das Lusi Griebels Ärger abbekommen würde, hat sie nicht bedacht. Eigentlich wollte sie Lusi nach der Fallakte fragen, aber würde sie diese ihr mailen, käme sie in noch größere Bedrängnis. Gut, sie halte die Füße still und Lusi solle sich das mit Hamburg durch den Kopf gehen lassen. Die Hembach-Zeit würde nicht mehr zurückkehren.

 

Zwar noch ein wenig zu früh, aber egal, sie bricht auf, um die Mensa aufzusuchen, dort eine Kleinigkeit zu essen, anschließend dann wird sie ins Präsidium fahren. Sie verlässt ihr Büro, schließt ab, lässt den Zettel, der von der ausfallenden Sprechstunde kündigt, hängen und schlägt die Richtung zur Mensa ein. Beim Schreiten durch die Flure fängt sie, wenn auch nur gelegentlich, Blicke auf, die ihr sagen, eh, was ist das für ne Dicke, aber ihr egal, da steht sie mittlerweile darüber. Sie dreht sich um, warum auch immer, geht weiter, betritt die Mensa, geht an den Schalter für vegetarische Kost, schiebt ihre Karte in den Automaten und bekommt einen Teller mit irgendetwas mit Tofu gereicht, zieht sich eine Flasche Wasser, nimmt ihre Pillen ein und beginnt, den eigenartigen Mischmasch auf ihrem Teller zu verspeisen.

Ihr Smartphone vibriert. Travens. Sie grüßt, er grüßt zurück, sagt, er habe sich näher über die Morde in Hamburg informiert, mit seinem Kollegen dort gesprochen. Tragische Sache und er teile voll und ganz ihre Meinung. Sie hätten einen, keine zwei Fälle und er nehme an, sie werde versuchen, ihren damaligen Verdacht zu bestätigen. Was sie nun von ihm erwarte.

„Also, ich bitte Sie zunächst, nichts zu unternehmen. Herr Griebel hat bereits Herrn Kelting nach Hamburg geschickt, ohne die Fallakte und die Kollegen haben Herrn Kelting umgehend nach Hause geschickt. Griebel ist unter Druck und lässt diesen Druck an Frau Weimann aus. Jede weitere Handlung Ihrerseits wird den Druck erhöhen, das möchte ich vermeiden. Und, sobald er erfährt, dass ich in Hamburg involviert bin, wird sein Ärger sich noch steigern. Die Kollegen aus Hamburg werden Amtshilfe auf dem offiziellen Dienstweg anfordern, inwiefern sie die schleppende bisherige Unterstützung intern in ein Verfahren münden lassen, weiß ich nicht, könnte aber passieren, da man hier das Verhalten Griebels als, gelinde gesagt, nicht produktiv empfindet. Also lassen wir die weitere Initiative bei den Hamburger Kollegen. Und, deren Erkenntnisse werden den Lübecker Fall in ein anderes Licht stellen.“

„Hm…machen wir so. Natürlich muss ich nun Handeln, zumal mein Hamburger Kollege mich mit dem aktuellen Ermittlungsstand versorgt. Aber ich werde Sie und Frau Weimann aus meinen Handlungen heraushalten. Wie weit sind Sie denn mit Ihren Ermittlungen?“

„Die Kolleginnen und Kollegen sind dabei, verschiedene Fragen zu klären. Ich denke aber, heute oder spätestens morgen Nachmittag werden uns die Ermittlungsergebnisse der Aufklärung große Schritte näherbringen.“

„Ich hoffe, es gelingt ihnen. Dann alles Gute dazu.“

Gut war das Essen nicht, zumal jetzt erkaltet. Und wann ihr die nächste Mahlzeit winkt, ist vollkommen offen, also besser zwei Brötchen zum Mitnehmen kaufen, was sie bei der Dame an der Essensausgabe macht, die Brötchentüte in ihrer Umhängetasche verstaut und loszieht, wieder durch die Flure zum Ausgang hin und hinaus und vor zur Bushaltestelle.

 

So wie sie Griebel kennengelernt hat, wird dieser aktuelle neue, eigene Erkenntnisse vorschieben, um den Fall wiederzubeleben, nur, in welche Richtung wird er ermitteln? Hm, die Hamburger werden es ihm sagen. An der Bushaltestelle stauen sich die Studierenden, die vom Lehrbetrieb zurück in ihre Studentenbuden strömen. Auch eine ihrer Studentinnen steht da, kommt auf Betty zu und fragt sie, ob sie die Ermittlungen wieder aufnimmt. Nein, meint Betty, sie ermittle nicht, sie berate nur, ja, dies würde sie tun. Ob es denn möglich sei, an ihrer Seite zu hospitieren oder gar ein studienbegleitendes Praktikum bei der Polizei zu absolvieren. Das wisse sie nicht, müsse sie sich bei der Polizei erkundigen und bei ihr hospitieren, nein, das ginge nicht, was sie mit einem Lächeln sagt. Schade, sagte die junge Frau.

Aber Bettys Gehirnzellen beginnen die Frage sofort zu verarbeiten, denn das Wort Praktikum löst sofort Assoziationen bei ihr aus. Hatte Lusi Stupi gefragt, ob es in seiner Firma Praktikanten gab? Die Mitarbeiter standen im Vordergrund und von der Nachfrage, um die sie Lusi gebeten hatte, stand die Antwort noch aus, also kam zumindest bei Betty nicht an. Wird sich nachher klären. Der Bus kommt, sie steigt ein, hält sich an einem Haltegurt fest, nur noch Stehplätze frei. Nach mehreren Haltestellen leert sich der Bus langsam, zwar steigen weitere Personen hinzu, aber weitaus mehr steigen aus.

Sie hebt ihren Blick, den sie bisher eher diffus vor sich gerichtet hat, könnte sich setzen, sind einige Plätze frei geworden, geht drei Schritte zu einem freien Platz, setzt sich, dabei fällt ihr der Mann auf, am Ausgang stehend, kommt ihr irgendwie bekannt vor, hat ihn schon einmal gesehen, oder auch nicht, egal, sie sitzt.

Am Bahnhof steigt sie um, in die Linie, die sie vor das Präsidium fahren wird, steigt ein und setzt sich. Komisches Gefühl in ihrem Rücken, wendet ihren Kopf und da steht der Mann wieder. Zufall? Oder schleicht ihr jemand nach? Etwas auffällig, kein Profi. Nur, wer sollte sie warum verfolgen? Überreaktion? Gut, sie wird ein Auge auf ihn haben, ein unauffälliges Auge.

Am Präsidium angekommen, steigt sie aus, schlägt die Richtung nach dort ein, ohne sich umzudrehen, betritt das Gebäude und steigt die Treppe hoch. Oben angekommen, wirft sie einen Blick aus dem Fenster, sucht mit den Augen den Vorplatz ab, kann aber den Mann nicht orten. Doch Einbildung? Na ja, denkt sie, möglich schon, dass Koci sie beobachten lässt, denn wie sie ahnt, sind seine Möglichkeiten, den Täter aufzuspüren eingeschränkt. Nur, was soll die Überwachung bringen?

Rainer empfängt sie, bittet sie gleich, ihm zu folgen, da sie direkt zu dieser Firma fahren würden, der Geschäftsführer erwarte sie. Er müsse am späten Nachmittag nach London fliegen, habe also nicht viel Zeit.

„Keine Lagebesprechung?“

„Machen wir unterwegs.“

 

Sie verlassen flotten Schrittes das Präsidium, Rainer führt Betty zu seinem Dienstwagen, sie steigen ein und er fährt los. Betty visiert an der Ausfahrt das Terrain links und rechts, aber kein Mann zu sehen, nur eine schwarze Limousine, dessen Insassen sie nicht erkennen kann. Könnte es sein? Rainer steuert auf die Straße, hat zuvor die Koordinaten eingegeben und lässt sich von der Frau im Navi leiten. Ist etwas, will Rainer wissen, der Bettys nervöses Umblicken bemerkt. Es könne sein, dass sie verfolgt werde. Er solle auf die schwarze Limousine achten, die eventuell gleich hinter ihnen auftauchen wird. Ein Blick in den Rückspiegel und er sieht, was Betty meint.

„Du bist sicher, dass die dir folgen, also jetzt uns?“

„Ja, und ich kann mir auch denken, in wessen Auftrag sie hinter uns her sind. Koci will wissen, was wir tun und wen wir aufsuchen, um dann selbst aktiv zu werden. Wir dürfen ihn auf keinen Fall nach Ahrensdorf führen. Koci wird sofort aus dem Besuch schließen, dass wir den Täter dort vermutet.“

„Ehrlich, der Fall ist schon spannend, aber mit dir im Boot wird es noch spannender. Soll ich ihn abschütteln? Nein, der ist sicher besser motorisiert als wir.“

„Nein, machen wir anders. Kennst du in der Nähe eine Einbahnstraße? Steuere die an und rufe eine, oder besser zwei Streifen zu Hilfe, die den Rückweg sperren und die die Personalien der Insassen zeitaufwändig überprüfen. Wir setzen uns dann ab.“

Rainer grinst, schüttelt mit seinem Kopf, schaut, was sich im Rückspiegel abzeichnet. Ja, die sind an ihnen dran. Er gibt seine Position durch und nennt die Kanalstraße, in die er fahren wird. Sie würden von einer schwarzen Limousine verfolgt, ein 7er BMW, und wollen die Verfolger stellen. Zwei Streifen sollen bitte schnellstmöglich dorthin kommen. Allerdings hinter ihnen und den Verfolgern, nicht vor ihnen und ohne Tatütatü. Könnte schief gehen, denkt Betty. Die Kanalstraße zieht sich etwa 800 Meter in die Länge, Rainer biegt ein, eine 30iger Zone, gut so. Er steuert den Wagen regelkonform die Straße entlang, der Abstand zu den Verfolgern aber wird größer.

„Hm, die scheinen Lunte gerochen zu haben, sie stoppen ihre Fahrt. Und jetzt?“

„Hoffen, dass die Kollegen von der Streife ihnen den Rückweg abschneiden können.“

Kurz bevor die Straße in eine Hauptstraße einmündet, hält Rainer an und fordert Betty auf, auszusteigen, sie würden so tun, als ob sie in eines der Häuser gingen, also steigen sie aus, gehen auf einen Hauseingang zu. Die Limousine setzt sich in Bewegung, hinter ihr der erste Streifenwagen. Gut, sie sitzen in der Falle. Sie wenden und eilen zu ihrem Wagen zurück. Rainer steuert den Wagen rückwärts zurück, hält vor der Limousine. Die beiden steigen aus, gehen auf die Limousine zu, an deren Seite die beiden Insassen breitbeinig, mit den Händen auf dem Autodach, von den Kollegen der Streife untersucht werden. Im Auto wurde eine Schusswaffe gefunden, von der die beiden Insassen angeblich nicht wissen, wie sie in das Auto gekommen sein könnte. Und überhaupt, sie seien doch nur spazieren gefahren, ob das neuerdings eine Straftat sei. Nur einer der beiden spricht deutsch, ihre Ausweise weisen sie als deutsche Staatsbürger aus, deren Namen alles andere als deutsch klingen. Rainer lässt die beiden vorläufig festnehmen, Waffenschein, Ausweise auf Fälschung überprüfen, Identität feststellen.

Betty nähert sich dem, der deutsch, allerdings mit Ostakzent, spricht.

„Sag deinem Chef, er kann mich, die dicke Frau, jederzeit sprechen. Er muss mir nicht nachspionieren.“

 

Zügig setzen sie ihre Weiterfahrt fort, bei der, trotz allem, Rainer immer wieder in den Rückspiegel schaut, Betty schmunzelt dazu.

„Ist jetzt gut, Rainer, die sind außer Gefecht.“

„Was treibt den Kerl an, dir diese Typen an die Fersen zu heften? Was will er?“

„Er kennt nur Rache, die er als Chef der Familie durchzuführen hat. Und Rache kann er nur ausüben, wenn er den Mörder seines Sohnes und dessen Familie in die Hände bekommt. Und seine Befragungsmethoden unterscheiden sich entschieden von den unseren. Aber, er wird mit mir reden.“

„Keiner in der Abteilung glaubt daran, dass er das tun wird. Wir sind sein absolutes Feindbild und mit Feinden redet er nicht. Er hat immer alles, was er tat, auf seine Art gelöst und diese Art heißt Gewalt. Du solltest sehr vorsichtig im Umgang mit ihm sein. Der Typ lächelt dir ins Gesicht, während hinter dir einer seiner Männer, das Messer zum Stich ansetzt.“

„Nun übertreibe aber nicht, wir sind hier nicht im Fernsehen.“

„Betty, Betty, noch einen Schlag überlebst du nicht.“

Da hat Rainer recht, aber es wird keinen Schlag geben. Betty glaubt, dass auch schlechte Menschen gute Augenblicke haben können und auf so einen Augenblick setzt sie.

Sie besprechen sich, wie sie in der Firma vorgehen werden. Betty meint, sie sollten zunächst ein Bild der Firma gewinnen. Wie wird dort gearbeitet? Wie wird die Technik eingesetzt? Welche Atmosphäre herrscht? Wozu dies gut sei, unterbricht Rainer Betty, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was möglich ist. Verstehe er nicht. Nun, würden zum Beispiel Arbeitsplätze unbesetzt sein. Bewegen sich die Mitarbeiter im Raum oder sitzen sie stur vor ihren Bildschirmen? Nimmt man sich gegenseitig wahr? Wird kommuniziert? Wie gehen die Mitarbeiter miteinander um? Die Frage ist, kann sich in einer solchen Gemengelage eine einzelne Person unbemerkt im Raum bewegen, um zum Beispiel auf einen Computer zuzugreifen.

„Hm, das ist Psychologie. Davon verstehe ich nichts, aber mach du nur.“

„Nein, du musst ebenfalls aufnehmen und was du siehst auf dich wirken lassen, nur dann kannst du erkennen, was möglich ist und was nicht. Du wirst verstehen, wenn du in der Firma stehst. Dies ist eine IT-Firma nicht das Dezernat…Wie sieht es denn mit der Kundenliste aus. Sind wir da weitergekommen?“

„Ja, die Kollegen haben die Liste durch. Es sind siebenundzwanzig Familien, die in irgendeiner Form mit dem Gesetz kollidiert sind. Familien mit bekanntem Hintergrund zum organisierten Verbrechen haben wir elf ermittelt, davon, bisheriger Stand, vier Familien mit Töchtern in dem gesuchten Alter.“

„Die Namen hast du?“

„Nein. Habe ich vergessen. Kein Problem, Petra wird sie mir aufs Handy schicken.“

Hm, Töchter? Hat das eine Bedeutung? Warum tötet er Töchter? Wenn es zutrifft, dass das Tatmotiv in einem ungesühnten Verbrechen in der Vergangenheit liegt, könnte das Opfer Ehefrau, Tochter oder Schwester des Täters sein.

„Wer stöbert über einen tödlichen Vorfall in der Vergangenheit in den Akten?“

„Ich nehme an, Valerie.“

„Dann gebe ihr den Hinweis, dass sie besonders nach Vorfällen mit getöteten jungen Mädchen suchen soll.“

„Du meinst, diese Riesennummer, die er abzieht, hat mit dem Tod eines ihm nahestehenden Mädchen zu tun? Dieser ganze Aufwand wegen ein bisschen Rache?“

„Ja, weit hergeholt, aber warum nicht?“

 

Rainer biegt auf das Firmengelände, auf dem ein modernes, neu gebautes flaches Gebäude steht, Glasfassade, nur ein Stockwerk hoch. Er parkt sich neben einem Porsche ein, mit der Bemerkung, anscheinend werde hier gutes Geld verdient, was Betty unkommentiert lässt. Aus einem weiter hinten geparkten Auto steigen zwei Männer aus, die Kollegen der KTU. Oh, die habe er ganz vergessen, sollen die auch nur schauen und aufnehmen oder habe sie eine konkrete Aufgabe für die beiden Kollegen?

„Na ja, schau’n wir mal.“

Vor dem Empfang, der sich im Erdgeschoss befindet, warten sie auf die beiden KTU’ler, Tobias und Lothar. Betty teilt kurz mit, dass sie Ihnen keinen konkreten Auftrag geben wird, sie sollen Agen und Ohren offenhalten, sich einen Eindruck von der Arbeit, den Mitarbeitern und der IT machen. Tobias und Lothar richten ihre Augen, die Unverständnis ausdrücken, auf Rainer, der nur mit den Schultern zuckt. Sie steuern den Empfang an, werden begrüßt, nach ihrem Begehr gefragt und nach oben geschickt, wo die Büros, wobei Büros nicht stimmt, es ist ein einziges großes Büro, in dem Stellwände hier und da so etwas wie private Arbeitsatmosphäre sichern, sich befinden. Herrn Stupi begrüßt sie, direkt am Treppenende stehend, führt sie zu seinem Arbeitsplatz, Teil des Großraumbüros. Der Geschäftsführer bittet an einem kleinen runden Tisch Platz zu nehmen, Betty bleibt aber zunächst stehen, überblickt den Raum, in dem gut ein Drittel aller Arbeitsplätze unbesetzt ist, was auch gleich ihre erste Frage an Herrn Stupi ist. Jeder Mitarbeiter habe seinen Arbeitsplatz, die einen sind auf Montage, die anderen unten in der Technik, um Absprachen im Detail zu treffen, andere sind auf Seminar. Alle Plätze sind nie besetzt. Fallen aber trotzdem als Fixkosten an, denkt Betty, warum auch immer.

 

Was Betty sieht, sind vor ihren Bildschirmen sitzende, teils nachdenkende Mitarbeiter, von denen keiner aufblickt, um neugierig nach den Besuchern zu schauen. Mit sich, in sich beschäftigt. Nun setzt sich auch Betty, Herr Stupi bietet Kaffee an, weder sie, die beiden KTU’ler noch Rainer sagen nein. Stupi setzt sich in Bewegung, kommt mit vier Tassen Kaffee auf einem Tablett jonglierend zurück.

„Herr Stupi, kommen wir gleich zur Sache, Stand unserer Ermittlung ist, die Opferfamilien sind Ihre Kunden. Sie haben einen kriminellen Hintergrund, wurden vermutlich ausgesucht in ihrem Kundenstamm. Wir konnten weitere Familien ausfindig machen mit gleichem Hintergrund, sozusagen potenzielle Opfer. Die Häuser beider Opferfamilien sind mit Ihren Sicherheitssystemen ausgestattet gewesen. Daraus lässt sich unweigerlich schließen, unser Täter ist Teil ihrer Belegschaft oder ist eine Person mit ungehindertem Zugang zu den Geschäftsräumen oder ist ein Hacker, der sich in ihre IT-Landschaft eingeschmuggelt hat. Wir haben ihre Mitarbeiter schon einmal überprüft. Die Frage ist, waren wir gründlich genug oder gibt es andere nicht permanent beschäftigte Mitarbeiter, also Auszubildende, Aushilfen, Zeitarbeiter oder Praktikanten, die wir in der ersten Untersuchung nicht berücksichtigt hatten? Ferner hatten wir damals nicht überprüft, ob zu dem fraglichen Zeitpunkt, Mitarbeiter krankgemeldet oder in Urlaub waren. Ob meine Kollegin dies nachholte, weiß ich leider nicht. Möglich ist auch, dass der Täter eine Spionagesoftware eingesetzt hat, um an die Daten der Kunden heranzukommen und jederzeit auf die implementierten Systeme Ihrer Kunden zugreifen konnte. So eine Spyware ist, soweit ich davon Kenntnis habe, schnell aufgespielt und könnte zum Beispiel von einer Person des Reinigungspersonal aufgespielt worden sein. Wie bei der letzten Ermittlung, ist uns nicht daran gelegen, Ihnen Schaden zuzufügen, weshalb wir in kleiner Gruppe angereist sind. Die beiden Kollegen von der KTU würden sich gerne an den Arbeitsplätzen umschauen, auch in die Systeme an sich und die Sicherheitssysteme blicken. Und wir betrachten uns die Personalsituation.“

 

„Natürlich, die Herren können sich unbehindert bewegen. Meine Mitarbeiter sind informiert und stehen für Fragen zur Verfügung.“

Tobias und Lothar erheben sich, unschlüssig, schauen sich an und tapsen los.

„Der Ärger blieb damals aus, ich hoffe auch dieses Mal. Gut, zur von Ihnen angesprochenen Personalsituation. Wir haben zwei Auszubildende, zwei junge Damen, eine im zweiten, die andere im dritten Lehrjahr, technische Assistentinnen. Sie können Sie befragen. Aushilfen, Zeit- oder Leihkräfte hatten wir noch nie, wohl aber Praktikanten. Moment bitte.“

Er greift nach seinem Handy, bittet eine Angelika, alle Personalunterlagen der Praktikanten herauszusuchen, die bisher bei ihnen gearbeitet haben.

„Es tut mir leid, aber damals habe ich nicht an die Praktikanten gedacht, vielleicht deshalb, weil zu dem fraglichen Zeitpunkt kein Praktikant bei uns beschäftigt war. Im Nachhinein, ja, da haben mich Mitarbeiter darauf aufmerksam gemacht, nur, es ist über ein Jahr her, seit der letzte Praktikant bei uns war, weshalb es mir nicht so bedeutsam erschien. Das Reinigungspersonal haben wir überprüft, durchweg Frauen mit Migrationshintergrund. Unsere Räume sind kameraüberwacht, allerdings speichern wir nur achtundzwanzig Tage, alle Aufnahmen darüber hinaus löscht das System automatisch. Wir konnten keine Unregelmäßigkeit feststellen. Wobei, wenn jemand unser System gehackt hat, dann muss dies deutlich früher gewesen sein also vor dem aufgezeichneten Monat. Wir haben auch unsere Sicherheitstechnik verschärft, die ohnehin auf hohem Standard war. Ein Trojaner oder ähnliche Malware würde nicht in das Innere unseres Systems eindringen. Wir haben Firewalls eingebaut, jedes Projekt hat einen Zugangscode und ein verschlüsseltes Kennwort. Nur der Projektleiter und die beiden Projektmitarbeiter haben Zugriff. Ist ein Projekt abgeschlossen, verweilt es noch ein viertel Jahr in dem Projektordner. Danach wird der Datensatz vom System genommen und auf einer Festplatte gespeichert, die im Firmensafe eingeschlossen wird…“

„…Das heißt, der Zugriff auf so ein Projekt ist nur für eine bestimmte Zeit möglich. Ein Praktikant, wer auch immer dies ist, hat also in der Zeit, in der er bei Ihnen arbeitet, nur dieses halbe Jahr, um Daten abzugreifen,“ hakt Betty nach.

„Im Prinzip ja. Sie müssen die drei Monate davor noch hinzuaddieren.“

„Meiner Logik nach kann dies nicht sein. Es sei denn, unser Mann ist permanent in Ihrem System vertreten, mit einer Spyware zum Beispiel. Ich weiß, ich habe Sie schon einmal gefragt, ob sie sowohl im Haus Weidtmann als auch im Haus Koci Kameras in den Innenräumen installiert haben…“

„…Nein, nicht von uns. Nein, die haben wir nicht angebracht.“

„Was kann der Täter mit diesen Kameras erreichen?“

„Ich müsste die Kameras sehen. Grundsätzlich aber ist es so, dass diese Kameras Bild und Ton übermitteln, die Personen im Raum also vollständig überwacht werden.“

„Wo muss der Monitor stehen, um zu verfolgen, was im Haus geschieht?“

„Auch das ist abhängig von der Beschaffenheit, also Leistungsfähigkeit der Kamera. Der Empfang ist irgendwo möglich oder in einer mobilen Lauschzentrale. So eine Lauschzentrale ist dann vollgestopft mit Servern, Monitoren und Antennen. Keine billige Angelegenheit. Nur staatliche Akteure können sich so etwas leisten, vielleicht auch das organisierte Verbrechen. Aber Sie suchen ja einen Einzeltäter, von dem ich nicht glaube, dass er sich solche Unkosten aufgebürdet hat.“

„Es muss ja nicht gleich die Luxusausführung sein. Es gibt sicher auch kostengünstigere Ausführungen oder ein Eigenbau…Unserem Täter würde ich so etwas zutrauen.“

 

Eine Frau, sicher Angelika, kommt, bleibt am Tisch mit einem merkwürdigen Blick stehen, schaut auf Stupi herab, der zu ihr hoch: „Nun, was ist Angelika?“

„Es ist mir ein Rätsel, aber die Personalmappen der Praktikanten sind leer, ebenso die Unterlagen im System. Einfach gelöscht. Ich verstehe das nicht.“

Augenblicklich wechselt Stupi die Gesichtsfarbe, sein rötlich-brauner Teint wird blass, seine Augen erweitert, Falten auf der Stirn, sprachlos. Betty ist nicht verwundert, schließlich hat sich der Täter als schlauer Kerl gezeigt und da ist das Löschen nicht nur seiner Daten nur konsequent.

„Das heißt, alle Daten zu den Praktikanten sind spurlos verschwunden? Keine Namen? Nichts? Wie das?“

„Richtig…Alles weg…Ich könnte aber in der Buchhaltung nachschauen. Genau. Wir haben ja Gehälter überwiesen…Genau, da könnt ich nachsehen, dauert aber einen Moment.“

„Herr Stupi, Ihrer Reaktion entnehme ich, dass Sie mittlerweile es auch so sehen, dass der Täter im Inneren Ihrer Firma sitzt, nicht leiblich, sondern virtuell.“

„Ich kann und will mir das nicht vorstellen…eigentlich unmöglich…“

„Das Wort haben Sie schon öfters benutzt. Wann sagten Sie, war der letzte Praktikant bei Ihnen und können Sie sich noch an seinen Namen erinnern?“

Der ruft Angelika, die sich gerade wegbewegt hat, zurück, fragt, ob sie sich noch an den letzten Praktikanten erinnern könne. Nein, sie habe mit den Praktikanten nichts zu tun gehabt, er solle Malte fragen, der hat sie meistens betreut.

„Es ist gut ein Jahr her. Die Praktikanten waren durchweg Studierende von Professor Helfrich, der Informatik an der TH Hamburg-Harburg lehrt. Eigentlich hat er mich alle halbe Jahre gebeten, einem seiner Studenten ein Praktikum zu ermöglichen. Richtig, seit einem Jahr hat er keine Anfrage mehr gestellt. Und an den Namen des jungen Mannes, nein, kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.“

„Und dieser Malte? Ist er hier?“

„Nein, er ist in Schweden. Wir haben dort ein Projekt. Aber ich kann ihn anrufen. Kein Problem.“

„Gut, dann tun Sie das bitte.“

 

Herr Stupi holt ein Tablet vor, tippt etwas ein, ein Blubbern, ein überraschtes „Hallo Leo. Liegt was an?“, kurze Erklärung, was geschehen ist, stellt die beiden Polizisten vor, fragt schließlich nach dem letzten Praktikanten. Jimmy hätte der gehießen, Jimmy wer? will Betty wissen, habe er keine Ahnung, sie hätten ihn immer nur Jimmy genannt. Betty fragt, für welche Aufgaben Jimmy eingesetzt worden sei. Jimmy sei ein äußerst cleverer junger Mann gewesen, dem anscheinend die IT bereits in der Wiege gelegen habe. Er habe Programme geschrieben, für die Kamerasteuerungen zum Beispiel, und sei mit fast allen anfallenden Aufgaben betraut worden, die ein Projektmitarbeiter durchführe. Ob er ihn beschreiben könne, so dass sie ein Phantombild erstellen könnten. Müsste er können. Wann er nach Hamburg zurückkäme. In zwei Tagen. Er solle sich bitte sofort nach seiner Rückkehr in das Polizeipräsidium begeben und nach Oberkommissar Rainer Drewes fragen. Ob er wisse, ob sonst noch jemand näheren Kontakt zu diesem Jimmy gehabt habe. Er schätze, dass er an bis zu zehn Projekten mitgearbeitet habe und jedes Projekt hat in Regel vier bis fünf Mitarbeiter, die verschiedene Aufgaben haben. Es gäbe also einige Kollegen und Kolleginnen, mit denen er Kontakt hatte.

„Sie halten diesen Jimmy für den Täter?“

„Na ja, nur er kann die Personaldaten gelöscht haben. Hätte dies sein Vorgänger getan, wären doch sicher die fehlenden Unterlagen bei der Anstellung dieses Jimmy entdeckt worden. Oder?“

„Das ist richtig. Aber angenommen, es stimmt, was Sie sagen, und er sitzt in unserem System, dann kann er die Löschung vorgenommen haben, als Ihre Ermittlungen begannen, denn ihm muss klar gewesen sein, dass Sie früher oder später uns in Ihre Ermittlungen einbeziehen.“

„Auch wieder richtig. Trotzdem glaube ich, dieser Jimmy ist unser Mann.“

 

Betty steht auf, hält Ausschau nach den beiden Kollegen der KTU, sagt, einen Augenblick, geht vor zu den Kollegen, instruiert sie, gezielt nach Jimmy zu fragen oder nein, sie sollen so weitermachen, sie suche selbst, geht zurück und teilt Stupi mit, dass sie gerne die Mitarbeiter nach diesem Jimmy befragen möchte. Rainer solle weiter Herrn Stupi befragen. So bricht Betty auf, geht von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz, erfährt nichts, was ihr weiterhelfen könnte, lediglich, dass Jimmy introvertiert gewesen sei (na ja, bei dem Job), dass er Informatik studiere und später in einem großen Softwarehaus Karriere machen wolle. Keine persönlichen Kennzeichen, keine privaten Äußerungen, nichts. Die Beschreibungen zur Person teilweise voneinander abweichend. Eine graue Maus unter grauen Mäusen. Nur ein Mitarbeiter erinnert sich, dass, im Gegensatz zu allen anderen Praktikanten, Jimmy einmal mit bei einer Installation dabei war, wenn er recht erinnere in Hannover. Mit wem er dort gewesen sei. Er glaube Sven, ja, Sven Stiller, der sei aber nicht anwesend, irgendwo in einem Projekt. Betty notiert sich den Namen und geht weiter. Es blieben kaum Zweifel bei Betty, dass sie den gefunden hatten, der für die Vergehen verantwortlich ist. Wahrscheinlich verantwortlich ist. Nie zu sicher sein.

Dennoch, trotz der Befragung von fast zwanzig Mitarbeitern kaum ein Anhaltspunkt, an dem sie ansetzen können, die Ermittlungen voranzutreiben. Das Phantombild kann sie sich fast aus dem Kopf schlagen, da jeder Mitarbeiter irgendwie von der Beschreibung des Kollegen abwich, den sie zuvor befragt hatte. Sie setzt auf diesen Malte. Er war der Betreuer, hat also etwas genauer hingeschaut.

Zurück an dem Tisch, an dem anscheinend das Gespräch erlahmt ist, fragt Betty, ob die Kollegin mit den Namen der Praktikanten weitergekommen sei, nein, sei noch nicht der Fall. Warum dies so schwierig sei, na ja, Angelika müsse die Buchhaltung der letzten fünf Jahre durchforsten. Sie wirft Rainer einen Blick zu, fragt, ob er noch Fragen hätte. Dann könnten sie zurückfahren.

Gerade als sie sich erheben, kommt Franziska, wedelt mit einem Blatt Papier, sie habe die sieben Praktikanten in den Buchhaltungsunterlagen gefunden, allerdings nur deren Namen und Banken, an die das Gehalt überwiesen worden sei. Keine Adressen. Nein. Sie wisse nur das alle Praktikanten an der TH-Hamburg-Harburg studiert hätten, also nähere Personendaten dort zu erfragen seien. Das Blatt reicht sie Betty, die ihre Hand schon danach ausgestreckt hat und nun liest:

 

Januar – Juni 2014                Xiolong, Qui, Sparkasse Hamburg

Juni – November 2015           Pius Kienast, Sparkasse Hamburg

Januar – Juni 2016                Jeffrey Lyn, Commerzbank

Juni – November 2016           Elmar Gürtler, ING DiBa

Januar – Juni 2017                Stephan Mattel, Sparkasse Hamburg

Juni – November 2017           Enver Encé, comdirect

Juni – November 2018           Jimmy Speitel, Dresdner Bank, Hamburg

 

Sie gibt das Blatt weiter an Rainer, der sein Handy zückt, einen Anruf tätigt und einen Kollegen anweist, alles herauszufinden, was es über einen Jimmy Speitel zu erfahren gibt. Er habe ein Konto bei der Dresdner Bank. Sie bräuchten dringend dessen Anschrift. Bevor sie endgültig gehen, fragt Betty Herrn Stupi, ob die Spyware entdeckt werden kann, was Stupi resigniert, wortlos, schulterzuckend beantwortet. Sie rufen die Kollegen von der KTU, die sich von ihrem Gesprächspartner lösen, sichtlich uninspiriert auf den Treppenabgang zuschlendern. Unten vor dem Eingang will Betty von den KTU’lern wissen, was ihr Eindruck von der Firma sei. Beeindruckend, hochprofessionell, die Systeme Spitzentechnik, die Sicherheit vorbildlich, die Mitarbeiter aufmerksam, aber nicht so, dass sie bemerkt hätten, wie Lothar einen USB-Stick in einem Computer platziert habe. Wäre der Todesstoß gewesen, was Tobias grinsend sagt.

Sie brechen auf, Rainer berichtet während der Fahrt, dass er in ihrer Abwesenheit hauptsächlich über den Einsatz von Spyware gesprochen hätten also vornehmlich der Chef der Firma, der nur bedingt an den Einsatz einer solchen Software glaube. Es gäbe zwei Softwarepakete, Predator und Pegasus, die millionenschwer sich nur staatliche Akteure leisten könnten und eingesetzt werden, gegen das organisierte Verbrechen, zur Terrorbekämpfung. Allerdings sei diese Überwachungsindustrie größtenteils eine Schattenwirtschaft und hat auch viele schattige Ableger. Etliche Staaten nutzen die Software, vor allem Predator, um Oppositionelle, Journalisten, die politische Konkurrenz auszuspionieren. Die Installation der Software erfolgt ohne Link, Schadware oder ähnliches, setzt allerdings modernste IT-Technik im Hintergrund voraus. Ein Einzeltäter könne dieses Equipment nicht aufbauen, weder technisch noch finanziell. Aber seine Hand wolle er dafür nicht ins Feuer legen. Er werde alles versuchen, die Spyware aufzuspüren.

Sie verstehe aber immer noch nicht, wie sich ein so mächtiges Werkzeug quasi selbst installieren kann. Habe er auch nicht verstanden, müssten sie Thiele fragen.

„Wir brauchen schnellstmöglich ein Phantombild von diesem Jimmy. Wir müssen dessen Professor sowie uns durch die Hochschule fragen, da wäre ein Bild sicher hilfreich. Die Digitaltechnik macht so einiges möglich. Wir hatten in Lübeck ein solches Bild nach Angaben einer Zeugin, allerdings in einem anderen Mordfall, ebenfalls ein Schuss in den Kopf mit einer Makarow, anfertigen lassen, verblüffend gut gelungen. Leider nicht unser Mann.“

„Rufe bitte Valerie an (Rainer reicht Betty sein Handy). Sie soll diesen Professor anrufen und um ein sofortiges Gespräch bitten.“

Macht Betty, stellt das Handy auf laut und lässt Rainer die Anweisung geben. Wie der Professor heiße, es gäbe davon sicher einige an der Hochschule. Helbrich oder Helfrich, Lehrstuhl für Informatik flötet Betty, nachdem Rainer sie fragend angestarrt hat.

„Willst du jetzt gleich dort vorbeifahren? Wir kommen zu spät zur Besprechung.“

„Die muss warten. Die Spur ist zu heiß, um sie liegen zu lassen.“

„Kannst du das Radio einschalten? Ich brauche Nahrung für meinen Kopf. Was rockiges, Radio Bob zum Beispiel.“

„Kein Problem. Du kennst dich in diesem rustikalen Medium aus?“

„Rustikal? Was ist am Radio rustikal?“

„Na ja, alles. Ich habe, was ich an Musik liebe auf einem USB-Stick, den schiebe ich ein und bin nicht auf das angewiesen, was da kommt und mir wahrscheinlich nur auf den Sack geht.“

„Und was liebst du so?“

„Schlager. Den Kaiser, die Fischer…“

„…Das langt. Mach das Radio an.“

 

Trotz Radio und Led Zeppelin, die gerade ihr Stairway to Heaven hymnen, ein Song den Betty eigentlich mag, versinkt sie in wirre Überlegungen. Trotz der Skepsis von Stupi ist sie überzeugt, dass eine wie auch immer gebaute Spionagesoftware im Einsatz war. Könnte es sein, dass die Forderung nach Bargeld dazu diente, das elektronische Equipment zu finanzieren? Nein, sagt sie sich, es kam ja bereits bei Weidtmann zum Einsatz. Und vorher, hat er vor den Weidtmanns eine andere Familie erfolgreich erpresst? Sie muss mit Koci reden, ihn die Kundenliste abarbeiten lassen.

An der TH angekommen, lassen sie sich von den Wegweisern zur Verwaltung führen, nur, für Verwaltung gab es kein Hinweis. Dafür Hinweise auf verschiedene Dekanate, unter anderem für Elektrotechnik, Informatik und Mathematik. Mathematik? Er handelt rational, wie ein Mathematiker hatte sie zu Rainer gesagt. Dass Informatik und Mathematik zusammenhängen überrascht sie nun doch. Passt aber.

Dieses Dekanat laufen sie an, Klopfen an der ersten Tür an, die sich anbietet, betreten auf das Herein ein Zimmer, in dem sie zwei Damen erwartungsvoll anschauen. Sie zücken ihre Ausweise, nennen den Grund ihres Hierseins, den Professor Helfrich zu sprechen. Betretene Mienen, staunende Blicke. Da kämen sie ein Jahr zu spät, der Professor sei letzten Sommer an einem Herzschlag verstorben. Nun sind es Betty und Rainer, die sich anstaunen.

„Letzten Sommer, also nicht diesen Sommer? Herzschlag sagen Sie. Hier?“

„Nein, bei einem Segeltörn in der Ostsee, weshalb auch jede Hilfe zu spät kam. Hat ihr Besuch mit diesem Tod zu tun?“

„Nein, dann hätten wir ja gewusst, dass der Professor verstorben ist. Nein, ich habe hier eine Liste mit Studenten, (Betty reicht der älteren der beiden Damen die Liste), die der Professor an eine Firma zum Praktikum vermittelt hat. Zu diesen Studenten hätten wir ihm gerne ein paar Fragen gestellt…Vielleicht können Sie uns da weiterhelfen. Wir müssen dringend mit diesen Studenten reden, haben aber nur deren Namen und Bankverbindungen. Wir bräuchten also die genauen Adressdaten.“

Die Dame überfliegt die Liste, schüttelt mit ihrem Kopf, da könne sie nicht helfen, sie müssten rüber zur Verwaltung. Betty hält die Hand auf zur Rückgabe der Liste, nimmt sie auf, die beiden Polizisten bedanken sich und wenden sich nach draußen.

„Was meinst du. Ist der Tod des Professors koscher. Schon komisch. Oder?“

Berechtigte Frage von Rainer, sie sollten der Sache nachgehen.

Wo ist rüber? Sie schauen sich auf dem Gelände um, fragen schließlich eine junge Dame, sicher eine Studentin nach der Verwaltung, die auf das Gebäude schräg gegenüber weist, dass die beiden nun anstreben, hineingehen, sich an der Informationstafel schlau machen und das Zimmer 316 aussehen: Studentische Angelegenheiten. Dort angekommen, anklopfen, kurz abwarten, Tür öffnen und hineingehen.

„Habe ich Herein gerufen?“ schallt ihnen eine barsche Stimme entgegen.

„Nein, haben Sie nicht und es ist uns auch egal,“ schallt Betty zurück, zückt ihren Ausweis, Rainer zieht nach.

„Wir benötigen in einem Mordfall dringend einige Auskünfte über sieben Studenten, die hier studieren oder studiert haben. Sind Sie dazu auskunftsfähig?“

„Wir vermitteln hier Wohnungen und keine Auskünfte. Gehen Sie zwei Türen weiter zu den Kolleginnen der Einschreibungsangelegenheiten, Einschreibung, Rückmeldung, Beurlaubung und Exmatrikulation, bei denen sind Sie richtig.“

 

Nochmaliges Anklopfen, ungebetenes Eintreten, zücken der Ausweise, vortragen ihres Anliegens. Die junge Dame mit interessanter übergroßer Brille auf der Nase, betrachtet die beiden Polizisten neugierig, mit leichtem Schmunzeln in den Mundwinkeln. Endlich eine Abwechslung für sie, denkt Betty, die der Frau mit Brille die Liste mit den Namen der Studenten reicht.

„Kein Problem für unseren Computer. Nehmen Sie bitte Platz.“ Da aber nur ein Stuhl vorhanden ist, weist sie Rainer den Bürostuhl ihrer abwesenden Kollegin zu. Bevor sie loslegt, lächelt sie zunächst Betty, dann Rainer an, als erwarte sie eine längere Erklärung, warum die Polizei diese Auskunft wünscht. Betty schweigt. Rainer schweigt. Die Frau mit Brille wendet sich ihrem Bildschirm zu, gibt den ersten Namen ein und fragt, was sie denn genau wissen wollen.

„Wir brauchen die Adressdaten, um mit diesen Studenten reden zu können.“

„Wird schwierig. Herr Xiolong ist exmatrikuliert, seit 2017. Eine Adresse habe ich hier, allerdings dürfte er dort nicht mehr anzutreffen sein. Denn mit Studienende ist die Wohnung im Studenten-Wohnheim zu räumen.“

Gleiches gelte für Herrn Kienast, allerdings habe der eine Wohnadresse in Hamburg. Sie notiert sie auf einem Zettel. Jeffrey Lyn gleiches, wie seine Vorgänger, auch er Bewohner eines Studenten-Wohnheims. Ah, strahlt sie freudig, Herr Gürtler sei wissenschaftlicher Assistent von Frau Professor Wiedermann, am Institut für Wirtschaftsinformatik, also sogar noch an der TH beschäftigt. Herr Mattel ist, laut ihren Unterlagen, noch Student, notiert auch dessen Anschrift. Auch Herr Encé studiert noch, wohnt in Buxtehude, schreibt die Adresse auf. Speitel? Kein Treffer. Also, einen Herrn Speitel habe sie nicht unter den Studierenden, weder immatrikuliert, noch exmatrikuliert. Vielleicht ein Schreibfehler, fragt sie süffisant.

„Ganz sicher, dass es diesen Herrn nicht in ihrer Datenbank gibt?“

„Ganz sicher!“

„Könnte er irgendwo anders geführt worden sein?“

„Nein, wer bei uns studiert oder studiert hat, ist hier in diesem Computer verewigt (klopft auf die Oberkante des Bildschirms). Oder doch, er könnte auch Gasthörer sein oder ein Seniorenstudium absolvieren, dafür ist meine Kollegin zuständig.“

Seniorenstudium? Kann das sein. Egal, nachschauen. Die junge Dame mit Brille tippt auf der Tastatur herum, schaut auf den Bildschirm. Nein, kein Gasthörer unter diesem Namen. Tippt erneut, blickt auf den Bildschirm. Nein, auch kein Seniorenstudium. Also den Studenten gibt es nicht.

Betty wirft Rainer einen enttäuschten Blick zu, auch dessen Blick ist eingetrübt. Wäre zu schön gewesen. Andererseits steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf der richtigen Spur fahren. Sie bedanken sich. Betty nimmt ihren Zettel in Empfang, fragt, wie sie zu dem Institut der Frau Wiedermann kommen. Da müssten sie nach Finkenwerder fahren, ein Ausweichstandort der TH. Sie verlassen die junge Frau mit großer Brille, ein Anruf für Rainer, aus dem Büro, Valerie hatte Kontakt mit der Dresdner Bank, Herr Speitel habe dort ein Konto, aber seit Monaten sei dies unberührt. Gut meint Rainer, ob sie hinfahren könne, um sich das näher anzusehen. Mache sie. Gleich? Gleich!

 

„Wenn ich noch leichte Zweifel hatte, jetzt weiß ich es, Speitel oder wie auch immer er heißt, ist unser Mann. Wir schalten eine Leitung nach Schweden, ein Phantombild lässt sich sicher auch online erstellen.“

„Ja, ein Versuch ist es wert.“

Sie nimmt ihr Smartphone, wählt Stupi an, erklärt ihm, was sie vorhaben, und bittet um die Kontaktdaten von diesem Malte. Malte Eyler hieße er. Er werde vorab mit ihm sprechen, damit er sich bereithalten kann. Prima.

„Frage, hat sich Speitel selbst aus dem Computer der TU gelöscht? Dürfte kein Problem für ihn gewesen sein. Jimmy Speitel hat unter diesem Namen nur bei der SecTec gearbeitet, an der TU aber unter einem anderen Namen studiert, wahrscheinlich studiert. Unter seinem richtigen Namen oder war auch der bereits falsch? Fahren wir nach Finkenwerder?“

„Nein, wir rufen den Typen an. Wie heißt er nochmal?“

Betty muss ihren Zettel zu Hilfe hervorziehen.

„Elmar Gürtler.“

„Und der Laden, in dem er arbeitet? Wie heißt der?“

„Institut für Wirtschaftsinformatik.“

Rainer drückt mit seinen Daumen auf seinem Handy herum, sagt, hab ihn, meint aber nur das Institut, wählt die Nummer, verlangt nach Elmar Gürtler. Worum es gehe. Es sei dringend. Polizeiliche Aktion. Die Frau am anderen Ende scheint misstrauisch zu sein, verbindet aber nach kurzer Bedenkzeit. Elmar Gürtler meldet sich. Rainer erklärt, dass sie einen ehemaligen Kommilitonen von ihm dringend suchen, ein Jimmy Speitel.

„Jimmy Speitel? Tut mir leid, den Namen habe ich noch nie gehört. Wie kommen Sie darauf, dass er mein Kommilitone gewesen sei?“

„Er studierte zur selben Zeit unter Professor Helfring…“

„…Helfrich…“

„Gut, Helfrich, wie Sie und war zwei Jahre nach Ihnen Praktikant bei der SecTec.“

„Sie meinen nicht Enver? Der war nach mir bei der SecTec, nicht aber dieser Speitel. Nein, da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen.“

„Schade, aber denken Sie noch einmal intensiv nach, vielleicht fällt Ihnen doch noch etwas ein zu dem Namen Speitel. Rufen Sie mich dann an, Rainer Drewes, Mordkommission Hamburg.“

„Mordkommission? Ermitteln Sie zum Tod von Professor Helfrich?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Warum sollte sonst die Mordkommission anrufen?“

„Zweifeln Sie denn am Herztod des Professors?“

Zweifel? Wisse er nicht. Er habe den Tod des Professors nicht verstanden. Ein Herzschlag? Der Professor sei Mitte fünfzig gewesen, durchtrainiert und nie allein gesegelt. Oft waren Studenten mit auf einem Törn. Er selbst sei viermal mit dabei gewesen. Der Professor sei ein sehr guter Segler gewesen. Das er allein auf seinem Boot gewesen sei, könne er bis heute nicht glauben. Selbst wenn kein Student dabei gewesen sei, eine Studentin war es immer. Der Professor war ledig? Nein, verheiratet. Seine Frau habe Wasser und Segeln gehasst. Rainer klärt Gürtler auf, dass sie in einem anderen Mordfall ermitteln, in dem ein Informatikstudent, also dieser Speitel oder wie immer er auch hieß, verwickelt sei. Aber im Rahmen dieser Ermittlung seien sie über den Tod des Professors quasi gestolpert und werden den Tod nun näher untersuchen.

 

Gut, damit hat sich die Fahrt erledigt und Rainer kann den Wagen starten und weiter das Präsidium ansteuern, bei heruntergedrehter Musik, zu laut, zu disharmonisch für Rainer, während Betty auch den stilleren Tönen lauscht, auf die sie sich ganz konzentriert, um sich abzulenken, den Kopf freizubekommen, damit er neu denken kann. Aber dazu kommt es nicht.

„Wahrscheinlich gibt es zu diesem Professor gar keine Unterlagen, außer der ärztlichen Bescheinigung seines Ablebens. Da werden wir mächtig graben müssen, um Brauchbares zu finden,“ meint Rainer.

„Hm. Der Tod erfolgte zu dem Zeitpunkt als Speitel bei der SecTec anfing. Schon komisch. Er hieß nicht Speitel, hat sich aber unter diesem und im Namen von dem Professor bei der SecTec eingeschmuggelt und um nicht aufzufliegen, im Falle einer Rückfrage oder ähnlichem, könnte er den Professor aus dem Weg geräumt haben. Klingt logisch und ja, ich würde ihm dies zutrauen. Frage ist nur, wie hat er das angestellt?“

„Er kannte das Boot, den Namen des Bootes, wusste wo der Professor segelt, also schnappt er sich ein Motorboot und fährt ihn an. Oder so ähnlich.“

„Oder so ähnlich? Nein, da müssen wir schon genauer Nachsehen. Setze einen deiner Kollegen darauf an. Noch eines, da er ein Konto unter falschem Namen eingerichtet hatte, unter falschem Namen zur SecTec kam, heißt das, er muss gefälschte Papiere gehabt haben. Es sei denn, niemand habe seine Papiere sehen wollen, scheint mir aber unwahrscheinlich. Hatte er falsche Papiere, heißt das, die kosten Geld, in dem er nicht geschwommen ist, es sei denn, er hätte vor den Weidtmanns doch jemand erpressen können und damit das Kapital für weitere Erpressungen in die Hände bekommen. Und davon kannst du ausgehen, es gibt weitere Erpressungsopfer…die müssen wir finden.“

„Meine Güte, was für eine Geschichte. Schaffen wir das allein oder sollten wir schnell eine Sonderkommission einrichten.“

„Frau Merkel würde sagen, wir schaffen das.“

„Oh, da sehe ich schwarz. Du weißt, was dabei herausgekommen ist?“

„Nein, weiß ich nicht. Was meinst du?“

Nun, Betty ist in politischen Angelegenheiten nicht bewandert, interessiert sie nicht. An den Themen, die für Schlagzeilen sorgen, kommt sie aber nicht vorbei, schließlich tauchen diese überall auf, Bilder im Fernsehen, auf den Titelblättern von Zeitungen, als Aufmacher auf dem Smartphone. Nein, wenn ein Aufreger, dann multimedial, so wie der Satz der Frau Merkel.

„Die Frau sagte wir, nur, wer war wir? Letztlich waren es die Freiwilligen, die das schafften und die Kommunen, die Platz schaffen mussten, um alle die Menschen unterzubringen. Weißt du, so ein Satz ist schnell hingesagt, die Konsequenzen aus der entstandenen Situation sind aber ganz andere. Wir brauchen Unterstützung, sonst reiben wir uns auf, wie die Freiwilligen damals.“

Sie erreichen das Präsidium, Rainer parkt den Wagen, sie betreten das Gebäude, Betty schlägt sogleich den bekannten Weg zur Toilette ein, Rainer stürmt die Treppe hoch. Was auch Betty tut, nachdem die Blase geleert ist, allerdings in deutlich moderaterem Tempo. Oben angekommen setzt sie sich in den noch leeren Besprechungsraum, erinnert sich ihrer Brötchen, holt die Tüte aus ihrer Umhängetasche, entnimmt eines der Brötchen, lässt das andere gleich wieder in ihrer sicheren Tasche verschwinden und beginnt, das bereits durchweichte, pampige Brötchen, Käse und gekochter Schinken darauf, langsam kauend abzuarbeiten.

 

Allein in dem Raum, vor sich hin kauend, um sich geräuschvolle Stille, hängt sie ihren Gedanken nach, wird dabei von Thiele gestört, der den Raum betritt und verwundert fragt, wo der Rest der Truppe sei. Alle unterwegs zum Schnüffeln. Gut, dann würde er auch wieder schnüffeln gehen. Ob er den ballistischen Bericht aus Lübeck bekommen habe. Habe er. Eine Makarow. Die Makarow. Ziemlich eindeutig.

Er steht noch, zieht sich einen Stuhl bei und setzt sich, die Augen auf Betty gerichtet.

„Deine Überlegungen zum Tatmotiv und dem Tathergang haben mich sehr beschäftigt. Mit der Ausspähung der Opfer dürftest du recht haben. Es ist der helle Wahnsinn, was die Überwachungsindustrie an Instrumenten, vor allem Software, zur Verfügung stellt. Nicht öffentlich. Und auch nicht legal. Im Darknet findest du alles, was du brauchst, allerdings bedeutet dies ein hohes Investment. Und der Täter brauchte Zeit, das Instrumentarium für seine Zwecke einzurichten. Ich schätze, zwei bis drei Jahre, was bedeutet, er hat sein Vorhaben lange im Voraus geplant. Und so eine Spionagesoftware kann Vieles. Selbst ohne den Anruf anzunehmen, kann sich die Software in einem Handy festsetzen und alle Gespräche, Textnachrichten, Fotos und so weiter abgreifen. Gespenstisch alles, da ist Orwells Vision noch harmlos. Ich denke unser Täter hat mit irgendeiner Software gearbeitet, allerdings nicht mit einem der beiden Großen…“

„…Pegasus und Predator?“

„Richtig. Du hast dich schlau gemacht?“

„Wir waren bei der SecTec. Der Geschäftsführer hat uns schlau gemacht. Er glaubt auch nicht, dass unser Täter über ein so mächtiges Instrument verfügt hat. Sei nichts für den kleinen Geldbeutel, hat er gemeint.“

„Das zum einen. Andererseits ist der Erwerb der Software einer Einzelperson nahezu unmöglich. Dem Kauf beider Systeme gehen Verhandlungen voraus, mit legitimierten Verhandlern. Ganz nahe an einem der Systeme ist die Plauth-Gruppe mit Sitz in einem Industriegebiet in Hamburg-Hammerbrook, deren Produkte Sicherheitsbehörden in aller Welt unterstützen. Da frage ich mich natürlich, ob es da eine Verbindung gibt…“

„…Du glaubst, unser Täter hat auch dort Daten abgegriffen?“

„Ja, dies traue ich ihm zu.“

„Bisher ging meine Altersschätzung auf einen jungen Mann, Mitte bis Ende Zwanzig. Du denkst, er ist älter.“

„Ja, ich würde ihn auf Mitte bis Ende Dreißig schätzen.“

Was bedeutet, einige Überlegungen zu überdenken. Er könnte Familie gehabt haben. Vielleicht sogar eine Tochter. War er tatsächlich Student oder vielleicht doch nicht? Und natürlich müssen sie bei dieser Plauth-Gruppe vorbeischauen. Sie glaubte sich dem Täter schon ganz nahe, sieht ihn aber wieder entrücken.

 

Rainer eilt herbei, fragt Betty, ob sie dabei sein wolle, wenn sie das Phantombild erstellen. Es sei alles so weit eingerichtet, dass es losgehen könne, Sven sitze bereit. Sven? Der Phantombildzeichner. Komme vom LKA.

„Ihr malt Bilder? Täterbilder? Ihr habt ihn gefunden?“ will Thiele aufgeregt wissen.

„Das wissen wir noch nicht, hoffen es aber.“

Betty folgt Rainer, ebenso wie Thiele.

Dieser Sven hatte zwei Bildschirme aufgestellt und zwei Computer synchron geschaltet. Über einen Laptop würde er mit Malte kommunizieren. Bevor er mit der Arbeit mit Malte beginnt, will Sven wissen, wer Malte ist, was er mit dem Fall zu tun hat, ob er in den Fall involviert sei. Rainer versteht, nein, Malte sei lediglich eine Person, die den gesuchten Täter beschreiben könne, ohne jeden Zusammenhang mit den Taten des Täters. Das sei gut, würde die Einführung erleichtern. Meist habe er mit direkt betroffenen Menschen zu tun, mit Opfern, da sei eine vorsichtige Herangehensweise nötig. Gut, dann können sie anfangen.

Aber ihr drei hinter mir seit mir zu viel. Ich brauche Ruhe für meine konzentrierte Arbeit. Ob eine Person wenigstens dabei sein könne. Gut, still im Hintergrund, ja. Rainer schaut Betty an, sie solle bleiben, falls sie noch Fragen an Malte habe. Er werde die Besprechung leiten, sie würden ja weitgehend übereinstimmen. Sie solle dann mit dem fertigen Bild dazustoßen. Heftiges Lachen von Sven.

„Mensch Rainer, glaubst du, ich sei ein Zauberer. Die Sitzung kann Stunden dauern.“

„Na, dann fang endlich an.“

„Wie heißt der Typ?“

„Malte Eyler.“

Sven wählt Malte an, dessen Bild auf dem Laptop erscheint, Sven begrüßt Herrn Eyler. Er erläutert Malte seine Vorgehensweise, ermuntert ihn, vor Fehlern nicht zurückzuschrecken. Das eigentliche Phantombild entstehe erst durch die Korrekturen. Er benutze eine Software, deren Datenbank unendlich viele Alternativen für die Korrekturen biete. Den Laptop nutzt Sven für die Kommunikation. Auf einem Bildschirm ist die Software installiert, mit der das Phantombild entwickelt wird. Das Ergebnis erscheint auf dem zweiten Bildschirm als Vollbild, und diese Bild kann Malte in seiner Entstehung auf einem Bildschirm bei sich parallel verfolgen.

„Für den Anfang zunächst ein paar einfache Fragen. Wie lange ist es her, seit sie den Verdächtigen das letzte Mal gesehen haben?“

„Das war Anfang Oktober letzten Jahres.“

„Gut ein Jahr her. Gut, dann tasten wir uns langsam an Ihre Erinnerung heran. Beginnen wir mit der Ethnie. War Jimmy deutscher Staatsbürger?“

„Ähm, ja…“

„Sie sind unsicher?“

„Also ja, er war deutscher Staatsbürger…nur die Aussprache. Er sprach nicht viel, daran kann ich mich erinnern, aber wenn er sprach, hatte ich das Gefühl, er redet gekünstelt.“

„Wie das?“ fährt Betty dazwischen.

„Wissen Sie, mitunter versucht jemand sein gesprochenes Hochdeutsch über einen angelernten Dialekt zu legen. Und dies, glaube ich, war bei Jimmy der Fall.“

„Können Sie den Dialekt einem Land oder Landstrich zuordnen?“

„Ich weiß es nicht, vielleicht schwäbisch oder sächsisch…“

Sven dreht sich zu Betty um, schüttelt mit dem Kopf: „Tut mir leid, Frau Sundberg, aber ein Dialekt ergibt kein Bild und dies zu erstellen bin ich hier. Machen wir bitte weiter. Was schätzen Sie, wie alt war, wie hieß er (Jimmy, flüstert ihm Betty ins Ohr), also dieser Jimmy?“

„Er dürfte so um die dreißig Jahre alt gewesen sein, vielleicht auch älter.“

Ein Klick und ein Dummi erscheint auf dem Bildschirm, bräunliche Farbe, ohne weitere Merkmale.

Sven fragt nach der Kopfform. Oval, schmales Gesicht, leicht eingefallene Wangen, Bartstoppeln im Gesicht. Nächster Klick, der Dummi nimmt eine ovale Form an. Um den Mund, kurze, graue Bartstoppeln. Die Haare? Krauses, gewelltes, kräftiges schwarzes Haar. Klick. Noch kräftiger. Klick.

„Kann ich ihm eine Frage stellen?“ hakt Betty ein.

„Bitte.“

„Dieses Haar, glauben Sie, dass es echt war? Könnte es auch eine Perücke gewesen sein?“

„Nein, keine Erinnerung daran. Ich denke, es war echt.“

Betty ist nicht überzeugt, viel zu auffällig für den sonst so vorsichtigen Täter. Aber gut, sie müssen nehmen, was sie kriegen.

 

Sven arbeitet das Gesicht Teil um Teil ab, die Augen, von denen Malte nicht wusste, welche Farbe sie hatten, eher dunkel. Augenbrauen, ja, kräftige Augenbrauen, was Betty endgültig davon überzeugt, dass sich dieser Jimmy perfekt kostümiert hatte. Und er hatte eine Brille auf, eine einfache Brille, schwarz, wenn er recht erinnere. Hornbrille? Nein, schmaler Rahmen. Noch so ein Kostümteil, denkt Betty. Mund, Nase. Ohren sichtbar. Verdeckt. Große, kleine Ohren? Waren doch verdeckt. Die Haut. Braun, blass, gerötet? Eher blass. Blasser noch als das Bild jetzt zeigt. Nach gut einer halben Stunde zeigt sich ein erstes Konterfei des Täters. Nun geht es in die Feinheiten, die Wimpern, die Lippenfarbe und Lippenform. Erste Korrekturen werden vorgenommen, die Lippen vergrößert, leicht wulstiger, die Nase etwas schmaler. Er solle sich Zeit lassen, mahnt Sven, nachdenken, seinen Erinnerungen folgen, immer auf das Bild schauen und verbessern, so kämen sie dem Konterfei näher.

Fast eine weitere Stunde vergeht, in denen Sven und Malte das Phantombild optimieren, die Augen enger zusammen, der Mund leicht wulstiger, die Nase etwas breiter, nein, nicht so breit, bis Malte meint, nein, es gibt keine Korrektur mehr, so habe Jimmy ausgesehen. Bettys Augen hängen die ganze Zeit schon auf dem Konterfei, es erinnert sie an jemand, an einen Schauspieler, dessen Name will ihr aber nicht einfallen. Nein, es kann nicht sein, dass ihr Täter aussieht wie ein Schauspieler. Er, der Täter, ist der Schauspieler, der in eine Verkleidung geschlüpft ist. Nein, mit diesem Phantombild werden sie ihn nicht jagen können.

Sven fragt Betty, ob sie noch Fragen an Herrn Eyler hätte, die verneint, bittet Malte aber, in sich zu gehen und falls er sich an den Dialekt erinnere, bitte sofort in Hamburg die Kripo anrufen. Sven bedankt sich für die Geduld des Herrn Eyler und wünscht noch einen schönen Abend, lehnt sich, nach getaner Arbeit zufrieden zurück.

„Das ist nicht unser Mann. Schau dir den Typ an, diese Attribute so hervorstechend, dass du ihn im Schlaf finden kannst. Nein, der hat sich geschminkt, Perücke aufgesetzt und an den Dialekt glaube ich auch nicht.“

Sven baff erstaunt, der Zeuge habe ihn so gesehen. Er hätte doch bestimmt gemerkt, wenn der Typ sich maskiert hätte. Schauspieler verschwinden manchmal komplett hinter ihrer Maske. Ob er aus dem Bild Alternativen generieren könne. Natürlich. Betty brodelt.

„Gut. Du hast das Gefühl dafür. Was ist echt an dem Gesicht?“

„Augen, Mund, Nase, Alter. Die Gesichtsform.“

„Speicher ihn ab als Jimmy-I, dann lösche alles außer dem, was du als echt empfindest.“

„Sag mal, wer bist du eigentlich? Ich habe dich noch nie hier gesehen. Hier rockt sonst Rainer den Laden…“

„.. ich bin Betty, die kriminalpsychologische Beraterin von Rainer und inoffizielle Chefermittlerin in zwei tödlichen Fällen.“

„Wow, welch Ehre. Und was heißt, zwei tödliche Fälle?“

„Sieben Leichen, die der Typ, dessen Bild noch unscharf ist, auf dem Gewissen hat.“

Mit seinem Kopf nickend, macht sich Sven wieder an die Arbeit. Betty bittet ihn, verschiedene Alternativen zu kreieren und abzuspeichern.

Rainer tritt hinzu, will wissen, wie weit sie sind, Betty erklärt das Ergebnis, das Rainer sich anschaut und Bettys Meinung teilt. Die Besprechung sei beendet, die Aufgaben zugeteilt, bis auf die, die infrage kommenden Familien aufzusuchen. Valerie und Kalle hielten sich bereit, er wollte aber diese Befragung mit ihr abstimmen, weil sie dies ja mit Koci abzuwickeln gedenke. Richtig, sie müsse erst mit Koci reden, dann weitersehen. Sie sollten sich morgen früh abstimmen, jetzt erst müsse Jimmy variiert werden.

 

Sven ist sehr versiert darin, mit dem Programm umzugehen, Klick für Klick verändert sich das Gesicht von Jimmy I, wird blond und zu Jimmy II, nun mit Vollbart und braunem, glatten Haar, wird zu Jimmy III, mit aktueller undercut-Frisur, Dreitagebart, schließlich zu Jimmy IV mit etwas längeren Haaren, bartlos, schwarzer Hornbrille.

„Kannst du eine Quersumme der vier Varianten bilden lassen?“

„KI-gestützte Systeme könnten dies, nur die haben wir noch nicht, aber ich denke, ich bekomme es auch so hin, braucht aber Zeit, nicht jetzt.“

„Gut, dann abspeichern. (Zu Rainer gewendet) Hast du USB-Sticks? Ich möchte die Bilder nicht auf den Handys haben, nur auf Fotopapier ausgedruckt und auf einem USB-Stick. Die Bilder dürfen nicht an die Öffentlichkeit kommen. Unser Chamäleon wird sich sonst sofort verwandeln. Ja, und Koci darf das Konterfei von Jimmy nicht in die Hände bekommen. Deine Leute sollen sehr vorsichtig mit den Bildern umgehen. Den USB-Stick nutzen wir für die Befragung der Studentenschaft. (Zu Sven gewendet) Tolle Arbeit, Sven. Danke!“

Aus ihrer Umhängetasche klingt wie aus weiter Ferne kommend ihr Smartphone hervor. Sie wirft einen Blick darauf, Großmutter, Harrie und eine unbekannte Nummer, gleich zwei Anrufe. Hm, könnte Koci sein. Muss alles warten, jetzt erst einmal Gedankenaustausch mit Rainer. Sven druckt aus, speichert ab und auf, Betty und Rainer gehen zu Rainers Arbeitsplatz.

„So, dann schieß mal los. Was haben die Recherchen ergeben?“

Bettys Vermutungen hätten sich größtenteils bewahrheitet. Gleiche Schusswaffe wie in Lübeck, die Tochter sei definitiv nicht schwanger gewesen und der gerichtsmedizinische Assistent schätzt die Beschwerden, als durch heftige Schmerzen verursacht ein, also Kopfschmerzen. Die auffällige Gemütsänderung der Tochter deuten wir als Unsicherheit an, die aus der Ungewissheit rührt, was mit ihr geschehen sei, also könnte dies von K.-o-Tropfen kommen und ja, sie war mit Freundinnen und ihrem Freund in einer Hamburger Disco. Der Freund könne sich allerdings nicht erklären, wie eine fremde Substanz in das Glas seiner Freundin gekommen sein könnte. Sie hätten den ganzen Abend gemeinsam in einer Nische gesessen, nur ihre Clique und am Platz sei immer jemand gewesen, auch habe er kein ungewöhnliches Verhalten an ihr feststellen könne, sie sei wie immer gewesen, wollte Tanzen, Spaß haben und plötzlich verschwunden sei sie auch nicht. Stellt sich die Frage, wo könnten ihr die Tropfen sonst noch verabreicht worden sein?

Die Finanzen von Koci Junior seien über verschiedene Banken verteilt, Anfragen für eine hohe Summe seien aber an keine der Banken gerichtet worden.

„Hm, dann doch der Senior?“

„Nein, kein Senior. Ganz anders. Eine der Banken ist eine online-Bank, dort gingen von den anderen Konten Gelder ein, so dass sich auf diesem Konto rund zweieinhalb Millionen Euro sammelten, was heißt, dieses Mal sollte die Zahlung per Überweisung erfolgen.“

„Die Barausgaben sind abgeschlossen und er hat sich ein Netzwerk an Banken zusammengestellt, um das Geld fließen zu lassen. Er ist also am Abkassieren. Was gibt es zu den potenziellen Opferfamilien auf der Liste zu sagen?“

 

Rainer nimmt sich die Aktenmappe, zieht ein Blatt heraus, legt es Betty vor. Dies seien die in Frage kommenden Familien. Elf an der Zahl. Betty liest:

 

Pieri Patoni, Hannover, Restaurantbesitzer, der gewerbsmäßigen Geldwäsche beschuldigt, drei Töchter, einen Sohn.

Orhan Oman, Herne, Besitzer mehrere Sisha-Bars, verdächtigt mit Drogen zu handeln, zwei Töchter, zwei Söhne.

Enver Oman, Essen, drei Läden für Sportwetten, verdächtigt mit Drogen zu handeln, Wettmanipulationen, eine Tochter, drei Söhne.

Suleyman Rennso, Berlin, ohne Arbeit, Menschenschmuggel, illegale Prostitution, Drogenhandel, eine Tochter, ein Sohn.

Alexandré Posowitsch, Berlin, führt ein Geschäft für Teppichimporte, verdächtigt des Waffenhandels, der Geldwäsche, des Drogenhandels. Eine Tochter, zwei Söhne.

Ernesto Cambero, Berlin, Restaurantbesitzer, verdächtigt des Drogenschmuggels und des Drogenhandels, drei Töchter.

Helmut Pollak, Frankfurt, Autohändler, verdächtigt der Geldwäsche, eine Tochter.

Imre Kusma, Gelsenkirchen, Besitzer mehrerer Döner-Läden, verdächtigt des Drogenhandels, eine Tochter, drei Söhne.

Serno Capucci, Leipzig, Restaurantbetreiber, verdächtigt der Geldwäsche, Schutzgelderpressung, zwei Töchter, zwei Söhne.

Remo Rennso, Berlin, ohne Arbeit, verdächtigt des Waffenhandels, des Drogenhandels, zwei Töchter, drei Söhne.

Petr Celic, Mannheim, Restaurantbesitzer, verdächtigt des Drogenhandels, des Waffenhandels, eine Tochter, zwei Söhne.

 

„Meine Güte. Das liest sich, als würde Deutschland mit Drogen geschwemmt. Wieso kommen die Kollegen diesen Leuten nicht auf die Schliche? Und, ohne dass ich fremdenfeindlich bin, alles Leute mit Migrationshintergrund, außer diesem Pollak und selbst der Name klingt nach Polen. Was ist das für ein Bild? Läuft da etwas schief? Oder ist unser Rechtsstaat so löchrig, dass diese Leute stetig durch die Löcher schlüpfen können?“

„Anscheinend. Weißt du wie oft wir Koci hier zum Verhör hatten und wie oft er uns, nachdem sein Anwalt ihn wieder einmal herausgepaukt hatte, kalt lächelnd verlassen konnte? Jedes Mal mangelte es an konkreten Beweisen und hatten wir mal einen Zeugen, zog der irgendwann seine Aussage zurück. Bei alle denen auf der Liste, dürften gleiche Erfahrungen mit ihnen vorliegen.“

„Ich denke, mit denen zu reden kannst du vergessen. Selbst Koci, der übrigens angerufen hat, ohne dass ich ihn annehmen konnte, wird da kaum durchkommen. Keine Ahnung wie wir zu denen durchdringen können. Andere Frage, konnten die Kolleginnen Fälle aus der Vergangenheit ausgraben, die das Motiv unseres Täters erhellen könnten?“

„Nein, noch nichts Verwertbares…Du solltest Koci anrufen, bevor er es sich wieder anders überlegt.“

„Was ist mit unseren Verfolgern? Sitzen die ein oder bereits wieder auf freiem Fuß.“

„Das ist befremdlich. Sie sind noch in Verwahrung und noch kein Anwalt war hier. Anscheinend ist Koci stinksauer auf die zwei.“

„Bevor ich Koci anrufe, noch die Frage nach dem Tod des Professors. Wahrscheinlich noch keine Erkenntnisse.“

„Ich habe Petra und Valerie darauf angesetzt. Sie werden mit der Witwe reden, nach Eckernförde fahren, dort hatte der Professor sein Boot liegen. Sie werden Bootsverleiher aufsuchen und auch sonst allen möglichen Spuren nachgehen, die sich ergeben. Aber vor morgen Nachmittag dürften keine Ergebnisse zu erwarten sein…“

Immer noch die Liste der möglichen Opferfamilien in der Hand, steht Betty im Raum, denkt nach, blickt nochmals auf die Liste, stutzt, eine Erinnerung kommt, richtig, Hannover, Jimmy war bei einer Installation in Hannover dabei und die steht ganz oben auf der Liste, Patoni. Sie kramt ihren Notizblock hervor, Sven Stiller hatte sie notiert. Mit dem müssen sie reden.

Hansen kommt herangestürmt, aufgeregt, sie hätten ein Phantombild? Damit könne er vor die Presse treten, die Öffentlichkeit um Mitarbeit bitten. Langsam, langsam bremst ihn Rainer, unser Täter, sobald er erfahre, dass er gezielt von den Ermittlungsbehörden gesucht werde, würde sich unversehens absetzen, wohin auch immer. Der Mann hat einen Plan B, darauf könne er sich verlassen. Aber, wie wollen sie den Täter fassen? Durch Hamburg laufen, das Bild in der Tasche und schauen, ob er ihnen zufällig über den Weg liefe. Wenn er überhaupt in Hamburg ansässig sei. Es spreche einiges dafür, dass der Täter in Hamburg wohne, aber, wie so Vieles, sei dies nicht sicher. Sie würden an der TH, bei der SecTec und der Plauth-Gruppe nachforschen, was sie dort über den Herrn Speitel herausfinden können. Die Öffentlichkeit würden sie erst einschalten, wenn sie sicher sind, wie sein Aussehen derzeit sei, denn das Phantombild, so hübsch es sei, sei nicht der wahre Jimmy Speitel.

Hansen ist überrascht, fragt, wie das. Und Betty erklärt ihm, warum sie glaubt, Speitel habe sich vermummt, verwies auf die markanten Merkmale, die nicht zu der vorsichtig agierenden Person passen würden, die sie suchen.

 

Und was mit dieser Plauth-Gruppe sei, von der habe er bisher nichts gehört. Möglich, dass Speitel auch in dieser Firma kurzzeitig gearbeitet habe. Die Firma biete Sicherheitstechnik, Überwachungstechnik an. Ah, verstehe er, gut, aber was soll er nur der Presse sagen, die stehen sich die Füße vor dem Präsidium platt. Er solle denen weiterhin die Milieurachespur auftischen.

„Aber, wir sind nah dran? Oder?“

„Herr Hansen, es ist schwer ein Chamäleon im Dschungel aufzuspüren. Das braucht Geduld und Wissen, wo ein solches Reptil zu finden ist. Und Speitel ist ein Chamäleon.“

Nicht zufrieden, nein, gar nicht zufrieden, aber derzeit auf seine Ermittler angewiesen, muss er sich damit abfinden, dass ein schneller Fahndungserfolg nicht zu erwarten ist. Kaum weg, fragt auch Rainer nach, wie sie auf diese Plauth-Gruppe gekommen sei. Den Tipp habe sie von Thiele. Die Plauth-Gruppe ist Teilhaber der Firma, die Predator vertreibe. Thiele glaubt, Speitel habe Zeit benötigt, die Technik zu kaufen und zusammenzustellen, die er für seine Taten benötigt. Möglich, dass Speitel gar nicht studiert hat. Was dort gelehrt wird, hat nichts mit dem handwerklichen oder technischen Können zu tun, über das Speitel anscheinend verfügt und den Zugang zur Überwachungstechnik könnte er über die Plauth-Gruppe bekommen haben.

„Was ist eigentlich mit der Soko, die du zusammenstellen wolltest. Wird etwas daraus?“

„Du glaubst nicht, was die mir sagten…“

„…Wir schaffen das!“

„Du nervst.“

„Gut ich werde jetzt Koci anrufen. Wir fahren morgen zur TH, werfen die Jimmys I – IV an die Wand und wollen hoffen, dass ihn jemand erkennt. Dann weiter zur SecTec, den Mitarbeitern Jimmy I zeigen, anschließend zur Plauth-Gruppe, Jimmy I – IV zeigen. Ist das ein Programm?“

„Rufe endlich an.“

Macht Betty glatt, aber erst Großmutter. Sie setzt sich in den Besprechungsraum, noch wichtiger als der Anruf, das Brötchen, dass sie in ihrer Umhängetasche weiß, holt es hervor, lappig wie ein Schwamm, aber besser als nichts. Sie kaut gemächlich drückt Omas Nummer, die auch gleich abnimmt, schimpft, wieso sie nicht ihr Telefon abhebe.

„Omi, kein Mensch hebt heute mehr ein Telefon ab, man nimmt an oder lehnt ab oder hat das Telefon ausgeschaltet, so wie meines. Mache ich immer so, wenn ich in einer Besprechung bin. Was gibt es denn so Wichtiges?“

„Nein, nichts Wichtiges. Nur, hast du von diesem entsetzlichen Mord gehört, in Othmarschen. Mein Gott, das ist wie in Lübeck. Ein Kind ohne Kopf.“

Nein, sie wird ihrer Großmutter nicht sagen, dass sie mittendrin ist, in diesem Fall, denn dann hätte sie vermutlich keine ruhige Minute mehr und Ilse würde treibende Kraft im Hintergrund sein.

„Omi ich hänge nicht ständig vor dem Fernseher und Polizistin bin ich auch nicht mehr. Ich bin Wissenschaftlerin, die sich für die Wissenschaft interessiert und sonst nichts.“

„Du kannst mir vieles erzählen, Kindchen, aber du bist noch nicht trocken von deiner Polizeiarbeit. Und die gleiche Tat wie in Lübeck, Kindchen, ich kenne dich zu gut, um nicht zu wissen, dass du längst schnüffelst, spekulierst und wahrscheinlich schon auf Tätersuche bist.“

„Also Omi, so etwas traust du mir zu. Nah hör mal! Ich komme Sonntag vorbei, dann kannst du mir den Fall ja schildern und wir spekulieren zusammen. Übrigens ich war im Il Gambero. Silvio hat sich tausendmal entschuldigt und hat dich eingeladen, sein Gast zu sein. Wollen wir ihn Sonntag aufsuchen, zu Mittag?“

„Nein, ich habe geschworen, dort nicht mehr einzukehren.“

„Komm schon. Viel leckerer als bei Scherrers Einerlei. Und seine Frau, die damals bedient hatte, hat sich wieder beruhigt. War ein Ehestreit vorausgegangen, bevor sie zu uns an den Tisch kam. Also komm, sei nicht so. Silvio vermisst dich.“

„Gut. Hole mich ab.“

 

Und jetzt Koci, sofern der zweifache Anrufer Koci war. Sie klickt auf Rückruf, Warteton, jemand nimmt an, meldet sich mit „Ja?“

„Bettina Sundberg hier. Sie hatten versucht mich zu erreichen?“

„Ja, wir können uns treffen. Kommen Sie in mein Restaurant Tiara Grill in der Lohmühlenstraße. Sie haben schon zu Abend gegessen?“

„Ich esse zu Abend nur eine Kleinigkeit.“

„Wann sind Sie da?“

In ihrem Kopf muss sie die Lohmühlenstraße aufrufen, um zu wissen, wo sie hinmuss. In der Nähe der Außen-Alster, erinnert sie sich. Braucht sie eine halbe Stunde für, was sie Koci übermittelt, der sie mit einem, dann bis gleich, wegklickt.

Das halbe Brötchen vor ihr erlöst sie aus dem Ruhestand und kaut widerwillig das Ding weich. Nein, kein Genuss. Sie erhebt sich, schwingt sich die Umhängetasche über die Schulter, schlüpft in ihren Mantel, geht hinüber zu Rainer, teilt ihm mit, nun zu Koci zu fahren, der Redebedarf habe. Ob er im Hintergrund anwesend sein soll. Hm, als Bodyguard? Nein, Koci wird mir nichts Böses antun, er wolle sicher nur spielen. Trotzdem schaut Rainer irgendwie besorgt drein.

„Bezüglich seiner beiden Leute, kann ich ihm da etwas anbieten?“

„Nein, das ist Sache der Staatsanwaltschaft oder der Anwälte Kocis. Sage ihm, dass du darauf keinen Einfluss hast. Was ja stimmt.“

„Gut, dann mal auf ins Gefecht.“

Auf ihrem Handy lauert noch Harrie, den sie im Gehen abfertigen wird, ruft ihn an, Sonja nimmt ab, Harrie sei außer Haus, aber sie wisse, warum er angerufen habe. Sie würden in vierzehn Tagen ein Wochenende in Hamburg verbringen, ein Konzert in der Elbphilharmonie besuchen und wollten sich bei der Gelegenheit mit Betty treffen. Oh, prima. Leider sei sie wohnlich noch nicht so weit, Gäste aufzunehmen. Nein, nein, sie hätten schon ein Hotel gebucht, direkt über dem Hafen, sie glaube, so hieße das Hotel sogar. Hotel am Hafen, ja kenne sie. Sie sollten sich melden, sobald sie in Hamburg sind, sie käme dann in ihr Hotel und würden von ihr durch Hamburg geführt. Höre sich gut an. Sonja will natürlich wissen, wie es ihr geht, was sie so mache, und Betty gab nur oberflächliche Antworten, weil gedanklich das Gespräch mit Koci im Kopf und flotten Schrittes dem Bus entgegeneilend. Sie verabschiedet sich auf bald, mit lieben Grüßen an Harrie.

Gerade noch so erreicht sie den Bus, leicht außer Puste, sucht sich einen Platz, setzt sich, schaut sich um, nein, da ist niemand. Warum auch? An der Haltestelle Untere Außen-Alster steigt sie aus, den Rest des Weges geht sie zu Fuß, biegt in die Lohmühlenstraße ein, hält im Entlanggehen Ausschau nach dem Grill. Reger Verkehr trotz des späten Abends, sowohl Straßen- als auch Personenverkehr, die Shopper aber längst zu Hause, die Party- und Funleute unterwegs. Oder die konspirativen Leute, wie sie.

Nach, geschätzt, über fünfhundert Metern erreicht sie ihr Ziel. Von außen ein nettes rustikales Lokal, ein Eindruck, der sich im Inneren bestätigt. Noch gut besucht das Lokal. Sie schaut sich um, kann keinen Koci sehen, geht auf die Theke zu, der Mann dahinter, schnickt mit seinem Kopf, was heißt, dort hinten, ist also instruiert. Kein Hinterzimmer, wie Betty sogleich vermutet, sondern ein kleiner Tisch, anscheinend der Personaltisch, hinter dem Koci sitzt, aufsteht, ihr die Hand mit einem angedeuteten Lächeln reicht.

 

Sie setzt sich auf den Stuhl, den er ihr anweist, fragt sie, ob sie nicht doch eine Kleinigkeit essen möchte, Byrek oder Flia, seien köstlich und würden den Magen nicht belasten. Betty überlegt kurz, zwar keine Ahnung was Byrek oder Flia ist, meint, ein Mineralwasser würde es auch tun, vielleicht später. Später sei die Küche dicht, sie müsse sich schon jetzt entscheiden. Gut, um das lappige Brötchen zu vergessen, wählt sie Byrek, das Koci dem Thekenmann laut zuruft.

Koci schaut sie nun an und entschuldigt sich dafür, dass seine Leute so ungeschickt gewesen wären. Sie hätten nur nachschauen sollen, ob die Polizei ihre Arbeit macht. Wie er darauf komme, dass die Polizei, die Tat nicht verfolgen würde. Warum sollte sie? Ein Verbrechen unter Verbrechern, könne der Polizei doch nur recht sein. Warum Zeit investieren für Verbrecher, die sie in den Augen der Polizei doch seien.

„Ihre Enkeltöchter und ihre Schwiegertochter sind mit Sicherheit keine Verbrecher und auch sonst denke ich, die Polizei ist nicht so voreingenommen, wie Sie glauben. Aber lassen Sie uns darüber sprechen, warum ich hier bin. Sie wollten mit mir reden.“

„Wann kann ich meine Sohn und sein Familie beisetze lasse?“

„Soviel ich weiß, sind die gerichtsmedizinischen Untersuchungen abgeschlossen, also dürften die Leichen in den nächsten Tagen freigegeben werden. Ich werde sie sofort benachrichtigen, sobald ich Genaueres weiß.“

 

Koci richtet seinen Kopf gerade, schaut Betty an, fragt: „Werde Sie meine Angehörige die letzte Ehre erweise?“

Mit dieser Frage hat Betty nicht gerechnet, noch keinen Gedanken an die Beisetzung verschwendet. Aber seine Mimik sagt ihr, ihm ist ihre Anwesenheit wichtig. Allerdings der Gedanke, erneut einer Beisetzung beizuwohnen, behagt ihr nicht, behagt ihr gar nicht. Steffis Beisetzung war eine schmerzhafte und irritierende Erfahrung für Betty gewesen, voller Emotionen. Ganz anders als bei der Bestattung von Opa Leopold, die sie tieftraurig an der Seite ihrer Großmutter eher stoisch erlebt hatte. Schon auf dem Weg zum Friedhof übermannte sie diese merkwürdig drückende Stimmung, ausgehend von den stumm, betroffen blickenden, seufzenden, schnüffelnden, dunkelgekleideten, meist jungen Menschen, vorbei an den mit mehr oder weniger Blumen, Sträuchern, Stauden bestückten Gräbern, die der kleinen Kapelle entgegenströmten. Vor der Kapelle stauten sich die Menschen, drinnen kein Platz mehr frei, steht Betty mitten unter ihnen, in diesem betroffen schweigenden Schwarz. Die Worte eines Predigers dringen nach draußen. Nur kurz die Ansprache, die sich allein auf Steffi bezieht. Jeder Erwähnung ihres Namens folgt ein Schluchzen, ein Schnäuzen, eine von Betty noch nie erlebte Betroffenheit um sie herum.

Der Marsch zur Grabstätte, vorweg Henri, seine Freundin, der Großvater und Mareike, dahinter Harrie, anscheinend inmitten des Lehrerkollegiums, die Schar der Schülerinnen und Schüler, weitaus mehr als eine Kursgröße, der Anwalt der Familie, Menschen, die sie nicht kannte, wahrscheinlich Geschäftsfreunde, seine Mitarbeiter, die Familie Kuracz und mehrere Männer, von denen sie überzeugt war, dass es Russen waren. Griebel hatte es abgelehnt, die Beisetzung zu filmen oder wenigstens Fotos zu schießen. Sie war sich sicher, dass der noch unbekannte Onkel Rudy unter den Trauergästen war, unter diesen Russen. Der Impuls, Onkel Rudy dingfest zu machen, ihn zu befragen, war nur ein kurzer Impuls, schnell vergessen, überflutet von Trauer und Anteilnahme, war ihr Kopf nur kurz abwesend.

 

Neben dem Grab stand Henri, seine rechte Hand fest in der Hand der Freundin, seine linke Hand ruhte auf der Schulter seines Großvaters, weniger ihn zu trösten, mehr zur eigenen Stütze. Henris Freundin wiederum hielt Mareikes Hand.

Hinter dem Grab bauten sich Schülerinnen und Schüler auf, der Schulchor, der wartete bis die knirschenden Schritte, das Husten, Schluchzen sich beruhigt hatte, nur noch das Rauschen in den Bäumen zu vernehmen war. Dann von einem Dirigenten ein Lied anstimmte, das Betty Gänsehaut über den Rücken jagte, so einfühlsam, so stimmig zur Atmosphäre in diesem von hohen Bäumen bestandenen Friedhof. Betty kannte das Lied nicht, gehört schon, versuchte, um ihre Emotionen in Griff zu halten, sich krampfhaft an den oder die Interpreten zu erinnern, wollte ihr aber nicht einfallen. Wahrscheinlich Steffis Lieblingslied, es ging um die Zeit, Zeit, die wir auf Erden haben, Zeit, die viel zu kurz ist, um die Träume zu leben, die ein junges Leben hat. Betty konnte nicht anders als ihre Träne laufen zu lassen. So taff wie sie sonst vor Leichen stand, dieser emotional aufgeladenen Atmosphäre konnte sie nicht standhalten. Keine Rede mehr am Grab, dem nur der Sarg von Steffi zugeführt wurde, die beiden Öffnungen links daneben, die Gräber der Eltern, anscheinend vorher beigesetzt, still, im Kreis der engen Familie, deren Reste. Henri sagte ihr später, eigentlich habe Mareike letzte Worte aufgeschrieben, wollte sie sprechen, doch von Trauer überwältigt habe ihr die Sprache versagt.

Die Schülerinnen und Schüler warfen Steffi rote und weiße Rosen als letzten Gruß in ihr Grab, ein letzter stille Gruß. Betty war sich nicht bewusst, dass sie zu solchen Emotionen für eine, ihr eigentlich unbekannte Person, fähig war. Gefühle, die noch Tage in ihr nachwirkten, vermischt mit dem Zorn, dass diese Tat womöglich ungesühnt blieb. Und dieses Gefühlsbeben soll sie sich noch einmal antun? Na ja, zu Steffi hatte sie einen anderen Bezug als zu den Töchtern der Kocis. Und Koci? Er würde ihr Beiwohnen als Vertrauensbeweis ansehen. Oder? Gut, sie wird zusagen.

„Sie überlege sehr lang…so schwer die Entscheidung?“

„Tut mir leid, Herr Koci, mir ging eine andere Beisetzung durch den Kopf, die mir sehr zu Herzen gegangen ist. Aber ja, ich werde anwesend sein. Versprochen.“

„Ich danke Ihne. Und die Ermittlung? Wie weit sind Sie?“

 

Bevor sie dies beantworte, habe sie noch Fragen an ihn. In dem Haus seines Sohnes seien mehrere versteckte Minikameras gefunden worden. Ob er sie dort angebracht habe. Kameras? Er? Wie käme er dazu, seine eigene Familie auszuspionieren. Nein, nicht von ihm. Dann könne dies nur der Täter getan haben. Ja. Wusste er, dass sein Sohn erpresst wurde. Ja, habe er. Sein Sohn habe ihn um eine große Summe Geld gebeten, was er aber abgelehnt habe. Ein Koci lässt sich nicht erpressen. Und den Grund der Erpressung, habe er den gekannt. Luana wurde großen Schmerzen ausgesetzt.

Betty kann sein Verhalten seinem Sohn gegenüber nicht nachvollziehen, hakt aber nicht weiter nach, ist dessen Sache, irgendwie stur, der Typ. Bei dem Täter tappen sie noch im Dunkeln, haben aber einige vielversprechende Spuren, denen sie nachgehen.

„Ich bat Sie bei unserem letzten Gespräch um Ihre Hilfe. Diese Hilfe ist jetzt notwendig. Für seine Erpressungen sucht der Täter gezielt Familien aus, die der Polizei aktenkundig sind und deshalb den Kontakt zur Polizei meiden. Sie wollen auch nicht, dass bekannt wird, dass sie Opfer einer Erpressung wurden. Geschickt gewählte Opfer. Ich habe hier eine Liste von möglichen Opferfamilien. Zu denen könnte ich gehen, sie befragen. Aber ich bin mir mehr als sicher, dass ich keine Antworten erhalten werde. Sie verstehen mein Dilemma?“

Verständiges Kopfnicken von Koci, der aufmerksam Betty Worte verfolgt hatte, weiter verfolgt.

„Die Frage ist, ob sie Ihnen antworten, wenn Sie sie fragen. Wir müssen wissen, wer das erste Opfer war und wann. Wer weitere Opfer sind.“

Der Thekenmann steht mit einem Teller am Tisch, schaut auf seinen Chef, der nickt, der Thekenmann stellt den Teller vor Betty ab. Auf dem Teller ein braun gebackenes rundes Teigstück, Blätterteig, wie Betty glaubt.

„Ist typisch kosovarisch Gericht. Hackfleisch, Spinat und Reis gefüllt in Teig. Lassen Sie sich schmecke.“

Noch heiß, muss Betty noch einen Augenblick warten. Derweil nimmt sie die Liste mit den Opferfamilien aus der Tasche, der neben ihr abgelegten Jacke, und reicht sie Herrn Koci.

„Schauen Sie über die Liste. Kennen Sie Personen, die dort aufgelistet sind?“

Sieht schlecht, denkt Betty, denn Koci hält sich die Liste nahe vor seine Augen. Eitel ist er auch noch. Oder ist das Altersstarrsinn? Er schürzt seine Lippen, spielt damit, befeuchtet sie, während Betty beginnt, das Byrek zu verspeisen. Sehr lecker.

Nein, er kenne niemand auf der Liste, gut von einigen der Aufgelisteten habe er schon gehört. Sie würden viel zu weit weg wohnen. Und die Türken, die Libanesen und den Serben könne sie vergessen, die würden kein Wort mit einem Kosovaren wechseln.

„Wir stehe ganz unten, wie die Rumäne oder Bulgare. Mit uns spricht man nich.“

Nein, er könne nicht helfen. Immer noch die Liste in der Hand, immer noch den Blick darauf gerichtet. Vielleicht der Italiener in Hannover. Hat sie die Adresse, Telefonnummer? Hat sie, teilt sie Koci mit. Leipzig! Er habe dort einen Cousin. Capucci, den könne er versuchen, zu sprechen. Auch für diesen Italiener notiert sie Adresse und Telefonverbindung. Den Russen könne sie auch vergessen. Russen reden nicht. Mit niemand. Nur untereinander. Nur in der Familie. Sind fast wie wir.

 

Betty durchzuckt plötzlich ein Gedanke. Was macht sie da eigentlich? Sie kann doch diesen Mann nicht einfach auf die möglichen Opfer loslassen? Er hat doch überhaupt kein Feingefühl, kein Einfühlungsvermögen, keine Ahnung wie bei einer derart diffizilen Sachlage vorgegangen werden muss. Kurztraining oder eine Anleitung geben? Vorsicht!

„Herr Koci, wenn Sie die beiden Personen ansprechen, lassen Sie bitte Vorsicht walten. Fallen Sie nicht gleich mit der Tür ins Haus. Wenn die Personen tatsächlich Opfer waren, werden sie sehr verschlossen sein, von der Tat noch ganz besetzt sein…“

Koci hebt seine Hand: „…Ich weiß, Sie habe Angst. Aber ich weiß, wie Fragen geht. Hab von eich gelernt. War ja oft Gast bei eich.“

Gut, dann wäre das auch geklärt. Nein, nicht ganz. Er solle, falls die beiden tatsächlich Opfer des Täters geworden seien, fragen, ob sie mit der Ermittlungsbehörde zusammenarbeiten würden. Wobei sie eigentlich nur sich selbst meine, eventuell ein Kollege. Er solle ein warmes Wort für sie anbringen. Sie müssten mit diesen Leuten reden. Das sei wichtig.

Finsterer Blick, aber ein angedeutetes Grinsen ist nicht zu übersehen, also ganz so abweisend, wie er tut, ist er nicht. Betty fragt, was die Gerüchte über die Ermordung seines Sohnes sagen. Ob ihm da was zu Ohren gekommen sei. Nur das, was die Polizei auch glaube, dass da jemand Rache ausgeübt habe. Jemand? Ob dies auch etwas konkreter ginge. Von Russen sei die Rede, oder Georgiern, die Vermutungen hingen von dem ab, der sie ausspreche. Aber Erpressung sei nicht erwähnt worden. Nein. Er solle das auch weiterhin für sich behalten. Irritierter Blick von Koci.

„Die Teigtasche war sehr gut, Herr Koci und wirklich nur eine Kleinigkeit. Ich bin aber trotzdem satt.“

„Sonst esse Sie nix zu Abend?“

„Mein Essensplan ist eingeschränkt. Ich bin Diabetikerin, darf also nicht alles essen. Zudem bin ich zu dick, muss also abnehmen und da ist ein opulentes Abendessen nicht zuträglich.“

„Verstehe. Wie geht das nun weiter?“ Er meint sicher den Fall, nicht ihre Diät, denkt sich Betty.

„Wir kennen das Tatmotiv: Erpressung. Wir wissen nicht, warum er brutal mordet. Wir wissen nicht, wer der Täter ist. Wir kennen den Tathergang. Wir müssen jetzt weitere Opfer finden. Irgendwo hat er vielleicht einen Fehler begangen. Auf den hoffen wir. Er ist sehr intelligent, hat wahrscheinlich studiert. Wir ermitteln an den Hochschulen. All das darf der Täter aber nicht wissen, weshalb die Polizei weiterhin die Presse wissen lässt, die Tat sei eine Tat im Milieu gewesen.“

„Verstehe. Ich meld mich, wenn de Italiener mit mir geredet hat. Was is mit meine zwei Trottel.“

„Das ist Sache der Staatsanwaltschaft. Ich weiß noch nicht einmal, was den beiden vorgeworfen wird. Möglich illegaler Waffenbesitz. Ich denke aber, sie werden in Kürze freikommen. Und kommen Sie nicht auf die Idee, mir die beiden nochmals an die Fersen zu schicken.

Was sie mit einem verschmitzten Lachen sagt, von Herrn Koci mit Gleichem vergolten.

„Sie sind ein gute Polizistin.“

„War. Ich bin nun Wissenschaftlerin.“

 

Betty verlässt den Grill, freundlich verabschiedet von Herrn Koci, bleibt kurz vor der Tür stehen, glaubt, eine Frage nicht gestellt zu haben, ihr fällt aber nicht ein, welche. Ihre Uhr zeigt 22:30 Uhr an. Spät geworden. Denkt an Morgen. Am Nachmittag steht ein Doktorandentreffen an, da kann sie fehlen, auch zu Giedes Vorlesung ist ihre Anwesenheit nicht notwendig, so dass sie sich morgen ganz dem Fall widmen kann, was heißt, dem Täter ein Gesicht zu geben und dies brauchen sie. Ohne Gesicht jagen sie ein Phantom (auch wenn sie ein Phantombild haben).

Jetzt noch Rainer anrufen, macht keinen Sinn. Morgen ist auch noch ein Tag. Sie geht vor zur Bushaltestelle, muss länger warten, fährt dann zum Bahnhofsvorplatz, steigt um in die Linie, die sie zum Hohenzollernring bringt, steigt dort aus und läuft zum Philosophenweg. Diesige Novembernacht, zart fallender Sprühregen, leichter Wind, der in den südlichen Teilen der Republik als stürmisch bezeichnet würde. In den kahlen Bäumen reiben sich die Äste aneinander, knarrende Laute von sich gebend. Herbstsound. Die feuchte Kälte zieht ihr die Beine hoch, geht schneller, dem geheizten Haus entgegen. Ohne viel Federlesen macht sie sich, in der Wohnung angekommen, fertig für die Nacht. Ballast in ihrem Kopf, den das Kopfkissen auffangen muss.

Der Morgen beginnt mit der Dusche, dem Frühstück, Musik im Hintergrund, unterbrochen von den Nachrichten, das Weltgeschehen in drei Minuten, das Betty aber nicht wahrnimmt. Frischkäse auf Vollkornbrot, bestreut mit Schnittlauch, dazu fünf geviertelte Radieschen und einen Pott mit grünem Tee. Als Dessert ihre Pillen, nicht auf einmal, nacheinander im Abstand weniger Minuten. Zum Messen zu früh, der Nüchternwert war akzeptabel, kann sie auf die Messung nach dem Frühstück verzichten.

Ihr Smartphone summt, Rainer, der ankündigt, sie abholen zu wollen, so dass sie direkt zur TH fahren können. Natürlich will er wissen, wie das Gespräch mit Koci verlaufen sei. Leider sehr unergiebig, aber mit Perspektive, was sie ihm erläutert.

„Und jetzt? Wie kommen wir an diese Leute heran? Doch an der Haustür klingeln und fragen?“

„Nein, ich habe mir folgendes überlegt. Wir sollten versuchen, festzustellen welche Kollegen uns in den jeweiligen Städten unterstützen können. Wir rufen sie in einer Videokonferenz zusammen, erklären unser Anliegen und Bitten sie, die Schulen aufzusuchen, in die die Töchter der möglichen Opfer gehen und deren Lehrkräfte nach Kopfschmerzen, Übelkeit, geistige und körperliche Abwesenheit der Töchter zu befragen. Müssten wir doch hinbekommen, oder?“

„Du meinst die Videokonferenz. Klar, braucht ein wenig Zeit, aber bekommen wir hin. Ich werde dies gleich veranlassen und versuchen, sie noch heute für einen Termin zusammen zu bekommen. Gibt mir bitte deine Adresse, damit ich dich finden kann.“

Betty nennt ihm die Adresse, was ein Wow provoziert, ohne weiteren Kommentar. Er sei in gut einer Stunde, vielleicht auch ein paar Minuten später vor ihrer Haustür. Damit hat sie noch Zeit, spült das Geschirr vom Frühstück weg, brüht sich einen Kaffee, setzt sich damit an ihrem Schreibtisch ab, klappt den Laptop auf und lädt die vier Phantombilder hoch, vergleicht sie, prägt sich das Gesicht ein, besonders das von Jimmy I. Das Haar weggedacht, die Brille und die Bartstoppeln, ein Allerweltsgesicht ohne hervorstechende Merkmale. Oh, wird das schwer, denkt Betty.

 

Es ist wie mit der Stecknadel im Heuhaufen. Patsch, neuer Gedanke: Der Van! Hatten die Kolleginnen und Kollegen der Hamburger Mordkommission sich die Zulassungen von Vans und ähnlichen Fahrzeugen vorgenommen? Autos, in denen der Täter die mediale IT-Technik unterbringen konnte. Nochmaliger Anruf bei Rainer, der noch im Büro weilt, hilft, die auswärtigen Kollegen aufzutreiben, die sie zur Unterstützung brauchen. Betty erklärt ihm ihren Gedanken, den Rainer stöhnend aufnimmt. Nur die von Hamburg oder auch der erweiterten Umgebung. Es genüge zunächst Hamburg, da sie überzeugt sei, der Täter wohne in Hamburg.

Die Videokonferenz finde übrigens drüben beim LKA statt, da dort ein Whiteboard hinge, auf das die Kollegen aus Berlin, Herne, Essen, Mannheim, Gelsenkirchen und Frankfurt passen, so dass sie sich in die Augen schauen können. Der Termin sei noch offen, da noch nicht alle Gesprächspartner gefunden seien. Gut, dann bis gleich. Ach, sie solle nicht weiter nachdenken, sie seien alle gut beschäftigt.

Leichter gesagt als getan. Immer noch das Konterfei von Jimmy I – IV vor sich. Vielleicht sollte sie Sven bitten, noch einen Jimmy V zu generieren, ohne allem Beischmuck, reduziert auf das, was ihn ausmacht. Sie schließt ihre Augen, versucht sich das Bild vorzustellen, sagt sich, zu allgemein. Sie würden Treffer bekommen, zu viele, aber keinen zutreffenden Treffer.

Sie schlüpft in Schuhe, zieht ihren Mantel über, recht kühl heute Morgen, sieht sie den am unteren Rand angelaufenen Fenstern an, schnappt sich ihren Laptop, verstaut ihn in der Umhängetasche und setzt sich aufbruchsbereit auf einen Küchenstuhl. Etwas voreilig.

Erst eine halbe Stunde später klingelt Rainer an der Tür, was Betty aufschreckt, da sie gedanklich unterwegs war, bereits die Ansprache an die Studenten richtet.

Ob sie tatsächlich ganz allein in diesem tollen Haus wohne, super Lage, wie sie dazu gekommen sei? Rainer ist neugierig. Ihre Großmutter habe ihr das Haus vermacht. Ja sie möge das Haus auch, aber es gäbe sehr viel zu tun, da das Haus die letzten dreißig Jahre in sich geruht habe. Aus Freude sei mittlerweile Skepsis geworden, ein Haus sei halt keine Wohnung. Es koste. Könne er nicht mitreden, er zahle seine Miete und die Nebenkosten und basta. Aber sie werde deshalb das Haus nicht verkaufen. Oder? Nun, dieser Gedanke sei Betty bisher nicht gekommen und nein, der Notfall sei noch weit entfernt.

Ob er den Besuch an der TH vorbereitet habe, verneint Rainer. Wozu? Was, wenn keine Vorlesung ist? Jede herumlaufende Studentin oder Studenten ansprechen? Es sei deutlich einfacher vor versammelter Mannschaft ihre Fragen zu stellen. Da habe sie recht, habe er versäumt. Aus den Tiefen ihrer Umhängetasche zieht Betty ihr Smartphone hervor, wählt die Nummer des Institutes für Informatik und Mathematik an, bekommt eine Angestellte ans Telefon, stellt sich vor, fragt diese, wer Professor Helfrichs Nachfolger sei und ob dieser heute eine Vorlesung gebe. Professor Bandurei sei dem verstorbenen Professor gefolgt und ja heute Nachmittag, 14:30 Uhr halte der Professor eine Vorlesung. Ob sie ihn sprechen könne. Sie versuche es. Leider nein, der Professor sei in einem Seminar.

„Dann fahren wir zuerst zur SecTec…nein, erst zu dieser Plauth-Gruppe. Das ist frisches Terrain.“

„Wenn du meinst.“

 

Kleine Kursänderung, dennoch flott vorangekommen, stehen sie vor dem Tor der Plauth-Gruppe. Einem verschlossenen Tor. Aus einem kleinen Häuschen kommt ein uniformierter Mann auf sie zu, fragt, was ihr Anliegen sei, ohne Termin dürfte er sie nicht auf das Gelände lassen. Rainer zückt seinen Dienstausweis, sagt, sie kämen wegen einer polizeilichen Ermittlung und wünschten einen Verantwortlichen der Firma zu sprechen. Skeptisch betrachtet der Wachmann Rainers Ausweis, geht zurück in das Wärterhäuschen, telefoniert, immer einen Blick aus dem Fenster auf die in ihrem Auto wartenden Polizisten richtend.

Das Tor öffnet sich, der Sicherheitsmann winkt sie herein, übergibt Rainer dessen Ausweis. Sie sollen vorfahren, dort parken wo Kunden auf dem Schild stehe und warten bis sie abgeholt würden.

„Die nehmen es aber sehr genau.“

„Hm.“

Rainer fährt den Wagen an die angegebene Stelle, stellt den Motor ab.

„Haben wir Glück? Was meinst du, ob unser Jimmy auch hier sein Unwesen getrieben hat?“

„Möglich, aber so recht glaube ich nicht daran. Nur, unversucht können wir es nicht lassen,“ meint Betty, die aussteigen will, aber angesichts des kalten Windes, der draußen rauscht, die Tür wieder schließt und sitzen bleibt.

Gut zehn Minuten vergehen, als ein Mann durch den Eingang kommt, adrett gekleidet, schwarze Hose, Business-Hemd, karierten Pollunder, kurzhaarig, links gescheitelte Frisur, der seinen Blick auf die beiden Insassen des Wagens richtet. Betty und Rainer steigen aus, gehen auf den Mann zu, der sich als Detlef Steger vorstellt, Sicherheitschef der Plauth-Gruppe und in verwundertem Ton fragt, wieso dieser Besuch.

„Wollen Sie das hier draußen klären oder haben Sie auch einen gastlichen Raum für ein freundliches Gespräch zur Verfügung?“ Rainer hat nur ein dünnes Jackett übergezogen, Betty wohlweislich ihren Mantel, weshalb Rainer leicht genervt fragt.

„Kommen Sie.“

Steger führt sie gleich hinter dem Eingang in einen kleinen Raum, bittet sie Platz zu nehmen, fragt nach einem Getränkewunsch. Kaffee? Beide sagen nicht nein, Steger bestellt den Kaffee, betrachtet die beiden interessiert.

„Nun? Sie dürfen reden.“

Betty überlässt Rainer das Wort. Der erläutert dem Sicherheitschef den Grund ihres Hierseins, der in die Vermutung mündet, dass Herr Speitel hier in der Firma aktiv gewesen sein könnte, vielleicht sein Wissen über Spionagesoftware hier erworben hat.

„Das tut mir leid, aber wir haben mit Spionagesoftware nichts zu tun. Unser Haus entwickelt Programme zur datenbasierten Früherkennung, also Programme, die Gefahren erkennen, bevor sie eintreten.“

„Unseren Informationen nach ist die Plauth-Gruppe beteiligt an zwei Firmen, Nexa und Ames. Und diese Firmen entwickeln und bieten die Spionagesoftware Predator international an…“

„…Moment, Moment. Da liegen sie falsch. Dies ist eine Beteiligung, ein Invest. Nicht unser Produkt…“

„…Aber, sie kennen die Beteiligung. Sie wissen, was das für eine Beteiligung ist. Das Produkt ist Ihnen also bekannt. Aber das interessiert uns alles nicht. Ja, das ist Ihre Sache. Uns interessiert die Frage, ob Herr Speitel in der Vergangenheit bei Ihnen in irgendeiner Form beschäftigt war und was er hätte bei Ihnen abgreifen können.“

 

Rainer entnimmt die vier Phantombilder aus einem Umschlag, legt sie dem Sicherheitschef vor.

„Er nannte sich in dem anderen Unternehmen Jimmy Speitel. Dort hat er sich als Praktikant, auf Bitten von Professor Helfrich von der örtlichen TH, ein halbes Jahr aufgehalten und, davon gehen wir aus, das IT-System mit einer Spionagesoftware infiziert. Frage ist, war er auch hier. Können Sie in den Personalunterlagen nachschauen, Mitarbeiter befragen, ob sie sich an einen Mann dieses Aussehens (pocht mit dem Finger auf die Bilder) erinnern. Mehr möchten wir nicht.“

Nun nachdenklich geworden, betrachtet sich Steger die Phantombilder. Möglich, dass der Mann einmal hier beschäftigt war, allerdings seien die Einstellungsstandards sehr hoch. Praktikanten seien weder aktuell noch in der Vergangenheit hier beschäftigt gewesen. Und unter falschem Namen hätte er es nicht geschafft, angestellt zu werden und sich in ihr System einzuschleichen, nein, das sei unmöglich. Habe der Chef des anderen Unternehmens auch gedacht. Betty mag diesen Typ nicht, hat sowas schnittiges, gewohnt den Ton zu führen, nimmt sich zu wichtig, also hält sie sich weiter zurück, zumal sie auch nicht weiß, was sie ihn hätte fragen können.

Rainer schiebt seine Visitenkarte über den Tisch. Er solle sich melden und die Sache ernst nehmen, sehr ernst. Bevor sie sich verabschieden, bittet Rainer um die Kontaktdaten von Herrn Steger, der ihm seinerseits eine Visitenkarte reicht. Sie gehen zu ihrem Wagen, setzen sich hinein. Bevor Rainer den Wagen starten kann, fragt Betty: „Sag mal, die Kollegen, die die Konten von Jimmy überprüft haben, nannten die nicht eine Adresse, die sich als Lagerhaus entpuppte. Und wenn ich mich recht erinnere, ist die Adresse des Lagerhauses hier ganz in der Nähe. Kann das sein?“

Hm, könne er sich nicht erinnern. Er greift sein Handy drückt ein paar Tasten.

„Rainer?“

„Hallo Kalle. Du, ihr habt doch die Adresse ausfindig gemacht, die dieser Speitel bei der Bank hinterlassen hat. Kannst du mir die kurz zuschicken.“

„Da ist nichts. Eine leere Lagerhalle. Ziemlich marode. Da hat der nicht gewohnt.“

„Schick mir bitte die Adresse.“ Und drückt in weg.

„Die haben sich das Gebäude nicht einmal angesehen. Stimmts?“

Rainer nickt, leicht verärgert. Es summt, die Textnachricht: Brauhausstieg 23. Er gibt die Adresse in das Navi ein: „Hm, das ist um die Ecke.“

„Zufall?“

„Schau‘n wir uns die Halle mal an, dann wissen wir es.“

„Oder auch nicht.“

„Hm, du bist doch sonst nicht so pessimistisch. Wird sicher interessant.“

Die Halle steht tatsächlich gerade mal um die Ecke. Das Grundstück, auf dem die Halle steht, grenzt direkt an das Grundstück der Firma Plauth, inmitten eines ansonsten bunt bestückten Industriegebietes.

„Das ist doch erste Adresse hier. Wieso ist die Brache hier so tot?“

„Werden wir gleich wissen.“

Rainer ruft im Büro an, Kalle soll alles herausfinden, was es über diese Fabrikhalle im Brauhausstieg zu finden gibt. Das Tor ist zerfallen, verrostet, zeugt von langem Leerstand. Der Hof, überwuchert von verdorrtem Unkraut, das zwischen den Ritzen der Betonplatten, die den Hof bedecken, sprießt, zumindest in den warmen Monaten. Die Halle, zweistöckig, das untere Geschoß hochgezogen mit Fertigteilen, auf denen Fenster bis kurz vor der Decke gehen und dies die gesamte Lagerhalle entlang. Etliche Fenster eingeworfen, die Rahmen angerostet. Im oberen Stock nur vereinzelt Fenster, auch davon etliche zu Bruch gegangen.

 

Die beiden betreten das Grundstück, kein Hinweisschild, dass das Betreten verboten wäre. Gut, hätte sie auch nicht gestört. Dem hinteren Teil der Halle ist eine Rampe angebaut, an dem die Lkw’s andocken konnten. Drei Türen, alle verhängt mit Ketten und Schlössern. Sie gehen dorthin, wo sich eine größere Tür befindet, der Eingang. Die Tür dort unverschlossen. Sie werfen sich einen Blick zu. Sie solle ein paar Meter hinter ihm bleiben, raunt Rainer Betty zu und zückt seine Dienstwaffe, öffnet die Tür und pirscht sich, die Pistole mit beiden Händen haltend, in den Raum. Die Halle offen, leer, nur im hinteren Teil ein verglaster Kasten, der anscheinend das Büro war. Pappe liegt verstreut auf einem Boden, auf dem sich schmutziger Staub angesammelt hat. Betty tippt Rainer am Arm, deutet nach rechts, wo deutlich Fußabdrücke zu sehen sind.

„Jemand war hier, und zwar erst vor Kurzem. Die Spuren sind noch nicht von Staub überzogen.“

„Unser Mann?“

„Eher nicht. Kurz nachgerechnet müsste er vor zwei oder gar drei Jahren hier gewesen sein und diese Spuren sind nicht älter als ein paar Monate. Vielleicht Obdachlose?“

Vorsichtig schreitet Rainer weiter, die Pistole locker in der rechten Hand, sucht nach der Treppe nach oben, die aber, trotz der Übersichtlichkeit der Halle, nicht zu sehen ist. An der hinteren Wand, hinter dem Büro, sieht er eine Tür, die er anstrebt. Sie lässt sich leicht öffnen, dahinter das Treppenhaus. Auch auf der Treppe deutlich Spuren zu erkennen, viele Spuren, zu viele Spuren.

„Du, dass hier hat kein Einzelner hinterlassen. Hier ist eine Horde durchgezogen, beziehungsweise aufgestiegen.“

Auch Rainer ist dies aufgefallen, zu viele Spuren, ja, sie habe recht und es seien sehr frische Spuren. Wahrscheinlich irgendwelche Jugendliche die ein kryptische Party feierten. Die Tür zum oberen Geschoß steht offen, ein scheuer, vorsichtiger Blick hinein, ein ebenso leerer, aber deutlich flacherer Raum als der unten, anscheinend Büroräume, während unten das Lager oder die Werkhalle war. Die beiden betreten den Raum, dem ein seltsamer Geruch anhaftet. Betty versucht zu riechen, von woher der Geruch kommt, sieht in der rechten Ecke eine, wie abgewaschen wirkende, staubfreie Fläche und sie ahnt, um was es sich handelt, geht darauf zu, der Geruch wird intensiver, ja, Urin, hier hat wer hingepißt. Und nicht nur einmal. Nicht gut, erinnert Betty an ihre Blase, die sich einer Entleerung entgegensehnt. Rainer ist ihr gefolgt, sieht, was Betty sieht.

„Nein, Betty, nicht unser Typ, der hätte uns nie und nimmer DNA-Material bereitgestellt. Jugendliche oder Obdachlose. Andererseits, ich sehe nirgendwo Müll. Sonstige Partyecken sind immer vermüllt. Und ordentliche Jugendliche? Gibt es die?“

„Hm.“

Bettys Blick scannt den Raum ab, versteht nicht, was hier veranstaltet wurde, geht nun weiter in den Raum hinein, fast mittig im Raum hält sie inne, winkt Rainer zu sich, deutet auf den Boden. Eine quadratische größere, saubere Fläche.

„Schau dir das an. Hier lag eine Decke oder eine Plane, direkt am Fenster und das Fenster gibt den Blick frei auf das Plauth-Gebäude. Also, unser Jimmy war nicht hier, das ist alles viel zu frisch. Fragt sich nur, wer war hier? Und warum diese Adresse? Ist es Zufall, dass uns Jimmy hierhergeführt hat? Sag mal, wer hat ein Interesse, die Firma dort drüben auszuspionieren, außer Jimmy?“

„Du meinst, hier hat jemand spioniert? Ein oder mehrere Profis? Den Spuren nach könntest du recht haben. Auf was sind wir hier gestoßen?“

 

Er nimmt sein Handy in die Hand und will eine Nummer drücken, Betty fragt, was er vorhabe. Er wolle diesen Sicherheitschef herbeizitieren, der solle sich das einmal anschauen. Von wegen unmöglich. Nein, er solle noch warten, sie sollten sich erst gewiss sein, was dies hier bedeute. Sollten sie die KTU anrücken lassen? Nur, was würden die finden, vor allem nicht, wonach sie eigentlich suchen. Selbst wenn dieser Jimmy einmal hier war, dessen Spuren seien längst überdeckt von denen, die hier gearbeitet haben.

„Rainer, das hier ist nicht unsere Sache. Lasse doch den Sicherheitschef entscheiden, was er mit dieser Entdeckung anfängt. Rufe ihn an.“

Von hier oben ging der Blick auf den zweiten und dritten Stock des Plauth-Gebäudes. Rainer ruft den Sicherheitschef an, sagt, dieser solle in den dritten Stock gehen, ungefähr in der Mitte des Stockwerks an ein Fenster der hinteren Gebäudeseite gehen und ihm sagen, was er sehen würde. Erstauntes „Wie bitte?“

„Machen Sie es einfach. Sie werden es gleich verstehen und lassen Sie Ihr Handy an.“

Ein paar Minuten später sehen sie an einem der Fenster zwei Männer stehen, Rainer stellt sich dicht an die noch nicht zerborstene Scheibe und winkt hinüber.

„Was soll das? Was machen Sie dort drüben?“

„Von hier aus scheint Sie jemand belauscht zu haben. Wenn Sie herüberkommen, dann kann ich Ihnen das erklären.“

„Erklären? Was zum Teufel soll das?“

„Kommen Sie einfach rüber,“ und drückt den sich zierenden Sicherheitschef weg.

„Er will nicht wahrhaben, dass jemand der Firma etwas Böses will...“

„…Und er es nicht gemerkt hat.“

„Genau so.“

Betty schlendert weiter durch den Raum. Auf einer Fensterbank entdeckt sie Spuren von ausgedrückten Zigaretten, leicht entfernt davon, mehrere Kippen auf dem Boden liegend. Besonders vorsichtig waren die Typen nicht, anscheinend ihrer Sache sicher. Sie geht zurück in die Pissecke, betrachtet sich die Lache. Hier wurde mehrfach gepisst, demnach mindestens zwei Tage, wenn nicht noch mehr Tage, die Überwachung durchgeführt. Rainer teilt mit, dass er den Sicherheitschef unten abholen geht. Gut.

In Betty keimt ein Verdacht hoch. Thiele oder war es Stupi, egal, einer sprach davon, dass die Überwachungsindustrie eine Schattenindustrie sei. Liefen etwa Ermittlungen gegen die Plauth-Gruppe? So jedenfalls sieht der Ort hier aus. Wenn dies so wäre, hätten sie aller Wahrscheinlichkeit nach, einen Fehler begangen. Sie geht wieder vor zu diesem seltsamen staubfreien Quadrat. Da lag die Plane und darauf standen Geräte, die Plane, damit Staub die empfindlichen Geräte nicht beschädigen. Genau, nix Party, wenn, dann eine der besonderen Art.

Der Sicherheitschef in Begleitung eines Security-Mannes und Rainer kommen schwatzend durch die Tür und auf sie zu. Bevor Rainer die Szene erklären kann, legt Betty los, äußert ihren Verdacht und fragt den Sicherheitschef direkt, ob gegen die Plauth-Gruppe Ermittlungen laufen.

 

Verdammt, was machen sie hier, verplempern Zeit für eine Sache, die nicht ihre Sache ist, nun aber nicht mehr zurückkönnen. Betty ist die ganze Situation unangenehm, ebenso wie dem Sicherheitschef, dessen Antwort aussteht, nicht kommt. Er könne sich nicht vorstellen, wer und warum gegen sie ermittelt werde. Und spionieren? Nein. Aber wie erkläre er sich den Umstand, dass von hier aus das Gebäude der Firma beobachtet wurde. Dafür habe er keine Erklärung. Welche Tätigkeiten werden dort drüben im zweiten oder dritten Stock ausgeführt.

Der sonst so gefasst wirkende Sicherheitschef ist unruhig, in seinem Gesicht zucken Muskeln und auch die kleinen Falten auf der Stirn zeugen von einer Nervosität.

„Dort drüben sitzen Entwickler oder Programmierer. Oder?“

„Nein, dort befindet sich, also im zweiten Stock, der Verkauf und die Vertragsabteilung.“

„Mit anderen Worten, jemand will wissen, wem sie was verkaufen. Das deutet doch stark auf Ermittlungen hin. Aber egal, das ist nicht unsere Sache. Wir kümmern uns um Mordfälle. Das hier ist eine andere Baustelle. Wenn es sie beunruhigt und sie wissen wollen, was hier vorgegangen ist, sollten sie mit dem LKA oder besser noch dem BKA reden. Rainer, ich denke, wir gehen.“

Der überraschte Rainer steht noch einen Augenblick ruhig da, blickt auf den sich nicht bewegenden Sicherheitschef, der brütet, nachdenkt, sich umdreht, Rainer fragend betrachtet.

„Es gab da Gerüchte. Nach der Beteiligung unseres Hauses an den Firmen Nexa und Ames, deren Vorläufer das Spionagesystem Eagle, später dann Predator an Staaten verkauft habe, die heute als Schurkenstaaten bezeichnet werden, soll eine europäische Behörde diese und andere Verkäufe untersucht haben. Dadurch kam die Plauth-Gruppe in das Visier der Ermittler. Möglich, dass dies hier Teil dieser Ermittlungen waren.“

„Trotzdem, wie gesagt, nicht unser Ding.“

Betty wird ungeduldig, wissend, dass sie hier auf dem Holzweg sind und weiteres Verbleiben nur Zeitverschwendung ist.

„Wissen Sie, wem diese Halle oder dieses Grundstück gehört?“ Betty rollt mit den Augen, aber Rainer will nicht loslassen.

„Das war bis vor acht Jahren eine Seilerei, die überwiegend für die Schifffahrt arbeitete. Ich glaube, auch Netze für die Fischerei wurden hergestellt. Kein Geschäft mit Zukunft. Bevor er insolvent zu gehen drohte, hat der Besitzer, ein Herr Öhme, seine Firma dicht gemacht und hat sich auf sein Altenteil zurückgezogen. Und zwar so richtig zurückgezogen. Wir hätten das Grundstück gerne gekauft, aber er hat auf keine unserer Offerten reagiert. Er ist ein alter Mann. Er müsste jetzt um die neunzig Jahre alt sein.“

Betty geht schon mal los, das führt zu nichts, weiß nicht, warum Rainer sich so festkrallt. Sie dreht sich nicht um, läuft schnurstracks auf die Tür zu, die Treppe hinunter, durch die Halle auf den Wagen zu und setzt sich hinein, mit drückender Blase.

 

Nach ein paar Minuten taucht auch Rainer auf, will wissen, was mit ihr los sei, warum dieser abrupte Aufbruch.

„Ersten muss ich dringend pinkeln und zweitens sind wir jemand ins Gehege gekommen und drittens hat das alles nichts mit unserem Jimmy zu tun.“

„Aber warum dann diese Adresse? Warum schickt er uns hierher?“

„Darüber sollten wir nachdenken, denn, so vermute ich, die Antwort wird nicht einfach sein.“

Zur SecTec? fragt Rainer. Nein, irgendwohin, wo eine Toilette ist, und zwar in nächster Nähe.

Grinsen bei Rainer und der Ansatz einen Spruch loszulassen, den Betty abwürgt mit einem „Lass es!“

In der Nähe der Fabrikhalle befindet sich ein Supermarkt, eine Bäckerei integriert, den steuert Rainer an, Betty steigt aus, eilt in Richtung des Bäckerladens, gefolgt von Rainer. Aha! Drinnen das Toilettenzeichen, dem Betty folgt. Höchste Zeit, sich des unangenehm drückenden Gefühls zu entledigen. Bevor sie im Laufe des Tages wieder Hunger leiden muss, nimmt sie sich ein belegtes Vollkornbrötchen mit, hinter ihr Rainer, der sich ebenfalls eindeckt, zwei mit Schinken und Käse belegte Brötchen.

„So, nun können wir entspannt dem Lauf der Dinge entgegenfahren.“

„Stimmt!“ stimmt Rainer bei.

Betty meldet sich und Rainer bei der SecTec an. Herr Stupi nicht da, aber Herr Fabian stehe ihnen zur Verfügung. Wem sie Ihrer Meinung nach ins Gehege gekommen seien, will Rainer wissen.

„Nun, Ermittlungen auf europäischer Ebene übernimmt Europol. Das würde passen, denn Terrorismusbekämpfung ist eine von deren Aufgaben. Und wenn Plauth tatsächlich half, Spionagesoftware an Schurkenstaaten zu verkaufen, dann ist das ein triftiger Grund, dem Verdacht nachzugehen. Dumm nur, dass wir die Plauth-Leute nun aufgescheucht haben. Aber egal, haken wir die Geschichte ab.“

„Weißt du, was ich komisch finde?“

„Nein.“

„Eine Überwachung bei so einem Sachverhalt dauert Wochen, wenn nicht Monate. Die Leute in der Seilerei waren aber nur wenige Tage zugange. Macht das Sinn?“

„Nein.“

„Du willst nicht darüber reden?“

„Nein.“

„Gut, dann denke nur ich nach.“

„Gut, und ich denke über die Adresse nach.“

Der Verkehr heute wieder zähflüssig, der Elbtunnel, wie so oft, nur einspurig, so dass sich ein Stau gebildet hat, an dessen Ende Rainer den Wagen verlangsamt, flucht, hat vergessen, das Navi einzuschalten, die Stauwarnung somit verpasst. Rainer nutzt die Gelegenheit, in eines seiner Brötchen zu beißen, es ganz zu verputzen. Betty harrt noch aus, noch hat sich ihr Magen nicht gerührt. Und überhaupt, schon der dritte Tag ohne Fitness-Studio, nicht gut, nein, wirklich nicht gut, kaum ein wenig Routine in ihrem Leben, schon wieder alles aus dem Ruder geraten. Da hätte sie auch gleich bei der Polizei bleiben können.

„Denkst du noch nach? Und? Zu einem Ergebnis gekommen?“

„Ja. Ich werde heute Abend gehen, mag kommen was wolle.“

„Was redest du da?“

„Mein Fitness-Programm ist in sich zusammengebrochen. Ich muss unbedingt heute Abend ins Fitness-Studio, ich brauche Bewegung, regelmäßige Bewegung, zu der mich Jimmy nicht kommen lässt.“

 

Radio-Bob dudelt vor sich hin, sie nähern sich schrittweise der einen Spur, Rainer flucht jeden an, der sich noch rechts vorbeimogelt, obwohl der Hinweis, sich links einzuordnen längst hinter ihnen liegt. Unbeirrbare Irre, schimpft er. Betty, als Nicht-Autofahrerin versteht seinen Unmut, seine Ungeduld nicht. Er solle sich entspannen, er sitze im Warmen, könne Musik hören, nachdenken. Nein, könne er nicht, diese Arschlöcher von rechts lenken mich davon ab. Tja, so ist das, die Arschlöcher sind immer rechts. Rainer versteht, lächelt vor sich hin, kommentiert aber nicht. Endlich fahren sie in den Tunnel ein, mit gedrosseltem Tempo weiter, nehmen Fahrt auf, sobald sie aus dem Tunnel heraus sind, um nur kurze Zeit später im nächsten Stau zu stehen. Das Navi bietet eine Umleitungsstrecke an, die Rainer verwirft, genauso verstaut wie die Autobahn.

Plötzlich, wieso auch immer, fragt Rainer Betty, ob sie keine Eltern mehr habe. Doch, habe sie, eine Mutter, die in Österreich lebe und einen Vater, von dem sie nicht recht wisse, wo der lebe, geschieden und von ihr seit Jahren nicht mehr gesehen. Deshalb die Entscheidung der Großmutter, ihr das Haus zu überlassen? Im Prinzip sei sie bei ihren Großeltern aufgewachsen, sie habe ihre Großeltern mehr geliebt als ihre Eltern, wobei von Liebe zu den Eltern nicht die Rede sein könne. Und ihre Großmutter habe sie mehr gemocht als ihre eigene Tochter. Also eine nur konsequente Entscheidung, für die sie ihr sehr dankbar sei. Das höre sich konfliktträchtig an. Ja, sei es gewesen. Ihr Vater war ein Ästhet, der sich nie mit seiner fetten Tochter habe abfinden können. Aber müssten sie jetzt über ihre Vergangenheit reden, das sei nicht unbedingt ihr Lieblingsthema. Rainer entschuldigt sich, er habe ja nicht wissen können, was er mit seiner Frage heraufbeschwören würde. Schon gut, Rainer, ist halt so. Manche Leben laufen glatt, andere von Kurve zu Kurve. Ja, das stimme, davon könne auch er ein Lied singen, aber nicht jetzt, denn sein Handy meldet sich, mittlerweile an die Freisprechanlage angehängt. Kalle am anderen Ende.

„Hallo Kalle, ich weiß, eine alte Seilerei und so weiter, aber trotzdem, gute Arbeit.“

„Warum lässt du mich suchen, wenn du schon alles weißt?“

„Ich weiß es auch erst seit ein paar Minuten und ich weiß auch, wer das Grundstück gerne kaufen würde, der alte Seilereibesitzer aber nicht daran denkt, zu verkaufen. Was uns aber zwischenzeitlich ziemlich egal ist, hat nichts mit unserer Ermittlung zu tun. Bist du jetzt beruhigt?“

„Du bist zu viel mit der Dicken zusammen, das färbt ab.“

„Ich habe auf laut gestellt.“

„Scheiße.“

„Hallo Kalle, macht dir nichts draus, ich bin dick. Du hast nur eine Tatsache ausgesprochen, die allerdings nicht von Achtung getragen ist.“

Rainer grinst, drückt Kalle weg.

„Gewohnheiten schleichen sich ein und klammern sich fest.“

„Heißt, ich bin intern immer noch die Dicke?...Na ja, besser als die Fette.“

„Nein, die meisten haben großen Respekt vor dir, aber manchmal rutscht dies Kalle raus. Glaube mir, er ist der Einzige, dem dies passiert.“

 

Nach Überwindung des zweiten Staus geht es dann zügig weiter. Rainer parkt den Wagen vor dem Haupteingang der SecTec, sie steigen aus und gehen zum Empfang, den sie nicht in Anspruch nehmen müssen, da von oben jemand ruft, sie sollen hochkommen. Der jemand ist Herr Fabian, er sei Projektleiter und vertrete Herrn Stupi, der in Mailand weile. Was führe sie erneut her, möchte er wissen. Herr Eyler haben ihnen geholfen, ein Phantombild des Praktikanten Jimmy Speitel zu entwerfen und dieses würden sie gerne den Mitarbeiter vorlegen, um mehr über Herrn Speitel zu erfahren. Wie sollten die Gespräche ablaufen? Ganz einfach, sie gehen Arbeitsplatz für Arbeitsplatz ab, stören also nur kurz. Gut, dann sollen sie ihre Arbeit tun, wenn sie Fragen an ihn hätten, stehe er natürlich gerne zur Verfügung.

„Na ja, da fangen wir mit Ihnen an, Herr Fabian,“ und dabei zieht Betty die Phantombilder von Jimmy aus ihrer Umhängetasche. Zunächst Jimmy I. Also, er habe nur flüchtig mit Herrn Speitel zu tun gehabt, aber ja, an dieses Gesicht könne er sich vage erinnern, aber an mehr auch nicht. Stiller, der Name schießt in ihr hoch, der Mitarbeiter, der mit Jimmy ein System installiert hat. Ein Herr Stiller, sei der anwesend und wo sitze er, erkundigt sich Betty. Herr Fabian schaut nach rechts, deutet auf einen Arbeitsplatz, der Herr im roten T-Shirt, das sei Sven Stiller.

„Gut, den zuerst.“

Rainer trottet Betty hinterher, die schnurstracks auf den Arbeitsplatz dieses Stiller zuläuft, davor anhält, grüßt, sich und Rainer vorstellt.

„Herr Stiller, trifft es zu, dass Sie bei einer Ihrer Montagen Jimmy Speitel begleitet hat?“

„Jimmy? Äh, ja, genau, den hatte ich einmal mitgenommen.“

„Wo genau erfolgte die Installation?“

„Ähm, das war, ja, die Sache in Hannover. Familie mit italienischem Hintergrund.“

„Die Familie Patoni. Und was meinen Sie mit der Sache?“

„Die Sache? Ach so. Na, einfach unser System.“

Betty reicht Stiller das Phantombild von Jimmy I, fragt ihn, ob dieses Bild, dem des Jimmy entspreche. Ja, das sei hundert Prozent Jimmy.

„Gut, was können Sie uns, Sie waren immerhin ein paar Tage mit ihm zusammen, über ihn erzählen. Wie war er so, über was sprachen Sie miteinander. Irgendetwas auffälliges an ihm?“

Auffällig, ja, er war unauffällig, redete wenig, machte seine Arbeit, sonst nichts. Selbst am Abend, wenn er mit Elmer, Elmer wer? Elmer Leyrer, zum Essen ging, blieb er im Hotel zurück. Er habe nur noch wenige Tage in der Firma gehabt, sei ein halbes Jahr dagewesen, aber irgendwie habe keiner so recht gemerkt, dass er da war. Wenn er so daran denke, ja, ein ziemlich in sich gekehrter Typ.

„Nie privates mit ihm gesprochen?“

Stiller macht eine kurze Pause, grübelt, doch, im Gegensatz zu den Praktikanten vor ihm sei er deutlich älter gewesen, weshalb er Jimmy gefragt habe, was er vor seinem Studium gemacht habe. Nichts, habe der gesagt, wäre nach dem Abitur zur Bundeswehr gegangen, hätte dort eine Ausbildung zum Fernmeldemechaniker absolviert, sich aber dann doch für das Studium der Informatik entschieden. Mehr sei nicht gekommen.

„Könnten Sie ihn näher beschreiben. Wir kennen nur seinen Kopf.“

„Oh. Schlank war er. Ob sportlich schlank weiß ich nicht, eher karge Kost gewohnt. Kurz vor ein Meter achtzig groß. Er trug immer Turnschuhe, lappige T-Shirts, Jeans und im Herbst eine Jacke mit so einem Tarnmuster. Wahrscheinlich aus seiner Bundeswehrzeit. Näheren Kontakt zu einem Kollegen hatte der nicht, wollte er anscheinend nicht, zumindest machte er so den Eindruck.“

„Wenn Sie sich dieses Bild anschauen und an diesen Jimmy denken, glauben Sie, er war echt?“

„Echt? Wie meinen Sie das?“

„Könnte es eine Perücke sein, die er auf dem Kopf hatte? Aufgeklebte Augenbrauen?“

„Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Die Haare waren schon komisch. Aber Perücke? Nein.“

„Dieser Elmer. Ist der auch anwesend?“

„Nein, ist auf Tournee.“

 

Auch bei den anderen Mitarbeitern stießen sie auf Unkenntnis über Jimmy, zwar konnten sich, nach Betrachtung des Bildes, die meisten an ihn erinnern, aber an sonst nichts. Das muss man erst einmal hinbekommen, ein halbes Jahr lang quasi unauffällig, ja unsichtbar zu bleiben.

„Ich denke, hier ist nichts mehr zu holen. Ob Jimmy so war, oder hat er sich bewusst zurückgehalten? Irgendwie bei diesen Computer-Freaks anscheinend üblich. Oder?“

Er hat hier geschauspielert, glaubt Betty, Perücke auf und die Rolle des intrinsischen Nerds gespielt, um nichts von sich preis zu geben. Bundeswehr, hm, wahrscheinlich auch Erfindung.

„Jimmy oder wie immer er hieß, war nicht so. Möglich, dass er verschlossen war, aber so sprachlos wie er war, nein, das nehme ich ihm nicht ab. Aber er hat so gut gespielt, dass er erreicht hat, was er wollte. Wir sind nicht klüger geworden.“

„Stimmt,“ flüstert Rainer.

„Lass uns fahren. Wir müssen uns mit dem Professor abstimmen, bevor dieser in die Vorlesung geht. Die Zeit wird knapp.“

Sie bedanken sich bei Herrn Fabian, Betty meint zum Abschied, so wie es aussehe, wäre dies ihr letzter Besuch gewesen und ob sie denn noch nach dem Leck im System suchen würden. Täten sie, ja, Leo habe Kontakt zu einem amerikanischen Spezialisten aufgenommen, der sich mit dem Aufspüren von Spyware auskenne, komme nächste Woche. Gut, das Ergebnis würde auch sie interessieren.

Sie steigen in ihren Wagen, Rainer startet, gibt die TU-Adresse ein, in der Hoffnung, rechtzeitig vor einem möglichen Stau gewarnt zu werden. Gelegenheit für Betty ihr Brötchen auszupacken und während der Fahrt zu verarbeiten, verfolgt von einem wie auch immer gearteten Blick Rainers. Er hatte seine beiden Brötchen bereits verspeist.

„Wir haben wirklich Scheiß Arbeitszeiten, offenes Ende und keine geordneten Mittagspausen.“

„Also in Lübeck hatte ich einen Fahrer…“

„…degradierst du mich gerade zu deinem Fahrer?...“

„…Hör doch erst einmal zu. Ja, ich hatte einen Fahrer, den mir Hembach zugeteilt hat. Ich hatte weder Führerschein, geschweige denn ein Auto. Jedenfalls dieser Fahrer, Mentel heißt er, animierte mich, wenn wir unterwegs von A nach B waren, zum Besuch einer Pizzeria. Das war allerdings noch zu meinen hemmungslosen Zeiten. Ich habe nie nein gesagt. Also wusste ich, sobald ein Außentermin anstand, heute Mittag, manchmal auch abends gibt es eine Pizza. Und Mentel kannte sich aus mit guten Pizzerien.“

„Was genau willst du mir jetzt damit sagen? Du weißt, wir haben einen Termin und eine Pizza passt da nicht mehr dazwischen.“

„Missverstanden. Ich wollte nur damit sagen, die Arbeitszeiten, letztlich auch die Pausenzeiten sind variabel gestaltbar.“

Rainer schmunzelt.

„Ehrlich, jetzt, wo du es gesagt hast, hätte ich Lust auf eine Pizza.“

„Geht nicht. Fahr zügig, der Professor wartet.“

 

Ohne Stau und gerade noch rechtzeitig, um Professor Bandurei abzufangen, erreichen sie die TU. Betty erklärt dem überraschten Professor, warum sie hier sind und dass sie seine Studentinnen und Studenten um Mithilfe in einem Mordfall bitten wollten. Sie würden der Zuhörerschaft vier Phantombilder zeigen, um zu erfahren, ob jemand die Person auf dem Bild erkenne. Sollte das der Fall sein, bitten wir diese Person vor die Tür, wo sie mein Kollege befragt. Damit hatte Betty zum Erstaunen von Rainer das Skript vorgegeben.

Im Vorlesungsraum sitzen gut hundert Personen. Der Professor stellt sich an seinen üblichen Platz hinter dem Rednerpult, stellt Betty und Rainer als Kommissare der Hamburger Polizei vor, die Fragen an das Auditorium hätten und übergibt an Betty, die ihren Laptop eingestöpselt hat, den Beamer anwirft.

„Meine Herrschaften wir sind auf der Suche nach Informationen über eine Person, deren Abbild ich Ihnen gleich zeigen werde. Wir möchten wissen, ob jemand von Ihnen diese Person kennt und falls ja, bitten wir um Handzeichen. Für unsere Fragen geht mein Kollege mit Ihnen vor die Tür.“

Ein Student will wissen, ob es sich um einen Täter oder einen Verdächtigen handle. Das könne sie aus ermittlungstechnischen Gründen nicht sagen, nur so viel, er habe sich als Student hier am Lehrstuhl für Informatik und Mathematik ausgegeben.

Betty ruft Jimmy I ab. Getuschel, Gemurmel, zwei Hände heben sich. Rainer, ohne Anweisung, schon auf dem Weg, steigt die Stufen hoch. Ihm folgen zwei Studentinnen. Jimmy II, keine Handzeichen. Jimmy III, mit aktueller undercut-Frisur, Dreitagebart, schmale Brille. Fünf Hände gehen in die Höhe, zwei Studenten, drei Studentinnen. Sie mögen bitte einen Moment warten. Noch Jimmy IV. Keine Handzeichen. Betty bedankt sich bei Professor Bandurei, sie wäre dann schon fertig, bittet die fünf Handzeichen nach draußen.

Die beiden jungen Frauen, die Rainer befragt hatte, betreten wieder den Raum, Betty verlässt ihn mit den fünf möglichen Zeugen. Rainer ist anzusehen, dass die Befragung unergiebig war. Betty bittet die jungen Frauen zu Rainer, sie nimmt sich die beiden Studenten vor. Elmer, der eine Student, glaubt Gregorii erkannt zu haben, ein Kommilitone, könne sein, dass der sein Studium abgeschlossen habe. Er habe ihn letztes Semester kennengelernt, in einem Seminar, das sie gemeinsam besuchten. Gregorii sei kein deutscher Name. Oder? Richtig, Greogorii sei aus Kasachstan gewesen. Betty bedankt sich und blickt fragend auf den zweiten Studenten. Nein, nicht Gregorii, den kenne er nicht, er habe Lukas auf dem Bild wiedererkannt, also glaube er zumindest. Lukas wer? Das wisse er nicht. Was wisse er über diesen Lukas. Er sei ihm halt aufgefallen, weil er schon ein älteres Semester gewesen und dementsprechend selbstsicher aufgetreten sei. Seine Fragen brachten Professor Helfrich mehr als einmal in Erklärungsnot und seine Kommentare zeugten von gefestigtem Wissen. „Professor Helfrich starb vor zwei Jahren, das heißt, es ist auch so lange her, dass sie diesen Lukas zuletzt gesehen haben.“

„Ja.“

„Haben Sie mit ihm gesprochen? Sich ausgetauscht?“

„Nein.“

„Woher wissen Sie, wie er hieß?“

Er habe so eine komische Umhängetasche gehabt, vollkommen uncool das Ding und sei Lukas aufgestickt gewesen. Betty bedankt sich. Auch Rainer hat seine Befragung beendet. Er habe alle möglichen Namen genannt bekommen, aber mit Jimmy habe dies nichts zu tun gehabt. Und sie? Nichts wirklich Erhellendes, bis auf diesen Lukas. Betty liest Rainer ihre Notizen dazu vor. Älteres Semester und Intelligent, das könne passen.

„Gehen wir nochmals zur Verwaltung? Was meinst du?“

„Hm, Lukas wird nicht einzige Lukas an der Hochschule sein. Na ja, kann nicht schaden.“

„Meine Rede.“

 

Sie verlassen das Hauptgebäude und gehen hinüber zu dem Gebäude, in dem die Verwaltung sitzt, einigen sich darauf, gleich zur Dame mit der großen Brille zu gehen, die auch tatsächlich hinter ihrem Computer sitzt, lächelnd die beiden begrüßt, womit sie denn heute dienen könne. Aus ihrem Jimmy Speitel sei ein Lukas geworden, leider einer ohne Nachnamen und den würden sie gerne erfahren. Was hieße, sie solle ihnen alle studentischen Lukase heraussuchen. Richtig, wobei, für sie hilfreich, dieser Lukas müsste so um 1990 geboren sein, also sozusagen ein älteres Semester. Oh, von der Sorte hätte sie so ein paar im Computer.

Die Frau mit der großen Brille, spielt mit ihren Lippen, spitzt sie, zieht sie wieder zurück, und tippt dabei, mit viel zu langen Fingernägeln auf die Tastatur. Mit triumphierendem Gesichtsausdruck wirft sie den beiden Polizisten ein, genau siebzehn Lukase nennt mir der Computer, zu. Und reduziert auf den Jahrgang 90? Ganze vier. Betty zückt ihren Notizblock, bei all den Namen mittlerweile unentbehrlich und notiert die Namen der vier Lukase:

 

Lukas Kessdorf, Dessau, Student Maschinenbau

Lukas Mayer, Flensburg, exmatrikuliert, studierte Immobilienmanagement

Lukas Frei, Detmold, exmatrikuliert, studierte Wirtschaftspsychologie

Lukas Kerner, Cuxhaven, Student Betriebswirtschaftslehre

 

Welcher Jahrgang folgt den 90, will Betty wissen. Na, 91 antwortet die Frau mit der großen Brille. Sie meine bei den Lukasen, welcher Jahrgang folgt dem Jahrgang 90. Die junge Frau mit der großen Brille braucht einen Augenblick, um zu verstehen, macht ein Ah und betrachtet das Ergebnis, das ihr der Computer anzeigt. Ein Lukas Jahrgang 1992 und der nächste Jahrgang 1994. Gut, sie notiere:

 

Lukas Breitner, Wismar, exmatrikuliert, studierte Betriebswirtschaft

Lukas Bolbach, Lüneburg, studierte Informatik und Mathematik

 

Bolbach könnte interessant sein. Sie bittet um die Adressdaten, sofern vorhanden. Seien vorhanden und Betty notiert sich, was notwendig ist. Sie sei ein Engel, bedankt sich Betty, immer noch verwundert über die langen Fingernägel der jungen Frau mit zu großer Brille. Wie konnte sie damit die Tastatur bearbeiten? Erstaunlich.

Und jetzt? fragt Rainer. Zurück in den Stall.

„Wir könnten zuvor eine Pizza essen gehen. Was meinst du?“

„Kennst du eine Pizzeria?“

„Auf dem Weg ins Präsidium wird uns sicher eine begegnen.“

„Wenn du meinst.“

Betty schmunzelt vor sich hin. Was sie mit den sechs Lukasen anfangen sollen, fragt Betty. Das sei Arbeit für Kalle und Petra, die sollen die Lukase ausfindig machen und mit ihnen reden. Reden? Und wenn unser Täter einer der Lukase ist, dann wird er die Flatter machen, so schnell, das hast du nicht gesehn. Gut, dann nur recherchieren und finden wir Anhaltspunkte, dann marschieren wir mit der Kavallerie los. Gute Idee. So machen wir das.

„Wir? Vergiss es. Du bist unbewaffnet, nicht versichert und vor allem, nicht bei der Polizei. Du wirst schön zu Hause bleiben.“

„Nicht dein Ernst? Du würdest mir meinen Freudentag entziehen? Also, wenn das so ist, kündige ich meinen Beratervertrag.“

„Du doch nicht.“ Und die beiden brechen in kicherndes Gelächter aus.

 

In der Wohlers Allee kommen sie an einem Ristorante La Bella Pizzeria vorbei. Rainer bremst ab, wendet den Wagen, sucht eine Parkmöglichkeit, bugsiert ihn in eine Lücke, sie steigen aus und laufen auf das Ristorante zu, Betty schon heftig nachdenkend, was sie zu sich nehmen wird. Doch an der Tür verwehrt ihnen ein kleines Hinweisschild den Zutritt. Öffnung erst um 18:00 Uhr. Rainer genervt. Shit, aber es gäbe ja noch mehr Pizzerien in Hamburg.

„Mentel wäre das nicht passiert, der wusste nicht nur, wo es gute Pizza gibt, sondern auch, wer durchgehend geöffnet hat.“

„Ich bin halt nicht dein Mentel.“

„Ooch.“ Betty tätschelt lachend Rainers Schulter.

Zurück zum Auto und weiter geht es. Rainer weicht auf Nebenstraßen aus, in der Hoffnung auf eine Pizzeria, nichts dergleichen, nur Döner-Läden. Vor so einem hält Rainer schließlich an, der ergebnislosen Suche überdrüssig, was Betty missfällt.

„Die haben aber keine Pizza. Das ist dir schon klar?“

„Die haben türkische Pizza. Die tut es auch zur Not.“

Sie betreten den Laden, der nur ein paar Stehtische hat, mehr auf den Außerhausverkauf ausgelegt. Rainer liest das an der Wand hinter dem Buffett aufgelistete Angebot und bestellt einen Döner, volles Programm, Betty nur ein Mineralwasser, was Rainer stirnrunzelnd zur Kenntnis nimmt. Was aus der ersehnten Pizza geworden sei. Nun, sie solle sich die Pizza einmal anschauen. Um satt zu werden, müsste er fünf von den Dingern essen.

In seiner Brusttasche vibriert das Handy, zieht es hervor, Hansen, wo sie sich herumtrieben, will dieser wissen. Sie seien von der Tätersuche auf dem Weg zurück zum Präsidium und wieso dudele da orientalische Musik. Eine CD, Betty stehe auf solche Musik zur Entspannung. Ob er noch wisse, dass er eine Videokonferenz abhalten wolle. Viel Zeit bleibe ihm nicht mehr. Sie seien in einer halben Stunde zurück und drückt ihn weg. Grinsend schaut ihn Betty an, soso, orientalische Musik und dabei entspannen, gehe eigentlich nicht, gehe gar nicht.

 

Kaum um die Ecke gebogen, wie nicht anders zu erwarten, prangt das Schild eines Ristorantes, dessen Innenbeleuchtung auf eine Öffnung schließen lässt, ja, ein paar Köpfe sind zu erkennen. Rainer ignoriert, was nicht zu übersehen ist und Betty schmunzelt ohne Kommentar, wäre zu viel für Rainer.

Um ein ganz anderes Thema anzuschlagen, fragt Betty, ob Rainer immer noch in Finkenwerder wohne. Wo sonst? Er fühle sich dort draußen wohl und Hanna habe ihren Job bei Airbus vor der Haustür. In der Menge zu wohnen, sei nicht sein Ding. Es lange, in der Menge zu arbeiten. Anruf von Valerie, sie hätten einen Todesfall, ob er kommen könne. Hätte das mit dem aktuellen Fall zu tun oder ganz andere Baustelle. Andere Baustelle, Frauenleiche in einer Wohnung, vermutlich Beziehungstat. Sie solle hinfahren, Kalle mitnehmen, er habe wichtigere Dinge zu erledigen.

„Siehst du, so ist das mit der Menge. Wo die ist, gibt es auch eine Menge Ärger. Weißt du, ich sage dir das jetzt im Vertrauen. Ich war schon mehrmals nahe daran, mich bei Airbus als Sicherheitschef zu bewerben. Dumm ist halt, von der Sorte brauchen sie nur einen, und den haben sie. Also muss ich warten. Sollte sich die Chance auftun, ich denke, ich greife zu. Bei Airbus gibt es keine Toten.“

„Du spielst also auch mit dem Gedanken, den Dienst zu quittieren. Dies an einer bestimmten Anstellung festzumachen, zeugt nicht von großer Überzeugung.“

„Stimmt. Passender geht es aber nicht, alles andere wäre weiterhin Wanderzirkus.“

Rainer bugsiert, am Präsidium angekommen, den Wagen in eine Lücke, sie steigen aus, betreten das Gebäude. Rainer sagt lächelnd, du kommst sicher nach, dem Betty zustimmend nickt und den Weg zur Behindertentoilette einschlägt. Sie hätte doch beim Türken zugreifen sollen, ihr Magen rührt sich und ein Ende des Tages ist noch nicht abzusehen. Die Treppe hoch, den Schwenk nach links zu den Räumlichkeiten der Mordkommission. Rainer dabei irgendwelche Anweisungen zu erteilen, winkt Betty herbei, stellt ihr Tillmann vor, der Youngster des Teams, dem solle sie ihre Lukase übergeben, er werde sich darum kümmern. Er sei instruiert, besonderes Augenmerk auf Lukas Bolbach. Sie gehen hinüber zu den Kollegen des LKA, die Leitungen stehen, es könne gleich losgehen.

 

Das Hinüber ist auf der dem Kommissariat gegenüberliegenden Flurseite durch eine Tür zu erreichen, gleiches Gebäude, gleiches Stockwerk. Im Besprechungsraum sitzen bereits drei Kollegen des LKA, die die beiden begrüßen, Herr Kreiner erklärt, was Rainer tun müsse, und los geht es. Auf dem Whiteboard erscheinen acht Köpfe, die Rainer begrüßt, die sich anschließend vorstellen. Nach der Begrüßung erklärt Rainer sein Anliegen, schildert in groben Zügen den Fall, die Vorgehensweise des Täters und warum sie den Umweg und die diskrete Befragung des Umfeldes der Töchter gehen müssten. Die Liste mit den Namen der Familien spielte er auf, so dass seine Gegenüber diese notieren konnten, Kopien kämen im Anschluss per eMail. Ein Kollege meinte, ob er es nicht eine Nummer kleiner hätte machen können, das seien schwerste Kaliber, gegen die sie da hintenherum ermitteln sollten, was zu allgemeinem Gelächter und Zustimmung führt. Tja, das sei halt genau die Masche es Täters, Leute ins Visier zu nehmen, die die Polizei meiden. Wenn die ausgenommen wurden, geschehe es denen recht. Warum dazu noch ermitteln? Es gehe um die Opfer, die wegen der Erpressung leiden musste, nicht um die Erpressten, denn die Opfer seien unschuldige Kinder.

Betty spürte den Unwillen der Kollegen, letztlich werden sie aber ihr Bestes geben. Was, wenn sie herausfinden, dass eine der Töchter Kopfschmerzen hatte. Ihn informieren, die weitere Vorgehensweise würden sie dann abstimmen. Aber er müsse doch einen Plan haben. Gut, der wäre die Tochter in einem vertraulichen Gespräch zu überzeugen, still und heimlich sich den Chip aus ihrem Kopf operieren zu lassen. Das wäre keine große Sache und müsse von ihrer Familie nicht bemerkt werden. Und sie bräuchten nur einen einzigen Chip als Beweis und, um ihn genauer untersuchen zu können.

 

So richtig überzeugt habe keiner der Kollegen ausgesehen, meint Betty, nachdem die Konferenz beendet ist. Sei auch eine seltsame Geschichte. Ob sie mit dem Fall allein zurechtkommen würde, will einer der LKA-Beamten wissen und bietet seine Hilfe an. Kurzes Überlegen, ja, Unterstützung könnten sie gebrauchen. Er sei Stephan Evers, Leiter LKA Hamburg und der Kollege neben ihm, Hauptkommissar Hein Lüders, der sie unterstützen wird, ein zweiter Kollege käme noch hinzu. Mal schauen, wo sie für die Kollegen nützlich sein können.

„Schön, dann Herr Lüders wäre es gut, wenn sie uns folgen würden, wir haben gleich eine kleine Lagebesprechung.“

Betty merkt Rainer die Anspannung an, war ein langer Tag und irgendwie spitzt sich die Ermittlung zu, wird dichter, kommen dem Täter näher, leider, ohne dass dieser greifbar wird. Er mache das jetzt, sie solle gut zuhören und ihn ergänzen, wo er etwas auslasse. Auf jeden Fall werde er die Sache in der Seilerei unter dem Teppich halten. Sie solle bitte daran denken.

Im Besprechungszimmer herrscht schon ungeduldige Unruhe, Oberstaatsanwalt Teurer auch anwesend. Rainer baut sich vor dem Fall-Wand auf, bittet um Ruhe und stellt die beiden Kollegen des LKA vor, die gegebenenfalls in den Ermittlungen unterstützend mitwirken. Er beginnt, den aktuellen Stand der Ermittlungen zu erläutern. Das Phantombild Jimmy I, des vermutlichen Täters, trifft nur für die Zeit bei der SecTec zu, seine ehemaligen Kollegen hätten dessen damaliges Aussehen bestätigt. Eine mögliche weitere Tätigkeit bei einer IT-Firma habe sich dagegen noch nicht bestätigt, man sei aber dort dabei die Personalakten der letzten Jahre durchzugehen. Der Name Jimmy Speitel, den er bei der SecTec nutzte, sei falsch, ebenso wie sein Aussehen. Ein Zeuge aus der TU habe im Phantombild Jimmy III einen Lukas erkannt, leider sei der Nachname unbekannt. Eine gewisse Übereinstimmung in den äußeren Merkmalen zwischen der Beschreibung des Zeugen und einem Mitarbeiter der SecTec lässt vermuten, dass wir es mit ein und derselben Person zu tun haben. Dies bedeute, der Täter sei mit zwei, möglicherweise gar mit drei Identitäten unterwegs. Derzeit prüft Tillmann alle in der TU-Datei gefundenen Lukase, besonders einen, der Informatik und Mathematik studiere.

„So weit dies, die genaue Beschreibung des vermuteten Täters erstellen wir gleich. Er geht euch danach zu. Nach wie vor gilt, Phantombilder und Beschreibung nur für den Ermittlungszweck zu nutzen, sie dürfen nicht öffentlich werden.“

„Warum nicht öffentlich? Wäre es nicht ratsam, gerade jetzt, die Öffentlichkeit einzuschalten. Wie sonst wollen Sie den Täter ausfindig machen?“

„Dies können wir immer noch tun, Herr Oberstaatsanwalt. Noch gilt die These, dass der Mord an der Familie Koci ein Racheakt aus dem Milieu war. In diesem Glauben sollten wir den Täter lassen. Er ahnt nicht, dass wir uns ihm näher. Wüsste er es, würde er sich mit Sicherheit absetzen.“

„Aber dem könnten wir doch vorbeugen, Flughäfen, Bahnhöfe, Grenzen überwachen. Er könnte weiter morden, wenn er sich sicher fühlt. Wir müssen ihn aufscheuchen. Das führt zu Fehlern.“

Rainer schaut auf die neben ihm sitzende Betty herab, die ihren Kopf leicht schüttelt.

„Nein, ich halte das nicht für eine gute Idee. Aber natürlich haben sie recht mit der Annahme, der Täter könnte ein weiteres Mal zuschlagen. Deshalb haben wir mögliche Opferfamilien zusammengestellt, die wir uns derzeit näher betrachten. Kollegen aus sechs Städten ermitteln in dieser Richtung.“

„Und“, schaltet sich Betty dazwischen, „der Täter braucht für seine Vorhaben Zeit. Vier bis fünf Wochen, schätze ich. Seine letzte Tat liegt drei Tage zurück, also steht kein kurzfristiges Morden zu befürchten.“

Kurzes Getuschel zwischen dem Oberstaatsanwalt und Hansen, dann ein, „gut dann machen Sie vorerst weiter, wie Sie es für richtig halten. Sie sollten aber parallel alles für eine Veröffentlichung vorbereiten, um sie dann schnellstmöglich umzusetzen.“

 

Wie sehe es mit den Ermittlungen zu dem Tod von Professor Helfrich aus, möchte Rainer wissen. Da Valerie nicht anwesend ist, bittet er Petra, den Stand ihrer Ermittlungen mitzuteilen. Petra berichtet im Sitzen.

„Die Witwe von Professor Helfrich war überrascht erfreut, dass die Polizei endlich aufgewacht ist. Sie begrüßt, dass die Polizei dem Tod ihres Mannes genauer untersucht, denn sie habe nie so recht an den Herztod ihres Mannes geglaubt. Ihr Mann sei fit gewesen, nie Probleme mit dem Herz oder der Durchblutung gehabt und vor allem, nie allein mit dem Boot hinausgefahren. Das Boot habe mindestens zwei Personen Besatzung benötigt, es sei denn, er habe nicht vorgehabt zu segeln, und das habe er immer getan. Auch sei er nur rausgefahren, wenn entsprechender Wind angekündigt war. Ich habe die Ehefrau gefragt, ob ihr Mann denn die Absicht hatte, an dem Tag mit dem Boot hinauszufahren. Daran konnte sie sich nicht erinnern, wobei sie meinte, in ihrer Ehe hätte jeder das gemacht, was er wollte, ohne viel zu sagen und mitunter hätten sie sich auch nicht gesehen, wenn der eine dies oder das tat. Aber, wenn sie es sich recht bedenke, er hatte andere Kleider an, nicht die, die er für einen Törn anzog….“

„…Wer ermittelte in dem Fall?“ hakt Rainer ein.

„Die Kollegen aus Eckernförde. Von Ermittlungen kann aber nicht die Rede sein. Der Fall schien eindeutig. Keinerlei Verletzungen, keine Kampfspuren, niemand außer der Leiche an Bord, nichts, so dass die Kollegen dem Gerichtsmediziner glaubten, der plötzlichen Herztod festgestellt hat. Eine Obduktion ist deshalb nicht durchgeführt worden.“

„Wie wurde er gefunden?“

„Von einem Marineboot, dass in dem Gewässer Übungen abgehalten hatte, fiel das Boot auf. Der Kapitän hatte durch den Fernstecher den auf Deck liegenden Mann entdeckt und dachte an einen Notfall. Ein an Bord befindlicher Marinearzt stellte den Tod des Professors fest. Das Boot von Professor Helfrich wurde dann von den Seenotrettern in den Hafen Eckernförde geschleppt.“

„Waren die Segel gesetzt?“ fragt Betty.

Petra blättert in den Papieren vor sich, findet aber nicht, was sie sucht. Könne sie nicht sagen, der Bericht hat dazu nichts vermerkt. Gut, sie nehme an, wären die Segel gesetzt gewesen, hätte das Boot ja Fahrt nehmen müssen, da es aber anscheinend vor sich hindümpelte, waren keine Segel gesetzt, und das heißt, Helfrich hatte etwas getan, was er nie zuvor getan hat, Segeln ohne zu segeln.

„Und das heißt?“ will der Oberstaatsanwalt von Betty wissen.

„Erstens hatte er nicht die übliche Kleidung für einen Segeltörn an und zweitens das Segeln ohne segeln. Das passt nicht zusammen. Was, wenn der Professor gezwungen wurde, das Boot zu besteigen. Sein Tod geplant war. Unser Lukas oder Jimmy hat sich im Namen des Professors das Praktikum bei der SecTec erschlichen, hätte der Professor das herausgefunden, wäre Lukas Jimmy aufgeflogen. Das heißt, wir müssen herausfinden, welches Druckmittel der, ich sage mögliche, Täter hatte, um den Professor auf das Boot zu bekommen. Und die andere Frage ist, wie kam er vom Boot. Habt ihr in Bootsverleihen nachgefragt, ob es zu der fraglichen Zeit Ausleihen gab?“

„Haben wir, ja, aber keinen Treffer.“

„Wie weit draußen war das Segelboot des Professors?“

„Zwischen vier und fünf Kilometer.“

„Jemand eine Ahnung, ob ein an Land Schwimmen möglich ist? Ich meine, möglich ja, aber lassen es die Strömungsverhältnisse zu?“

Allgemeines Schulterzucken, anscheinend alles keine Dauerschwimmer.

„Nehmen wir an, unser Täter hat den Professor gezwungen mit ihm raus auf die See zu fahren, hat ihn betäubt, die Atemwege verschlossen, der Professor erstickt, keinerlei Spuren körperlicher Gewalt zu sehen. Er verlässt das Boot schwimmt zurück an Land. Ist das vorstellbar?“

„Nachdem, was wir bisher über den Täter wissen, ja, vorstellbar. Nur, also, das Motiv. Ich finde dies ist zu dünn. Einen Mord begehen, um nicht aufzufliegen? Was wäre passiert, wenn. Er wäre aus der Firma geflogen. Und? Wo, bitte ist da der Grund für einen Mord?“

Na ja, da ist was dran, grübelt Betty. Sie denke, der Typ steckte mitten in den Vorbereitungen für das, was er vorhatte, und die SecTec sei der wohl wichtigste Bestandteil seiner Überlegungen gewesen. Er brauchte die Kundendaten und den Zugang zu der Firmen-IT. Die Gefahr, dass der Professor bei der SecTec anfragen würde, sei sehr real gewesen, also habe er, sobald er sein Praktikum antrat, handeln müssen.

„Gut, dann sollten wir in diese Richtung weiter ermitteln.“

Herr Evers meldet sich, wenn sie dem zustimmen, könnte Herr Lüders hierbei unterstützen. Gerne, meint Betty.

 

Dann sei da noch die Sache mit außergewöhnlichen Todesfällen in der Vergangenheit offen. Wer habe dies recherchiert, fragt Rainer. Anfangs habe dies Valerie verfolgt, dann habe sie ihm die Aufgabe übertragen, meldet sich Thorsten. Und? Irgendwelche Erkenntnisse?

Er habe sich alle Todesfälle, sei es durch ein Verbrechen, sei es durch Verkehrsunfälle oder sonstige Unfälle angesehen. Nichts, was zu der gestellten Frage passen würde, bis auf eine Ausnahme. Ein tragischer Verkehrsunfall vor acht Jahren.

Auf der B5 zwischen Meldorf und Heide sei eine Frau, Heike Preuß, damals 27 Jahre, mit ihrer Tochter, Lene Preuß damals 3 Jahre, bei einem Autounfall gestorben. Ein Frontalzusammenstoß. Es bestand der Verdacht auf ein illegales Autorennen. Ein Ferrari, gefahren von einem Achtzehnjährigen, prallte bei einem Überholvorgang frontal mit dem Kleinwagen von Frau Preuß zusammen. Der Ferrarifahrer, ein Paolo Sandieri….Moment hakt Herr Herr Evers ein, ob das etwa der Sohn von Gino Sandieri gewesen sei. Thorsten muss, wie zuvor Petra, in seinen Unterlagen nachschauen, ja, genau, dessen Vater heißt Gino Sandieri.

„Du kennst den Mann?“ fragt Hansen.

„Und ob. Sandieri ist Hotelier, hat drei Hotels an der Nordseeküste, in den drei seiner Restaurants untergebracht sind. Er hat insgesamt sechs Restaurants. Er stand in dringendem Verdacht der Geldwäsche. Wir haben zunächst wegen Betruges ermittelt und als der Verdacht der Geldwäsche und des Steuerbetruges offensichtlich wurde, haben wir den Fall an die Kollegen der Wirtschaftskriminalität abgegeben. Sie konnten ihm außer Steuerhinterziehung aber nichts nachweisen. Er hatte Top-Anwälte.“

„Genau wie der Ferrarifahrer. Er wurde nur leicht verletzt, wurde ambulant behandelt und blieb auf freiem Fuß. Nach über einem Jahr kam es zu einem Prozess, an dessen Ende der Unfallfahrer zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt wurde, wegen fahrlässiger Körperverletzung. Jens Preuß, der Ehemann und Vater, legt Berufung ein, er wollte, dass die Staatsanwaltschaft auf Mord oder fahrlässige Tötung plädiert, scheitert aber mit der Berufung, dank eines eigens aus Berlin eingeflogenen Anwaltes der Gegenseite. Sechs Wochen nach dem Prozess verschwindet Paolo Sandieri, der Fahrer des Ferrari spurlos und ist seitdem verschwunden. Der Vater des Jungen hat die Entführung nicht angezeigt, ebenso wenig eine Vermisstenanzeige gestellt. Die Freundin des Jungen hat Wochen später das Ganze ins Rollen gebracht.

Auf Jens Preuß fiel sofort der Verdacht, den Sohn entführt zu haben. Ihm konnte aber nichts nachgewiesen werden. Nach zwei Tagen in Untersuchungshaft, zurück in seiner Wohnung, nimmt er sich das Leben. Ja so weit bisher. Da der Verdächtige Tod ist, habe ich die Sache nicht weiterverfolgt.“

In Betty brodelt es, Gedanken rasen durch ihren Kopf. Ist das der Anfang der Geschichte?

„Thorsten, hast du Informationen über die Familie eingeholt, die Eltern, Geschwister der getöteten Frau, Eltern und Geschwister des Ehemannes? Über die Familie Sandieri. Wer hat zu der Entführung ermittelt? Wie ist der Stand?“

„Äh, nein. Wie gesagt, ich habe die Sache nicht weiterverfolgt.“

„Wo liegt die vollständige Liste mit den möglichen Opferfamilien?“ will Betty wissen.

Fragende Blicke, Petra springt auf geht rüber in das Büro, sucht an einem Arbeitsplatz in den Papieren, holt ein paar Blätter heraus, geht zurück.

„Du willst sicher wissen, ob Sandieri auf der Liste steht?“

Betty lächelt nickend mit Kopf: „So ist es.“

„Ja, Sandieri ist auf der Liste, allerdings mit zwei Söhnen, keine Töchter.“

Also auch er Kunde der SecTec.

An Thorsten gewendet: „Würdest du bitte versuchen, die beiden Familienverhältnisse zu klären, ebenso die Wohnorte. Auch von Sandieri brauchen wir die Adresse. Gleich!“

„Gleich?“

„Gleich, ja, gleich heißt gleich.“

Thorsten schaut verwundert auf Rainer, der reagiert und fragt ihn, worauf er denn warte, also steht er auf und eilt zu seinem Computer. Evers meldet sich wieder zu Wort. Er gehe davon aus, dass sie gleich das weitere Vorgehen mit diesem Unfalldelikt besprechen werden, da wäre er gerne dabei, da Sandieri sozusagen ein alter Bekannter sei. Gerne, meint Rainer und fragt, ob jemand noch Redebedarf oder Fragen habe. Dann werden Herr Evers, Betty und Sören uns über die nächsten Schritte abstimmen und Thorsten natürlich. Er bittet den Oberstaatsanwalt zu bleiben, im Falle sie einen Durchsuchungsbeschluss benötigen würden, dem Rest dankt er, sie sollen mit dem weitermachen, an dem sie dran sind.

 

Kurze Pause, ordnet Rainer an. Der Oberstaatsanwalt kommt auf Betty zu, reicht ihr seine Hand, sie hätten ja noch nicht persönlich das Vergnügen miteinander gehabt, wohl habe er schon viel von ihr gehört. Der Kollege Travens aus Lübeck habe in hohen Tönen von ihr gesprochen und ihm nahegelegt, er solle ihr vollkommen vertrauen. Das allerdings falle ihm bei der Sachlage schwer, da noch so viele Sachverhalte in der Schwebe seien. Ein wenig Vertrauen genüge schon, es müsste nicht vollkommen sein und ja, wir haben viele Fäden in der Hand, leider noch lose Fäden, aber sie habe es im Gefühl, dass in den nächsten Stunden einige Fäden zusammenfinden werden. Ob sie denn glaube, diese Unfallsache sei entscheidend. Ja, sei sie. Sie vermute, dass hier der Ursprung, das Tatmotiv stecke.

Thorsten kommt zurück, rot im Gesicht, aufgeregt.

„Also, Frau Preuß, das Unfallopfer, ist eine geborene Johannsen und sie hat einen Bruder, Lukas Johannsen…“

Stille, augenblickliche Stille im Raum. Das muss sacken.

„Super Thorsten, gibt es weitere Details?“ Durch Betty schießt das Adrenalin.

„Ja. Er war Berufssoldat, wurde als Fernmeldetechniker ausgebildet und leitete eine Aufklärereinheit in Stade, kündigte vor vier Jahren, trennte sich von seiner Frau. Wohnort unbekannt.“

„Und die Eltern?“

„Wohnen in Heide, Burgstraße 21.“

„Die Frau?“

„Muss ich noch recherchieren.“

„Gut finde so viel heraus, möglichst auch zur Familie des Ehemannes des Unfallopfers. Auch zu den Umständen von dessen Tod. Ach, und sehe zu, die Fallakte von den Kollegen in Heide zu bekommen. Alles, was du findest, sofort an Rainer auf das Handy schicken. Klar?“

„Klar.“

Betty schaut zu Rainer, fragt: „Heute noch?“ Heute noch, nickt Rainer.

„Wartet,“ stoppt Hansen, “Frau Sundberg sollten wir jetzt aus den Ermittlungen nehmen. Es wird heiß. Und Frau Sundberg ist keine Ermittlerin, zudem unbewaffnet…“

„…Sören, dass wir so weit sind, verdanken wir ausschließlich Bettys Scharfsinn. Sie jetzt, die letzten Meter, stehen zu lassen, halt ich für unklug und unfair. Und ihren Scharfsinn brauchen wir auch auf der Zielgerade noch. Wir haben ihn noch nicht.“

Hansen atmet durch, tut sich schwer, muss eine Entscheidung gegen Rainer treffen, findet die Lösung darin, dass Rainer eine bewaffnete Verstärkung zu den anstehenden Ermittlungen mitnimmt und bei Gefahr sofort die SEK anfordert. Keine Alleingänge. Ob er sich darauf verlassen könne. Klar, meint Rainer.

Betty hat dem Ganzen nebenstehend zugehört. Klar, sie versteht die Besorgnis von Hansen und sie weiß selbst, dass es nun durchaus gefährlich werden kann, weiß aber auch, dass Rainer sie nicht einer Gefahr aussetzen würde und überhaupt, jetzt, wo es aufregend wird, nur zuschauen. Nein, nicht mit ihr.

 

Ihr Smartphone gibt Lebenszeichen von sich, zunächst schaut sie nur flüchtig auf das Display. Unterdrückte Nummer (?). Oh, Koci, den hat sie fast vergessen, nimmt schnell an, kurzes Geraune, sie solle vor das Gebäude kommen. Klack. Vor das Gebäude? Er steht vor dem Gebäude? Hm, scheint wichtig zu sein. Sie schaut auf ihre Armbanduhr, kurz nach 20:00 Uhr. Bis sie in Heide sind ist es nach 21:00 Uhr. Macht das Sinn? Nein.

„Wir sollten es für heute gut sein lassen. Die alten Leute werden nicht gerade amüsiert sein, wenn wir auftauchen und da ist noch Sandieri, mit dem wir sogar vorher reden sollten. Hat Thorsten schon dessen Adresse herausgefunden?“

„Muss ich ihn fragen. Ja, wir sollten die Gespräche ausgeruht und nicht unter Zeitdruck führen, uns läuft niemand davon, na ja, vielleicht doch. Ich kläre den Durchsuchungsbeschluss mit dem Oberstaatsanwalt ab, lasse Thorsten einen Gesprächstermin mit Sandieri vereinbaren. Die Eltern suchen wir unangekündigt auf, ebenso die Exfrau von diesem Lukas.“

Betty nickt das Gesagte ab, dann sei es Zeit für ihren Abzug. Rainer fragt, ob er sie fahren solle, nein, sei nicht nötig, aber morgen früh, könne er sie wieder abholen. Damit rafft Betty ihre Sachen zusammen und verlässt den Raum, steigt die Treppen hinab, geht vor die Tür, schaut nach links, schaut nach rechts, weiter vorne, rechterseits, blinken Autolichter auf, auf die Betty nun zugeht.

Auf der Rückbank eines großen Audi sitzt Koci, der Fahrer hält ihr die Tür auf, sie steigt ein, Koci wünscht einen schönen Abend. „Langer Tag, was?“

„Ja.“

„Wird noch länger. Patoni will mit Ihnen rede. Heute noch.“

„Wie reden?“

„Wir fahre jetzt nach Hannover. Er wartet.“

Er klopft auf den Fahrersitz, in dem der Türhalter Platz genommen hat, zum Zeichen, dass es losgeht. Der startet den Wagen und der Audi saust los. Der Italiener in Leipzig wolle nicht reden, habe nichts zu sagen. Patoni habe vom Tod der Familie Koci gelesen, er habe verstanden, was dieser Tod bedeute, vielleicht sei er deshalb zu dem Gespräch bereit. Kaum auf der Autobahn rast der Fahrer, stur auf der Überholspur bleibend, Hannover entgegen. Wie weit sie gekommen seien, fragt Koci. Sie kämen dem Täter immer näher, sie glaube, morgen würden sie den entscheidenden Durchbruch schaffen. Gut, seufzt Koci.

Eine kleine Weile herrscht Schweigen, dann beginnt Koci zu erzählen. Er sei in Tale in Albanien geboren, seien arme Leute gewesen, seine Eltern lebten vom Fischfang vor der Küste und den Ziegen, Aufgabe der Mutter. Er sei noch ein Kind gewesen als eines Abends zwei Kerle an die Tür ihrer Hütte geklopft hätten. Zwei Italiener. Sie fragten, ob wir etwas Geld verdienen wollten, wogegen mein Vater nichts einzuwenden hatte. Sie bräuchten einen Raum, um dort Waren zu deponieren. Sein Vater habe den Ziegenstall angeboten. Schnell wusste sein Vater, dass die beiden Italiener Schmuggler waren, die ihre Ware ein paar Hundert Meter entfernt am Strand anlandeten. Sobald Ware angekommen war, sollte mein Vater eine gelbe Flagge setzen, so dass die, die die Ware weiterleiteten, sie finden können.

Alkohol und Zigaretten sowie Medikamente landeten im Ziegenstall. Irgendwann kamen Drogen dazu und die Italiener fragten, ob mein Vater sich trauen würde, die Drogen unter die Leute zu bringen. Wir wurden reich, durften dies aber nicht zeigen, um nicht aufzufallen. So wurde mein Vater Drogenhändler und ich lernte von ihm. Dies alles ging gut, sein Vater habe den richtigen Leuten Geld zugesteckt, bis sich die Welt veränderte, den Kommunisten folgten andere, die aber genauer hinschauten. Deshalb beschloss mein Vater in den Kosovo, damals noch Teil von Serbien, zu ziehen. Verwandte übernahmen es, die Drogen und Schmuggelwaren einzulagern und nach Prizpren, wo wir danach lebten, zu bringen. Wenige Jahre später brach der Krieg aus. Er sei mit seiner Frau geflüchtet, zunächst nach Österreich, dann weiter nach Deutschland, nach Hamburg. Geld habe er gehabt, sich ein Restaurant gekauft. Kaum da, kam der Bruder nach, ein Cousin und noch ein Cousin, ein Onkel und mit ihnen das Geschäft, von dem er loskommen wollte. Aber die Familie lasse nicht zu, dass jemand sie verlässt.

„Verstehn Sie, was ich Ihne sage? Ich bin mit die Verbeche aufgewachse, nie losgewordn. Mein Sohn, Adnan, musst ich zwinge. Er wollte normales Lebe. Geht nich, die Familie ist stärker.“

 

Warum erzählt ihr der Alte seine Geschichte, sie scheint ihn zu belasten, vor allem, dass er seinem Sohn keine Wahl gelassen hat, letztlich mit an seinem Tod schuld ist? Ein Koci lässt sich nicht erpressen. Falsches Ehrgefühl. Er kämpft mit sich und seiner Schuld.

„Sie machen sich Vorwürfe, Ihren Sohn nicht unterstützt zu haben. War er denn bereit, zu zahlen? Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass er auf einem Konto Geld zusammengezogen hatte. Ihm fehlten noch fünfhunderttausend Euro…“

„…Ich weiß. War mein Fehler. Jetzt ist zu spät, zu sage, hätt ich besser gemacht.“

Anfangs habe Adnan die Erpressung für eine schlechten Scherz gehalten, mit den stetig ansteigenden Schmerzen bei Luana habe Adnan aber begriffen, dass es ernst sei. Er wollte mit Luana zu einem Arzt, aber kaum gesagt, habe der Entführer sich gemeldet und gedroht, dass sie ihr Leben riskieren, wenn sie dies tun.

Er habe sie abgehört, habe mitgehört, was im Haus gesprochen wurde, sei jederzeit über jeden Schritt der Familie informiert gewesen. Sie gehe davon aus, dass sein Sohn etwas Unbedachtes sagte, was den Täter zwang, schnell zu handeln, so sei es auch in Lübeck bei der Familie Weidtmann gewesen. Kein Trost, aber der Täter sei jederzeit Herr der Lage gewesen.

„Warum tötet er alle? Warum Anisa? Warum Seija?“

„Das kann nur der Täter selbst sagen. Wir wissen es nicht. Wir können nur vermuten. Aber die Antwort auf Ihre Fragen, werden wir hoffentlich in den nächsten Tagen herausfinden.“

„Sie klinge zuversichtlich?“

„Ja, tue ich.“

Unvermittelt will Koci wissen, wie sie zur Polizei gekommen sei, also erzählt Betty ihren unentschlossenen Lebensweg, dem erst Professor Giede Richtung gab. Zu der Erzählung zählt auch ihr Fall in Lübeck, mit den acht nicht auffindbaren Frauenleichen, den Koci kennt, ihn interessiert verfolgt habe. Das sei sie gewesen, meint er erstaunt. Ja, bis zu dem Schlag auf den Kopf. Und der Täter sei seines Wissens abgetaucht. Möglich, sie würden aber davon ausgehen, dass er sich selbst getötet habe und seine Leiche, wie die der Frauen unauffindbar gemacht habe. Der Täter könne also nicht der sein, der seinen Sohn und seine Familie ermordet habe. Nein, dies sei sehr sicher.

 

Sie erreichen Hannover, verlassen bei Garbsen die Autobahn und erreichen schon bald danach das Ristorante „La Strada“ in Garbsen. Kommt ihr irgendwie bekannt vor, der Name des Restaurants. Koci geht vorweg, sein Fahrer bleibt im Auto zurück. Das Restaurant nur noch dünn besetzt. Aus dem hinteren Bereich des Restaurants kommt ihnen ein elegant gekleideter Endvierziger entgegen, der zunächst Koci begrüßt, ihn herzlich drückt, danach erst Betty, die er mit erstauntem Blick anschaut. Gleich nach Eintritt fallen Betty alle die Fotos auf, auch ein paar Plakate, Filmplakate und Standfotos, richtig, La Strada ist ein Film, ein alter Film, an den sich Betty vage erinnert, weil Anthony Quinn die Hauptrolle spielte, einen grobschlächtigen Menschen darstellte, ein Fall von häuslicher, von körperlicher Gewalt. Das ist aber auch alles, was ihr an Erinnerung hochkommt. Doch, der Name, den Quinn verkörperte war Zampano, der zum sprechenden Namen wurde.

„Da komme ich her?“ sagt Herr Patoni.

Versteht Betty nicht gleich, fragender Blick.

„Von der Straße. Da bin ich aufgewachsen und groß geworden und habe dort alles gelernt, das Überleben und das Leben. Immer an meinem Geburtstag schaue ich mir den Film an und sage mir, nein, du bist nicht wie dieser Zampano und das ist gut so.“

Er lächelt Betty an, „Pieri Patoni.“

„Bettina Sundberg.“

„Setzen wir uns. Habt ihr Hunger? Sadri eine schöne Pizza?“

„Ein wenig Pizzabrot und Tunke, Ajola. Das genügt.“

„Und Sie?“

„Wenn es keine Umstände macht, dann eine schöne warme Minestrone.“

„Kein Problem.“

Patoni winkt den Kellner bei, gibt die Bestellung auf, lässt noch eine Flasche Rotwein und eine Flasche Wasser kommen. Sadri habe ihm die Sache mit seiner Familie erzählt und auch von ihr, dass sie nicht von der Polizei sei, aber in die Ermittlungen eingebunden sei. Warum er, warum die Familie Koci, das habe er erst verstanden, als ihm Sadri dies erklärt habe. Ja, er habe die Sache damals nicht angezeigt, wollte weder mit der Polizei zu tun haben noch zum Gespött unter den Kollegen werden, die Geschichte einfach vergessen, das Geld abschreiben. Sadri habe ihn geduldig überzeugt, mit ihr, nur mit ihr, zu reden. Soll er berichten oder sie ihm Fragen stellen? Er solle erzählen, von der Kontaktaufnahme durch den Täter bis zur Geldübergabe. Zuvor habe sie aber doch eine Frage: War er mit seiner Tochter nach der Geldübergabe bei einem Arzt. Nein, die Schmerzen hätten doch aufgehört.

„Aufgehört ja, aber die Ursache des Schmerzes befindet sich immer noch im Kopf ihrer Tochter. Es ist ein winzig kleiner Chip, den der Täter aktivieren und so die Schmerzen auslösen konnte. Diesen Chip müssen Sie dringend entfernen lassen, da er jederzeit wieder aktiviert werden kann. Es ist nur ein kleiner Eingriff, aber notwendig. Der Chip ist ein Beweisstück. Wenn Sie sich zur Entfernung entschließen, nehmen Sie bitte die Operation mit einer Videokamera auf, für den Chip gebe ich Ihnen einen Spurensicherungsbeutel. Den Chip hole ich dann hier ab. Außer mir wird niemand von der Aktion wissen, genauso wie von unserem heutigen Gespräch. Versprochen.“

Ungläubig schaut Patoni drein, die Lippen festgeschlossen, die Augen verschmälert.

„Ein Chip? Der die Schmerzen verursachte? Wie geht das?“

„Wie genau es funktionierte, können wir erst sagen, wenn wir den Chip analysiert haben. Vermutlich wurde er über Schallwellen aktiviert, die die pulsierenden Schmerzen auslösten. Der Täter war technisch perfekt ausgestattet. Wir denken da an so etwas wie einen Überwachungswagen, von dem aus er agiert hat. Nichts bewiesen bisher, nur Vermutung.“

„Wahnsinn. Sadri sagte schon, Sie seien keine normale Polizistin. Ich vertraue ihm, ich vertraue Ihnen.“

 

Als der erste Anruf kam, dachte er zunächst, da würde ihn jemand auf den Arm nehmen. Er verlangte drei Millionen Euro in bar, räumte mir sieben Tage Zeit ein, die Schmerzen meiner Tochter würden jeden Tag etwas stärker werden. Als Probe, was sie erwarten würde, ließ er sie die Schmerzen spüren. Marci weinte vor Schmerz. Erst da begriff ich, wie ernst der Kerl es meinte. Sylvia, meine Frau, bestand darauf, sofort zu unserem Hausarzt zu fahren, worauf sein Handy klingelte, und eine Stimme sagte, ich solle nicht tun, was meine Frau soeben gesagt habe. Das sei ein ziemlicher Schock für ihn gewesen. In dem Moment wusste er, das der Kerl sie fest im Visier hatte, was Betty gerade mit ihren Aussagen bestätigt habe. Es gab jetzt nur noch eines, das Geld zu organisieren. Drei Millionen habe er natürlich nicht einfach so herumliegen. Die Übergabe sollte Samstag erfolgen. Ich bekam am Samstagmorgen Koordinaten auf mein Handy, die sollte ich in mein Navigationssystem eingeben. Diese Angaben änderte er noch zweimal, bis ich in der Nähe von Stutthof auf einer kleinen Parkfläche vor der Leine stand. Ich sollte aussteigen. Die Anweisung war, die drei Millionen in drei Taschen zu je einer Million zu verstauen. Ich wartete, dann näherte sich ein leichtes Brummen. Drei Drohnen. Ich sollte die Taschen einhakten.

„Drohnen? Können Sie die beschreiben?“

„Das waren keine Spielzeugdrohnen. Sie hatten mehrere Rotoren. Ich schätze, die hatten mehr als einen Meter Durchmesser, vielleicht auch mehr. Aber darauf habe ich nicht geachtet, war viel zu überrascht, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich dachte, das funktioniert nie und nimmer, aber die Drohnen schafften mein Geld über die Leine auf die andere Seite, keine Chance, dem Typen nachzusetzen, keine Brücke, keine Fähre. Ich bin nicht allein gekommen. Ich und meine Leute konnten den Drohnen nur ohnmächtig staunend nachschauen.“

 

Es wundert Betty nicht, wie durchdacht die Aktion ablief, nötigt ihr aber dennoch Respekt ein. Der Typ ist sowas von abgebrüht. Der Duft der Minestrone erreicht sie, bevor der Teller vor ihr steht. Noch sehr heiß, muss sie noch kurze Zeit warten, während Koci sein Pizzabrot eintunkt und genüsslich isst.

„Die Aktion fand vermutlich im Dezember statt. Schauen Sie sich dieses Phantombild an. Erinnern Sie sich, diesen Typen schon einmal gesehen zu haben?“

Koci ist sofort elektrisiert, starrt das Bild an, Patoni schüttelt mit dem Kopf, nein, sage ihm nichts. Ob er sich an die Firma SecTec erinnere, die das Sicherheitssystem für sein Haus installiert habe, müsste im November letzten Jahres gewesen sein. Einer der Monteure vielleicht?

Nein, er habe nur mit einem der SecTec-Leute gesprochen, der, der ihm die Anlage erklärt habe und der habe gänzlich anders ausgesehen.

„Er nannte sich damals Jimmy Speitel. Sein Aussehen hat sich mittlerweile verändert, ebenso sein Name.“

Da kommt Betty ein Gedanke: „Herr Koci, Sie kennen doch bestimmt jemand in Hamburg oder der näheren Umgebung von Hamburg, der ausgezeichnete Papiere erstellen kann. Diesen Jimmy Speitel gibt es nicht mehr. Er hat einen oder auch weitere Namen und dafür braucht er Papiere. Wer könnte ihm diese ausgestellt haben?“

Augenblicklich erkennt Betty, dass sie einen Fehler begangen hat. Koci hat nun einen Namen, ein Bild im Kopf und ein Anhaltspunkt, wie er die Identität des Täters aufdecken könnte. Mist, zu spät. Koci hat nicht die Mittel der Polizei, wohl aber andere. Nicht mehr zu ändern.

Sie stimmt sich mit Patoni ab, tauschen ihre Handynummern aus. Patoni fragt, ob es eine Chance gebe, sein Geld wiederzusehen. Sie erklärt ihm, dass der Täter zunächst Bargeld brauchte, um seine weiteren Aktionen zu finanzieren. Vermutlich sei er der Letzte gewesen, der bar bezahlt habe, danach seien die Gelder zu überweisen gewesen und durch ein Geflecht von Banken geflossen, irgendwo gelandet. Und bis die Ermittlungen bis dorthin gelangt seien, dürfte auf dem Konto kein Cent mehr liegen. Also, die Chancen stünden denkbar schlecht.

Bevor sie losfahren, besucht Betty die Toilette. Sie bedankt sich bei Herrn Patoni und verabschiedet sich.

 

Auf der Rückfahrt spricht Betty nochmals die Sache mit dem Fälscher an und schärft Koci ein, nichts zu unternehmen, was ihre Ermittlungen gefährden könnte. Er verstehe schon, er werde nichts unternehmen und sich darauf verlassen, dass sie den Kerl schnappen würde. Der Täter sei sehr clever, sie befürchte, dass er, sobald er merke, dass sie ihm auf der Spur sind, das Weite suchen würde. Und dies müsse sie verhindern. Koci sprach während der Fahrt wieder von seiner Vergangenheit, seiner Familie, zog Parallelen zu Bettys Mordfall, meinte, dies sei ein ganz anderes Kaliber von Verbrechen. Er habe noch nie einen Menschen getötet oder töten lassen. Softes Verbrechen, lächelte ihn Betty fragend an. Ja, so ähnlich. Ob er schon darüber nachgedacht habe, wie viele derjenigen, die seine Drogen nahmen durch diese gestorben seien. Nein, er wüsste keinen Einzigen. Seine Kunden seien aus der besten Gesellschaft, die wüssten, wie sie mit den Drogen umzugehen haben. Gut, Verbrechen kann man sich schönreden, sind aber dennoch schwere Verbrechen. Aber, nicht ihr Thema.

Der Fahrer fährt ohne weitere Anweisung direkt vor Betty Haus vor, was diese wortlos, aber sehr überrascht, zur Kenntnis nimmt. Er werde sich umhören bezüglich des Passfälschers. Es sei ein angenehmer Abend gewesen. Sie seien doch ein gutes Team. Sind wir, sagt Betty lachend und wünscht eine gute Nacht.

Die Uhr zeigt kurz nach Mitternacht an, sie ist müde, gedankenleer, gute Bedingungen für einen erholsamen Schlaf. Hatte Koci sie ausgespäht? Woher wusste er, wo sie wohnt? Von den beiden Trotteln, die sie nicht erst in der Universität beobachtet hatten? Egal, von Koci geht keine Gefahr aus. Doch, sein Mienenspiel hatte sich erhellt, nicht mehr so verbissen, wie bei ihrer ersten Begegnung. Er tat ihr fast leid, der arme, zum Verbrechen gezwungene alternde Mann. Sie schmunzelt vor sich hin, setzt sich, im Wohnzimmer angekommen, auf der Couch ab, legt Tasche und Mantel neben sich ab und lässt den Fall, der sich immer deutlicher darstellt, an sich vorbeiziehen. Trotz allem, ein Racheakt, aber ganz anderer Art, wie die ersten Überlegungen nahelegten. Eine Rache, die unvermutet zu einer Geldquelle wurde und zu einer dauerhaften Aufgabe.

Wie er wohl auf die Familien gekommen ist, die der Justiz immer wieder entwischten? Lässt sich dies auch googeln? Wahrscheinlich. Patoni war anscheinend das erste oder zweite Opfer, kurz nachdem Speitel die SecTec verlassen hatte. Ein halbes Jahr Zeit, die Familien auszuwählen. Eine komplexe Geistesleistung, die Speitel vollbracht hat. Sie wälzt Gedanken, denkt an Morgen, das Gespräch mit den Eltern, die hoffentlich wissen, wo sich ihr Sohn versteckt. Der Besuch wird ihn aufschrecken. Lässt sich das umgehen? Sie sollten zunächst mit der Ex-Frau reden, zu der dürfte der Kontakt nicht mehr bestehen, zu den Eltern wohl eher. Und davor diesen Sandieri. Nur um zu erfahren, ob er tatsächlich das erste Opfer ist, der Anfang von allem.

So sitzt sie, trotz aller Müdigkeit, noch gut eine Stunde vor sich hinbrütend auf der Couch, bevor sie sich endlich aufrafft, sich bettfertig zu machen, den Wecker zu stellen, um nicht Rainers Kommen zu verpennen.

Das Ziel ist nie ein Ort, sondern eine neue Art, die Dinge zu sehen. (Henry Miller)

Kurz nach 09:00 Uhr fährt Rainer vor Bettys Haus vor. Thorsten als Beifahrer. Sie, noch nicht ganz fertig, winkt sie herein, sie kommen, sie weist ihnen einen Stuhl in der Küche an, fragt, ob sie schon gefrühstückt hätten, ja, nicken beide. Es sei spät geworden, gestern Abend, sie sei noch in Hannover gewesen, mit Koci, bei Patoni und beginnt, Rainer und Thorsten den Verlauf des Gespräches zu berichten.

„Du sollst doch keine Alleingänge machen. Das sind Schwerverbrecher, die vor nichts zurückschrecken.“

„Rede nicht so einen Quatsch. Schwerverbrecher? Da gibt es ganz andere Kaliber, die du so nennen kannst. Patoni ist ein netter Italiener, ein bisschen kriminell, mehr aber auch nicht und Koci, ein griesgrämiger Opa, der zum Verbrecher erzogen wurde, nichts anderes gelernt hat. Ich weiß schon, wann ich mich in Gefahr begebe. Na ja, zugegeben, nicht immer. Also keine Sorge um mich.“

Einen Kaffee lehnen weder Rainer noch Thorsten ab. Betty räumt das Geschirr in die Spüle, putzt sich schnell die Zähne, nochmals Wasser lassen und es kann losgehen. Zuerst Sandieri, wo der wohne, in St. Peter-Ording, meldet sich Thorsten, der sich auf dem Rücksitz eingerichtet hat. Passt, auf dem Rückweg dann Heide und Meldorf. Sind wir angekündigt?“

„Nein, nirgends. Ich dachte, wir tauchen spontan auf, auch auf die Gefahr hin, niemand anzutreffen.“

„Gut, übrigens, dir ist sicher auch klar, dass unser Lukas, sobald wir seine Eltern verlassen, gewarnt ist. Ab dem Moment kennt er nur noch Plan B, uns entwischen. Wir sollten Vorsorge treffen, die Kollegen vom LKA mit der Überwachung der Flughäfen, Bahnhöfe und Grenzen betrauen, die kennen sich besser damit aus als wir und haben vor allem die Kapazitäten.“

Rainer zückt sein Handy, dass er noch nicht an die Freisprechanlage angedockt hat, wählt eine Nummer, Evers, teilt ihm mit, wie ihre Planung für heute sei und bittet um die Überwachung, Grundlage das Phantombild Jimmy III. Sie hoffen heute noch, besseres und aktuelleres Bildmaterial über Lukas zu bekommen, er maile es ihm dann sofort zu. Ob er einen Durchsuchungsbeschluss für die elterliche Wohnung dabeihabe, erfragt Betty. Claro. Na, dann auf. Rainer startet den Wagen.

„Die Nummer mit den Drohnen, geht das denn? Kann einer allein drei Drohnen synchron steuern?“ fragt Rainer.

Gehe schon, da der Typ ja anscheinend IT-Spezialist sei, dürfte er kein Problem gehabt haben, mittels eines Programmes die drei Drohnen synchron zu schalten, meint Thorsten, sei findig der Kerl. Keine Sympathie mit dem Täter entwickeln, setzt die Durchschlagskraft herab, wendet Rainer ein.

„Das der Typ nicht blöd ist, haben wir zur Genüge festgestellt. Ich hoffe, wir sind einen Tick schlauer als er. Obwohl…“

„Was obwohl? Was ist da wieder in deinem Kopf unterwegs?“

„Ich weiß nicht. So ein Gefühl, ein beunruhigendes Gefühl.“

„Oh Betty, wenn du Gefühle hast, dann droht uns etwas.“

Gekicher von Thorsten, Grinsen bei Rainer und Nachdenklichkeit bei Betty.

Thorsten stellt vor, was er recherchiert hat, über Lukas Johannsen. Tadelloser Führungsoffizier, der eine Ausbildung zum Fernmeldetechniker absolviert habe, zunächst stellvertretender Leiter, sei nach zwei Jahren zum Leiter einer Aufklärungseinheit in Stade befördert worden. Gut, das wussten sie bereits.

„Hm, dann ist klar, woher sein technisches Wissen kommt. Und wahrscheinlich hat er sich sogar in dieser Zeit mit dem Material eingedeckt, das er für seine Zwecke benötigte. War das alles so geplant oder hat sich zufällig ergeben? Was meinst du?“

Betty, angesprochen, muss sich erst sortieren. Ja, die technischen Fertigkeiten habe er während seiner Dienstzeit erworben. Kein Zweifel. An der Hochschule würden andere Dinge gelehrt und dort sei er eh nur gewesen, um einen Weg zu finden, sich bei der SecTec einzuschleichen.

„Gut, Thorsten, was noch?“

Keinerlei Auffälligkeiten bis zum Tod seines Schwagers, danach plötzlich streitbar, gereizt, zornig, fällt ab und zu aus. Dann die Kündigung 2014. Das war drei Jahre nach dem Tod seiner Schwester und seiner Nichte und zwei Jahre nach dem Tod seines Schwagers, der zugleich sein bester Freund gewesen sei. Die beiden hatten in Heide zusammen die Schulbank gedrückt, von der Grundschule bis zum Abitur. Mit zweiundzwanzig hat er im Frühjahr 2011 seine langjährige Freundin Ann-Kathrin geheiratet. Die beiden hatten eine Wohnung in Stade. Nach seiner Kündigung bei der Bundeswehr zogen die beiden zunächst nach Heide, später dann nach Wolfersdorf, das sei bei Meldorf. 2015 vier Jahre nach dem Tod seiner Schwester, verließ Lukas die eheliche Wohnung und gilt seither als verschollen, nicht als vermisst. Die Ehe wurde nicht geschieden.

„Was bedeutet das, verschollen?“

„Nun, es hat ihn niemand als vermisst gemeldet. Weder die Eltern noch die Ehefrau.“

„Seltsam. Und seither keine Spur mehr von ihm?“

„Keine Spur.“

 

Betty dankt Thorsten und meint, ihn aufzuspüren, werde sehr schwer werden. Er habe sich ein Leben mit fremden Identitäten eingerichtet und spiele den Partisanen, wahrscheinlich mit einer guten Grundausbildung bei der Bundeswehr. Gibt es dazu Näheres, will sie wissen. Nein, da müssten sie in Stade auffahren und die Personalunterlagen einsehen. Was sie über die Eltern wissen sollten. Da gäbe es nichts zu wissen. Unbeschriebene Blätter.

„Was meinst du, wie packen wir Sandieri an.“

„Auf jeden Fall, fallen wir nicht zu dritt über ihn her. Da ich ja mittlerweile geübt bin im Umgang mit Schwerstverbrechern würde ich sagen, ich gehe allein oder du kommst mit, spielst den guten Polizisten und ich die gute Polizistin. Wir wollen etwas von ihm, was er uns nicht einfach geben wird.“

„Er hat übrigens die Entführung seines Sohnes nicht angezeigt,“ meldet sich Thorsten vom Rücksitz.

„Und wie kam die Entführung ans Licht?“

„Die Freundin vom Sohn wurde misstrauisch und hat nach einiger Zeit die Vermisstenanzeige gestellt.“

„Bei den Kollegen in Heide?“

„Nein. In St. Peter-Ording.“

„Und?“

„Nichts. Der Vater behauptete, sein Sohn sei zu den Großeltern nach, Moment bitte (Papiere rascheln) Fasano, das ist in Apulien, gereist, um sich von den Ereignissen der Vergangenheit zu erholen. Und damit endeten die Ermittlungen.“

„Hat Sandieri viele Ermittlungsverfahren am Hals gehabt?“

„Genau waren es zwei. Geldwäsche und Steuerbetrug. Es gab einen Anfangsverdacht von Menschenhandel. Er beschäftigte illegale Einwanderer in seinen Hotels. Zwei Razzien waren erfolglos.“

„Hm, heißt, er war gewarnt worden.“

„Möglich.“

Er werde also schwer zugänglich sein. „Gut, schaun’n wir mal, wie groß seine Sehnsucht ist, etwas über seinen vermissten Sohn zu erfahren.“

Von der B23 über die B5 und B202 erreichen sie St. Peter-Ording. Rainer steuert, geführt von der Navi-Dame, das Haus der Sandieri an. Ein schickes, neugebautes Haus, weiße Kalksandsteine, dunkelblaues Ziegeldach, einstöckig, große, breite Fenster, großer Garten, bestückt mit Büschen, kleinen Bäumen, Rasen. Etwas außerhalb von St. Peter-Ording, unweit zu den Dünen. Ein Millionenobjekt. Betty und Rainer steigen aus, suchen die Klingel, versteckt hinter einer Klappe, wie bei Weidtmann, finden sie die Tastatur. Betty drückt auf das Klingelzeichen, einmal, zweimal, wartet, nichts tut sich, kein Knacken der Sprechanlage, kein Summen, dass die Tür öffnen würde. Sie schauen sich an, was tun? Nochmaliges Klingeldrücken. Nichts. Sie wollen sich gerade zum Gehen wenden, da öffnet sich oben am Haus die Haustür, eine schwarz gekleidete ältere Frau schaut hinaus, auf sie und bewegt sich gemächlich in ihre Richtung. Sie sollte einen Rollator benutzen, denkt Betty, die Frau hat sichtlich Beschwerden mit ihren Hüften.

„Desiderate. Nessuno è in casa.“

„Vorremmo parlare con suo figlio. Dove possiamo trovarlo?“

„È in albergo.“

„Quale albergo?“

„Non so se.“

„Puoi chiamarlo?“

„No.“

„Grazie.“

„Du sprichst italienisch? Wunder über Wunder.“

„Kein Wunder. Italienisch war in der Schule meine zweite Fremdsprache neben Englisch. Nicht perfekt, aber für den Hausgebrauch langt es, nur etwas eingerostet. Und die Dame, anscheinend die Großmutter aus Apulien, sagt, ihr Sohn sei im Hotel, weiß aber nicht welches und anrufen kann sie ihn auch nicht. Wir müssen also seine drei Hotels abfahren. Thorsten hat hoffentlich die Daten. Die hat er, auch die Rufnummern, ruft das erste Hotel an, die „Strandperle“, fragt ob Herr Sandieri im Haus sei, ja, sei er. Dann nix wie hin, fordert Betty Rainer auf.

 

Das Hotel direkt hinter den Dünen, einer dieser Betonbauten, hässlich, viel Glas, quadratisch, praktisch, gut. Sie parken auf dem Hotelparkplatz, betreten das Hotel, Betty geht zur Rezeption und fragt, wo sie Herrn Sandieri finden könnten. Sie müsse sie anmelden, nein, müsse sie nicht, winkt Rainer herbei, der sich ausweist. Thorsten solle warten, darauf achten, dass die junge Dame nicht doch noch Herrn Sandieri in Kenntnis setzt. Er weile in seinem Büro auf der vierten Etage, also Aufzug nehmen, hochfahren, das Zimmer suchen, anklopfen, eintreten. Ein großes Büro, breite Fensterfront, Blick auf die Nordsee, Couch, Sessel, runder Tisch, Schreibtisch, dahinter, ein erstaunt aufblickender Herr Sandieri.

„Was? Was soll das? Sie können nicht einfach hier…“

„Doch können wir. Oberkommissar Drewes, Bettina Sundberg von der Kripo Hamburg. Ja, wir entschuldigen uns für das unaufgeforderte und nicht angekündigte Eindringen, ging leider nicht anders. Aber keine Angst, wir wollen Ihnen nichts Böses, nur Ihre Mithilfe in einem Fall, dessen Ursprung wir in dem Unfall Ihres Sohnes vermuten.“

Sprachlos, ungläubig auf die beiden vor ihm blickend, sitzt Sandieri in seinem Bürostuhl, hebt nun die Hände, legt sie auf dem Tisch ab. Betty fährt fort: „Sie haben von den Morden an der Familie Koci in Hamburg gehört? (Bedächtiges Kopfnicken bei Sandieri). Wir sind dabei, dieses und andere Verbrechen aufzuklären, ausgeführt von einem gewieften Täter. Herr Koci ist nicht auf die Forderung der Erpresser eingegangen, Sie schon. Wie viel hat er Ihnen für die Freilassung Ihres Sohnes abverlangt?“

„Was reden Sie da? Erpressung?...“

„…Herr Sandieri, wir wissen, dass Sie erpresst wurden. Machen Sie es sich und uns nicht so schwer. Reden Sie. Ich versichere Ihnen, nichts von dem, was wir hier sprechen, dringt in die Öffentlichkeit. Die Polizei hat Sie schon oft belästigt. Ich weiß. Aber wir wollen Sie nicht belästigen, ihnen eher helfen, das Schicksal Ihres Sohnes endlich aufzuklären.“

Sandieri wirkt perplex, unschlüssig, mit sich ringend, was er tun solle.

„Es waren eineinhalb Millionen Euro.“

„Verpackt in drei Taschen, abgeholt von drei Drohnen. Richtig?“

 

Er starrt Betty an, ungläubig, was er gehört hat.

„Woher?“

„Sie sind der erste, der von dem Täter erpresst wurde, aber nicht der Letzte. Für seine ersten zwei oder drei Aktionen, nutzte er die Drohnen, später dann wurden die Gelder überwiesen. Die Abholung erfolgte sicher an einem Fluss. Welchem?“

„Der Eider. Ich glaube Stapel hieß der Ort auf der anderen Seite. Er hat mich mit Koordinaten dorthin gelotst und dann die Drohnen geschickt.“

„Das Sicherheitssystem Ihrer Villa stammt von der Firma SecTec. Wann wurde es installiert?“

„Was hat das damit zu tun?“

„Wann?“

„Der erste Kontakt entstand, wenn ich mich recht besinne, 2008. Der Zugang zur Hof- und der Haustür. Vor drei Jahren habe ich das Grundstück mit Kameras versehen lassen.“

Betty erklärt Sandieri nun, wie der Täter vorgeht, wie er seine Opfer auswählt und das vermutlich der Tod von Frau Preuß und ihrer Tochter durch den Unfall, den sein Sohn verursacht habe, das Motiv aller Taten ist. Durch ihn habe er Rache an dem Unfallverursacher geübt und gelernt, dass bestimmte Personengruppen selbst bei Erpressung nicht mit der Polizei kooperieren und vor allem, dass Rache ein Geschäft sein kann. Ob er nie den Verdacht hatte, der Ehemann der Unfallopfer könnte der Entführer seines Sohnes sein. Natürlich, dass sei sein erster Gedanke gewesen. Er wollte ihn sogar aufsuchen, erfuhr, dass er in Untersuchungshaft sei, was ihn noch mehr überzeugt habe. Und kurze Zeit danach dessen Selbstmord. Er habe dies als Schuldeingeständnis aufgefasst. Mit dem Tod dieses Mannes sei auch sein Sohn gestorben, dessen sei er sich sicher gewesen.

„Versprechen kann ich es Ihnen nicht, aber wir versuchen alles, um herauszufinden, was Ihrem Sohn zugestoßen ist. Und vor allem, versuchen Sie nicht etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Der Täter hat bisher acht Menschen ermordet, einen weiteren Mord wird ihn nicht schrecken.“

 

Sie verlassen das Hotel. Rainer winkt Thorsten bei, meint, schade, dass er nicht dabei gewesen sei, er hätte eine ungewöhnliche Verhörtechnik kennenlernen können. Die Bettynische Methode. Geradeaus und voll ins Ziel. In Rainers Jackentasche brummt das Handy, nimmt an, Valerie am anderen Ende. Sie hätten drei Rückmeldungen der Kollegen aus Berlin, Frankfurt und Mannheim, es deute alles auf Kopfschmerzen, Migräne, Übelkeit hin. Die Tochter von Celic sei zwei Wochen nicht zum Unterricht erschienen. Gut, dass weitere Vorgehen würden sie heute Nachmittag besprechen.

„So, und jetzt müssen wir nur noch Lukas fassen.“

„Nichts einfacher als das,“ spottet Betty

Wenn er von den dreien jeweils drei Millionen erpresst hat, dann dürfte er jetzt auf gut zehn Millionen Euro sitzen, genügend für einen mondänen Ruhestand. Sei es nicht besser, erst einmal zur Ex-Frau zu fahren, diese dürfte nichts zu verbergen haben, wäre also gesprächiger als die Eltern, die ihren Sohn in Schutz nehmen werden. Machen sie so. Erneutes Handysummen. Dieses Mal Bettys Teil, nimmt an, kurzes Hallo, Koci, sie solle sich Alexander Grube merken, Pfandhaus Grube in Altona. Er sei der Beste. Der zweite Name sei Hassan Touissi, Shisha-Bar in der Paul-Dessau-Straße. Die Tipps nicht von ihm. Klar, sie sei verschwiegen.

„Hast du schon einmal von Alexander Grube gehört?“

„Da klingelt nichts bei mir. Nein, nie gehört.“

„Dann ist der Mann wirklich gut.“

„Erklärst du mir, von was du redest?“

„Grube ist ein Dokumentenfälscher. Möglich, dass unser Lukas seine Papiere bei ihm beschafft hat. Ich werde ihn heute Nachmittag aufsuchen. Allein. Thorsten kannst du Näheres über diesen Alexander Grube herausfinden. Hat ein Pfandhaus in Altona.“

„Nein Betty, du wirst nicht allein zu dem Typ gehen. Wenn ich ihn nicht kenne, dann will er auch nicht gekannt werden. Er wird seine Fassade nicht lüften.“

„Wird er, glaube mir.“

Thorsten scrollt sich durch offizielle und nicht-offizielle Seiten, teilt mit, dass gegen Grube nichts vorliege und selbst auf der Home-Page des Pfandhauses nicht auftauche.

„Sag ich doch, ist ein ganz zugeknöpfter Typ. Der wird alles abstreiten, egal, was du ihm vorlegst.“

Stimmt. Betty wird ihm die Liste der Opferfamilien vorlegen und ihm klar machen, dass diese Familien ein großes Interesse daran haben, die Identität des Täters zu erfahren und sicher alles tun werden, dies herauszufinden, sobald sie wüssten, wen sie fragen müssen. Grube wird sofort verstehen. Riskant. Ja. Wird aber wirken und Rainer muss das vorerst nicht wissen.

Frau Johannsen wohnt in Wolfersdorf bei Meldorf, arbeitet in einem Einkaufsmarkt in Meldorf an der Kasse, Rainer entschließt sich gleich zu dem Einkaufsmarkt zu fahren und dort nach Frau Johannsen zu fragen.

 

Großer Parkplatz, halb belegt, Rainer parkt den Wagen nahe dem Eingang, sie steigen aus, betreten den Markt, schlendern durch die Reihen auf der Suche nach jemand, den sie ansprechen können. Ein Mann mit Schild an der Brust, Herr Anecker, stürmt auf sie zu, will vorbei, doch Rainer bremst ihn, will wissen, wo er die Filialleitung finden könne. Finden? Sie stehe vor ihr. Zücken des Dienstausweises, sie müssten Frau Johannsen sprechen, nichts Schlimmes, nur wegen einer Zeugenaussage. Herr Anecker, misstrauische Miene, wird Frau Johannsen kommen lassen. Wo sie sich in Ruhe unterhalten könnten. Draußen, gleich neben dem Eingang ist ein Bäckerladen, dort könnten sie sitzen. Er solle Frau Johannsen bitte dorthin schicken.

Passende Gelegenheit für einen Kaffee und ein belegtes Brötchen (Woche der belegten Brötchen, denkt Betty). Einige Tische besetzt, in der hinteren Ecke, genau der richtige Platz, lassen sie sich nieder, Rainer Ausschau haltend, wer vereinzelt und suchend auf den Bäckerladen zukommt. Betty derweil bestellt drei Kaffee, für sich ein Brötchen, Thorsten ein Croissant, Rainer, wie üblich, zwei belegte Brötchen. Sie kommt beladen zum Tisch zurück, Frau Johannsen bereits sitzend und mit Rainer redend.

Das sei Frau Sundberg, eine Kollegin, die ein paar Fragen an sie hätte. Wieso ich, denkt Betty, nimmt aber die Aufforderung an. Die beiden Herren beginnen, das von Betty Gebrachte zu verköstigen. Ach so.

„Nun, Frau Johannsen, möglicherweise können Sie sich denken, weshalb wir hier sind. Wir suchen Ihren Ex-Mann, Lukas Johannsen. Einerseits in Person andererseits wollen wir mehr über ihn erfahren, um sein Profil zu vervollständigen und dafür hoffen wir auf Ihre Mitarbeit. Ihr Ex-Mann ist ein Verdächtigter in einem Mord- und Erpressungsfall. Erste Frage, wissen Sie, wo sich Ihr Ex-Mann derzeit aufhält?“

 

Frau Johannsen wirkt betreten, eingeschüchtert, unsicher, denkt nach.

„Nein, das weiß ich nicht. Ich habe versucht, über seine Eltern herauszufinden wo er ist, darum gebeten, mich zu kontaktieren. Ich habe nichts von ihm gehört, seitdem er ausgezogen ist. Die Scheidungspapiere liegen seit einem halben Jahr bei mir zu Hause zur Unterschrift bereit. Ich möchte das Haus verkaufen. Ich will weg von hier, zurück nach Stade. Aber ohne seine Unterschrift unter dem Kaufvertrag geht es nicht. Ich wäre froh zu wissen, wo er ist.“

„Nicht die geringste Ahnung, wo er sein könnte? Wir vermuten ihn hier irgendwo in der Nähe seiner alten Heimat oder eventuell in Hamburg. Gibt es jemand, bei dem er untergetaucht sein könnte?“

„Sie meinen eine andere Frau?“

„Nein. Er hat sie nicht wegen einer anderen Frau verlassen. Ich meine einen Freund, ein Ort, zu dem er sich hingezogen fühlt.“

„Nein. Nicht das ich wüsste.“

„Wie kam es zu der Trennung? Sie waren sicher sehr überrascht.“

„Ja, das war ich. Die Trennung kam plötzlich, aber nicht unerwartet. Der Unfalltod seiner Schwester und seiner Nichte war ein tiefer Einschnitt in Lukas Leben. Er hatte eine tiefe Bindung an seine Schwester und Lene, sein Patenkind liebte er über alles…Wir haben keine Kinder…Mit dem Tag veränderte er sich, zog sich zurück, redete immer weniger mit mir, saß, wenn er zu Hause war, in seinem Zimmer, ging nicht mehr aus. Ich dachte der Unfall habe ihn depressiv werden lassen. Ich bettelte ihn an, ärztliche Hilfe anzunehmen. An seinem Dienststandort gab es spezielle Kräfte, die Rückkehrer aus Afghanistan und anderen Einsatzgebieten betreuten. Ich dachte, bei denen könnte er Hilfe finden. Aber er reagierte nicht auf mich. Dann folgte der Prozess und die Freisprechung, so nannte Lukas das Urteil, des Unfallverursachers. Lukas war voller Zorn, den er herausließ, mich anschrie, in seiner Einheit aneckte. Er musste eine Auszeit nehmen. Die wurde angeordnet. Er schloss sich in seinem Zimmer ein, verschwand manchmal ein oder gar mehrere Tage. Und seine Wortwahl änderte sich. Er schimpfte über Kanaken, seinen alles Kriminelle, nutzte Ausdrücke, die er nie zuvor geäußert hatte. Nachdem sich Jens das Leben nahm, dachte ich schon, jetzt dreht er komplett durch…“

„Sie sagten, er musste eine Auszeit nehmen und blieb mitunter mehrere Tage weg. Das war nach dem Prozess und vor dem Selbstmord von Herrn Preuß.“

„Ja, in der Zeit.“

 

Ob sie sich Gedanken darüber gemacht habe, dass es einen Zusammenhang gab, zwischen dem Verschwinden des Unfallverursachers und der Abwesenheit ihres Mannes. Nein, habe sie nicht. Von dessen Verschwinden habe sie erst viel später gehört. Er habe nicht durchgedreht, fährt sie in ihrer Erzählung fort, sondern sei zu seiner Einheit zurückgekehrt, habe seinen Dienst versehen, lebte aber nur noch abgeschottet von ihr in der Wohnung, redete nur das Notwendigste und sei von einer schmerzhaften Traurigkeit umgeben gewesen. Er habe ihr leidgetan, sie habe ihm aber nicht helfen können. Er wollte sich nicht helfen lassen. Eines Tages, es dürften drei Jahre nach dem Unfall gewesen sein, sagte er, sie würden umziehen, nach Wolfersdorf, er habe den Dienst quittiert. Sie seien in ein hübsches Haus gezogen, das er angeblich gemietet habe. Nein, gefreut habe sie sich nicht, habe sie nicht können. Eine solche Entscheidung, über ihren Kopf hinweg habe sie sehr geärgert. Durch Zufall habe sie später erfahren, dass er das Haus gekauft hatte. Sie habe es nicht verstanden. Woher sollte er so viel Geld haben? Sie habe ihn zur Rede gestellt. Seine Eltern hätten ihm das Geld gegeben.

Sie habe sich bei den Eltern bei einer Familienfeier bedankt. Lukas Mutter hätte verdutzt geschaut, aber lächelnd, keine Ursache gesagt. Da habe sie gewusst, dass sie gelogen habe.

„Wie war das Verhältnis zu seinen Eltern?“

„Lukas Vater fuhr zur See, war mitunter über ein Jahr nicht zu Hause. Seine Mutter war quasi alleinerziehend, das hat Bruder und Schwester, Mutter und die Kinder zusammengeschweißt. Wie soll ich sagen, eine herzliche Beziehung. Lukas Mutter hatte immer ihre schützende Hand über Lukas gehalten, hat alles durchgehen lassen. Die abrupte Trennung schob sie mir zu. Ich sei selbst daran schuld, dass mein Ehemann davongelaufen sei. Ich hätte ihn nicht gestützt, wie es sich für eine Ehefrau gehöre. Ich bin mir sicher, dass sie wussten, wohin Lukas gezogen ist.“

„Sie haben seither nichts mehr von ihm gehört?“

„Nein, kein Wort, weder gesprochen noch geschrieben.“

„Das heißt, auch wenn sie welche haben, Fotos von Lukas sind mindestens vier Jahre alt,“ hakt nun Rainer ein.

„Ich kam damals von der Arbeit, wollte an die Tür seines Zimmers klopfen, sie stand auf und das Zimmer war leergeräumt. Es war ein Schock für mich. Im Wohnzimmer fehlten Fotoalben oder Bilder, auf denen er abgebildet war, zumindest die neueren Aufnahmen. Und, was ich bis heute nicht verstehe, selbst auf meinem Handy waren alle Bilder von ihm verschwunden. Er hat sich aus meinem Leben gelöscht. Auf dem Couchtisch lag ein Zettel, darauf stand: Ich muss fort. Ich weiß nicht wie lange. Das Haus gehört dir. Es tut mir leid. Das war die ganze Erklärung.“

Sie schaut auf Betty, scheint zu überlegen: „Warum suchen Sie eigentlich Lukas?“

Sie müssten mit ihm reden, wegen eines Mordfalles in Hamburg, antwortet Rainer. Zufrieden mit der Antwort ist Frau Johannsen nicht, hakt aber nicht weiter nach. Betty glaubt, dass Frau Johannsen den Grund ihrer Suche kennt. Sie ist nicht auf den Kopf gefallen und kann sicher Kopfrechnen, auch wenn die Kasse, an der sie sitzt, dies nicht verlangt. Rainer bedankt sich für ihre Geduld und falls ihr noch etwas einfalle, diese Nummer anrufen, reicht ihr seine Visitenkarte.

„Ach, noch eines,“ setzt Betty nach, „Sie wollen ihr Haus verkaufen, darf ich fragen, zu welchem Preis.“

Kurzes zögern: „Der Immobilienmakler will es für vierhundertzwanzigtausend Euro anbieten.“

„Danke, Frau Johannsen.“

Die Frau steht auf, geht zurück zu ihrer Kasse, die drei Polizisten stehen ebenfalls auf und verlassen, Betty ihr Brötchen kauend, den Markt, hin zu ihrem Wagen. Betty fragt Thorsten, ob er die Adresse des Hauses der Frau Johannsen habe. Hatte er, klar. Was sie dort wolle, fragt Rainer. Ich möchte sehen, wie vierhundertzwanzigtausend Euro aussehen.

 

Ein paar Kilometer weiter, ein Neubaugebiet, also, ein älteres Neubaugebiet, lauter Einfamilienhäuser, nordisch geklinkert, kleiner Vorgarten, größerer Garten dahinter, Carport daneben. Vor dem Johannsen-Haus stoppt Rainer, sie steigen aus, betrachten, was vor ihnen steht. Ein schicker Bungalow, ebenerdig, typische rost-rötliche Klinker, braune Fensterläden, nostalgischer Look, hat sonst keiner hier, umzäunt, vor dem Haus eine Mauer, halben Meter hoch, auf dem ein weißer Holzlattenzaun angebracht ist. Macht alles einen gepflegten Eindruck, die männliche Abwesenheit nicht zu erkennen.

„Was meinst du, Rainer, würdest du dir Fragen stellen, wenn deine Frau dich von heute auf morgen in so ein Haus bitten würde?“

„Ja, es würde mich beunruhigen, nicht zu wissen, woher das Geld für das Haus stammt. Du glaubst, sie hat sich gefragt?“

„Nicht nur gefragt. Ich denke, sie wusste, woher das Geld kommt, nicht gleich, aber durch Nachdenken. Sie ist ja nicht auf den Kopf gefallen. Wahrscheinlich betrachtet sie das Haus als eine Art Entschädigung. Vielleicht schwingt auch Sympathie mit, ihr Mann, ihr Ex-Mann hat einen über den Tisch gezogen, der glaubte, alles käuflich regeln zu können. Jedenfalls weiß sie oder ahnt sie mehr, als sie uns gesagt hat. Allerdings, dass sie nicht weiß, wo ihr Lukas abgetaucht ist, glaube ich ihr schon. So, jetzt weiß ich, wie vierhundertzwanzigtausend Euro aussehen. Fahren wir zu den Eltern.“

„Sag mal, sie will das Haus verkaufen, ihr Ex-Mann will verschwinden. Könnte es sein, dass sie ihm folgt, mit ihm verschwinden will? Sollten wir sie überwachen lassen? Wie eine Frau, die vergrämt ist, weil ihr Mann sie hat sitzen lassen, hat sie nicht auf mich gewirkt.“

„Stimmt. Wir drehen den Spieß um. Wir können auch überwachen. Fall das Haus verkauft wird, können wir davon ausgehen, dass deine Vermutung zutrifft, denn sie müsste die Unterschrift von Lukas unter den Kaufvertrag bekommen haben.“

„Oder sie hat die Unterschrift gefälscht, oder längst vor sich liegen,“ meldet sich Thorsten vom Rücksitz.

„Also. Was nun?“

„Überwachen! Andererseits, wenn der Typ auf sechs Millionen verzichtet hat, sind die vierhunderttausend nur Peanuts. Nein, Rainer, die Frau nimmt dankend das Geld, sozusagen Schmerzensgeld.“

Rainer verständigt Thiele, dass sie nun zu dem Elternhaus in Heide fahren. Er könne für die Durchsuchung des Hauses anrücken, gab die Adresse durch. Über die B5 geht es nach Heide, in den Norden der Stadt, in ein gemischtes Wohngebiet, alt neben neu, die Häuser klein, aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts stammend, zwischendrin, die von der Folgegeneration gebauten Neuvarianten. Das einstöckige Haus der Johannsen, die ältere Version, schlecht gepflegt, verschmutzte Fassade, weißer, ehemals weißer Rauputz, kleine Fenster, Plissees verhüllen die Sicht nach innen. Vermoostes Dach. Der Garten verwildert, die Bäume und Sträucher kahl, verdorrte Blumen, oder war das Unkraut? schwer zu sagen. Krasser Gegensatz zu dem Haus, das die Ex-Frau bewohnt.

Rainer schärft Thorsten ein, die Augen offen zu halten, möglich, dass dieser Lukas da drinnen sitzt und abhaut, sobald sie eintreten, oder vielleicht sogar wild um sich schießt. Dann solle er sofort Verstärkung anrufen. Wenn die KTU auftaucht, dann könne er mit hereinkommen. Betty solle hinter ihm bleiben, erst aufschließen, wenn die Wohnung sauber sei.

„Rainer, unser Mann hat alles getan, um sich unsichtbar zu machen. Er wird keineswegs so blöd sein und sich im Haus seiner Eltern verkriechen. Mach dich locker. Wir reden gemütlich mit zwei älteren Herrschaften, mehr nicht.“

„Betty, Betty.“

Irgendwie hat das Haus etwas morbides, macht eher einen unbewohnten als bewohnten Eindruck. Sie steigen aus, das Hoftor offen, quietscht, hängt leicht ab, die Steinplatten, die zur Treppe führen, sind lose, drei Stufen, neben der Haustür der Klingelknopf, das Namensschild kaum zu entziffern. Rainer drückt auf den Knopf, schon öffnet sich die Tür, leichtes Zucken bei Rainer, der ein so schnelles Öffnen nicht erwartet hat. Betty steht noch vor der Treppe, wartet ab. In der Tür ein groß gewachsener Mann in grauen, lappigen Jogginghosen (Lagerfeld wäre bei seinem Anblick entsetzt geflüchtet, denkt Betty), kariertem Hemd, in die Hose gestopft, abweisender, kalter Gesichtsausdruck, unrasiertes Gesicht, fast kahlköpfig der Mann, der keineswegs erstaunt wirkt. Weder grüßt, noch fragt er, wer sie seien, was sie wünschen, tritt einfach zur Seite.

 

Rainer blickt verwundert zurück auf Betty, wendet sich wieder dem Mann zu: „Wir würden gerne Ihren Sohn Lukas sprechen.“

Keine Regung, bis auf die Augen, die schmaler werden.

„Lukas? Wohnt nicht mehr hier.“

Rainer zückt den Durchsuchungsbeschluss, hält ihn dem Mann entgegen: „Egal, wir müssen ihr Haus durchsuchen.“

Stumm, teilnahmslos blickend, rührt sich Herr Johannsen nicht vom Fleck. Rainer geht los, betritt an dem Mann vorbei den Flur, Betty folgt. Stimmen sind zu hören, verhaltene hochtönige Musik, der Rainer nachgeht, in das Wohnzimmer gelangt. Auf dem Sofa sitzt Frau Johannsen und starrt in den Fernseher, ohne einen Blick auf ihn zu werfen. Eine graue Baumwollhose an, ein bunter, dicker Pullover, die Haare gepflegt, sieht aus, als wäre sie gerade vom Friseur zurück. Das Gesicht gealtert, voller Falten, gefurcht durch die Schicksalsschläge, glaubt Rainer. Altersflecken, schmale, feingliedrige Finger, die aus den langen Pulloverärmeln ragen.

Herr Johannsen folgt, setzt sich neben seiner Frau ab, sagt zu ihr, die wollen Lukas sprechen. Was diese mit einem Hm kommentiert. Im Fernseher läuft irgendeine dieser Dauerserien. Betty bittet die Frau den Fernseher auszustellen, sie reagiert nicht, also schreitet Betty zur Tat, hebt die Fernbedienung auf, kurzes orientieren, drückt die Austaste und die Serie hat ein Ende.

Empörtes Aufschauen der Frau, leichter Zorn auf der Stirn, schmollende Lippen.

„Wie gesagt, wir suchen Ihren Sohn. Da er anscheinend nicht hier ist, die Frage: wo ist er?“

Keiner der beiden reagiert auf Rainers Frage.

„Wir können das Gespräch hier führen. Wenn Ihnen das lieber ist, können wir Sie in unser Präsidium bitten, wobei, Bitten stimmt so nicht, wir laden Sie vor.“

„Können Sie nicht.“

„Was können wir nicht.“

„Und einfach wegführen.“

„Doch, können wir. Schon einmal von Beugehaft gehört? Können wir auch. Behinderung unserer Ermittlungen, Mittäterschaft am achtfachen Mord…“

„…Mord? Lukas ist kein Mörder.“ Ein Aufschrei der Frau, die hasserfüllt Rainer anstiert.

„Oh doch, Frau Johannsen. Wir bezichtigen ihn des achtfachen Mordes, eventuell sogar einen weiteren Mord. Also keine Bagatellangelegenheit.“

„Unser Lukas ist kein Mörder. Er dient dem deutschen Staat.“

„Hat gedient. Hat ausgedient. Mordet nur noch. Sie wissen, wo er sich versteckt hält. Und sie werden es uns sagen.“

 

Betty verlässt das heruntergekommen wirkende Wohnzimmer, überlässt die beiden Alten Rainer, schaut sich in den anderen Räumen um. Unten noch die Küche, sauber, aufgeräumt, leer, leblos wirkend. In dieser Küche ist etwas falsch. Nur was? Sie geht weiter, Abstellraum, voller Gerümpel; Bad, Fliesen an der Wand, Repräsentanten des letzten Jahrhunderts, Kalkränder an den Wasserhähnen. Ein weiteres Zimmer, in dem eine uralte Nähmaschine steht, Kleider herumliegen, ein Stuhl, ein Tisch, ein Bügelbrett, Tapeten zum Fürchten an der Wand. Die Treppe hoch, abgelaufene Holzstufen, in den Ecken Staub angehäuft, geht sie zunächst in das Schlafzimmer, Betten gemacht, Bettbezüge, denen sie das tausendfache Waschen ansieht, links und rechts vom Doppelbett Nachschränkchen, ein Kleiderschrank, zwei Stühle.

Das folgende Zimmer eindeutig das der tödlich verunglückten Tochter. Puppen in Regalen, Kinder- und Jugendbücher. Der Kleiderschrank voller Kleidung. Ein schmales Bett, sauber bezogen, auf der Bettdecke eine große Puppe in buntem Kleid. Erinnerungsdekoration. Staubschichten auf den freien Flächen. An den Wänden Plakate, Popmusiker, Typen, die Betty nicht kennt, nie von ihnen gehört und Fotos, die Tochter, ein junger Mann, wahrscheinlich ihr Ehemann, damals noch ihr Freund, jedenfalls nicht ihr Bruder. Überhaupt, keine Fotos, die den Bruder zeigen, ein paar Lücken, deutlich die Rahmen der ehemals hängenden Fotos zu sehen. Betty betrachtet diese näher, noch nicht lange her, dass die Fotos entfernt wurden. Alles scheint geblieben zu sein, wie es damals war, nur die Fotos nicht. Hat er sie entfernt? Na ja, wer sonst?

 

Das nächste, fast gleich große, oder besser kleine, Zimmer, leer, also Bett, Schrank, Schreibtisch, Stuhl, Regal, alles leer, das Bett nicht bezogen, blanke Matratze, im Kleiderschrank keine Klamotten, kein Poster, kein Foto an der Wand. Das Zimmer von Lukas. Kein Staub auf dem Tisch, auf dem Regal. Er hat gereinigt, und zwar erst vor Kurzem. Thiele wird es schwer haben, hier drinnen DNA-Material zu finden. Eine Klappe an der Decke führt auf den Speicher, den Betty aber Thieles Leuten überlässt, ebenso den Keller, obwohl, der könnte vielleicht interessant sein, also Treppe hinunter, öffnet die Tür, sucht und findet den Lichtschalter, hört, wie die Frau flucht, schimpft. Darf die das? fragt, dem ein hartes Ja folgt.

Muffig, feucht der Keller, drei Räume, in einem lagern Lebensmittel, Kartoffeln, Dosen mit Suppe, Bohnen, Erbsen und Karotten, vielleicht ein Wochenvorrat, mehr nicht. Der zweite Kellerraum beherbergt eine Waschmaschine, ein Wäschegestell. Gefliester Boden, neuere graue Fliesen. Betty lässt ihre Augen über den Boden wandern. Hm, warum wurde dieser Raum gefliest und sonst nichts im Haus erneuert?

Der letzte, nein, vorletzte Raum scheint eine Werkstatt zu sein, gewesen zu sein. Leere herrscht in den Regalen, Werkzeuge hingen ordentlich aufgereiht auf einer Tafel, mit vielen Lücken, ein paar Kabel, Elektronikteile in Boxen verstaut. Hier hat er gebastelt. Gut, muss sich Thiele genau anschauen. Im letzten Raum die Heizung. Ölheizung, zwei Tanks, schlecht gesichert, erkennt selbst Betty, die eher Ahnungslose.

Sie steigt wieder hoch. Die beiden alten Leute seltsam steif auf der Couch sitzend. Betty fragt die Frau, ob sie ein aktuelles Foto ihres Sohnes habe.

„Nein.“

Aber ein Handy habe sie oder ihr Mann doch sicher.

„Nein.“

Wann sei ihr Sohn das letzte Mal hier gewesen? Habe er auch schon gefragt, sagt Rainer, aber die Herrschaften haben Erinnerungslücken. Er war vor Kurzem hier. Stimmts? Er hat sein Zimmer ausgeräumt, die Werkstatt geleert und alles, was an ihn erinnert, entfernt. Sie würden gleich durch die Nachbarschaft ziehen und sicher jemand finden, der gesehen hat, wie ihr Sohn hier seine Sachen verladen hat.

„Blödsinn. Lukas kann keiner gesehen haben. Er war nicht hier. Ist bei der Bundeswehr.“

„Er hat geheiratet. Sie waren bei der Hochzeit. Sie waren mit ihm beim Prozess. Und Sie wissen, was er getan hat. Ihr Sohn ist ein brutaler, gefühlloser Mörder, der zwei jungen Mädchen den Kopf abgeschlagen hat. Ihre Tochter wurde wenigsten als Ganzes begraben. Diese Mädchen wurden ohne Kopf beigesetzt, den Eltern nicht möglich, ihnen einen letzten Kuss auf die Stirn zu drücken. Ihr Sohn ist ein Bastard und Sie seine Eltern.“

Betty ist dabei laut geworden, allerdings in theatralischer Absicht, um dieses lethargische Paar aufzurütteln.

 

Die Frau dreht sich zu Betty, funkelt sie wild blickend an: „Er ist kein Mörder und wenn, diese Drecksäcke haben es verdient.“

„Sie haben es verdient? Die Drecksäcke? Woher wissen Sie, dass die Opfer Drecksäcke waren. Es waren ganz normale junge Mädchen.“

Herr Johannsen greift nach den Händen seiner Frau, will sie zurückhalten, weiter zu reden. Draußen lässt sich Türschlagen vernehmen, Thiele und seine Leute. Rufe zwei Streifenwagen, die sollen die beiden getrennt ins Präsidium verfrachten, dort könne er sie in Ruhe verhören, schlägt Betty vor. Thiele erscheint im Wohnzimmer, fragt, wo die Leiche liege, ein Oh entweicht Herrn Johannsen, der Frau zieht ein ängstlicher Gesichtsausdruck auf.

Die Leiche! Die Leiche des jungen Sandieri hier im Haus? Die Reaktion der Frau, lässt in Betty diese Vermutung aufsteigen. Eine Leiche im Keller? Der Klassiker? Die Fliesen? Liegt da eine Leiche unter den Fliesen? Sie fasst Thiele bei der Schulter, führt ihn in den Flur, sagt ihm, den Keller, besonders den Raum mit der Waschmaschine sollten sie genaustens untersuchen, möglicherweise sei hier vor sieben Jahren eine Leiche versteckt worden, unter den Fliesen. Was Thiele die Stirn runzeln lässt. Dann das obere, fast leere Zimmer. Sie glaube zwar nicht daran, aber sie hoffe, sie würden dort verwertbares Material finden. Getrampel und Unruhe im Haus, die Eltern werden abgeführt. Rainer meint, sie hätten ihre Arbeit getan, Zeit zum Rückzug. Ja, hier in der Hütte würden sie nur im Weg stehen. Sie müssten nur zurückkommen, sollte Thiele die Leiche finden.

„Welche Leiche?“

„Die von dem Unfallverursacher.“

„Nein, nicht dein Ernst. Wie kommst du darauf, dass er hier verbuddelt sein könnte.“

„Durch die Reaktion der Mutter als Thiele fragte, wo die Leiche sei.“

„Stimmt, die Alte wurde noch bleicher als sie eh schon war. Gut, dann warten wir noch. Thorsten googel, ob du ein Café in der Nähe findest.

 

Hier im Ort gäbe es kein Café, aber in Meldorf, also fahren sie dorthin, bestellen Kaffee, Betty Tee, die Herren eine Brotzeit, Betty einen Eiersalat mit Toastbrot, nicht das Gesündeste, aber einzige auf der kleinen Karte, das ihr zusagt. Rainers Handy summt, Thiele, der anruft, ob sie wirklich die Fliesen entfernen sollen. Welche Fliesen? Na die, unter denen Betty die Leiche vermute. Fragender Blick zu Betty, die nickt, weg damit.

Thorsten tippt, während sich Betty und Rainer über den momentan bekannten Sachverhalt unterhalten, auf seinem Tablet herum. Ein sieh an und ein Schmunzeln auf seinem Gesicht. „Dein Herr Grube stammt aus Dresden. Hat anscheinend eine Stasivergangenheit, aber es steht nichts Genaueres bei, was er getrieben hat.“

„Kann ich dir sagen. Er hat Papiere gefälscht, offiziell und inoffiziell.“

„Was? Woher weißt du das schon wieder?“ reagiert Rainer.

„Eine Stasi-Bezirksverwaltung hatte in der Regel immer eine Abteilung, die Pässe für Auslandseinsätze ihrer Mitarbeiter erstellte, Papiere fälschte, um Festnahmen zu rechtfertigen, für falsche Anschuldigungen und so weiter. Das war offiziell. Inoffiziell fertigte er Papiere an, für Oberst Dönsch, den später ermordeten Herrn Weidtmann. Mein Fall in Lübeck. Ausreiswillige mussten diese Papiere teuer bezahlen. Er fälschte auch Pässe für Leute, die rüber wollten. Kleiner Handel unter Genossen. Sicher bin ich nicht, dass Grube, tatsächlich der Partner von Dönsch war, die Wahrscheinlichkeit ist aber groß. Ich werde ihn fragen.“

„Und er antwortet dir bereitwillig. Einfach so, weil du Betty bist.“

„So oder so ähnlich, ja.“ sagt Betty mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

„Betty, Betty, was willst du nur in der Wissenschaft?“

„Wissen schaffen.“

Betty muss die Dönsch-Geschichte noch weiter ausführen. Die Zeit vergeht. Dann der Anruf von Thiele, sie sollen kommen.

„Thiele mal wieder kurz und schmerzlos. Das heißt, er hat etwas gefunden. Hoffentlich nicht den Hund oder die Katze.“

„Katze auf keinen Fall oder sind dir die Kanarienvögel entgangen, die eingepfercht in einem Käfig im Wohnzimmer standen.“

Die waren Betty gleich nach Eintritt in das Wohnzimmer aufgefallen, passten zu den beiden Alten, nur saßen die Vögel nicht freiwillig auf der Stange. Danach fahren wir aber endgültig zurück und dir fällt jetzt nichts mehr ein, was uns daran hindert, nörgelt Rainer. Betty klopft ihm auf die Schulter, die anderen Leichen hätten sie ja bereits gefunden, also keine Überraschungen mehr.

 

Thiele sitzt auf einem Stuhl in der Küche, wirkt irgendwie abgekämpft.

„Nun, Detlef, du hast uns von unserem Kaffeekränzchen weggerufen. War es so wichtig, uns zu stören?“

„Ihr hättet mir wenigstens einen Kaffee mitbringen können. Kommt mit.“

Sie gehen hinunter in den Keller, betreten den Raum, in dem die Fliesen den Boden bedeckt hatten, nun geschichtet auf der Seite stehen. Ein Loch in der Mitte des Raumes, drei in weißen Einwegoveralls steckende KTU’ler daneben. In dem Loch, deutlich zu sehen, Knochen, menschliche Knochen.

„Dürfte der junge Sandieri sein. Du brauchst sicher eine vergleichende DNA-Probe, besorgen wir dir, liegt noch heute Abend auf deinem Tisch,“ versichert Betty.

„Sonst habt ihr nichts gefunden?“ insistiert Rainer

„Was heißt, sonst nichts? Was sollten wir sonst noch finden?“

„Nun, zum Beispiel, zwei Schädel, von zwei jungen Damen.“

„Rainer,“ schaltet sich Betty ein, „der Junge liegt dort seit einigen Jahren. Die beiden Schädel wurden erst vor kurzem getrennt. Wie sollen die in den Keller kommen? Viel zu viel Aufwand. Da er eh blutige Arbeit verrichtete, dürfte er die Chips in den Badewannen entfernt und die Köpfe in der weiteren Umgebung der Tatorte entsorgt haben.“

„Hm, trotzdem, schaut euch weiter um Detlef. Und wir sollten einen Spürhund kommen lassen und ihn den Garten durchschnüffeln lassen. Das mit dem in der Umgebung entsorgen will mir nicht so recht in den Kopf. Dieses Haus ist nicht koscher, gut möglich, auf eine Überraschung zu stoßen.“

„Wenn du meinst. Veranlass es.“

Was Rainer sofort erledigt, sich mit Thiele abstimmt und schließlich meint, gut, dann also nochmals nach St. Peter-Ording. Unterwegs ruft Rainer Sandieri an, teilt ihm mit, dass sie eine Leiche gefunden hätten, von der sie glauben, dass es sich um seinen Sohn handele und zur Klärung der Identität der Leiche bräuchten sie dringend eine DNA-Probe. Ob sie zu seinem Haus fahren sollen. Ja, er fahre sofort dorthin.

 

„Du weißt, dass wir bisher keinen echten Beweis dafür haben, dass Lukas Johannsen unser Mörder ist, nur Indizien. Die sind aber so was von feingestrickt, da kann der Oberstaatsanwalt nur Anklage erheben. Oder, meinst du, er kneift? Halt dumm, dass Johannsen noch nicht in unserem Gewahrsam ist.“

„Ach Betty, diese Kleinigkeit kriegen wir auch noch geregelt.“

Schön wäre es, denkt Betty. Und noch ein Gedanke macht sich in ihr breit. Das Haus der Eltern, äußerlich heruntergekommen, hätte dringende Reparaturen nötig, aber nichts ist passiert, trotzdem der Sohn das Geld dafür hat, seiner Frau ein Haus kaufte. Wurden die Renovierungen nicht durchgeführt, weil der Sohn die Absicht hatte, seinen Eltern ein Leben an einem anderen Ort zu ermöglichen? Einem Leben an seiner Seite, irgendwo auf der Welt? Er lässt sie nachkommen! Also überwachen.

Sandieri erwartet sie vor seiner Villa, fragt, wo sie die Leiche gefunden hätten. Es tue ihnen leid, aber so lange nicht definitiv geklärt ist, wer der Tote ist, dürften sie ihm das nicht sagen. Was sie genau bräuchten, will er wissen. Haare, Hautschuppen, Speichel, Schweiß, Blutkörperchen, irgend so etwas. Sie wisse, dass es Jahre her ist, aber vielleicht seinen noch Erinnerungstücke an seinen Sohn vorhanden, ein Kamm, ein altes, vielleicht ungewaschenes T-Shirt. Gut, seine Frau habe Sachen aufgehoben. Sandieri wirkt aufgeregt, vielleicht erleichtert, endlich Klarheit zu erlangen über das Schicksal seines Sohnes, keine Distanziertheit mehr, wirkt er hilfsbereit, kooperativ, eilt in sein Haus, Betty mit sich ziehend, ruft seiner Frau, erklärt ihr, um was es geht, die bricht in Jammer und Tränen aus, ist so aufgeregt wie ihr Mann. Meine Güte, denkt Betty, hoffentlich ist es auch der Sohn, aber wer sonst, sollte im Keller liegen? Die Frau steigt die Treppe hoch, kommt zurück mit einem kleinen Kästchen in den Händen.

„Das ist alles, was mir von Paolo geblieben ist. Ich bekomme es zurück?“

„Versprochen. Sobald die Analyse abgeschlossen ist, bringen wir Ihnen Ihre Andenken zurück.“

Betty verabschiedet sich, sie werde sich sogleich melden, wenn sie Gewissheit habe. Rainer schärft sie ein, dass dieses Kästchen für Frau Sandieri ein Relikt sei, er solle es gut hüten, damit alles heil und vollständig zurückkomme. So und jetzt noch Grube.

Er hoffe, sie knacke den Typ, dann könnten sie endlich den Mörder zur Fahndung ausschreiben und ihn dingfest machen. Köhlerglaube, denkt Betty. Bevor sie losfahren, bittet Rainer Thorsten hinter das Steuer, er müsse einige Telefonate führen, setzt sich auf den Rücksitz, zückt sein Handy und informiert Hansen. Thorsten, zartes Alter, nutzt die Gelegenheit, sich auszuleben, die Verkehrsregeln nicht immer beachtend.

„Thorsten, wir haben keinen Einsatz vor uns. Geht es auch langsamer?“

„Geht, aber macht weniger Spaß.“

Von hinten meldet Rainer, dass die Eltern, kaum im Präsidium angekommen, von einem Anwalt aufgesucht wurden und der hätte sie fast herausgepaukt, was der Leichenfund nun verhindert habe.

„Wie kommt es, dass ein Anwalt so schnell eingeschaltet wurde? Sicher nicht von den Eltern. Das heißt, der Sohn ist noch im Land. Und woher weiß er, dass wir seine Eltern ins Präsidium verfrachtet haben? Rufe Thiele an, er soll nach einer versteckten Kamera oder Wanzen oder ähnliches suchen. Verstehst du? Die Eltern wussten, dass ihr Sohn mithört, so eingeschüchtert wie die waren, hat er denen eingeschärft, wie sie sich verhalten sollen.“

„Ich glaube eher, dass der Vater ein Handy hatte, das nicht ausgeschaltet war. Wir sollten ihn nachher oder sofort durchsuchen lassen,“ wendet Thorsten ein.

Rainer auf dem Rücksitz ruft, von Thorstens Einwand aufgerüttelt, nochmals bei Hansen an, er solle die beiden Alten durchsuchen lassen. Ob der Anwalt noch da sei. Schon weg. Scheiße, dann ist auch das Handy weg. Welches Handy? will Hansen wissen. Er solle mal raten, woher der Anwalt so schnell gewusst habe, dass die beiden Alten im Gewahrsam der Polizei sind.

 

In Hamburg zurück bittet Betty Thorsten ein Stück entfernt vom Pfandhaus zu parken. Rainer, inspiriert von Thorstens Handy Version, fordert Betty auf, ihn anzurufen und ihr Handy anzulassen, so dass sie mithören und im Notfall sofort eingreifen können. Macht sie, steigt aus dem Wagen und geht in Richtung des Pfandhauses. Pfandhaus und Fälscherwerkstatt, seltsame Kombination. Das Haus verklinkert, dunkle Backsteine, in dessen Erdgeschoss sich anscheinend das Geschäft befindet, hat zwei Stockwerke. Nein, das komplette Haus scheint von dem Pfandhaus genutzt zu werden. Keine Schaufenster, normaler Hauseingang, über der Tür eine Neonreklame auf dem Leihhaus steht. Sie drückt die Tür auf.

Sie kommt in einen größeren Raum, der irgendwie an einen Bankschalter vergangener Zeiten erinnert. Hinter dickem Glas eine kräftige Frau, die sie mit grimmigem Blick anschaut. Betty geht auf den Schalter zu, lächelt die Frau an, sagt, sie würde gerne Herrn Grube sprechen. In welcher Angelegenheit, will die Frau wissen. Sagen Sie ihm, Besuch aus Dresden sei da. Oben links und rechts unterhalb der Decke Kameras. Er wird sie sich auf seinem Monitor anschauen und sich fragen, wer die Frau aus Dresden ist. Neugier wird siegen, hofft Betty.

Die Frau hinter der Scheibe telefoniert. Sie solle warten, ruft sie Betty zu. Die Kunden scheinen derzeit rar zu sein, kein Kommen, kein Gehen. Hinter dem Schalter zeichnen sich Regale ab, auf den Kisten, vereinzelt auch unverpackte Dinge stehen. Ein Leihhaus als Unterschlupf. Darauf muss man erst einmal kommen. Dresden hat funktioniert. Nach gut einer viertel Stunde öffnet sich seitlich eine Tür, in der ein Mann erscheint, um die siebzig, vielleicht auch jünger, schwarzes Haar, Geheimratsecken, aber sonst volles Haar, Brille auf der Nase, dünne Bügel. Mittelgroß der Mann, Bauchansatz, dunkle Baumwollhose, blau-weiß längs gestreiftes Businesshemd, ohne Krawatte. Er betrachtet die gewichtige Person, sucht sie wahrscheinlich in seiner Vergangenheit, wo er sie nicht finden wird.

„Sie wünschen?“

„Moin, Herr Grube. Ich bin Bettina Sundberg. Sie kennen mich nicht, ich aber Sie. Ich bin Kriminalpsychologin, keine Polizistin, trotzdem polizeilich unterwegs. Nicht gegen Sie, aber wegen Ihnen. Um was es geht, können wir hier bereden oder an einem stillen Ort, über den Sie sicher verfügen.“

Grube wirkt irritiert, unschlüssig, was er mit der gewichtigen Dame anfangen soll.

„Sie kommen nicht aus Dresden?“

„Nein. Das tun Sie doch.“

Dabei lächelt ihn Betty vielsagend an. Gut, er will auf Nummer sicher gehen, drückt die Tür weiter auf, zum Zeichen, dass Betty ihm folgen soll. Was sie tut, hinter ihm herläuft, an Regalwänden entlang bis zum anderen Ende des Raumes, wo ein fensterloses unscheinbares, kleines Büro ist, in das Grube Betty bittet, zwei Stühle. Er nimmt Platz hinter dem Schreibtisch, auf dem zwei Monitore stehen. Nicht seine Werkstatt hier, hier dürfte er seine Kunden empfangen, den notwendigen Austausch mit ihnen führen.

„Nun? Dies ist der stille Ort.“

„Ja. Sieht so aus. Also, ich ermittle in einem Fall, den Sie kennen. Die Ermordung der Familie Koci und einer weiteren Familie, die Sie mit Sicherheit kennen. Aber hat alles nichts mit Ihnen zu tun, bis auf die Tatsache, dass der Tatverdächtige uns bekannt ist, aber derzeit unauffindbar ist. Wir wissen, wie er richtig heißt, nur nützt uns das wenig, da er eine neue Identität hat und wir nicht wissen, wie er sich aktuell nennt. Und diese Identität hat er sich bei Ihnen erkauft.“

„Was reden Sie da für eine wirres Zeug. Ich führe ein Leihhaus und verkaufe keine Identitäten.“

„Geben Sie sich keine Mühe, die ist vergeblich. Wie gesagt, ich weiß, wer Sie sind, für wen Sie einst in Dresden tätig waren und was Sie gemeinsam mit Ihrem Chef, Oberst Dönsch veranstaltet haben. Kerner war ihr direkter Vorgesetzter. Sie aber waren der Handwerker, der Künstler, der das anfertigte, was der Oberst wünschte. Aber das interessiert mich nicht, ist Schnee von gestern. Mich interessiert nur eines, wie heißt der Kerl heute?“

 

Sie legt ihm das Phantombild von Jimmy III vor. Grube betrachtet sich das Bild, schüttelt mit seinem Kopf: „Nein, nie gesehen.“

„Herr Grube, dieser Typ hat acht Menschen umgebracht, vielleicht sogar neun. Auf dieser Liste (hält sie ihm hin) stehen einige Personen, die viel Geld wegen dem Typ verloren haben, und, wie gesagt, ein paar davon ihr Leben. Schauen Sie sich die Liste genau an. Sie kennen sicher einige Namen oder haben von ihnen gehört. Wenn diese Leute wüssten, dass Sie es waren, der dem Typen neue Papiere erstellt hat, werden sie nicht stillsitzen. Die Leute im Milieu wissen, wer gute Papiere anfertigen kann. Sie verstehen?“

Grube versteht. Sein Gesichtsausdruck verfinstert sich, deutlich seine Verunsicherung durch nervöses Fingerklopfen, schnelle Mundbewegungen. Entweder er blockiert total oder er wird weich oder er hat er die Papiere nicht erstellt. Betty wartet ab. Nein, sie muss ihm beim Nachdenken helfen.

„Niemand muss erfahren, dass sie die Papiere angefertigt haben. Ich will nur den Namen wissen, mit dem der Typ jetzt herumläuft. Damit ist die Sache vom Tisch. Ohne Konsequenzen.“

Herr Grube spielt weiter mit seinen Fingern auf der Tischplatte, klopfen ohne Rhythmus, wälzt Gedanken, hoffentlich nicht die Falschen.

„Sicher ohne Konsequenzen?“

„Sicher.“

Er erhebt sich, geht zu einem kleinen Schrank hinter sich, öffnet ihn, darin verborgen ein Tresor, den er ebenfalls öffnet und eine USB-Stick herausholt, den Safe und den Schrank wieder schließt, zu seinem Computer geht und den Stick einsteckt. Er bedient die Tastatur. Auf dem Bildschirm erscheint ein Pass-Formular. Der Drucker startet seine Arbeit. Das Ergebnis reicht Grube Betty, die betrachtet den Ausdruck eines Ausweises auf den Namen Pedro Almades, venezolanischer Staatsbürger.

„Danke. Ist dies die einzige Identität oder hat er weitere Identitäten erhalten?“

„Nur den, eine andere hatte er schon.“

„Jimmy Speitel?“

„Genau.“

„Sie erinnern sich gut. Hat das einen speziellen Grund?“

„Nein. Ich habe ein gutes Gedächtnis.“

Betty betrachtet das Bild auf dem Ausweis und das von Jimmy III. Lukas hatte nun einen Kurzhaarschnitt, einen Oberlippenbart, eine schmale Brille, die Grundzüge hatten sich nicht verändert. Ihre Befürchtung war, er könnte sich eines chirurgischen Eingriffes unterzogen haben, hat er aber nicht.

„Er hat also nur diese beide Namen, die er nutzt. Und hat er auch Papiere für weitere Personen beauftragt. Ich denke da an seine Eltern?“

„Nein.“

„Ich dachte, Sie hätten ein gutes Gedächtnis. So lange ist es noch nicht her, als er Ihnen diesen Auftrag erteilte. Wann genau war er hier? Vor einer Woche? Vor ein paar Tagen? Nun kommen Sie schon, unterschätzen Sie mich nicht. Ich weiß mehr, als Sie denken und anders kann ich auch.“

 

Wie so oft, schoss Betty auch hier wieder voll ins Blaue hinein. Allerdings ein dunkles Blau, denn sie hat verschiedene Gedanken verknüpft und aus deren Logik stellt sie ihre Fragen.

„Mir genügt ein einfaches ja für die Eltern und das Datum, wann er bei Ihnen war.“

Herr Grube fühlt sich Unbehaglich, er würde gerne, kann aber Betty nicht einschätzen. Nach zähem mit sich ringen, bestätigt er Bettys Behauptung, ja, auch für die Eltern habe er Pässe erstellt. Almades? Natürlich auf Almades. Den Auftrag habe er telefonisch erhalten, die notwendigen Unterlagen per eMail, kein Aufsuchen hier.

„Ich weiß, einen Auftraggeber verrät man ungern. Aber glauben Sie mir, in dem Fall war es das einzig richtige, was Sie tun konnten. Und, dass Sie ihn verraten haben, weiß nur ich und Sie und dabei wird es auch bleiben. Allerdings lässt es sich nicht vermeiden, dass Sie sich auf Ärger einstellen müssen. Dieser Fall ist im Prinzip nun abgeschlossen, was heißt, die Staatsanwaltschaft wird vor die Presse treten, den Fall darlegen. Nun könnte ein Journalist fragen: Abgeschlossen? Und warum ist der Täter noch auf freiem Fuß? Was die Staatsanwaltschaft in diesem Fall antwortet, kann ich nicht voraussehen. Sie könnte sagen, der Täter ist mit falschen Papieren noch auf der Flucht. Und damit bin ich wieder bei meiner Liste. Mein Rat an Sie, machen einige Tage oder Wochen Urlaub an einem ruhigen Ort und warten Sie, was passiert. Sicher ist sicher.“

Grube kapiert, dass Betty ihn gelinkt hat. Zornesfalten bedecken seine Stirn. Er bleibt aber ruhig.

„Bevor ich mich verabschiede, noch eine letzte Frage, reine Neugier, Sie waren Kollege, oder wie immer ich das bezeichnen will, von Oberst Dönsch, später Weidtmann, in Dresden, bei der Stasi.“

Herr Grube nickt sachte mit seinem Kopf. Schweigt.

„Sicher haben Sie gehört oder gelesen, dass Herr Dönsch, also Herr Weidtmann, samt Familie, ermordet wurde. Ich habe in diesem Fall ermittelt…Sehr viel ermittelt…Herr Weidtmann ist das erste Opfer dieses Mannes (und tippt auf den Pass), vier weitere folgten. Und ich weiß auch, dass Herr Weidtmann als Oberst Dönsch regen Handel mit Papieren betrieben hat, um Ausreisewilligen die Ausreise zu ermöglichen. Papiere, die von Ihnen angefertigt wurden. Und, Sie haben ihn zu Weidtmann gemacht, damals noch, in Dresden. Aber egal. Ich werde nicht gegen Sie in dieser Sache ermitteln oder ermitteln lassen. Die Sache ist vergessen, verjährt und eigentlich keine Straftat. Wie gesagt. Es interessiert mich rein persönlich.“

„Wollen Sie mir damit andeuten, Sie hätten mich längst hochgehen lassen können?“

„Wie gesagt, daran hatte und habe ich kein Interesse, aber ja, gekonnt hätte ich das schon. Nur, wem wäre damit gedient?“

„Klaus war nicht mein Vorgesetzter im Amt, das war Kerner, Helmer Kerner. Ich habe ausgeführt, was er anordnete. Das hinter all dem Klaus steckte, habe ich erst nach und nach verstanden. Das Verstehen wurde gut honoriert. Jeder musste sehen, wo er bleibt.“

„Kenn ich, aber aus anderen Zusammenhängen. Gut egal. Folgen Sie meinem Rat und passen Sie auf sich auf.“

„Ach, das ist noch so eine Sache, hinter die ich allerdings noch nicht gekommen bin: Wer ist Onkel Rudy?“

 

Grube schluckt, muss schlucken, blickt irgendwie ängstlich, nicht wegen ihrer Frage, ihm gehen anderen Fragen durch den Kopf. Dreißig Jahre Tarnung dahin.

„Nie gehört. Wer soll das sein?“

„Einer von der russischen Seite. Hausfreund der Familie Dönsch, der alten wie der jungen Familie Dönsch. Heute vermutlich ein einflussreicher Oligarch, oder Chef einer Russland-Mafia. Ich weiß, seine Papiere haben Sie nicht erstellt, er hat seine eigenen Leute dafür. Ich würde nur zu gerne wissen, wie er sich heute nennt. Er lebt doch noch. Oder?“

„Sie fragen Sachen. Woher soll ich das wissen. Russen-Mafia? Was habe ich damit zu tun? Ja, ich kann Papiere erstellen…mehr aber nicht.“

„Was ich auch nicht verstehe. Immer wenn ich mich der Wahrheit um Dönsch und seine Kollegen nähere, stellt mir das BKA ein Bein. Halten die ihre schützenden Hände auch über Sie?“

„Sie sollten jetzt gehen. Sie scheinen fantasiebegabt zu sein. Hirngespinste, alles Hirngespinste.“

Sie schaltet das Handy in ihrer Tasche aus, steht auf.

„Ach, ein Letztes. Ist es zu viel verlangt, wenn ich um eine Vergrößerung des Passfotos bitte.“

Seufzend erfüllt der geschlagene Herr Grube auch diesen Wunsch Bettys. Das Foto versenkt sie in ihre Umhängetasche, reicht Grube die Hand, der verdruckst lächelnd einschlägt. Er begleitet Betty zur Seitentür, schließt sie hinter ihr und dürfte froh sein, sie los zu sein.

Lächelnd schreitet sie auf die Wartenden zu, die als sie einsteigt in die Hände klatschen.

„Du bist echt ne Nummer, Betty. Woher hast du diese Fake-Strategie? Von dem Strohkopf überm Teich?“

„Fake-Strategie? Rainer, was redest du da. Und den Grube lasst ihr mir in Ruhe. Verstanden?“

„Wie du befiehlst. Und jetzt? Großfahndung?“

„Warte damit, lass uns erst nachdenken. Lukas, oder wie immer sich jetzt nennt, steht unter Druck. Er weiß, dass er seinen Eltern nicht mehr helfen kann. Das muss ein teurer Anwalt für ihn richten. Dessen Verteidigungsstrategie wird lauten, die Eltern haben von nichts gewusst. Und die beiden Alten werden schweigen. Es wird in einem Freispruch oder einem Urteil auf Bewährung enden, sofern wir keine konkreten Beweise ihrer Schuld oder Mitschuld vorlegen können. Sie werden ihrem Sohn also folgen können, egal, wo der sich hin verkriecht. Wobei Venezuela naheliegend ist. Soviel ich weiß, gibt es zwischen Deutschland und Venezuela kein Auslieferungsabkommen. Er ist dort sicher. Und wenn ihr mich fragt, ist er jetzt auf dem Weg dorthin, heißt, keine Ressourcenverschwendung für eine Großfahndung, sondern Evers anrufen und seine Möglichkeiten nutzen, die Passagierlisten von Abflügen oder Schiffspassagen zu durchforsten, nach Lukas, Jimmy oder Pedro. Also gezieltes Suchen. Dies gilt auch für die Pässe der Eltern. Die Hütte dürfte nicht über einen Tresor verfügen. Irgendwo im Haus müssen die Papiere zu finden sein. Rufe Thiele an, der ist sicher noch im Haus und sage ihm, wonach er suchen soll. Falls keine Papiere, dann nach Hinweisen auf ein Schließfach. Und du Thorsten kannst mich nach Hause fahren. Ich habe meine Schuldigkeit getan.“

„Du willst nicht mit ins Dezernat? Keine Lust die beiden Alten zu bearbeiten? Du könntest sie knacken.“

„Da gibt es nichts zu knacken. Frau Johannsen ist verbiestert, voller Wut und Hass wird aber nicht aus der Reserve zu locken sein. Herr Johannsen schon eher. Er ist nicht so emotionalisiert wie seine Frau, wird sich aber auch an die Vorgaben seines Anwaltes halten. Ihr braucht Zeit, lasst sie schmoren und im Ungewissen, unterstellt ihnen den Mord an dem jungen Sandieri und der Mitwisserschaft an acht Morden. Bearbeitet vornehmlich den Vater. Er wird einknicken…Ich habe dir neulich gesagt, für den Rest bist du zuständig und der liegt nun vor dir.“

 

Sie reicht ihm die Ausweispapiere von Pedro nach hinten. Rainer ruft zunächst Thiele an, der aber schon abgefahren ist, aber seinen Leuten, die noch vor Ort sind, Bescheid geben will. Anschließend ruft Rainer Evers an, hatte zuvor die Papiere abfotografiert und schickt sie nun Evers auf dessen Handy, und bittet ihn, die Suche nach diesem Pedro mit seinen Möglichkeiten zu übernehmen.

Thorsten meint, dass dies sein bisher aufregendster Tag bei der Polizei gewesen sei. Er habe einiges gelernt, aber auch einiges nicht verstanden. Er habe seine gesamte Dienstzeit noch vor sich, da wird sich auch das Verstehen erweitern. Das wird schon.

Vor Bettys Haus angekommen hält Thorsten an, Betty steigt aus, Rainer auch, geht auf sie zu, drückt sie an sich: „Ich danke dir Betty. Ich wusste immer, dass aus dir eine gute Polizistin wird, aber eine so Gute, nein, das konnte ich nicht ahnen.“

„Schon gut. Ich habe nur getan, was ich konnte. Du hältst mich auf dem Laufenden?“

„Na klar.“

„Ciao Thorsten. Dir alles Gute.“

Guten Gefühls, ja ein bisschen beglückt, schreitet sie auf den Hauseingang zu, öffnet sich die Haustür, wirft ihre Sachen auf die Couch, legt sich daneben, atmet tief durch, schließt die Augen und freut sich auf ruhigere Tage.

Sie horcht ins Haus hinein. Stille. Angenehme Stille. Äußerlich. Innerlich hat sie den Fall noch nicht von sich geschüttelt. Wie auch? Ein paar Dinge sind noch offen. Vor allem, ist die gefundene Leiche, die des jungen Sandieri? Sie hatte diese Nachricht der Familie gerne selbst überbracht. Das ist ihr wichtig. Gut, doch noch mal Rainer anrufen, ihm ihre Bitte übermitteln. Und da war noch Patoni, der Chip. Sie hatte zugesagt, ihn persönlich abzuholen und eine Zusage ist ein Versprechen und diese pflegt Betty einzuhalten. Smartphone aus der Tasche holen, Rainer anrufen, der amüsiert ihren Anruf entgegennimmt, so schnell, von wegen Rest.

 

Sie trägt ihre Bitte vor. Sie möchte das kleine Kästchen mit den Erinnerungen selbst überreichen, er solle es, wenn Thiele fertig ist, bei ihm holen und ihr bringen und wenn er so freundlich wäre, sie fahrtechnisch zu befördern, wäre sie ihm sehr dankbar. St. Peter-Ording mit dem Zug wolle sie sich nicht zumuten. Hannover ja, zu den Patonis wird sie mit dem Zug reisen. Ach, und ob er ihr bitte den Reisepass von Lukas, also dem Pedro, mailen könne. Warum das? Nur so. Nein, bei ihr gäbe es kein nur so. Doch, nur so, zum Nachdenken. Er rüste sich gerade, die Eltern zu knacken. Getrennt, glaube er, wird einer oder eine schnell einbrechen. Nein, denkt Betty, die nicht, nicht so schnell, sagt es aber nicht laut.

„Ich hätte auch eine Bitte an dich. Morgen Früh wollen wir uns zusammensetzen und abschließend über den Fall sprechen. Teurer und Hansen werden anschließend eine Pressekonferenz abhalten. Dies ist nicht der Rest, dies ist der Abschluss, der vorläufige Abschluss. Es wäre schön, wenn du dabei sein würdest, also bei der Besprechung. Ich denke, Thiele ist dann auch so weit, seine Erkenntnisse auszubreiten, was heißt, ich fahre danach mit dir zu diesem Sandieri. Ist das ein Angebot?“

„Verführerisch ja. Ich denke darüber nach. Ach, wenn ich gerade denke, was macht die Suche nach diesem Van? Schon irgendetwas gefunden?“

„Nein. Nichts.“

„Entweder er wird uns den Wagen überlassen, wie er ist. Voller Stolz uns zeigen, was für ein pfiffiges Kerlchen er ist, oder er wird ihn vernichten, und zwar gründlich. Egal wie, er wird ihn für euch sichtbar machen. Schaut genau. Und da ist noch die Frage, wo hat er gewohnt? Irgendwo in Hamburg oder Umgebung hat er seinen Unterschlupf, prüft, ob es einen Wohnungsbrand gab. So, jetzt ist aber Schluss mit alledem. Es wird höchste Zeit einmal wieder ein gesundes Essen zu mir zu nehmen. Mach dir einen schönen Abend.“

„Du dir auch.“

So, und jetzt wird sie sich endlich ein vernünftiges Essen zubereiten. Ihre Vorräte sind allerdings beschränkt, sie ist die letzten Tage nicht dazu gekommen, diese aufzustocken. Sie findet Linsen, gut, die lassen sich zu einem Linsencurry verarbeiten, mit Möhren, Zucchini, einer Kartoffel, dazu Backfisch, den sie aus dem Gefrierfach holt. Stellt die Linsen über, zwanzig Minuten köcheln, schält, schnippelt das Gemüse klein, brät es in der Pfanne an, dann die Linsen darüber, gewürzt mit Salz, Pfeffer und Curry. Den Fisch hat sie parallel gebraten. Alles fertig.

 

Während sie verspeist, was sie sich zubereitet hat, überlegt sie sich den morgigen Tag. Nach dem Präsidium, die Fahrt nach St. Peter-Ording. Am Nachmittag dann wird sie das schwedischen Möbelhaus in Altona aufsuchen, kann sie zu Fuß hingehen, hatte allerdings nicht vor, sich dort einzudecken, nur schauen, Ideen holen. Gut, wird sie so machen.

Patoni und Vera anrufen. Zunächst Patoni, nicht erreichbar, wohl aber seine Frau, die das Gespräch annimmt, Betty erklärt, dass sie mit ihrer Tochter zu einer Computertomographie waren. Der Chip sei zu sehen gewesen, direkt hinter dem Ohr. Der Arzt habe gesagt, den Chip zu entfernen, sei keine ungefährliche Operation. Einen Operationstermin hätten sie noch nicht bekommen. Betty verspricht, sich um einen zeitnahen OP-Termin zu kümmern. Das muss der Oberstaatsanwalt organisieren oder der Ermittlungsrichter.

Mit Vera telefoniert sie fast eine Stunde, natürlich ist die Ermittlung, der Rückfall in die Polizeiarbeit, der Gesprächsgegenstand. Und sie kommen auf das Haus zu sprechen, dass Betty ab morgen auf Möbelschau geht. Vera meint, sie solle erst die Zimmer streichen, Farbe sei wichtig und danach die Möbel aussuchen. Würde sie machen, nur der Maler habe erst im Februar Zeit. Wieso Maler? Mache sie das nicht selbst? Kein Talent.

„Weißt du was? Im Januar ist Holger wieder auf See und hier gibt es nicht viel zu tun. Ich komme nach Hamburg und wir verbreiten Farbe im ganzen Haus. Was hältst du davon?“

„Super Idee. Aber du kannst auch kommen, ohne Farbe zu verteilen.“

„Nein, das machen wir. Ich habe Lust darauf. Was hast du übrigens über Weihnachten vor?“

„Keine Ahnung, wahrscheinlich herumsitzen und Lesen.“

„Dann kommst du hierher, bleibst, bis Holger abgefahren ist, und wir fahren zusammen nach Hamburg.“

„Verlockend, aber ich störe doch nur, von wegen Familienfest.“

„Betty, löse dich von alten Gebräuchen. Du bist willkommen und Weihnachten in einem unchristlichen Haushalt ist eh anders als bei den weihnachtsbesoffenen Christen und Holger würde dich endlich kennenlernen.“

„Ich überlege es mir,“ obwohl es längst ausgemacht ist, dass sie nach Grevesmühlen fahren wird.

„Da gibt es nichts zu überlegen. Du kommst. Basta.“

 

Nachdem sie Vera weggedrückt hat, nimmt sie sich vor, in einen neuen Roman einzusteigen. Sie erhebt sich, geht zum Bücherregal mit den Resten der Bibliothek ihrer Großmutter, um zu schauen, was dort in den Reihen an Lesbarem steht. Auf viel Vergangenheit trifft sie. Autoren, die sie nicht kennt, nie von ihnen gehört hat, von denen sie aber weiß, dass die braune Herrschaft sie verschüttet, vertrieben, manche gemordet hat. Der Nachkriegskonservatismus mit seinem Antikommunismus den Anschluss an das Vorher nicht mehr herstellen konnte, nicht wollte. Hier im Regal lebte die Vergangenheit fort, dankt ihrer Großmutter. Sie zieht einzelne Titel aus der Reihe, Lion Feuchtwanger: Erfolg, Goya, Die Jüdin von Toledo, dann Oskar Maria Graf: Anton Sittinger, Wir sind Gefangene; Max Hermann Neise: Der Todeskandidat; Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz, kennt Betty als Verfilmung. Wie hieß der, der den Franz Bieberkopf spielte? Nein, keinen Schimmer mehr. Der Bieberkopf, eine arme Sau. Sie schaut weiter, Franz Werfel, blättert in Hans Fallada, Leonhard Frank, Walter Mehring, schließlich Gerhart Pohl: Fluchtburg. Der Titel erinnert sie an Pedro, der in Venezuela seine Fluchtburg hat. Ein Roman, der die Zeit nacherzählt, in dem sich das Schicksal all dieser in dem Regal stehenden Autoren verändert hat. Der Klappentext liest sich interessant, also nimmt sie sich diesen Roman mit zu ihrer Couch, wird sie heute Abend anfangen.

Fluchtburg. Pedro ist nach dem Pfleger und dem Hausmeister, der dritte Täter, den sie nicht dingfest machen konnte. Gut, der Pfleger ist auf eine drastischere Art dingfest gemacht worden. Ob Hembach doch mit Mytro gesprochen hat? Der Arm der deutschen Justiz reicht nicht bis Venezuela und der von Koci? Wie weit reicht dessen Arm? Soll sie ihn nutzen? Darf sie das? Noch hält sie das Buch in der Hand, denkt nach, allein, dass der Gedanke in ihr hochgekommen ist, nährt das Gefühl in ihr, dem die Erfüllung von Gerechtigkeit zu überlassen, der am schwersten betroffen wurde. Sie horcht in sich, fühlt keine Skrupel, kein, nein, das geht nicht. Niemand wird erfahren, dass an Koci ein Hinweis ging. Und schon steht ihre Entscheidung, ihn für Sonntag, wenn sie mit ihrer Großmutter ins Il Gambero gehen wird, einzuladen. Omi wird alles über den Fall wissen wollen, da konnte Koci mit zuhören und seine Schlüsse ziehen. Sie wird es ihm sagen, ohne es ihm zu sagen.

 

Wer einmal sich selbst gefunden, kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren. (Stefan Zweig)

 

Unter der Morgendusche zu singen ist nicht Bettys Ding, nein, mit Singen hat sie es nicht so, traut sich nur zu summen, macht sie aber auch nicht unter der Dusche, mangels Stimulation, sie denkt lieber nach. Koci die Informationen zu geben, vielleicht doch kein guter Einfall, zumindest nicht für eine, die für die Polizei gelegentlich tätig ist, andererseits ist ja nicht gesagt, dass Koci irgendetwas unternehmen wird. Aber diesem Killer ein Leben auf satten Millionen gönnen, nein, will sie auch nicht. Ein Hin und Her ihrer Gedanken. Sie wird sich spontan entscheiden, für oder gegen ihr unmoralisches Unterfangen.

Abtrocknen, frühstücken, Porridge mit Himbeeren und Blaubeeren, zwei Stück Selleriestaude, zwei Stück geviertelte Möhre, grüner Tee und drei Tabletten, dann fertigmachen, hoch zur Bushaltestelle, zum Bahnhof fahren, umsteigen und Weiterfahrt zum Präsidium, vor dem der Teufel los zu sein scheint. Wagen rücken aus, Leute eilen umher und mittendrin sieht sie Rainer auf seinen Dienstwagen zustürmen, im Schlepptau die Frau, Valerie. Sie steigt schnell aus dem Bus, geht auf das Präsidium zu, Rainers Wagen im Blick, der anfährt, Blaulicht dreht sich. Er sieht Betty, bremst quietschend ab, die Tür fliegt auf, rein mit dir rufend. Sie quetscht sich schnaufend auf den ungewohnten Hintersitz: „Was los? Ne Leiche?“

„Nein Betty, keine Leiche oder doch, wenn du so willst. Die Leiche eines ausgebrannten Vans.“

„Der Van unseres Täters? Wo wurde er gefunden?“

„Also im Moment noch alles Vermutung. Ein Vogelschützer der nahen Vogelschutzwarte hat die Explosion gehört, nachgesehen und den ausgebrannten, zerstörten Wagen gefunden. Spricht alles für den gesuchten Van. Und gefunden heißt in der Wedeler Marsch, öde Gegend.“

„Und das war heute Morgen? Gestern Abend?“

„Heute Morgen, laut dem Vogelschützer ereignete sich die Explosion so um 04:00 Uhr.“

„Hm, da schlafen die Vögel doch noch.“

„Die haben den Van ja nicht hochgehen lassen.“

„Hast du schon Evers informiert. Der muss die Augen offenhalten. Er zerstört die Beweise und verschwindet, was heißt, er müsste gleich abfliegen, sofern er von Hamburg fliegt.“

„Oder er versteckt sich noch in seiner Wohnung und wartet ab.“

„Auch möglich.“

„Moin Rainer. Moin Valerie. Sonst alles in Ordnung?“

„Betty, der Scherzkeks. Moin.“

„Sag mal, fahren denn alle zu dem Brandopfer? So viel Aufwand?“

„Nein, es gibt noch mehr zu tun in Hamburg. Nur wir und die KTU ist unterwegs.“

„Gab es Meldungen von einem Wohnungsbrand?“

„Thorsten ist dran.“

Betty lehnt sich zurück, die Beine leicht angezogen, der Bequemlichkeit wegen, durchdenkt die Situation. Lukas protzt nicht mit seinem Können, also uneitel. Setzt den Van mit all seiner Technik in Flammen, entzieht ihn der genaueren Untersuchung, also Brand und Explosion, da dürfte nicht mehr viel zu finden sein. Und trotzdem, so dumm dürfte er nicht sein, direkt nach der Vernichtung in einen Flieger zu steigen. Ob er weiß, dass sie wissen, wie er jetzt heißt? Was würde sie tun? Sie würde einen Zug besteigen, nach Paris zum Beispiel, und dort einen Flieger nach Caracas nehmen oder erst nach Madrid und dann nach Caracas und dabei verschiedene Identitäten einsetzen. Ja, so würde sie es machen. Aber Wedeler Marsch?

 

„Sag mal Rainer, die Wedeler Marsch liegt rechts der Elbe, keine Brücke in der Nähe. Wenn du von dort wegwillst, musst du zwangsläufig zurück nach Hamburg. Oder?“

„Sehe ich auch so. Worauf willst du hinaus?“

„Nun, unser Schlauköpfchen hat die Geldübergabe so gelegt, dass die Geldübergeber auf einer Flussseite stehen und er auf der anderen. Er ist nicht nach Hamburg zurück. Wir sollen das denken. Er hat ein Schlauchboot oder was auch immer benutzt, ist auf die linke Seite übergesetzt, hat dort ein Auto geparkt und ist jetzt auf dem Weg nach Bremen, wo er einen Zug besteigt, nach Amsterdam, Brüssel oder Paris.“

„Wo nimmst du nur all diese Fantasien her? Du sprichst zu viel mit deinem Bauch. Hältst du ihn wirklich für so clever?“

Valerie lacht, der erste Ton, den sie von sich gibt, seit sie unterwegs sind.

„Für noch cleverer. Lass uns mit Evers telefonieren, hören, was der meint und tun kann. Überhaupt wurde schon ein internationaler Haftbefehl erlassen?“

„Oh, Betty du bist zu schnell für mich. Valerie, rufe bitte den Oberstaatsanwalt an, der soll sofort den internationalen Haftbefehl lostreten und an die Flughäfen aller Nachbarländer verteilen. Dann wähle Evers an, ist unter Kontakten gespeichert, stellst auf laut und Betty, du erklärst ihm die Situation.“

„Geht in Ordnung Chef.“

 

Der Oberstaatsanwalt ist nicht erreichbar, also Hansen anrufen, soll der sich kümmern. Dann Evers, der meldet sich, Betty erklärt ihm ihre Version des Abtauchens des Bösewichtes, was Evers für unwahrscheinlich hält, er vermute ihn noch im Hamburg, aber er werde tun, was er kann, um auch andere Flughäfen im Blick zu haben. Caracas sei sein Ziel, aber nicht auf direktem Wege. Wahrscheinlich werde er als Jimmy Speitel und als Pedro Almades reisen, unwahrscheinlich ist es nicht, auch als Lukas Johannsen. Schnelligkeit dürfe sie nicht erwarten, hinter ihrem Verdacht stecke viel Aufwand, hieße Kapazität, die er nicht habe, die müsse er anders organisieren. Aber sie schaffen das.

Rainer rollt die Augen: „Der auch!“

„Was? Was meint der.“

„Nichts Herr Evers. Rainer sucht gerade einen Weg ins Paradies…genauer, Vogelparadies.“

Rainer ist von der B431 abgebogen, folgt dem Schild, zur NABU-Vogelstation, entlang eines etwas unebenen Weges, erreicht einen ausgewiesenen Parkplatz für Wanderer, Fährmannssand. Weiter vorne die Wagen der KTU zu sehen. Sie halten an, steigen aus, den Rest des Weges gehen sie zu Fuß. Ein Abzweig des Weges führt hinunter zur Elbe und dort hinter einem Knick, eine kleine Einfahrt zur Wiese wo der schwarz verkohlte Van steht, dem der Van nicht mehr anzusehen ist. Um ihn herum Trümmerteile verteilt. Thiele empfängt sie, in weißem Overall, die Hände in die Hüften gestützt, trostlos dreinschauend.

„Also viel zu bergen und zu sichern, gibt es nicht. Der Typ hat ganze Arbeit geleistet. Aber hundert Prozent unser Mann. Er hat den Wagen in Brand gesetzt und erst danach mit einem Sprengsatz hochgejagt. Doppelstrategie. Mehr kann ich euch nicht sagen. Die Reste hier genauer in Augenschein zu nehmen wird dauern. Wir schaffen alles in die Werkstatt. Aber trotzdem schön, dass ihr hier seid.“

„Bin ich auch Detlef. Kommt Kinder, wir machen einen Spaziergang,“ fordert er Valerie und Betty auf.

 

Er glaube zwar nicht auf Spuren zu stoßen, aber mal kurz nachschauen, kann nicht schaden. Sie gehen den Abzweig hinunter bis zum Elbedeich. Rainer dreht sich mehrmals um, verfolgt den Weg, den sie gehen, schätzt ab, sucht auf dem Weg nach Fußstapfen. Der Boden auf der Wiese, wo der Van steht, ist aufgeweicht, Matsch hängt in ihren Schuhen, logisch auch bei dem, der den Wagen abgefackelt hat. Siehst du irgendwo Abdrücke, will Rainer von Betty wissen, die stehen geblieben ist und das Gras am Wegesrand betrachtet. Komm her, winkt ihn Betty bei.

„Ich sag doch, er ist nicht blöd. Er ist im feuchten Gras gelaufen, bis seine Schuhe sauber waren, erst dann hat er den Weg benutzt.“

Rainer betrachtet den Untergrund, geht eine Strecke zurück, die Augen immer auf den Grasstreifen gerichtet. Scheint so, meint er. Sie betreten den Elbedeich, die Elbe hurtig fließend vor ihnen, rechts nähert sich ein dieser dicken Pötte, sie suchen aber den kleinen Pott, den sie hier nicht finden werden. Der liegt drüben versteckt oder versenkt auf dem Elbegrund. Rainer zückt sein Handy, schnauzt Kalle an, er solle die Kollegen in Stade informieren, die sollen zwei Streifen schicken gegenüber der Wedeler Marsch, Höhe NABU-Vogelstation und ein Boot der Wasserschützer. Er solle denen seine Handynummer mitteilen und sie ihn anrufen, wenn sie da sind, er gäbe dann die Anweisungen.

Während Rainer telefoniert, fragt Betty Valerie, wie der Stand der Recherchen zu den Opferfamilien sei. Vier Familien hätten sie gefunden, bei denen die Töchter auffällig gewesen seien. Sie hätten aber noch nichts unternommen, da Rainer noch nicht dazu gekommen sei, mit den Kollegen vor Ort zu reden. Und wer seien die vier Familien. Patoni aus Hannover, gut, kennt sie, Rennso aus Berlin, Pollak aus Frankfurt und Celic aus Mannheim. Quer verteilt. Rennso, die sind die Unangenehmsten. Oder? Hm, der traue sich was. Sie bräuchte die Rufnummern, unter denen sie die Eltern erreichen könnte, sie würde mit den Herrschaften reden. Aber Genaueres erkläre sie nachher in der Besprechung, falls diese stattfinde.

„Bin gespannt, wie lange die jetzt brauchen, um anzutanzen,“ nörgelt Rainer, der leicht angenervt wirkt.

„Du kannst ja zurückgehen. Ich halte hier die Stellung und winke die Kollegen dort drüben ein.“

Gut, solle sie machen, er gehe mit Betty zurück, schauen, was Thiele bisher herausgefunden hat. Nun, der hat keine großen Fortschritte gemacht, allerdings eine interessante Erkenntnis gewonnen. Er vermute, dass der Täter einen Zeitzünder oder Fernzünder verwendet hat, vielleicht auch zwei, einen für das Auslösen des Feuers und einen für das Auslösen der Explosion. Wie sie den Vogelfänger erreichen können, will Rainer wissen, hat Thiele keine Ahnung, aber das Haus des NABU sei nicht weit von hier. Die wüssten das mit Sicherheit, was ziemlich sarkastisch klingt, von Rainer aber nicht bemerkt wird. Betty aber schmunzelt Thiele an.

 

Komm, fordert Rainer Betty auf, wir gehen zu diesem Vogelfänger.

„Wir kriegen den Typ nicht. Stimmts?“

„Möglich, wir sollten uns aber damit trösten, dass er keinen weiteren Schaden anrichten kann.“

„Schaden? Weißt du, mittlerweile…nein, vergiss es, nein, ja, wir trösten uns.“

Betty ahnt, was Rainer denkt, aber diesen Gedanken würgen die toten jungen Mädchen ab. Rainers Handy brummt, blöder Klingelton, den es hat, hört sich tatsächlich wie das Brummen eines Bären an, Brummbär. Na ja, jeder hat so sein Ding. Die Streife ist am anderen Ufer angekommen, von Valerie eingewunken. Rainer gibt Instruktionen, das Ufer in Höhe von Valerie links und rechts, jeweils mindestens zwei Hundert Meter, nach Fußspuren und Reifenspuren abzusuchen und nach eventuell einem Boot, von Paddelboot bis Schlauchboot sei alles möglich.

Sie betreten das Haus der Vogelwarte, fragen nach einem Herrn, der heute Morgen den Brand gemeldet habe. Ulf sei längst zu Hause. Den Brand habe er auf der Heimfahrt gesehen und die Feuerwehr alarmiert. Aber da sei ja nicht mehr viel zu löschen gewesen.

Schade, der Weg umsonst, bedankt sich Rainer.

„Willst du nicht den Namen und die Adresse des Zeugen wissen?“

„Nein. Er fährt weg. Ich hatte gehofft, dass er gekommen ist, denn dann hätte ihm der Typ entgegenkommen müssen, falls er doch Richtung Innenstadt gefahren ist. Also vergiss ihn. Es ist wie es ist und wie du gesagt hast.“

„Nicht ganz. Wie gesagt, ein Schlaukopf. Falls wir, wie geschehen, dahinterkommen, dass er über das Wasser gegangen ist, lässt er es so aussehen, dass er nach Westen oder Süden flüchtet…“

„…Du kommst mir jetzt nicht mit Moskau…“

„Doch, er fährt nach Warschau, steigt dort in den Flieger nach Moskau, um von dort nach Caracas weiterzufliegen und wir suchen ihn in Paris, Amsterdam oder Brüssel. So würde ich es machen.“

„Betty, er kann überall hin sein. Wir fangen mit A an und arbeiten uns bis Z durch. Entscheidend für seine Pläne ist, was er über unseren Ermittlungsstand weiß. Und da gehe ich davon aus, nicht viel.“

Sie solle hier warten, er wolle Valerie Bescheid geben, die Suche zu koordinieren und sie würden dann zurück ins Präsidium fahren. Bevor sie losfahren, sagt er Thiele Bescheid, dass er Valerie in dieser Einöde nicht vergessen soll. Während der Rückfahrt erklärt Betty Rainer, dass sie mit den Opferfamilien Kontakt aufnehmen will, um sie zu überzeugen, ihre Töchter von dem Chip zu befreien und den Chip der Polizei zu übergeben. Sie würde mit den jeweiligen Kollegen sprechen und sie bitten, den Chip abzuholen. Habe bei Patoni funktioniert, sicher auch bei den Betroffenen. Gut, solle sie machen.

 

Bettys Gewohnheiten schon intus, eilt Rainer voraus ins Dezernat, Betty, nach Erledigung des Notwendigen, folgt ihm. Nicht viel los im Büro. Betty setzt sich an einen Arbeitsplatz, zückt die Liste mit den Opferfamilien, hakt die vier Familien ab, deren Töchter vermutlich den Chip im Kopf tragen. Patoni ist erledigt, also Rennso, Pollak und Celic anrufen. Zunächst Pollak. Sie stellt sich als leitende Ermittlerin in einem Schwerverbrechen vor, zu dem sie dringend ein paar Fragen an Herrn Pollak hätte. Kurzes Zögern, wird weiterverbunden, nochmaliges vortragen ihres Anliegens, wird weiterverbunden. Endlich Pollak. Aus Hamburg? Was habe er mit einem Gewaltverbrechen in Hamburg zu tun.

„Herr Pollak, hören Sie mir gut zu, dann werden Sie verstehen. Ihre Tochter hat unter Kopfschmerzen gelitten, die ein Mann Ihnen gegen Zahlung eines Betrages, lindern könne. Vermutlich haben Sie die drei Millionen Euro überwiesen. Den Schmerz von ihrer Tochter gewendet…“

„…Blödsinn. Was reden Sie da für einen Blödsinn…“

„…Ich sagte zuhören. Der Schmerzauslöser sitzt immer noch im Kopf Ihrer Tochter, sofern er nicht zwischenzeitlich herausoperiert wurde. Es handelt sich um einen Minichip, der jederzeit wieder aktiv werden kann. Verstehen Sie? Ich bitte Sie um folgendes, gehen Sie zu einem Arzt oder direkt in ein Klinikum, lassen ein CT machen. Das CT findet den Chip. Sorgen Sie für einen kurzfristigen OP-Termin, nehmen die Entfernung des Chips per Video auf. Den Chip bitte in einen Asservatenbeutel, ebenso den USB-Stick mit der Videoaufnahme. Beides wird bei Ihnen abgeholt. Es sind Beweisstücke. Ich gebe Ihnen jetzt meine Handynummer. Sollten Sie keinen zeitnahen OP-Termin erhalten, sagen Sie mir Bescheid, ich kümmere mich. Haben Sie alles verstanden, was ich Ihnen sagte.“

„Ich lege auf. Ich lasse mich nicht verarschen. So ein Blödsinn…“ und drückt sie weg.

Gut, seine Sache.

Celic ist kooperativ. Betty nudelt die gleiche Story ab, Celic zeigt sich entsetzt, dass seine Tochter immer noch bedroht ist, dankt Betty für deren Hilfe, er würde sofort alles einleiten. Rennso dagegen wieder ein schweres Kaliber, streitet alles ab, was das für eine seltsame Geschichte sei, wieso sie ihn damit belästige.

„Herr Rennso, ich scherze nicht. Ich habe Sie gewarnt, wenn Ihnen Ihre Tochter etwas bedeutet, tun sie was ich Ihnen sagte.“

Er gab an, ihre Handynummer notiert zu haben. Oder auch nicht, denkt Betty.

Damit ist auch dies erledigt. Sie telefoniert noch mit den Kollegen in Berlin, Frankfurt und Mannheim, informiert sie über den aktuellen Stand und dass sie gegebenenfalls auf sie zukommen werde, wenn sich die Opfer für die OP der Töchter entschieden hätten.

Patoni! Ein OP-Termin. Muss sie den Oberstaatsanwalt beknien. Ruft ihn an, nicht am Platz, Blick zu Hansens Büro. Anwesend, spricht mit Rainer. Sie geht vor, klopft an, tritt ein, wird von Hansen begrüßt.

„Ich störe hoffentlich nicht.“

„Nein, nein, kommen Sie herein.“

„Ich brauche ihre Unterstützung. Ich konnte Patoni überreden, seiner Tochter den Chip aus dem Kopf entfernen zu lassen. Er filmt die Operation und wird uns den Chip übergeben. Er bekommt aber keinen zeitnahen Operationstermin. Können Sie etwas unternehmen? Oder der Oberstaatsanwalt? Oder wer auch immer?“

„Wer auch immer ist gut. Nur, den kenne ich nicht. Aber wir können den Ermittlungsrichter einschalten. Wo soll die Tochter denn operiert werden?“

„In Hannover. Irgendeine Klinik.“

„Mal schauen, was sich machen lässt.“

 

Betty verlässt die beiden grinsenden Männer (Warum grinsen die?). Jetzt noch bei der KTU anrufen, sofern dort ein Kollege sitzt, sitzt einer und der sogar weiß, dass die Überreste aus dem Keller eindeutig Paolo Sandieri zugeordnet werden können. Sicher? Die Gerichtsmedizin habe dies bestätigt. Sonst noch Leichenteile gefunden? Nein, nur die eine Leiche. Und im Garten? Wisse er nicht. Für die DNA-Analyse habe sie dem Kollegen Thiele ein Kästchen mit Material für die Identifikation übergeben, ob er wisse, wo sich dieses Kästchen jetzt befinde. Na ja, in der Gerichtsmedizin. Könne er dort anrufen und Bescheid geben, dass dieses Kästchen in einer halben Stunde abgeholt werde. Klar, kann er das. Betty bedankt sich. Also, dann Fahrt zur Gerichtsmedizin, dann nach St. Peter-Ording und, na ja, dort würden sie sicher ein schönes Lokal finden. Fisch. Sie hatte Lust auf eine Scholle Finkenwerder Art. Fisch wird Rainer überzeugen.

„Die Besprechung wurde auf den Nachmittag verlegt. Die Oberen sind glücklich, also sind wir es auch,“ kommt Rainer schmunzelnd auf sie zu.

„Schön, dann können wir. Zunächst in die Gerichtsmedizin, den Nachlass abholen, dann nach St. Peter-Ording, ihn abgeben und dann gehen wir zwei lecker Fisch essen.“

„Bist du Katholisch?“

„Katholisch? Wegen dem Fisch? Nein. Ich brauche Eiweiß, sonst nichts.“

„Gut. Ich muss keinen Fisch essen, brauche kein Eiweiß. Oder dachtest du an eine Fischbude?“

„Nix Fischbude. Schönes Restaurant mit Blick auf die Nordsee. Nette Atmosphäre. Schöner Wochenausklang.“

„Dann los.“

In der Gerichtsmedizin empfängt sie ein Assistentsarzt, der das Kästchen bereitgestellt hat, Betty wirft einen prüfenden Blick hinein, eigentlich sinnlos, sie wusste ja gar nicht, was drinnen war, aber egal. Rainer fragt nach, ob es zur Todesursache Erkenntnisse gäbe. Dem Loch im Kopf nach zu urteilen, sei es eine Hinrichtung gewesen. Ein Schuss? Ja, ein Schuss, mitten in den Kopf.

„Er hat alle hingerichtet, bis auf den Professor. Der war nicht schuldig,“ stellt Betty fest.

 

Sie nimmt das Kästchen an sich, klemmt es unter ihren rechten Arm, will los, aber Rainer hakt noch bei der Waffe nach. Dazu könne er nichts sagen, hätten die Kollegen von der KTU untersucht und im Schädel des Toten habe sich keine Kugel befunden. Sie danken, verabschieden sich und setzen ihre Fahrt fort.

„Ich glaube nicht, dass die KTU eine Kugel gefunden hat, aber, wie ich dich kenne, glaubst du, er hat eine andere Waffe, nicht die Makarow benutzt.“

„Ja, ich denke, er hat seine Dienstwaffe benutzt. Zu dem Zeitpunkt war er noch bei der Bundeswehr und eine Kugel weniger im Magazin, na ja, das lässt sich manipulieren. Vielleicht war der Mord nicht geplant, möglicherweise ist die Entführung aus dem Ruder gelaufen. Der junge Sandieri hat seinen Entführer erkannt, damit gab es kein Zurück mehr. Die Anfänge waren impulsiv, noch undurchdacht, manches zufällig. Ich glaube auch nicht, dass er von Anfang an die Absicht hatte, Sandieri zu erpressen, der Gedanke dürfte ihm erst gekommen sein, als er das Verhalten des Jungen ausspähte und entdeckte, dass er, beziehungsweise dessen Vater, auf viel Geld saß.“

„Du vergisst, dass es ihm zunächst um Rache ging. Er wollte den Tod seiner Schwester rächen. Wenn dies seine Absicht war, hätte er den Jungen einfach erschossen und irgendwo abgelegt. Er hat ihn aber entführt und das tue ich in der Regel nur, weil ich etwas von jemand will. Mit der Entführung einher ging die Erpressung, die wiederum, deinem Gedanken folgend, resultierte aus der Entdeckung der Finanzkraft der Sandieris. Er hatte die Entführung geplant. Ich denke auch, der Junge hat gewusst, wer ihn entführt hat. Unser Täter konnte gar nicht anders, als ihn zu ermorden.“

„Oder so.“

Rainer drückt auf dem Display die Telefonfunktion, wählt unter Kontakte die Nummer von Thiele, der sich meldet, zurück in seinem Büro. Könne er eine Aussage treffen zur Mordwaffe, die bei der Kellerleiche eingesetzt wurde. Nein, könne er nicht, eine Kugel hätten sie nicht gefunden und das Loch im Schädel sagt nichts über die Waffe, wohl aber über das Kaliber, die üblichen neun Millimeter. Und beim Van? Da würden sie jetzt Puzzle spielen. Das dauere. Dann viel Spaß, wünscht Rainer.

 

Zügig fahren sie ihrem Ziel entgegen, leichtes Schneetreiben hat eingesetzt. Geht auf Weihnachten zu, scherzt Rainer. Schnee, braucht kein Mensch denkt Betty, na ja, nicht ganz, da gibt es diese Wintersportler, die davon nicht genug bekommen können, aber sie braucht das nicht. Ist eh nur Pappschnee von geringer Verweildauer.

Betty wählt Sandieri an, um ihr Kommen anzukündigen und zu erfragen, wo sie hinkommen sollen. Er sei in der Strandperle, seine Frau ebenso, sie mögen bitte dort hinfahren, was Rainer macht. Er parkt den Wagen vor dem Hotel, sie steigen aus, betreten das Hotel, Herr Sandieri winkt sie zu sich, nicht hoch, sondern untenstehend, vor dem Eingang seines Restaurants. Sie begrüßen sich, folgen Herrn Sandieri, der sie zu einem Tisch an der Fensterfront führt. Sie setzen sich, kurz danach erscheint auch seine Frau, gesellt sich dazu. Ihr ist anzusehen, dass ihr das erwartete Gespräch nicht leichtfallen wird. Eine schöne Frau, wie Betty feststellt, elegant gekleidet, lange, brünette Haare, gebräunter Teint, den nur die Trauer um die Augen beschattet.

Betty schiebt das Kästchen Frau Sandieri zu, bedankt sich dafür und ja, es sei leider so, dass der Tote, den sie gefunden hätten, eindeutig ihr lang vermisster Sohn Paolo sei. Sie spricht den Eheleuten ihr Beileid aus. Schluchzend lehnt Frau Sandieri ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes. Die Gerichtsmedizin werde die Leiche ihres Sohnes spätestens Montag freigeben. Sie schreibt ihnen die Nummer der Gerichtsmedizin auf, sie sollten dort anrufen und denen ein Bestattungsinstitut nennen, das den Leichnam abholen kann. Herr Sandieri nickt, soll Danke heißen, fragt, ob sie den Täter gefasst hätten. Nein, sie dürften leider noch nichts zum Ermittlungsstand sagen, müsse er verstehen, aber so viel, sie wüssten, wer der Täter ist, gibt Rainer schnell zur Antwort, der ahnt, dass Betty mehr erzählen würde, was sie getan hätte, klar, nun aber ausgebremst ist.

 

Ob er sie zum Mittagessen einladen dürfe, nein, danke nein, aber die Arbeit ruft, sie müssten sogleich zurück nach Hamburg. Womit Rainer sich erhebt, Betty überrascht nachzieht, nicht recht versteht, wieso Rainer es so eilig hat, von hier zu gehen, nun, sie folgt ihm, verabschiedet sich von den Sandieris. Falls sie Hilfe bräuchten, sollten sie sich an sie wenden.

„Wieso hast du es plötzlich so eilig. Du hättest lecker italienisch essen können.“

„Du nicht. Du wolltest Fisch, Das ist kein Fischlokal und überhaupt lasse ich mich nicht von einem Verbrecher aushalten. Das ist anrüchig.“

„Uff, so kenne ich gar nicht, seit wann bist du so prinzipientreu.“

„Unbestechlichkeit ist mein zweiter Nachname. Das weißt du.“

„Na gut, dann Fischlokal.“

Im Auto zurück fragt Rainer das Navi und erhält vier Empfehlungen.

„Räucherscheune. Hört sich vielversprechend an. Wollen wir?“

„Na, auf denn.“

Scheune geht anders, aber nettes kleines Lokal, das Fischspezialitäten, selbstgeräuchertes und ein paar Fleischausnahmen anbietet. Rainer entscheidet sich für Wiener Schnitzel und Betty wunschgemäß für die Scholle Finkenwerder Art. Natürlich werden sie gestört durch das Brummen in Rainers Hose, schaut auf das Display, Hansen, nimmt an, wo er sich herumtreibe, er sei unterwegs, sei aber bereits auf dem Rückweg, was es denn so Wichtiges gebe. Der Kerl sei auf und davon. Evers habe von einem polnischen Kollegen die Information bekommen, ein Pedro Almades habe sich in Warschau nach Moskau eingecheckt. Moskau. Schau an. Und weiter? Da müssten sie in Moskau nachhören, aber sicher ohne Antwort bleiben. Ob Evers die Möglichkeit hätte, in Caracas die Ankünfte aus Moskau zu checken. Kümmere er sich gleich drum.

„Du bist schlimmer als das Orakel von Sonstwo. Er ist tatsächlich über Moskau geflogen.“

„Wissen wir, wann Almades in Warschau abgeflogen ist?“

„Hat Hansen nichts von gesagt.“

„Tja, das war es dann. Zumindest für uns.“

„Was willst du damit sagen?“

„Nichts, rein gar nichts.“

 

Während des Essens berichtet Betty von ihrem Vorhaben, endlich sich in ihrem Haus einzurichten, dem Haus ihren Geschmack aufzudrücken. Achte auf Qualität, meint Rainer, er habe leider bei manchen Einkäufen zu sehr auf den Preis geschaut, aber Billig und Qualität vertrage sich nicht und letztlich wird aus Billig Teuer. Gut, dass Qualität vorrangig ist, ist ihr schon bewusst, schließlich muss ihr neues Bett einiges an Gewicht tragen. Gut, das kann, nein, das wird sich ändern, aber noch lasten zu viele Pfunde auf ihr.

Die Rückfahrt wird zu einem Resümee des Falles und der Erkenntnis, dass Betty wieder zurück in den Elfenbeinturm geht, Rainer es aber nicht lassen kann, sie darauf aufmerksam zu machen, was sie an Potenzial für die Hamburger Mordkommission bedeute. Eine Leiche, ein Anruf, dann wäre sie wieder da. Sie sei ja nicht weg, nur kurz vor der Tür. Betty spürt in all den Worten ihres Kollegen dessen Anerkennung, und das tut ihr gut, aber ein geregeltes Leben tut ihr besser.

Sie wird nicht mit zurück ins Präsidium fahren, Rainer solle sie bitte zu Hause absetzen, sie habe ihre Schuldigkeit getan und ginge nun.

„Wir wollen nachher den Fall abschließend besprechen. Willst du dir nicht die Würden der Anerkennung umhängen lassen? Unsere Oberen sind heilfroh, dass der Fall, dank deiner Bauchgefühle so schnell gelöst wurde und werden nicht geizen, dir zu Schmeicheln.“

„Nun, müssen sie halt in Abwesenheit tun. Ich will nach Hause, um mein zu Hause bettygemäß einzurichten. War ne hektische Woche. Ich brauche wieder die Ruhe des wissenschaftlichen Betriebes. Wir sehen uns sicher wieder. Na ja, blöd halt, dass es wieder ein trauriger Anlass sein wird.“

„Na, Hansen und der Oberstaatsanwalt werden dich jetzt bei jedem Fahrraddiebstahl anfordern, und ja, wir sehen uns ganz bestimmt wieder. Es war mir eine Freude mit dir zu arbeiten und wird es auch beim nächsten Mal sein.“

 

Vor dem Haus angekommen steigt Rainer aus, eilt zur Seitentür, öffnet sie, Betty stemmt sich aus dem Sitz, umarmt Betty, flüstert ihr ein Danke ins Ohr und wir sehen uns. Betty lächelt ihn an, er besteigt wieder sein Auto und fährt davon.

An der Haustür angekommen, winkt nebenan Nachbar Rainer aus dem Fenster. Oh. stimmt, ihn hatte sie ganz vernachlässigt, also wendet sie, geht hinüber zu Rainers Haus, der ihr die Tür öffnet und neugierig meint, viel los bei dir, er dachte, sie wäre in ruhigeren Gewässern unterwegs. Was er mit viel los meine. Nun, es sei nicht zu übersehen gewesen, dass einige Autos hier vorfuhren, also nicht die kleinen, sondern die, von hohen Herren. Er habe noch zu Sophie gesagt, na, Betty verkehre jetzt in besseren Kreisen. Und irgendwer hat gewartet, dass sie komme und als sie gekommen sei, seien die einfach weggefahren.

„Hm, stimmt, das muss ein oder zweimal der Fall gewesen sein, da hat mich tatsächlich jemand überwacht. Du hättest mir ruhig Bescheid geben können.“

„Na ja, ich wollte keine Pferde scheu machen. Ich hätte mich auch täuschen können.“

„Aber, es war immer das gleiche Auto?“

„Denk schon. Ein BMW, da bin ich mir sicher.“

Sophie gesellt sich zu ihnen und Betty gibt einen Kurzbericht des Geschehens der zurückliegenden Woche. Die alten Herrschaften sind erschüttert, dass es so etwas gibt, Rainer schimpft auf die Schlechtigkeit der Welt, Sophie stimmt ein. Gut, die beiden werden den restlichen Tag nur ein Thema haben. Betty verabschiedet sich, müsse nochmals in die Stadt, endlich beginnen, das Haus einzurichten. Dort angekommen, brüht sie sich zunächst einen Tee, schaut auf die Uhr. Nein, sie wird nicht mehr in die Stadt ziehen, zu spät und eigentlich hat sie auch keine Lust dazu. Sie wird sich zunächst im Internet schlau machen, nichts kaufen, nur orientieren.

 

Den heißen Tee in der Tasse zum Tisch führend, setzt sie sich auf ihrer Couch ab, sinniert noch ein wenig vor sich hin, schlürft ab und zu an ihrem Tee, schnappt sich schließlich ihren Laptop, startet ihn, gibt Google ein, dort Schlafzimmer kaufen, erhält eine Menge Treffer, wählt Bilder und wird eingedeckt mit Fotos meist weißer Schlafzimmer, Lack, künstlich aussehende Verholzung, zwar weiß, aber nicht warm. Nein, die Bilder lassen Kälte spüren, Kälte im Schafzimmer, geht nicht, geht überhaupt nicht.

Da fast alle Betten Ehebetten sind, Doppelbetten, stellt sich ihr die Frage: Braucht sie ein Doppelbett? Eher nein. Der Doppel hat in ihrem Leben noch nicht stattgefunden, wird nicht stattfinden. Nein, denkt sie, der Zug ist abgefahren, zu dick, zu unattraktiv und überhaupt, sie hat noch nie nach einem Doppel Ausschau gehalten. Der Doppel hätte dann sicher ihre Körpermaße. Nicht auszudenken. Diesem Doppel würde kein Bett standhalten. Sie kommt sehr gut allein zurecht, kennt kein anderes Leben als allein zu sein und ehrlich, schlecht ist sie damit nicht gefahren, auch wenn Großmutter nichts lieber, als ein Urenkel gewesen wäre. Aber auch sie hat sie seit langem nicht mehr mit der Nachfrage nach männlicher Begleitung genervt. Nein, kein Doppelbett.

Aber, was da so angeboten wird, nein, irgendwie fade, langweilig, nicht ihr Ding und vermutlich auch ein Rundgang durch die Möbelhäuser würde dies nicht ändern. Die bieten irgendwie alle das Gleiche an, nur mit unterschiedlichen Preisen. Einzig, ein italienisches Schlafzimmer, in Kirsch, weckt ihr Interesse, ja, wirkt rustikal und dennoch modern, schöne, warme Farbe. Dazu eine hellgelbe oder toskanafarbene Tapete gedacht, ja das wäre es, nur, der Preis. Eindeutig zu hoch für ihre Verhältnisse und Kirsch, dass zeigt die weitere Recherche ist ein teures Holz. Scheiß dir der Hund drauf, sie wird über ihren finanziellen Schatten springen. Kirsch muss es sein.

 

Das Gästezimmer muss diesen Ansprüchen nicht genügen, sollte aber trotzdem nach Bettys Geschmack und nicht einfach eine preiswerte Lösung sein. Die Frage nach dem Doppelbett erledigt sich schnell, der Platz reicht nicht. So ein Bett würde das Zimmer fast im Alleingang auslasten. Was aber, wenn Vera ihren Holger mitbringen würde? Gut, dann würde sie im Gästezimmer schlafen und die beiden in ihrem Schlafzimmer, also doch dort ein Doppelbett. Meine Güte, denkt sie, alles komplizierter als gedacht.

Kirsch ist also ausgewählt, jetzt nur noch ein Möbelhaus finden, wird sie später machen. Jetzt entspannen, schaltet ihre Musikanlage an, legt eine CD auf, Crosby, Stills, Nash and Young. Stille. Träumerische Musik, die sie liegend, mitsummend aufnimmt. Almost cut my hair, Woodstock, die alten Herren in ihrer Jugend. Die Herren, mittlerweile in einem Alter in dem sie ihre Väter, ja Großväter hätten sein können. Sie wuchs mit der Musik auf, das Einzige, was sie von ihrer Mutter hatte. Sie liebt diese Musik, handgemachte Musik, nicht wie die heutigen Eintagsfliegen, deren Musik mit Rhythmusmaschinen oder dem Computer erzeugt wird. Die Texte zum Heulen und viele Songs kaum zu unterscheiden. Nein, mit diesem Neuen hat sie nichts am Hut. Auch deshalb stellt sie selten das Radio an, tut den Ohren weh, diese schrillen Gesänge. Ist sie konservativ? Rückwärtsgewandt? Nein, sie ist keine von denen, die meinen, früher sei alles besser gewesen. Aber die Musik, die war es definitiv. Sie hört die CD zu Ende, rafft sich auf, um aufzuräumen, Staub saugen, Pflanzen gießen, Gegenstände zu platzieren, die sie noch nicht hat.

Später dann das Abendessen, eine einfache Gemüsesuppe mit einer Scheibe Vollkornbrot, danach googeln nach Möbelhäusern in und um Hamburg. Problem, wie hinkommen? Wird sich finden, so wie die Möbel ihres Gefallens.

 

Entspannt, den Kopf mit Möbelsuche gefüllt, legt sie sich auf ihrer Couch längs und liest die Fluchtburg weiter, gleitet in die Zeit, in der Deutschland von einer Horde Unholden, planmäßig agierender Unholde, vereinnahmt wurde. Pohl schildert beispielhaft wie diese Unholde oder Belial, wie er ihn nennt, den kleinen Kurort Krummenau im Riesengebirge mit wenigen Handgriffen, aber harter Hand in den Griff bekommen, wie Menschen plötzlich ihre Chance wahrnahmen, ihrem Hass, Neid, ihrem unbegründeten Ehrgeiz hemmungslos auszuleben. Zwei drei Schurken, denen weitere folgten, die Vorteile des Folgens einzuheimsen. Menschen werden gemeuchelt, entführt, verhaftet, meist grundlos, außer, dass sie dem neuen Geist nicht folgen wollten oder einfach nur, weil das Gesicht missfiel. Alles still, aus seinem Waldwinkel, der Fluchtburg, verfolgt von einem verfemten Maler, dem Schriftsteller selbst, der eigene Erfahrungen niedergeschrieben hat, wie Betty seiner Biografie auf Wikipedia entnommen hat. Niedrigste Instinkte gewinnen die Oberhand, stummes oder lautes Zuschauen, Wegschauen, nicht wahrhaben wollen, was vor ihren Augen unverhohlen geschieht, die Gerüchte verfolgend, sie innerlich leugnend.

Betty ist tief berührt, von dem was sie liest. Sie fragt sich, wie dies möglich war. Es scheint alles so leicht gewesen zu sein. Es war ja nicht die Mehrheit und trotz allem die Mehrheit, die duldete, dass eine Minderheit über sie herrschte. Ihr kam der Spruch Nie wieder! in den Sinn, nur, denkt sie, ist das so? Haben die Menschen wirklich aus der deutschen Vergangenheit gelernt? Sind sie bessere Menschen geworden? Nein, sind sie nicht. Sie sieht ähnliche Strukturen, ähnliche Wut, Hass, unbegründete Unzufriedenheit, Neid in der Gesellschaft, Zukunftsängste, sowohl in Ost als auch in West. Was, wenn ein Belial wieder auftaucht? Wenn er auf uneinige demokratische Kräfte trifft? Alles würde werden wie vor und nach 1933, davon ist Betty überzeugt und überrascht, dass ihr diese Gedanken gekommen sind.

 

Wie damit umgehen? Was erwächst aus diesen Gedanken? Sich engagieren? Für die Demokratie einstehen? Ja, sonst wäre sie nicht anders als die, die damals schweigend zusahen. Soll sie sich politisch engagieren? Sie, die keine Ahnung von Politik hat, die einer Partei beitreten müsste und nicht weiß, welcher? Sie hatte anfangs für die Grünen optiert, aber schnell gemerkt, sobald diese in Regierungsverantwortung stehen, wird Politik gemacht, voll am Parteiprogramm vorbei. Sachzwänge. Faule Ausrede, seine Programme nicht umsetzen zu können oder zu müssen. Mögliche potenzielle Wähler vergraulen. Geht nicht. Und so agieren alle Parteien. Nein, Betty will Geradlinigkeit und diese kennt keine Partei. Soll sie anschreien, gegen die, die vorgeben, die Alternative zu sein. Alternative für was? Den Rechtsstaat? Sie muss mit Vera reden, sich mit ihr austauschen, ihre Meinung ist ihr wichtig, denn Vera kennt sich aus.

Für den Anfang könnte sie freitags mitmarschieren, allein schon der Bewegung wegen, überhaupt, sie hat sich tagelang nicht mehr um ihre Fitness gekümmert, hätte sie, anstatt auf der Couch zu liegen, tun können. Immer nur denken, immer nur reden, immer nur nichts tun. Der Schweinehund in ihr hat sie im Würgegriff. Muss sie ändern.

Betty hält das Buch geschlossen in ihren Händen. Doch, der Text hat sie innerlich erschüttert, aufgeregt. Das Buch so aktuell, wie sie lange keines gelesen hat. Lukas hat ihr dieses Buch in die Hände gespielt, deshalb wird sie ihm aber nicht dankbar sein, sondern dem Bösen ein Ende setzen. Nein, es wäre nicht gerecht, ihm in Caracas den Ruhestand zu lassen.

Ja, wird sie tun, wählt die Rufnummer von Koci an, der sich nach kurzem Warten mit „Ja?“ meldet.

“Bettina Sundberg. Der Fall ist abgeschlossen. Wir kennen den Täter. Ich würde Sie gerne einladen für Sonntag. Zum Mittagessen. Meine Großmutter und ihre Freundin werden mit am Tisch sitzen. Bringen Sie doch Ihre Frau mit. Meine Großmutter ist eine Miss Marple, die alles über den Fall wissen will. Sie sicher auch und bevor ich das Ganze mehrmals erzähle, dachte ich, Sie gesellen sich zu uns. Sonntag 12:30 Uhr im Il Gambero an der Elbchaussee. Werden Sie kommen?“

Ein dunkles nur kurzes Lachen, dann ein: „Ich werde da sein,“ und legt auf.

Macht Sinn, ihn einzubinden. Ob sie weitergeht, als nur zu berichten, mal sehen. Wird sie spontan entscheiden.

Sie liest noch bis spät in der Nacht. Kurz bevor ihre müden Augen zufallen, löst sie sich von der einen Liegelage in die andere, löscht die Lichter und lässt sich auf ihrem Bett nieder.

 

Noch vor dem Frühstück schnappt sich Betty ihre Stöcke und stöckelt hinunter zum Elbstrandweg, diesem entlang, durch den Jenischpark, den Klein-Flottbeker-Weg hinunter und zurück in den Philosophenweg. Stramme Strecke, strammes Tempo, gut geschwitzt, unter die Dusche, dann Frühstücken und los zu den Schweden. Zu Fuß nach Altona. Fitness-Tag heute. Von einem früheren Besuch weiß sie noch, dass im Möbelhaus einige Meter zu absolvieren sind, aber gut so.

Auto auf Auto rollt an, der Parkplatz gut bestückt, lässt ahnen, was drinnen los ist, allerdings zumeist ältere Herrschaften, die, wie Betty denkt, nicht so recht zu diesem Möbelhaus passen. Gut, hinein ins Vergnügen, Rolltreppe hoch, vor ihr, hinter ihr, Menschen, sie geht rechts, beginnt den Möbelparcour, die Menschen laufen links. Sie stutzt. Ist sie falsch? Nein, ist sie nicht, versteht, wohin die älteren Herrschaften streben, der Kaffeeduft verrät es. Billig frühstücken bei den Schweden. Sie wendet, zurück auf den Parkour, Pfeile auf dem Boden helfen, auf dem Weg zu bleiben, der mit Leuten bestückt ist. Probesitzen, Probeliegen, Messen, Vergleichen, die Käufer aktiv. Betty schaut nur, betrachtet, wägt ab. Durchwandert die Küchenabteilung, uninteressant, die Bäderabteilung, auch nicht von Interesse, der Wohnbereich, schon besser. Sitzgruppen, Sitzlandschaften, größer geht’s nicht. Nein, nichts für Betty, sie stellt sich ein Ecksofa vor, dazu zwei bequeme Sessel, ein kleiner Couchtisch, fertig. Farbe? Vielleicht Bordeauxrot? Ja, aber weit und breit kein Sofa in der Farbe zu sehen. Sicher Sonderanfertigung, blickt sich nach einem Verkäufer um. Niemand zu sehen, geht an eine Couch heran, liest sich die Beschreibung durch. Das Sofa gibt es in vier Farbvarianten, nur nicht in der Variante, die Betty gerne hätte. Sie stöbert weiter, erfolglos. Schließlich landet sie an einem Infopoint, steht groß über einem Steharbeitsplatz mit Computer, aber keiner da, der informiert. Der Computer? Sie tippt ihn an, der Bildschirm leuchtet auf und begrüßt sie, also nicht sie persönlich, sondern die liebe Kundin.

Leck mich, denkt Betty und wandert angenervt weiter in die Schlafzimmer-Abteilung. Kiefer über Kiefer, kein Kirsch. Sie rüttelt an einem Bettgestell, wacklige Angelegenheit, sieht sie den dünnen Beinen des Gestells schon an. Nein, sie braucht massives Material, auf festen Beinen. Wieder ein Infopoint, den Betty umschifft. Und alles in Weiß, bis auf ein Bett, dunkelbraun, die Möbel und Assessors drum herum in Beige und Dunkelbraun gehalten. Ja, doch, zwar dunkel, aber ihr altes Zimmer ist hell, so dass es nicht zu dunkel wirken wird. Das Bettgestell wird sie nehmen, braucht aber noch eine Matratze und all das andere Drumherum. Das Bettgestell hat sogar einen Namen: Idanäs. Gut, ist halt so, andere Länder, andere Sitten. Und da ist noch ein Störfaktor, muss sie das Bett selbst montieren? Wird es geliefert und aufgebaut? Sie hat schon einige Schraubergeschichten gehört, die sie nicht wiederholen möchte. Ein junges Paar betrachtet ebenfalls das dunkelbraune Bett, Betty fragt sie, ob sie wüssten, wie das Bett geliefert wird und ob es montiert wird.

Sie könne liefern und montieren lassen, natürlich gegen einen gehörigen Aufpreis. Gut, weiß sie das, geht weiter, im Kopf, was sie haben will. Unmittelbar beim Ausgang ein Blick in das Restaurant, proppenvoll, muss gut sein, das Frühstück. Und jetzt? Zum Höffner nach Eidelstedt, mit dem Bus, zu Fuß wäre ein Marathon. Erst die Großen, dann die Kleinen, die Billigen wird sie nicht aufsuchen. Mit dem Bus kommt sie fast bis zum Möbelhaus, geht einige Meter, betritt das Haus, orientiert sich an der Informationstafel, wo sie hinmuss, und marschiert zur Rolltreppe, zur Schlafzimmerabteilung, trifft dort tatsächlich einen Kundenberater, den sie sich sofort schnappt, ihre Wunschvorstellungen äußert und zu einem Schlafzimmer geführt wird, das in Kirschholz gefertigt wird. Nicht ganz der italienische Stil, aber ansprechend. Der Schrank nicht wuchtig, auf alt getrimmt. Warum lange herumsuchen, das Zimmer nimmt sie, inklusive der beiden Nachtschränkchen, auch wenn sie nicht weiß, warum.

 

Das dunkelbraune Gäste-Schlafzimmer noch im Kopf lässt sie sich zu einem Bettgestell führen, zwar Kiefer, sei aber in Dunkelbraun lieferbar. Der junge Verkäufer führt sie zu einem Computer, zeigt das Modell in der gewünschten Farbe. Zurück zum Kiefernbett, Probeliegen. Gut, jetzt noch Matratzen für beide Betten. Der Verkäufer rät ihr zu harten Matratzen, der Wirbelsäule zuliebe. Gut, Bettdecken und Kopfkissen brauche sie auch. Der junge Mann wird heute Umsatz machen, umso erfreuter versucht er, Bettys Wünsche zu erfüllen. Sie unterschreibt den Kaufvertrag, Bezahlung bei Lieferung, die auf sich warten lassen wird, acht Wochen Lieferzeit, sagt der junge Mann. Sie bedankt sich und entscheidet sich, dem Restaurant im Haus, zuvor der Toilette, einen Besuch abzustatten. Hausmannskost. Aber der Magen knurrt und gut, wenn es sein muss, Wiener Schnitzel mit Pommes. Sie setzt sich, braucht einen Augenblick, um zu verstehen, dass hier Selbstbedienung das Prinzip ist, geht vor, mischt sich einen Salat, wenigstens der gesund, lässt sich Pommes und Schnitzel auf den Teller legen, stellt es auf ein Tablett und geht zurück auf ihren Platz.

Sie hätte Lusi längst anrufen müssen. Die Kleine, ganz vergessen in den letzten Tagen, also zückt sie ihr Smartphone und wählt Lusi an, die abnimmt, nicht im Büro, zu Hause.

„Hast dir Zeit gelassen, aber ich habe ich schon gehört, dass ihr den Fall gelöst habt.“

„Oh, du weißt es schon? Wie das?“

„Oh, Betty, du solltest Radio hören oder Zeitung lesen, die berichten heute ausführlich über den Fall.“

„Habe ich nicht mitbekommen, echt nicht. Ja, wir haben den Fall gelöst, dumm nur, dass sich der Täter unserem Zugriff entzogen hat. Wahrscheinlich nach Venezuela.“

„Kommt mir irgendwie bekannt vor. Entweder sie tauchen unter oder ab. Da fällt mir ein, die Frau deines Niederschlägers ist verschwunden. Wir hatten sie ja noch eine Zeitlang überwacht, in der Hoffnung, der Hausmeister würde bei ihr auftauchen. Zwei Tage nachdem die Überwachung aufgehoben wurde, ist sie auf und davon. Keine Spur mehr von ihr.“

„Sie wird ihren Mann in Russland besuchen. Tja, man kann nicht alles haben.“

„Hast du Geschmack gefunden an dem Fall? Keine Impulse für die Rückkehr in den Staatsdienst bekommen?“

„Nein, nichts dergleichen. Ich bin schon wieder zivil, bin gerade mit der Auswahl meiner Einrichtung beschäftigt. Auch spannend und ab Montag wieder in der Wissenschaft aktiv, übrigens auch Staatsdienst.“

Betty berichtet nur kurz auf Lusis Bitten über den Verlauf des Falles, zugleich in kleinen Bissen Schnitzel und Pommes verzehrend. Ausführlicher würde sie ihr alles erzählen, wenn sie nach Hamburg käme, nicht um auszuhelfen, sondern sie zu besuchen. Bei der Gelegenheit, habe sie es sich überlegt, mit der Stelle in Hamburg. Nein, Hamburg sei nicht ihr Ding und Griebel wird ja nicht ewig bleiben. Sie sitze das aus. Oh, sie habe von der Politik gelernt. Genau.

Aber sie komme gerne. Über das Wochenende? Na klar. Ob sie wohl David mitbringen dürfe. Selbstverständlich. Was Ernstes, will Betty wissen. Sie seien gute Freunde, Freunde in der Not. Wann wolle sie denn kommen? Noch vor Weihnachten, shoppen im Weihnachtstrubel, habe sie noch nie gemacht, freue sich darauf. Nun gut, denkt Betty, sie auch nicht, ja, kann spaßig werden.

 

Vom Möbelhaus aus fährt sie in die Innenstadt zurück, bummelt durch die Mönckebergstraße, schaut hier und da ein Schaufenster an, betritt die Europa-Passage, schlendert Etage für Etage ab, betritt einen Schnickschnack-Laden, schaut sich Dekorationsteile an, Assessors, Staubfänger, findet nichts, was ihr zusagt. Bevor sie die Passage verlässt, erlaubt sie sich noch einen doppelten Espresso. Im Sitzen denkt sie über Morgen nach, muss grinsen bei dem Gedanken, dass Koci und ihre Großmutter aufeinandertreffen. Vielleicht doch keine gute Idee. Aber egal, Omi wird Koci interessant finden und Koci wird den Charmeur spielen.

Sie nimmt den Bus bis zum Hohenzollernring, geht hinunter zum Philosophenweg, betritt ihre Wohnung, Mantel aus, Schuhe aus, setzt sich auf ihrer Couch ab, legt die Beine hoch, verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Die Frau des Hausmeisters, ab durch die Mitte, hat Betty nicht gedacht, hatte immer das Gefühl, die Frau habe mit ihrem Mann abgeschlossen. Tja, so kann frau sich täuschen. Und Frau Johannsen? Wird sie ihrem Lukas folgen. Hat sie genauso getäuscht wie die Frau des Hausmeisters? Wird sie überwacht? Sie meint, dies angeregt zu haben. Aber, ob dies auch so ist? Kurz davor, Rainer anzurufen, sagt sie sich, nein, nicht mehr ihr Ding.

Ach du meine Fresse, sie war in der Stadt und hat vergessen, einzukaufen, Kühlschrank und der Schrank mit Vorräten leer, also fast leer. Wo hat sie nur ihren Kopf? Die Beine schwer, viel gelaufen heute, weshalb die Lust, jetzt noch einmal aufzubrechen, gering ist, dummerweise aber eine Notwendigkeit. Gut, muss sie ein Taxi rufen, sich zum nächsten größeren Supermarkt fahren lassen. Am Bahnhof Altona weiß sie einen Markt, der einen Lieferdienst hat. Heute noch? Sie ruft dort an, erklärt, dass sie gleich zum Einkauf vorbeikäme, die Einkäufe aber heute noch geliefert haben möchte. Bekommen sie hin, sie solle sich, wenn sie angekommen sei, an der Information melden.

Dann also los, Taxi rufen, kurz warten, einsteigen und losfahren. Einkaufswagen schnappen, losdrücken, einladen, was sie meint zu benötigen, vor allem Gemüse, Obst, zuckerarmes Müsli, Vollkornnudeln, Vollkornreis und weitere Dinge, die sie planlos im Vorbeigehen in ihren Wagen packt. Abschließend zur Fleischtheke. Ach, Getränke noch, stellt Wasser auf die Ablage unter dem Wagen und schiebt zur Kasse, legt alles auf das Laufband, wieder zurück in den Wagen, zahlt, legt ihre Wagennummer und ihre Adressdaten obenauf, geht zur Information. Ein Herr älteren Datums holt den Wagen ab, wird ihn in Kürze bringen. Wieder ein Taxi herbeirufen und zurück zur Wohnung fahren.

Für das Abendessen bereitet sie sich einen Bohnensalat vor, die Bohnen müssen allerdings erst gebracht werden, ebenso grüner Paprika. Tomaten, Gurken, Frühlingszwiebel sind vorhanden. Die Wartezeit nutzt Betty, um weiter in der Fluchtburg zu lesen. Schlesien, deutsch besiedelt, polnisches, unterdrücktes Leben drumherum, die Ahnung naher Kazets, Versuche des Widerstandes, stetige Angst vor der Denunziation, ein Landesteil, den Betty erstmalig lesend wahrnimmt. Polnische Partisanen, die Gleiches mit Gleichem vergelten, gnadenlos metzelten, Rache an der deutschen Bevölkerung in ihrem Land.

Das Läuten an ihrer Haustür reist Betty aus der Erzählung, nimmt die gekauften Waren in mehreren Tüten verpackt, entgegen, dankt, trägt alles zum Küchentisch, räumt aus und ein, und kann ihren Bohnensalat vollenden.

Nach dem Abendessen, weiter mit der Lektüre, die sie spät in der Nacht abschließt, tief betroffen, von dem, was sie gelesen hat. Was Menschen Menschen antun, unglaublich und ja, Betty zweifelt nicht daran, dass sich wiederholen kann, was nie wieder geschehen sollte. Menschen sind lenkbar, durch die Möglichkeiten der IT noch lenkbarer als früher, manipulierbarer. Ein Blick über den Teich zeigt, was möglich ist, noch in Zaun gehalten werden kann, aber wehe, wenn er losgelassen.

Erschöpft, macht sie sich für die Nacht bereit. Schläft traumlos dem Morgen entgegen.

 

Den Sonntag geht sie gemütlich an, ist spät aufgestanden, lange geduscht, ein Trödelfrühstück im Morgenmantel vollführt, begonnen, in ihrem alten Kinder-/Jugendzimmer auszuräumen, auszusortieren, was der Sperrmüll abholen darf. Gegen Mittag dann hinüber zu Omas Turm, sie ihre Großmutter bereits wartend antrifft, Ilse mit Hut und Mantel, in Habachtstellung kauernd, auf dem Sofa. Oma nörgelt herum, schlecht geschlafen, dass sie nur ihretwillen mitgehe, zu diesem Italiener, der seine Gäste verscheuche. Betty geht nicht darauf ein, weil sie weiß, dass ihre Großmutter sich freut, endlich wieder in Silvios Restaurant zu gehen, aber die Fassade wahren will. Noch.

Sie habe einen weiteren Gast eingeladen, verkündet Betty, einen Schwerverbrecher, na ja, nicht schwer, aber Verbrecher, von dessen Familie sie gelesen, gehört oder gesehen hätten. Was? Erstaunt sich Ilse, auch Omi blickt irritiert zu ihrer Enkeltochter.

„Du lädst einen Verbrecher an unseren Tisch?“

„Omi, kein richtiger Verbrecher, ein netter älterer Herr, mit dem ihr ein bisschen schäkern könnt.“

„Schäkern? Kindchen, wie kommst du auf eine solche Idee. Aus dem Alter sind wir raus. Stimmts Ilse?“

Ilse schaut verdattert drein, gibt aber keine Antwort. Oha, denkt Betty.

„Ich weiß Omi, keine so gute Idee, aber dem Herrn Koci verdanke ich, dass wir den Mörder kennen, wenn wir ihn auch nicht fassen konnten.“

„Und was ist das für ein Verbrecher, dieser Herr? Gar ein Mörder?“

„Das weiß ich nicht Omi. Er hat mit Drogen zu tun, Geldwäsche. Er hat sicher auch schon Menschen umgebracht. In seiner Familie nicht ungewöhnlich.“

„Nicht ungewöhnlich? Also Kindchen, weißt du. Manchmal…“

Ilse hat interessiert zugehört und meint nun, es sei ja durchaus üblich, dass Menschen sich gegenseitig umbringen, in Amerika käme dies oft vor, also so schlimm sei es nun auch wieder nicht. Und der Herr habe es sicher nicht übertrieben, sonst hätte er der Einladung doch nicht Folge leisten können. So sei es, antwortet Betty schmunzelnd.

„Lass uns gehen, bevor ich lautstark werde,“ fordert Großmutter.

Sie fahren zusammen mit dem Aufzug nach unten, verlassen den Turm und watscheln gemütlich am Elbuferweg vor zum Restaurant. Omi mit Hut, langem Mantel, ein mit bunten Blumen bedrucktes Kleid darunter. Dem Winter trotzen nennt sie es. Ilse wirkt gegen Bettys Großmutter eher wie das graue Mäuschen, bieder in grau und dunkelblau. Der Jahreszeit entsprechend. Vor dem Restaurant sieht Betty bereits Kocis Wagen parkend, der Fahrer hinter dem Steuer. Als sie ankommen, steigt der Fahrer aus, öffnet die hintere Tür und Koci wird sichtbar. Ohne Frau, hat Betty sich schon so gedacht.

Koci geht lächelnd auf die älteren Damen zu, drückt freundlich lächelnd die Hand von Großmutter, die Betty vorstellt, dann Ilse und schließlich bekommt auch Betty einen Händedruck. Er sei sehr erfreut, die Großmutter einer so intelligenten Enkeltochter kennenzulernen. Charmeoffensive. Betty hat einen Tisch am Fenster mit Blick auf die Elbe, reserviert und Silvio instruiert, dass sie die Kosten übernehme, aber so tue, als sei es seine Einladung. Das er einladen wollte, längst vergessen. Egal, Betty mag eh keine Geschenke.

Nachdem sie ihre Plätze eingenommen haben, bringt Silvio höchstpersönlich die Speisekarte, verweist auf die Tafel an der Wand, auf der die heutigen Spezialitäten aufgeführt seien und erkundigt sich nach Großmutters Befinden, entschuldigt sich, wenn sie damals im Ärger gegangen sei. Leider habe er dies nicht mitbekommen, sonst hätte er gehandelt. Wie, will Omi erst gar nicht wissen. Nimmt die Entschuldigung huldvoll lächelnd an.

 

Herr Koci spricht Großmutter an, ob sie gebürtige Hamburgerin sei, ja sei sie. Aber sei auch halbe Pommerin, ihr verstorbener Ehemann sei aus Pommern stammend, was Koci zu interessieren scheint, fragt detailliert nach und Omi erzählt munter vom Leben ihres Mannes vor dem Krieg und während des Krieges und danach von Flucht und Vertreibung, aufmerksam verfolgt von Koci, der zustimmend nickt, schließlich bedauernd meint, ja, er könne nachvollziehen, was ihr Mann erlebt habe, ihm sei es ähnlich ergangen, habe Kriege und Unterdrückung erlebt und Flucht, und Hamburg als seine neue Heimat gefunden. Flucht, Fluchtburgen, anscheinend eine nicht enden wollende Geschichte. Die beiden lächeln sich an, verstehen sich auf Anhieb, kein Wort, kein Gedanke mehr an den Verbrecher. Ilse beobachtet, schweigt und denkt sich ihren Teil.

Sie haben ausgewählt und bestellen, Vorspeisen, Hauptspeisen, Dessert später. Koci, von Großmutter darum gebeten, berichtet aus seinem Leben, erstaunlich offen. Ilse kann sich nicht mehr zurückhalten und meint, er sei ein Verbrecher, ob ihn das nicht belasten würde. Oh, sagt Koci, die Polizei sagt das, er fühle sich aber nicht so, also ihn belaste nichts. Auch keine Toten, hakt Ilse nach. Tote? Nein. Seine Toten seien alle auf natürliche Weise gestorben. Versteht Ilse nicht, ihr anzusehen, aber sie hält vorerst still. Warum er seine Frau nicht mitgebracht habe, will Großmutter wissen. Die sei leider vor vier Jahren verstorben, zu Ilse gewendet, auf natürliche Weise, sie sei an Darmkrebs erkrankt, was die Damen am Tisch bedauern.

Die Vorspeisen werden serviert, Koci schielt ab und an auf Betty, erwartungsvoll auf das wartend, was sie zu erzählen hat. Und die fängt an, nachdem die älteren Herrschaften sich alles Wichtige berichtet haben, ihr Gespräch langsam erlahmt. Beginnend mit dem tragischen Unfall der Familie Preuß, der Rache des Bruders und den Erkenntnissen des Bruders aus seiner Tat. Sein planvolles Vorgehen, die Erpressungen, die Morde, bis hin zu seiner Flucht.

„Er hat seine Flucht von Anfang an einkalkuliert, dachte aber, dass sie ohne Komplikationen verlaufen würde. Die kamen aber nach der Entdeckung der Leiche im Keller des Elternhauses. Selbst seine Flucht verlief planmäßig. Wir konnten sie nicht mehr verhindern, konnten allerdings herausfinden, dass er über Warschau und Moskau nach Caracas geflogen ist und nun dort in einem Hotel sitzt und auf seine Eltern wartet. Die allerdings für einige Jahre ins Gefängnis müssen.“

„Sie kennen das Hotel?“

„Nein, das war symbolisch gemeint. Ob er in einem Hotel oder irgendwo sich eine Wohnung oder ein Haus angemietet hat, wissen wir nicht. Er ist von unserem Radar gesprungen. Ein Zugriff nicht möglich. Nicht für uns.“

 

Der letzten drei Worte lassen Koci aufhorchen, Betty, die ihm einen kurzen Blick zugeworfen hat, kann es seiner Mimik entnehmen. Das Hauptgericht wird aufgetischt. Betty hat sich für ein Saltimbocca alla Romana entschieden mit Broccoli und Rosmarinkartoffeln, Großmutter die gegrillte Dorade, Ilse Lammhüfte auf Paprika und Cocktailtomaten, Koci das Bistecca alla fiorentina. Während des Essens reden sie weiter über den Fall, Betty antwortet den Fragen von Großmutter und Ilse. Koci schmunzelt ob der Neugier der beiden Damen, stellt aber selbst keine Fragen. Nach dem Dessert Kaffee und Hochprozentiges auf das Haus. Noch ein wenig Geplauder, dann der Aufbruch.

Ganz Gentleman hilft Koci den beiden älteren Damen in ihre Mäntel, was Betty nutzt, auf ihrem Smartphone nach und nach drei Bilder aufzurufen und sie auf Kocis Handy zu schicken. Der scheint den Eingang der Nachricht auf seinem Handy zu spüren, wirft Betty einen kurzen fragenden Blick zu, die ein Lächeln andeutet und weiß, Koci ahnt, was bei ihm angekommen ist.

Koci bedankt sich für die Einladung, verabschiedet sich von Großmutter mit dem Verweis, sie könne stolz auf ihre Enkeltochter sein. Händedruck für Ilse. Betty nimmt er sanft zur Seite, sagt, dass die Beisetzung Dienstag auf dem Friedhof Holstenkamp um 14:00 Uhr erfolgt. Er reicht ihr die Hand, lächelt Betty an, sagt Danke, besteigt seinen Wagen und fährt davon.

„Ein durchaus netter Mensch.“

„Ja, er ist Täter und Opfer. Opfer seiner Sozialisation, seiner Erziehung, seines Milieus.“

„Aber er hat doch Füße, er hätte sich entscheiden können, die Seite zu wechseln oder auszusteigen.“

„Er lebt in einer großen Familie, wo einer auf den anderen achtet, auch darauf, dass er tut, was von ihm erwartet wird.“

„Schwäche zeigen heiß sterben müssen?“

„Richtig Omi. Du kennst dich aus.“

„Bei der Enkeltochter ist das kein Wunder.“

Die drei schlendern den Elbuferweg entlang, dem Nachmittag entgegen.

 

Ende März findet sich in der in Caracas erscheinenden Tageszeitung El Universal eine Meldung unter Verschiedenes, wonach im Parque del Este im Osten von Caracas der Leichnam eines übel zugerichteten männlichen Leichnams gefunden worden sei, ohne Kopf und Identität. Kaum jemand nahm Notiz von dieser Notiz. Betty schon einmal gar nicht, die ihrem wissenschaftlichen Alltag nachgeht, den Fall in die Tiefen ihres Bewusstseins versenkt hat.

Die Kurzfassung

 

Teil 1: Lübeck

 

In der Fremde erfährt man mehr als zu Hause.

 

Ganz gleich, wie beschwerlich das Gestern war, stets kannst du im Heute von Neuem beginnen.

 

Die Entfernung ist unwichtig. Nur der erste Schritt ist wichtig.

 

Was wir wissen, ist ein Tropfen. Was wir nicht wissen, ist ein Ozean.

 

Wenn du immer wieder das tust, was du immer schon getan hast, dann wirst du immer wieder das bekommen, was du immer schon bekommen hast.

 

Nur wer seinen eigenen Weg geht, kann von niemandem überholt werden.

 

 

Teil 2: Hamburg

 

Im Leben kommt es nicht darauf an, ein gutes Blatt in der Hand zu haben, sondern mit schlechten Karten gut zu spielen.

 

Alles in der Welt ist nur für den da, der Augen hat, es zu sehen.

 

Das Ziel ist nie ein Ort, sondern eine neue Art, die Dinge zu sehen.

 

Wer einmal sich selbst gefunden, kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren.

 

Impressum

Texte: Bernd Engroff
Tag der Veröffentlichung: 22.03.2024

Alle Rechte vorbehalten

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