In der Fremde erfährt man mehr als zu Hause.
(Sprichwort aus Tansania)
So, das Wichtigste, das, was mächtig ihr Gewissen belastet hat, ist erst einmal entschärft. Hembach hat wie erhofft reagiert und beide werden über ihren gemeinsamen Toten schweigen. Aber, ob dieser Tote auf Dauer schweigen wird, lässt sich so nicht sagen. Auf irgendeiner Müllkippe unter Tonnen von Müll ruhend, wird er in Vergessenheit geraten. Dennoch befürchtet Betty, dass der Totzuschweigende sie noch oft anderweitig heimsuchen wird, bis er endgültig in Vergessenheit gerät, sofern es diese Endgültigkeit gibt.
Aber mit Hembach, ihrem Chef, darüber gesprochen zu haben, vor allem seine Reaktion, war für sie ein kleiner Befreiungsakt. Zumal sie in drei Tagen aufbrechen wird, um die verordnete REHA anzutreten, für vorerst vier Wochen. Noch ist Betty nicht so weit, als von dem heftigen Niederschlag wieder hergestellt zu gelten. Kopfschmerzen, noch leichte Sprachstörungen, Gleichgewichtsstörungen und weiterhin viel zu viel Gewicht auf den Rippen, müssen wieder ins Lot gebracht werden. Und diese vier Wochen, mit den von Professor Theissen angedeuteten therapeutischen Maßnahmen, durchzustehen, ist schon eine Herausforderung für Betty und wäre dann noch eine ungeklärte Leiche in ihrem Kopf, wäre dies eindeutig kontraproduktiv. Also hat sie mit Hembach geredet, ihm von dem Toten im Müllcontainer berichtet, der aller Wahrscheinlichkeit der Pfleger, Nicola Schroh, war.
Beide stimmten überein, ihr Wissen zu verschweigen, auch wenn dies für zwei Kriminalbeamte alles andere als korrekt ist. Wie sie mit dem wissenden Schweigen umgehen wird, werden die kommenden Wochen zeigen, aber ein Zurück kann es nun nicht mehr geben. Lebensballast, denkt Betty, ein weiterer Ballast, den sie, zusätzlich zu ihren Kilos, mit sich tragen muss. Und Hembach, da ist sich Betty sicher, wird in seinem bevorstehenden Ruhestand keinen Gedanken mehr an den toten Pfleger verschwenden, zu abgebrüht, zu viel erlebt in seinem Berufsleben, um sich von einem Toten im Ruhestand stören zu lassen.
Hembach ist hinter seinem Schreibtisch aufgestanden, geht auf Betty zu und, macht etwas, was er nie zuvor getan hat, er drückt Betty an sich.
„Ich freue mich, dass du wieder einigermaßen wohlauf bist und der Rest an Gesundheit, den wirst du dir die nächsten Wochen holen. Und danach wirst du, wie vorher, die Bösen in Lübeck jagen. Erhol dich gut und komm regeneriert wieder…Allerdings wirst du mich nach deiner Rückkehr nicht mehr hier antreffen…“
„…Wie? (tiefes Erstaunen bei Betty) Nicht mehr antreffen? Ich dachte Ende September wäre Schluss für Sie…“
„…Ich habe noch Urlaub und einiges an Überstunden abzuarbeiten, was heißt, in vierzehn Tagen ist der Ofen für mich aus.“
„Ja, und dann? Einfach Schluss? Aus und vorbei?“
„Ja, aus und vorbei…was meine kriminelle Zeit betrifft. Ich freue mich auf die viele Zeit, die ich haben werde und die ich sinnvoll zu nutzen gedenke. Keine Kriminellen mehr, die mir meine Zeit stehlen. Ich weiß, dass es nicht einfach werden wird, all die Jahre stecken in mir drin. Ich höre nicht abrupt auf. Du hast es bestimmt festgestellt, ich bin längst ausgestiegen, überdrüssig all diesem Scheiß. Nervende Vorgesetzte, Kollegen und düstere Personen und all dieses Elend, diese Trauer. Und unser Pfleger hat mir den Rest gegeben. Nein, das muss ich auf meine alten Tage alles nicht mehr haben. Die Welt ruft und ihrem Ruf werde ich folgen.“
„Kleine Fluchten? Trotzdem, es bleibt Ärger, den ich da heraushöre?“
Hembach lehnt sich in seinem Stuhl etwas zurück, seufzt dezent, scheint noch nicht zu wissen, wie er seine Gefühlslage beschreiben soll.
„Ich habe zu viele Enttäuschungen in meiner Laufbahn, in meinem Leben, erfahren, um noch Reserven an Zorn oder Ärger zu haben. Ich würde sagen, es ist eine resignative Gleichgültigkeit…Du weißt, ich wollte sowieso gehen, nun halt etwas früher, und eher ungewollt. Zwei Jahre wären es noch gewesen, zwei Jahre, die ich hätte mit viel Widerwillen durchstehen müssen. Die Herrschaften dort oben sagen, ich hätte einen Fehler gemacht, den Fehler, dich als leitende Ermittlerin in einem so komplexen Fall einzusetzen. Und, dass uns der Hausmeister und der Pfleger durch die Lappen gingen, schreibt man deiner Unerfahrenheit zu und die Unerfahrenheit eingesetzt zu haben, schreibt man mir zu und dem Polizeipräsidenten, der übrigens ebenfalls in Kürze das Präsidium verlassen wird.“
„Petersen auch? Was war so falsch an dem, wie wir gehandelt haben? Weder Sie noch ich wussten zu Beginn des Falles, in welchen Abgrund wir da eintauchen. Ich sehe da keine Fehler. Na ja, der vielleicht, dass ich allein in den Keller gestiegen bin. Ja, das war Unerfahrenheit, aber deswegen das Personalkarussell drehen?“
„Es ist einfacher, Bauern zu opfern als eine interne Ermittlung anzustrengen, die eventuell Staub in die Öffentlichkeit tragen und unangenehme Diskussionen zur Folge haben könnte. Ich mache mir keine Vorwürfe und du solltest dir schon gar keine Vorwürfe machen. Ohne deine Intuition hätte es ein neuntes Todesopfer gegeben, wären weiter verbotene Substanzen und Rauschmittel ins Land geschmuggelt worden und nicht zu vergessen, diesen vertrackten Mord des Typen, der seine totkranke Frau ermordet hat…Mitunter ist die Welt ungerecht, deswegen aber lasse dich nicht beirren, mache so weiter wie bisher, wobei ich hoffe, dass dein neuer Chef deine Fähigkeiten zu schätzen weiß.“
„Wissen Sie bereits, wer dies werden wird?“
„Nein. Nichts konkretes, aber Petersen deutete an, jemand aus dem LKA Niedersachsen solle meine Stelle einnehmen und wer Polizeipräsident werden wird, ist noch vollkommen offen.“
„Apropos neuntes Opfer. Wahrscheinlich hat mir Lusi davon berichtet, aber ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Schroh hat tatsächlich ein weiteres Opfer am Haken?“
„Am Haken ist gut. Nein, er hatte sie schon nach Berlin in Marsch gesetzt…“
„…Schon in Berlin?...“
„Ja, Ende Juli. Mytro und seine Leute hatten sie identifizieren und die Mutter der Frau ausfindig machen können und diese wusste, dass ihre Tochter für ein paar Tage nach Berlin gefahren sei. Die Mutter hatte auch die Handynummer der Tochter, so dass wir sie im Hotel erreichen konnten. Alles lief nach gleichem Muster ab, Schönheitsoperation, Briefe geschrieben, Chats geführt, Berlin-Aufenthalt und danach sollte es nach Lübeck weitergehen. Dazu kam es glücklicherweise nicht mehr. Sie hat bereits den dritten Tag im Hotel auf ihn gewartet, als wir sie erreichten. Die Berliner Kollegen haben sie dann in volle Kenntnis gesetzt. Sie habe zunächst aus Verzweiflung geweint, dann aus Ärger, schließlich vor Glück, nicht das Schicksal ihrer Vorgänger geteilt zu haben. Ich bin mit Röber zu ihr nach Berlin gefahren und ich habe lange mit ihr gesprochen. Also, wie er seine Opfer anlockte und umschmeichelte darüber haben wir genaue Kenntnisse. Aber jetzt nicht mehr relevant. Es ist vorbei und wir sollten den Fall so schnell als möglich vergessen. Wohin fährst du eigentlich zur REHA?“
Ja, das ist Hembach, ablenken, Thema wechseln, Haken machen. Gut, Betty ist ein wenig erschöpft und hätte sie weitergebohrt, Hembach hätte sicher noch das eine oder andere von seinem Wissen preisgegeben. Was sie wissen muss, wird sie frühzeitig erfahren.
„Nach Ahrenshoop. In Mecklenburg-Vorpommern…“
„…Oh, ich kenne die Gegend sehr gut. Fischland. Eine sehr schöne Gegend. Direkt an der Ostsee gelegen und dahinter der Saalener Bodden, Naturpark, kleine teils noch ursprüngliche Dörfer. Betty, du wirst, also zumindest diese Gegend, lieben lernen, glaube mir. Nutze sie, es gibt viel zu sehen, zu entdecken. Natur zu Wasser und zu Lande. Nur, warum so weit, hätte sich nicht eine Klinik im näheren Umfeld finden lassen, in Neustadt oder Malente gibt es meines Wissens auch gute REHA-Kliniken.“
„Hm, das weiß ich nicht. Ich habe nur die Empfehlung von Professor Theissen befolgt, der mir die Klinik in Ahrenshoop angepriesen hat. Er meinte, bei all den Schäden, die ich hätte, sei eine Klinik nötig, die mehr als nur ein straffes REHA-Programm durchführe, was immer das für mich heißen mag.“
Hembach hustet ein Lachen von sich.
„Du wirst es überstehen…“
„…Jetzt haben Sie mich aber neugierig gemacht. Woher kennen Sie die Gegend?“
Kurzes Innehalten bei Hembach, als überlege er, ob und wie er antworten soll.
„Eine lange Geschichte, Betty. Ich erzähle sie dir einmal, nicht jetzt, nicht heute. Du solltest dich auf den Weg nach Hause machen, entspannen, deine REHA antreten und zusehen, dass du gesundet wieder hier aufschlägst.“
Sie will ihn fragen, wann später sei, wo er doch, wie er sagte, nicht mehr hier sei, wenn sie zurück wäre, lässt es aber sein. Hembach redet nicht einfach so daher. Sie nimmt seine Aussage als Versprechen auf.
Ja, der Zwischenstopp im Präsidium war eigentlich nicht geplant, Mentel hätte sie von der Klinik nach Hause fahren sollen, aber Betty wollte das Gespräch mit Hembach unbedingt sofort führen.
Im Abgehen von Hembachs Büro ahnt Betty, dass hinter der von Hembach angedeuteten langen, eine eher verzwickte Geschichte steckt, wie überhaupt in Hembach viele versteckt gebliebene Geschichten schlummern. Sie weiß wenig über Hembach, sein Leben, seine Vergangenheit, seine Gegenwart und auch seine Zukunft hat er nur angedeutet, ohne zu verraten, was er konkret vorhat. Das Einzige, was sie mit Sicherheit weiß, ist, dass Hembach ihr ein guter Chef ist, und nun war.
Aber allein schon die Andeutung einer offenen Geschichte fasst Betty als Vertrauensbeweis auf und weiß, demnächst wird sie Überraschendes hören, wie auch immer das Zustandekommen mag.
Allerdings scheint Hembach davon auszugehen, dass Betty Lübeck treu bleibt, was nicht ausgemacht ist. Der Praktikumsteil ihrer Ausbildung zur Fallanalytikerin bedingt zwar noch zwei Monate Lübeck, danach aber muss sie zurück nach Hamburg, den Abschlusslehrgang absolvieren, die Abschlussprüfung bestehen. Und dann? Nun, sie ist sich noch unschlüssig, welchen Weg sie einschlagen soll und wird auch sicher noch einige Zeit benötigen, dies für sich zu entscheiden. Diese REHA, an diesem Ort, wird ihr dabei helfen, das hat sie im Gefühl.
Betty verlässt Hembachs Büro, geht vor zu Lusi, die erwartungsvoll mit leicht fragendem Blick, die ihr entgegenkommende Betty betrachtet. Vor Lusis Schreibtisch macht Betty halt, drückt ihre Kollegin, lächelt sie an.
„Ein spontanes, intimes Gespräch mit dem Chef. Und wenn ich mir dessen Miene betrachte, kein erfreuliches Gespräch. Muss ich mir Sorgen machen?“
Etwas abgeschlafft, noch die Worte von Hembach im Kopf, steht Betty vor Lusi, schüttelt leicht mit dem Kopf.
„Nein Lusi, alles in Ordnung. Es ist nur (kurzes ausschnaufen), dass ich den Chef nicht mehr sehen werde, wenn ich zurückkomme. Es war mein Abschiedsbesuch.“
Lusi ist überrascht: „Abschiedsbesuch? Ich dachte, er ist noch bis Ende September hier…“
„Nein, Lusi, noch vierzehn Tage und er ist unser Chef gewesen.“
„Das ist schade. Sehr schade. Er wird uns sehr fehlen. Und Besseres wird bestimmt nicht nachkommen. Hat er sich dazu geäußert?“
„Ja, angedeutet, dass sein Nachfolger aus dem LKA Niedersachsen komme. Mehr wusste er auch nicht…Und sonst? Hembach meinte, zurzeit nur Lübecker Kleinkram…“
„…Kleinkram? Was der so Kleinkram nennt. Einbrüche machen uns zu schaffen, Übergriffe auf Ehefrauen, Drogendelikte, aber alles Leichenfrei. Noch.“
„Die Leichenfälle warten, bis ich zurück bin.“
Kein Grund zum Lachen, Lusi verzieht die Mundwinkel nur leicht, um ein Grinsen anzudeuten. Nein, sie braucht keine Leichen. Ihr genügt der Kleinkram, der sie und die Kollegen auf Trab hält.
Peter gesellt sich den beiden zu, reicht Betty die Hand: „Hallo Betty. Du hattest wohl große Sehnsucht nach diesem Büro. Wir dachten, dich erst in vier oder fünf Wochen wieder hier zu sehen. Und sonst? Geht es dir gut?“
Sein Blick bleibt auf Bettys Kopf haften, die kurzen an ihr ungewohnten Stoppeln und die nicht zu übersehende etwa 4 cm lange Narbe am Hinterkopf sind neu für Peter, der Betty nicht im Krankenhaus besucht hat und deshalb erstmals den Schaden an ihr aus der Nähe sieht. Erstaunt, ahnend, mit welcher Wucht Betty der Schlag traf.
„Wären die ständigen, vibrierenden Kopfschmerzen nicht, würde ich glatt sagen, mir geht’s Bestens. Nein, der Professor sagte, ich müsste Geduld haben, mir Zeit geben. Ja, und die REHA wird mir einiges abverlangen. Mein Leben ist auf den Kopf gestellt, aber ich weiß, dass dies unabdingbar ist…Ich bin, wie Professor Theissen meint, eine einzige Baustelle, aber wie alle Baustellen werde auch ich wieder in Stand gesetzt. Es braucht Zeit, Peter, einiges an Zeit. Und, die nehme ich mir.“
Kurz, wirklich nur kurz, kommt Betty der Gedanke, beide und Mentel für den Abend einzuladen. Doch dies hätte zur Konsequenz, dass sie ihre Gäste bewirten müsste. Mit gebratenem Gemüse oder Tofu-Salat? Nein, geht nicht, geht gar nicht. Die Kollegen sind Pizza, Bürger, Currywurst und Co. gewöhnt, Bier, Wein und Softgetränke. Nein, das kann sich Betty nicht antun, wäre der Versuchung ausgesetzt. Und überhaupt, ihre Vorräte sind erschöpft und von dem Wenigen, was noch in ihren Schränken ruht, sicher einiges bereits abgelaufen. Nein. Sie fühlt sich auf gutem Weg, den sie keinesfalls verlassen will, also schnell den Gedanken versenken. Na ja, die Einladung hätte sie nutzen können, auf den aktuellen Ermittlungsstand gesetzt zu werden. Das kann warten, eilt nicht.
Sie sieht dem hinter Peter stehenden Mentel die Ungeduld an, Betty endlich nach Haus zu fahren. Ja, es wird Zeit. Also verabschiedet sie sich. Betty hat etwas Wehmut in sich, da ihr die Arbeit in diesem Raum fehlt, fehlen wird, denn das, was vor ihr liegt, ist Arbeit anderer Art, einer Arbeit, die sie nicht mag und durch die Ankündigung von Professor Theissen wirre Gedanken in ihr hervorgerufen hat, welchen Unannehmlichkeiten sie sich in der Klinik unterwerfen muss.
Vom Präsidium aus fährt Mentel Betty, mit kurzem Zwischenstopp am kleinen Einkaufsmarkt, nach Hause. Ihr Kühlschrank ist nach den vier Wochen Krankenhaus nicht mehr auf aktuellem Stand und die Dinge, die eine längere Haltbarkeit besitzen, sind die, die Betty in Zukunft meiden wird. Wird, nicht muss. Frau Doktor Eva-Maria Bunsen, die Diabetologin der Klinik, hat ihr sehr eindringlich die Folgen ihres Diabetes dargelegt und sie in die Ernährung einer Diabetes-Patientin eingeführt, ihr erklärt, welche Nahrungsmittel empfehlenswert und welche sie meiden sollte, letztere Nahrungsmittel sind dummerweise die, die Betty bisher so gerne goutiert hatte. Es liege an ihr, nur an ihr, an ihrem Willen, wie die Diabetologin meinte, ihr Leben neu zu justieren. Kein muss. Sie müsse nicht müssen. Sie könne. Und Betty kann.
Und so legt sie Lebensmittel in den von Mentel gedrückten Einkaufswagen, die dieser erstaunt registriert: Blumenkohl, Möhren, Selleriestangen, Vollkornprodukte, zuckerfreies Müsli, Soya-Milch, Soya-Joghurt, verschiedene Gewürze.
„Wenn ich das richtig sehe, werden wir zukünftig den Besuch beim Italiener unterlassen. Trübe Zeiten. Richtig?“
„Keine Angst Dirk, wenn es sich ergibt, werden wir unseren Italiener aufsuchen. Er hat noch andere Sachen auf der Karte außer Pizza und Pasta. Zur Not schaue ich dir zu, wie du deine Pizza verdrückst und trinke ein Glas Wasser dazu.“
„Meine Güte Betty. So schlimm?“
„Ich werde es überstehen und noch viele Kilos verlieren, das ist Zweck der Übung.“
Sie zahlt an der Kasse mit ihrer Kreditkarte, packt die Einkäufe in eine Papiertüte, die ihr Mentel zum Auto trägt, folgt, auf ihren Stock gestützt.
Die Strecke zu ihrer Wohnung ist kurz, kaum dass sie eingestiegen sind, heißt es wieder aussteigen. Sie greift sich ihre Umhängetasche vom Rücksitz, die Laptop-Tasche und die Tasche mit ihrer verschwitzten Krankenhauswäsche, klemmt sich ihren Gehstock unter den Arm. Mentel nimmt die Einkaufstüte, Haustür aufschließen, die Treppe schnaufend hochsteigen, am Treppengeländer entlanghangelnd, die Wohnungstür aufschließen und endlich betritt sie wieder gewohntes Terrain, ihre Wohnung. Ihre Atmung ist kurzatmig und beschleunigt, es kostet sie Anstrengung, den Brustkorb beim Einatmen auszudehnen, den Atem auszustoßen, in ihrem Kopf hämmert der Schmerz. Erst einmal absetzen auf der Couch. Besorgt blickt Mentel auf die um Atem ringende Betty.
„Schon gut Dirk, es war etwas zu viel für den Anfang.“
Aus ihrer Umhängetasche fischt sie die Schachtel mit den Schmerztabletten, drückt eine aus dem Blister, bittet Mentel, ihr ein Glas Wasser zu holen, aus dem Wasserhahn, was dieser tut, ihr reicht und sie die Tablette schluckt. Es werden noch mehr Tabletten werden, das Rezept, das sie von der Klinik mitbekommen hat, samt Medikationsplan, weist mehrere Präparate auf. Gut, wenn es hilft, dann wird sie sie schlucken, wie alles, was jetzt auf sie zukommt.
Die Wohnung, als sie sie nun endlich nach vier Wochen Abwesenheit betreten hat, riecht anders als gewohnt. Stickig, leicht muffig, wohl der Wärme geschuldet, die seit Tagen über der Stadt lastet. Ist das Abwesenheit, die so riecht oder liegt es nur daran, dass sich ihre Nase in den vier Wochen Klinikaufenthalt so an den steril hygienischen Klinikgeruch gewöhnt hat, dass der Wohnungsgeruch aus ihrem Gedächtnis getilgt ist? Und die Zeit, sich wieder des alten Geruches zu erinnern, hat sie nicht. In drei Tagen geht es in die nächste Klinik.
Sie bedankt sich bei Mentel, bietet ihm einen Kaffee oder Tee an, aber der lehnt alle Angebote ab, das Präsidium rufe.
„Ich will ja nicht unken, aber wenn ich mir betrachte, was du eingekauft hast, frage ich mich, ob du nicht schlimmer krank wirst, als du es bist.“
„Gesundheit, Dirk. Ich habe Gesundheit eingekauft. Übrigens, ich habe noch einige krankmachende Nahrungsmittel vorrätig. Willst du dir etwas davon mitnehmen?“
„Danke Betty. Danke. Ich will nicht in der REHA enden, behalte diese leckeren Sachen für dich. Damit kannst du deine Widerstandsfähigkeit testen,“ wobei Mentel ein strahlendes Lächeln zeigt.
Na ja, denkt Betty, wer den Schaden hat, dem ist Spott gewiss. Mit diesem Lächeln im Gesicht verlässt Mentel Betty, die einen Moment unschlüssig auf ihrer Couch sitzen bleibt, sich umschaut, sich schließlich entscheidet, zunächst zu lüften, reist alle Fenster auf, die in der Wohnung hängende stickige Wärme nach draußen zu entlassen. Nur, was von draußen kommt, ist nicht die wohltuende Auffrischung, sondern schwüle durch Autoabgase angereicherte feuchtheiße Luft, tropische Luft würde der Wettermann sagen, von keinem Windhauch angetrieben, der eigentlich zur Stadt gehört, wie der Lärm des vorbeifahrenden Verkehrs. Also, Fenster wieder zu und heute Abend einen neuen Versuch starten. Als nächstes die Spülung in der Toilette drücken, die Dusche kurz laufen lassen, um den Kloakengeruch auszuspülen.
Sie holt die im Flur ruhenden Einkaufstüten trägt sie in die Küche, den Laptop schmeißt sie auf die Couch, die Krankenhaustasche landet vor der Waschmaschine, in die Lusi, die in Abwesenheit Bettys deren Wohnung hütete, bereits die Wäsche abgelegt hat, die sie bei ihrem letzten Krankenbesuch mitgenommen hat.
Im Wohnzimmer nimmt sie den Blumenstrauß wahr, sonst eher eine Seltenheit in Bettys Wohnung, ohne Grußkarte, aber sicher von Lusi. Von wem sonst? Etwas wacklig steht der Strauß in einem Bierglas, nach einer Vase hat sich Lusi sicher vergebens umgeschaut, ist in Bettys Hausstand keine zu finden. Nein, Blumen sind nicht ihr Ding, duften nur kurz, dann setzt die Fäulnis ein. Diesen Strauß aber betrachtet sie nun mit einem liebevollen, irgendwie gerührten Blick. Sie wird sich bei Lusi bedanken.
Getränke, sie muss Getränke kaufen, nichts da, außer einer angebrochenen Flasche Wasser, mittlerweile nicht mehr Medium, sondern Still. Gut, da sind noch einige Flaschen Cola, die aber mit einem Tabu belegt sind, geht zu ihrer Couch und lässt sich wieder nieder. Ausschnaufen. Die Wand anstarren. Sie spürt die Anstrengung in ihren Beinen, in ihrem Körper, in ihrem Kopf, den leichter Schwindel benebelt, der Kopfschmerz nur langsam abklingend, gibt sich ihren Gefühlen hin. Alles andere dann später.
Alles andere sind die Anrufe, die sie tätigen will, Großmutter, Professor Giede und Harrie. Später. Jetzt einfach spüren, wie sich heimisch anfühlt. Normalität empfinden. Wieder zurück im Leben sein, das abrupt hätte enden können.
Den Hausmeister und seine Machenschaften hatte niemand auf dem Schirm, auch sie nicht, sonst wäre sie sicher nicht so arglos in den Keller gegangen. Trotzdem, es war dumm, es war unprofessionell gewesen, einfach nur dumm. Aber nicht mehr zu ändern. Der Schaden, den sie davongetragen hat, ist fast behoben und was noch offen ist, werden die REHA-Maßnahmen beheben. Meine Güte, was da wohl auf sie zukommen wird? Egal.
Das Gespräch mit Hembach hat Betty wieder vor Augen geführt, wie wenig Privates sie über ihre Kolleginnen und Kollegen weiß, dass muss sie unbedingt nachholen. Gelegenheit vertan. Hätte sie doch alle einladen sollen? Gedächtnislücken füllen? Nein später, alles später.
Irgendwie muss sie sich von der vermaledeiten Geschichte lösen, aber sie hat gesehen, wie schwer es ist, nicht darüber zu reden. Sie klebt an ihr, diese Geschichte. Von Lusi weiß sie vage (nicht von ihr), dass sie anscheinend eine Beziehung mit dem Kollegen aus Bad Schwartau eingegangen ist, und über Peter weiß sie so gut wie nichts. Und der Chef, behangen mit Geheimnissen. Oder sind es gar keine Geheimnisse? Nur Unausgesprochenes? Eher dies. Keine Gelegenheit, bei all den ermittlungsbezogenen Gesprächen, eine Lücke für Privates zu finden. Polizistenkrankheit.
Sie bleibt sitzen, verstrickt in ihre Gedanken, hat noch Zeit, bevor sie sich etwas zu essen machen wird. Essen machen. Nicht einfach die Microwelle anstellen, nein, kochen wird sie, richtig kochen. Nur, ob dies auch so von ihrer Hand geht, wie die Kochrezepte suggerieren, die Frau Doktor Bunsen ihr mitgegeben hat, muss sich erst noch erweisen. Betty und kochen, ha, zwei Dinge, die nicht zusammenpassen. Bisher!
Nicht wie üblich, langes kramen in ihrer von der Vergangenheit bereinigten Umhängetasche, sondern direkter Zugriff auf die in einer Klarsichthülle steckenden Rezepte, zieht diese aus der Hülle und beginnt, die drei Rezepte zu separieren, die sie in den nächsten drei Tagen sich vorgenommen hat zuzubereiten: Lachs mit Blumenkohl-Couscous, Auberginenpfanne mit Tofu-Streifen und eine Minestrone. Mit dem Einfachen beginnen, also für heute Mittag eine Minestrone.
War die Microwelle bisher ihr bevorzugtes Teil zur Nahrungszubereitung muss sie nun umsteigen auf Topf, Pfanne und Herd. Nur, Topf und Pfanne gibt es nur jeweils einmal und ist zudem beides nur in der Minimalversion vorhanden, wird aber vorerst genügen. Sie steht auf, führt eine Inventur durch, zu dem, was in ihrem Schrank an Kochutensilien vorhanden ist. Sie muss mächtig aufrüsten, nur heute nicht, das wird sie morgen erledigen, zumindest das Notwendigste.
Ihr wird bange, als sie das Rezept für die Minestrone durchliest, etwas Neues, Unbekanntes, das da auf sie wartet, andererseits auch wieder aufregend, die Erfahrung eines selbst zubereiteten Gerichtes zu machen. Sie schneidet zwei Möhren und ein Zucchino zu schmalen Scheiben, löst ein paar Röschen vom Blumenkohl, schneidet eine Zwiebel ganz vorsichtig, um ihre Finger besorgt, klein. Erbsen hat sie vergessen einzukaufen, öffnet eine Büchse mit dicken weißen Bohnen. Gibt Margarine in den Topf, die Möhren hinzu, brät sie mit den Zwiebeln kurz an, füllt den Sud mit Wasser auf, fügt Blumenkohl und Broccoli hinzu, zum Schluss die Bohnen und die Zucchini, Wort für Wort dem Rezept folgend. An Gewürzen kommen Salz und Pfeffer hinzu, die anderen im Rezept angegebenen Gewürze befinden sich nicht in ihrem Haushalt. Würzen ist etwas, was bisher nicht nötig war, ebenso wie vor dem Topf stehen, den kochenden Sud umrühren und den sich entfaltenden Duft in die Nase ziehen lassen.
Zuschauen das kennt sie, hat sie von ihrer Großmutter gelernt. Nur war dies immer ein passives Zuschauen und mehr gesprächsorientiert als auf Gerüche, sprudelndes Wasser oder den Farbwechsel der Suppenzutaten zu achten. Am liebsten hat sie Großmutter beim Backen zugeschaut, nicht um zu lernen, sondern gierig das Ende von Großmutters Vorarbeiten abzuwarten, um über die Reste in der Schüssel herzufallen, mit den Fingern den letzten Teigspritzer auszukratzen. Kein Gericht, bei dem sie zuschauend beiwohnte, hätte sie nachkochen können. Alle Versuche, ihr das beizubringen, stellte ihre Großmutter resignierend ein. Und jetzt hat Betty den Salat, also nicht direkt Salat, sondern fade Minestrone.
Der Knaller ist es nicht, was sie dann zu sich nimmt, etwas fade, das Ganze, aber gesund. Tja, Gesundheit, der Geschmack, der sie von nun an begleiten wird.
Während sie isst, geht ihr die Aussage Hembachs über den neuen Chef durch den Kopf. Wieso wird ein Beamter aus dem LKA Niedersachsen nach Lübeck berufen? Das ist nicht üblich. Oder? Schmeckt wie abgeschoben, wie weggelobt, was heißt, da kommt jemand mit Frustpotenzial. Nicht gut. Na ja, kann auch ganz anders sein. Abwarten.
Und wenn sie sich Hembachs Mimik ins Gedächtnis ruft, als er ihr dies mitteilte, zeigte sich auch bei ihm einige Skepsis. Er rafft alle Zeit zusammen, die er aufgebaut hat, um möglichst schnell alles hinter sich zu lassen. Eine Flucht? Enttäuschung? Nein, solch ein Abgang hat Hembach nicht gewollt, nicht erwartet, vor allem nicht verdient. Ja, gesagt hat er bei mancher Gelegenheit, dass er den vorzeitigen Ruhestand anstrebe, aber dies haben schon viele gesagt und dann über die Altersgrenze hinaus zur Verfügung gestanden.
Die Vorstellung, das Hembach einfach so den Schalter umlegen kann, nein, das kann sich Betty nicht vorstellen. Wie das wohl werden wird? So ohne ihn? Es war schon toll, vor dem Team zu stehen, die Ansagen zu machen, die Einsätze zu planen, sich mit den Kollegen auszutauschen und, aus den wenigen Zeilen des Notizbuches, nach und nach diese unglaubliche Mordserie aufzublättern. Da war das Vibrieren in den Adern, wenn ein neuer Fakt aufgetaucht war, das Adrenalin stieg hoch, jedes Mal, wenn sie glaubte, dem definitiven Schuldbeweis nähergekommen zu sein.
Diese Ermittlung hat sie so ausgefüllt und, ja, ihr Selbstwertgefühl kräftig angehoben. Sie weiß, wenn sie zurückkommt, wird all dies nicht mehr sein, sie eine andere als die bisherige Rolle spielen. Nur welche Rolle der Neue ihr zubilligen wird, ist schwer zu sagen, jedenfalls keine Hauptrolle mehr, das ist so sicher wie das Amen am Ende einer Messe.
Nach dem Essen der dünnen Suppe (eindeutig zu viel Wasser), fährt sie ihren Rechner hoch, sucht sich die Verbindung nach Ahrenshoop heraus, dreimal umsteigen und die letzte Strecke von Barth nach Ahrenshoop mit dem Bus und schließlich muss sie in Ahrenshoop noch ein Taxi in Anspruch nehmen, da die Klinik außerhalb der Ortschaft liegt. Vier Stunden unterwegs, wenn es glatt läuft und die Bahn hält, was sie auf dem Fahrplan fixiert hat. Gut, heißt, nach 13:00 Uhr eine Verbindung heraussuchen.
Sie ordert die Fahrkarte mit ihrem Smartphone, zahlt per Sofortüberweisung den Fahrpreis und speichert die Fahrkarte ab. Anschließend holt sie aus der Hülle mit den Rezepten die Unterlagen für die REHA-Klinik heraus. Da ist eine Seite, die Betty Dinge auflistet, die ein Patient für den Klinikaufenthalt unbedingt im Gepäck haben sollte und die es nun abzuarbeiten gilt.
Schon die ersten Positionen auf der Liste erzeugen in Betty bedrückende Gefühle im Magen. Bademantel. Hat sie keinen, muss sie kaufen, ebenso den Jogging-Anzug, Turnschuhe und, oje, einen Badeanzug. Hat sie nie besessen, nie gedacht, je einen zu benötigen. Und jetzt? Allein die Vorstellung, in einer Umkleidekabine zu stehen und zu versuchen, sich in so ein Ding zu zwängen, lässt Beklemmungen in ihr aufsteigen. Bei dem Gedanken, alternativ auf einen Zweiteiler zurückzugreifen, muss sie schmunzeln. Nein, geht nicht, sie würde Entsetzen auslösen.
Was bedeutet es, einen Badeanzug dabei zu haben? Wassergymnastik, oder was? Schwimmen hat sie nie gelernt, scheidet also aus. Oder etwa nicht? Kann sie sich vor so etwas drücken? Nein sagen? Geht das? Darf sie das? Und überhaupt, wo soll sie einen Badeanzug herbekommen? In ihrer Größe? Vielleicht verleiht die Klinik Badeanzüge. Wohl eher nicht. Also kaufen.
Sie grübelt, gut, was sein muss, muss sein. Sie stellt eine Liste ihrer Einkäufe zusammen, die sie morgen tätigen muss, nicht mehr heute, dazu ist sie zu erschöpft. Hätte sie mehr Zeit, wäre ein online-Shopping sinnvoll gewesen, so aber heißt es, vor Ort auswählen und nach Hause schleppen. Töpfe? Bratpfanne? Hm, da hat sie sicher einiges zu schleppen. Ihr wird klar, dass ihr Einkauf nicht einfach werden würde. Aber, für jedes Problem gibt es eine Lösung, sagt sie sich, wer auch immer das vor ihr gesagt hat, aber der muss es wissen.
Sie notiert sich die Titel und Autoren von zwei Kochbüchern, für Diabetiker, und sie wird Lektüre benötigen, für die Zugfahrt und die Abende auf dem Zimmer. Seit ihrem Studium hat sie keinen Roman mehr gelesen, überhaupt, sehr wenig gelesen und wenn, dann fachbezogene Literatur inhaliert, aber in ihrem Krankenzimmer fing sie wieder an mit Lesen, zunächst auf ihrem Laptop, eBücher. Dann brachte ihr Harrie einen Roman mit von Lea Singer, Das nackte Leben, der das Leben der Constanze Mozart erzählt.
Sie verschlang den Inhalt, roch an dem Buch, fühlte das Papier der Buchseiten, blätterte genüsslich die Seiten um und begann, Literatur wieder in ihr Leben zu lassen, recherchierte im Internet, was aktuell auf dem Markt war, ohne aber einen Impuls zu erhalten, das eine oder andere Buch näher zu eruieren. Stattdessen erinnerte sie sich der Klassiker, und sagte sich, mit Thomas Mann Buddenbrooks zu beginnen, schließlich ist ihr das Umfeld des Romangeschehens sehr nahe. Ein Heimspiel. Ein Muss für eine Lübeckerin, die sie, zumindest auf Zeit, ist.
Das Lesematerial wird sie doch noch heute besorgen, am Nachmittag, in diesem Bücherkaufhaus in der Innenstadt. Genau, so wird sie es machen.
Nach kurzem innehalten, rastlosen Blicken durch die Wohnung, etwas suchend, von dem sie nicht weiß was, gibt sie sich einen Ruck, doch die leichten Einkäufe zu tätigen, die auf ihrem Zettel stehen: Lesematerial und Badeanzug.
Wieder vorsichtig die Treppe hinab, sich am Geländer festhaltend, tritt sie hinaus auf die Straße, den Gehstock schwingend führen, sich aber nicht darauf abstützend. Sie muss lernen, wieder frei zu gehen. Die Haltestelle ist nur unweit von ihrer Wohnung.
Mit dem Bus fährt sie in die Innenstadt, entscheidet, zunächst in dieses Bücherkaufhaus zu gehen, was sie gemächlichen Schrittes tut. Dort angekommen, nutzt sie zunächst eine der dort angebotenen Sitzgelegenheiten, um auszuschnaufen. Sie atmet heftig, ein kurzer Weg und doch so anstrengend. Von dem ihr gegenübersitzenden Mann fängt sie einen besorgten Blick auf, wobei, es kann auch ein genervter Blick sein. Sie lächelt ihm verlegen zu und er vertieft sich schnell wieder in seine Lektüre.
Sie steht auf, schaut sich um. Drei Stockwerke voller Bücher, über alle möglichen Themen, ein Riesenangebot. Und was da so alles geschrieben wird. Die Titel, die sie im Vorbeigehen wahrnimmt, strotzen vor Absurdität, anlockenden Wortungetümen oder alles versprechenden Sätzen. Nein, nicht ihre Welt. In dem Laden war sie noch nie. Warum auch?
Früher, während ihrer Schulzeit und des Studiums, suchte sie gerne Bücherläden auf, manches Antiquariat, beide mit einem jeweils eigentümlichen Geruch nach neuen frisch gedruckten oder alten, staubbelegten, angejahrten Büchern behaftet. Hier aber, in diesem Kaufhaus, will dieser bekannte, noch in ihrem Gedächtnis haftende Geruch nicht aufkommen. Es riecht nach Menschen, nach Körperausdunstungen (zu dem sie ihren Teil beiträgt), Holzregalen und Teppichboden, der die Schritte der Umherlaufenden gedämpft hält, um die schmökernden Kaufinteressenten nicht zu stören.
An einer Informationstafel sieht sie nach, wo sie hinmuss, liest, dass im zweiten Stockwerk die Kochbücher zu finden sind, im Erdgeschoß die Belletristik und fährt zunächst die Rolltreppe hoch. Über den Bücherregalen groß und breit angeschrieben, was darunter eingestellt ist. So tastet sich Betty zu dem Regal Kochen, Backen, Braten, sucht nach Kochbüchern für Diabetiker, entnimmt sich drei Bücher aus dem Regal, geht zu einer Sitzgruppe und blättert die Bücher durch. Die Rezepte sind für mehrere, meist für vier Personen ausgelegt, was heißt, kleinere Mengen bei den Zutaten einzukaufen, nur, wer verkauft schon 50 Gramm Rucola, eine Scheibe Zitrone, eine Stange Sellerie oder andere Zutaten für ein Einpersonengericht?
Die Verfasser dieser Bücher sind keine Single und schöpfen mit ihren Zutaten aus dem Vollen. Was aber bleibt ihr anderes übrig, als eines der Bücher zu kaufen und sich von dem Autor anleiten zu lassen? Sie muss nicht nur kochen, sondern auch kombinieren, improvisieren lernen. Zwei der Bücher wählt sie aus (Eins davon nennt sich Schlemmen wie ein Diabetiker. Frau gönnt sich ja sonst nichts, denkt Betty), das dritte Buch stellt sie zurück in das Regal. Mit den Augen streift sie über die Buchrücken, ob ihr vielleicht noch ein anderes Buch auffällt oder einfällt, denn Frau Doktor Bunsen hat ihr ja Tipps für Bücher mitgegeben, die sie aber dummerweise zu Hause hat liegen lassen. Aber nein, nichts, was sie anspricht, also bleibt es bei den beiden. Schlemmen, Betty wird schlemmen, ein leichtes Kichern durchläuft sie bei diesem Gedanken. Jetzt noch Reise- und Bettlektüre.
Auch das kennt sie noch von früher, sich Rat holen, eine Empfehlung von einer oder einem Kundigen geben lassen. Die Buchhändler, die sie frequentierte, waren Bücherwürmer, die sich in der Welt der Bücher auskannten und nie um eine Antwort verlegen waren, für jeden Lesewunsch einen passenden Vorschlag machen konnten. Aber hier? Sind das Buchhändler oder nur Verkäufer mit eingeschränktem Literatur-Horizont? Gut, soweit kommt sie selbst klar, lässt die Damen, es sind durchweg Damen, die da hinter einem Computer stehen, agieren.
Sie erreicht das Regal mit Belletristik (von A – Z), zuvor ein Regal mit den Fächern 1 – 20. Die aktuelle Hitparade, suggerierend, hier muss der geneigte Leser zugreifen, dann ist er auf der Höhe der literarischen Entwicklung. Mit verächtlichem Blick streift Betty über die Titel und Autorennamen. Unbekannte, lauter ihr unbekannte Autorinnen und Autoren, zumindest sind sie ihr unbekannt. Sicher junge Leute, die sich erst noch nach oben schreiben müssen. Nur, wer ist da oben? Ihr fällt kein Name ein. Alles nur Kurzblüher, ein hochgejubelter Text, dann lange nichts mehr, keine Konstanz, erschlagen vom ersten Erfolg. Auffallend viele Übersetzungen. Kein Grass in Aussicht? Von dem hatte sie schon gehört, noch nichts gelesen, obwohl auch Ostseeanrainer. Na ja, Lokalpatriotismus ist kein Lesegrund.
Gleich neben der Hitliste die Romane, mehrere Reihen, meist Taschenbücher, mag sie nicht, nicht gut für die Augen. Sie sucht nach M für Mann, klar die Buddenbrooks im Hardcover stehen im Regal, aber ansonsten wenig Mann, kein Heinrich, geschweige denn eine Erika, ein Klaus. Die Buddenbrooks klemmt sie sich unter dem Arm. Sie sucht weiter geht zu Z über, entnimmt dem Regal Maria Stuart und Marie Antoinette von Stefan Zweig, setzt sich in eine Sitzecke und liest die Klappentexte, schmökert kurz in den Innenseiten und beschließt beide Zweig-Bücher mitzunehmen.
Noch ein Buch. Sie lässt ihre Augen über die Buchrücken gleiten, bei A angefangen. Entdeckt Siegfried Lenz Deutschstunde, daran hat sie noch eine Erinnerung, hatte den Roman im Deutschunterricht behandelt, über eine ganz andere Deutschstunde gelesen. Zeit, die Geschichte noch einmal zu lesen.
Neben der Belletristik die Kriminalromane und Thriller, vier Regalwände voll mit Mord und Totschlag. Betty schüttelt den Kopf, verwundert über diese unglaubliche Anzahl an ausgedachten Mordfällen und anderen Verbrechen. Blutrünstig die Titel, die Grausamkeiten ihres Inhaltes im Titel andeutend. Schon seltsam. Woher rührt diese Faszination an den Mordsgeschichten? Ihr eigener Fall wäre, wäre er geschrieben worden, sicher dort gut aufgehoben. Ob unter den Schreibenden viele Polizisten sind? Die sich ihre Erfahrung von der Seele schreiben? Als Ruheständler sich ein Zuverdienst erschreiben? Ob Hembach sich seine kriminellen Jahre von der Seele schreiben würde? Wohl eher nicht.
Doch, sie hatte eine interessante, verzwickte Story erlebt, aber, selbst wenn sie schreiben könnte, nein, veröffentlichen kann sie diese Geschichte nicht. Das würde nur schlafende Hunde wecken. Immer noch kopfschüttelnd über dieses Gemetzel auf Papier, geht sie vor zur Kasse, fragt, ob man ihr die Bücher zur Seite legen kann, da sie noch andere Einkäufe tätigen müsse und die Bücher doch recht schwer seien (hätte sie sich auch denken und erst zu Karstadt gehen können), was die Dame an der Kasse bejaht und die Bücher hinter sich in ein Regal legt.
Karstadt ist nur um die Ecke, noch, es wird gemunkelt, Karstadt würde schließen, wäre ein großer Verlust für Lübeck, eine Entlastung für Karstadt. Wer außer Betty kauft noch live ein? Sie schlägt den Weg zu Karstadt ein, orientiert sich neben der Rolltreppe im Erdgeschoß, wo die Badebekleidung zu finden ist, fährt ins 3. Stockwerk hoch und betrachtet sich, was da auf den Kleiderständern hängt. Ihre Größe, wie erwartet nicht zu finden, genauso wenig wie eine Verkäuferin. In Größe 64 hängen da ärmliche drei Badeanzüge, in schwarz, schüttelt den Kopf, nein, schaut sich um und sieht eine Frau, eine beleibte Frau auf sie zukommen.
„Sie suchen einen Badeanzug in ihrer Größe?“
Dabei taxiert die Verkäuferin anscheinend Betty, um die richtige Größe abzuschätzen.
„Ich würde sagen, Größe 4XL…Aber, wenn Sie mich fragen, ich würde Ihnen einen Zweiteiler empfehlen.“
„Einen Bikini? Wollen Sie mich hochnehmen?“
„Nein, verzeihen Sie. Ein Zweiteiler muss kein Bikini sein. Sie können ein spezielles Top mit einem Slip kombinieren. Das ist bequemer anzuziehen als ein Badeanzug.“
Das leuchtet Betty ein.
„Und so etwas haben Sie in meiner Größe, also ein XL mehr, als sie schätzten?“
„Mal schauen.“
Und die freundliche Dame begibt sich an das Wandregal und auf die Suche. Wie zu erwarten, fällt das Ergebnis mager aus. Drei einfarbige Tops, in Rot, Dunkelgrün und Blau. Zwei der Tops haben ab der Brust ein gerüschtes Teil, wie ein abgeschnittener Rock wirkend. Bauchkontroll-Top, wie die Verkäuferin lächelnd erläutert, das bis zum Nabel reiche. Die passenden Slips haben einen hohen Bund, so dass der Zweiteiler wie ein Einteiler wirkt. Das Material weich, dehnbar, die Schultergurte verstellbar. Gut, damit kann sie sich anfreunden. Nur die Farbe Rot ist ihr nicht geheuer, zu grell, zu auffallend, zu blickheischend und dunkelgrün ist auch nicht ihre Farbe, also bleibt nur das blaue Teil. Heilfroh, den Akt des Anprobierens nicht vollführen zu müssen, wählt sie diese Kombination aus. Jetzt noch den Bademantel.
„Oh, dies dürfte einfacher sein. Es ist nicht einfach für uns Mollige das zu finden, was uns gefällt. Wir müssen oft nehmen, was gerade so zu finden ist. Die Mode ist nicht für Dicke gemacht. Neidisch werde ich nicht, wenn ich die schlanken Dinger sehe, die im Fernsehen und auf Plakaten den neusten Modetrend vorführen, aber ärgern tut es mich schon. Es ist, als wären wir es nicht wert, aufgehübscht zu werden. Ich weiß nicht von wem, aber neulich habe ich ein Wort gehört, Gewichtsdiskriminierung, das trifft, was uns widerfährt (Gewichtsdiskriminierung? Diskriminierung ja. Aber Gewicht? Das führt vom Individuum weg. Gut, oder auch nicht, darüber will sie jetzt nicht diskutieren, hört weiter zu.).
Auch wir hier haben zu 95 % den Durchschnitt hängen. Deshalb (und dabei schaut sie sich verstohlen um, damit niemand sie höre) kaufe ich in einem Geschäft in der Breite Straße ein, das nur Übergrößen führt. Dort werden sie sicher etwas Hübsches finden.“
Dabei lächelt sie Betty verschwörerisch an. Betty verwundert es etwas, dass die Verkäuferin diese Empfehlung abgegeben hat. Solidarisches Verhalten unter Gewichtsdiskriminierten?
„Ja, sie sagen es. Wenn ich es könnte, würde ich mir meine Kleider selbst nähen, aber ich kann es halt nicht, nie gelernt und, ich glaube, mir fehlt die Befähigung.“
„Ich weiß nicht. Ich denke, wenn man etwas will, kann man es auch lernen und, ehrlich, wenn ich manche dieser Wäschestücke näher betrachte, denke ich sogar, dass hätte ich besser hinbekommen, denn dazu gehört nicht viel.“
Sie nimmt von einem Kleiderständer, ein T-Shirt, nicht Bettys Größe, nicht um es zu empfehlen, sondern um Betty die Umnaht am Saum des T-Shirts zu zeigen und meint, sie solle sich diese Naht einmal betrachten, zupft an einem wegstehenden Faden, würde sie an dem Faden, den sie vorsichtig zwischen zwei Finger nimmt, ziehen, löse sich im Handumdrehen die Naht am Bund. Das sei keine Qualität und keine Qualität sei der Standard heutzutage. Billig, nur billig müsse es sein. Drei Mal tragen, dann in den Altkleidercontainer und ab nach Afrika.
„Lassen Sie das mal nicht ihren Chef oder ihre Chefin hören. Aber danke, dass Sie so offen mit mir geredet haben.“
„Keine Ursache. Ich weiß, wie man sich als Mollige fühlt.“
Sie lächeln sich wissend an.
„Und wie heißt das Geschäft mit den Übergrößen?“
„Ich schreibe es Ihnen gleich auf.“
Die Verkäuferin führt Betty zur Abteilung mit den Bade- und Morgenmänteln, zeigt ihr ein paar Frottee-Bademäntel, in die Betty schlüpft. Alle leider etwas zu eng, bis auf einen, ganz in weiß, den sie nimmt, nicht weil er ihr gefällt, sondern, um einen Abschluss zu finden. Für den Jogging-Anzug hat sie nicht mehr den Nerv.
Mit den ausgewählten Teilen ihrer Kundin geht die Verkäuferin zur Kasse, legt die Teile ab, nimmt sich einen Zettel, kurzer Rundblick, und schreibt Betty Namen und Adresse des Kleidergeschäftes für Übergrößen auf, scannt die Preise ein, steckt alles in eine Papiertüte und reicht Betty den Kassenzettel. Diese bedankt sich bei der freundlichen Verkäuferin, zahlt und verlässt das Kaufhaus, geht vor zu einer Bushaltestelle in der Königstraße, will nach Hause, wartet kurz, will gerade in den Bus einsteigen, als ihr einfällt, dass sie ihre hinterlegten Bücher vergessen hat. Eiderdaus, wäre sie doch fast ohne den Lesestoff davongefahren. Vergessen. Einfach vergessen. Hm, muss sie sich Sorgen machen? War heute schon das zweite Vergessen.
Nachdenkend über die Ursache des Vergessens, geht sie in langsamen, unsicheren Schritten zurück in das Bücherkaufhaus, zeigt der Frau hinter dem Tresen ihre Quittung, bekommt die Bücher ausgehändigt, schwerer Lesestoff, setzt sich, bevor sie erneut vor zur Bushaltestelle gehen wird, in einer Sitzgruppe nieder, verspürt leichten Schwindel, atmet gleichmäßig aus und ein. Wie konnte sie nur die Bücher vergessen? Sie versteht es nicht. Nach einer viertel Stunde fühlt sie sich besser und bereit, die Bushaltstelle aufzusuchen, wartet kurz und besteigt den Bus. Nach drei Haltstellen, kurz vor ihrer Wohnung in der Kaiserstraße, steigt sie aus. Ihr Achselschweiß steigt ihr in die Nase, ja, sie wird unter die Dusche steigen, die Anstrengungen des Tages abspülen.
Sie atmet schwer, steht wartend auf dem Bürgersteig, fühlt wieder einen leichten Schwindel, spürt die verstohlenen Blicke einzelner Passanten. Der Ausstieg aus dem Bus ist ihr schwer gefallen. Eine ältere Dame hatte ihre Hilfe angeboten, aber Betty meinte dankend, es gehe schon. Selbst hilfebedürftig hatte die Dame Hilfe angeboten. Dass es so etwas noch gibt.
Auf den Beinen stehend, links und rechts die Papiertüten in der Hand, den Gehstock unter die linke Achsel geklemmt, nimmt sie alle Kraft in sich zusammen und läuft los, merkt aber, dass sie leicht abweicht, der Fahrbahn näherkommt, wieder korrigieren, indem sie das rechte Bein nach rechts und das linke Bein nachzieht, im Krankenhaus geübt.
An der Haustür angekommen, schließt sie sich diese auf, steigt, Schritt vor Schritt setzend, die Treppe hoch, betritt ihre Wohnung und lässt sich auf ihre Couch fallen. Warum ist das nur alles so anstrengend? Sie muss ihr neues Leben langsamer angehen, zu viel heute, das war eindeutig zu viel.
Sie bleibt auf der Couch liegen, streckt sich lang, döst ein wenig ein und wäre wahrscheinlich eingeschlafen, hätte der Klingelton ihres Smartphons sie nicht aufgeschreckt. Kurzes orientieren, wo sie das Gerät abgelegt hat, auf dem Display steht Harrie, nimmt an und begrüßt Harrie, der sie fragt, ob er sie zu Hause antrifft oder schon in der REHA-Klinik.
„Ich bin noch zu Hause. Allerdings nur ein kurzer Besuch, Energie tanken und mich für die REHA aufrüsten. Übermorgen geht es schon weiter.“
„Du kommst aber zurecht? Kommst allein klar?“
„Ja, geht noch etwas schleppend und der Kopf fängt an zu hämmern, wenn ich mich überanstrenge, was nicht viel Anstrengung braucht. Aber ich bin mit Pillen gut eingedeckt. Und du? Du hast doch jetzt Ferien? Und bist zu Hause?“
„Ferien ja, aber wir verreisen selten in den Sommerferien. Wo du hinkommst Menschenmassen oder zu viele Stechmücken…“
„…Stechmücken?“
„Stechmücken. Wenn wir verreisen, dann nach Schweden, Norwegen oder Finnland und dort wimmelt es um diese Jahreszeit von diesen Blutsaugern. Wir fahren lieber in den Winterferien in warme Regionen. Und dieses Jahr kommt hinzu, dass Miro Ende des Monats heiratet. Schade für dich. Ich hätte dich gerne mitgenommen. Eine iranische Hochzeit mit allem Schnickschnack, hätte dir bestimmt gefallen.“
„Harrie, ich bin so was von auf Diät, die Feier wäre Folter für mich gewesen. Schon gut so, aber danke für die Einladung. Ist Senjas Mutter immer noch unwissend über Senjas Umstand?“
„Seltsame Geschichte Betty. Senjas Vater und ich haben sie eingeweiht. Sie weiß es, will es aber nicht wahrhaben. Sie tut wissend, als wisse sie von nichts. Ich habe großes Mitleid mit dieser Frau. Ich kenne sonst niemand, der so sehr unter dem Verlust der Heimat und Kultur leitet und sich deshalb in der Religion versteckt. Ich denke aber, ist das Kind erst einmal in die Welt gesetzt, wird sie langsam in die Gegebenheiten zurückfinden.“
„Hm, vielleicht, vielleicht auch nicht. Wer so lange leidet wie diese Frau, hört nicht einfach auf zu leiden…Apropos leiden. Ich habe mit Hembach gesprochen und ihn in die Sache mit der Leiche im Container eingeweiht. Weißt du…“
„…Betty, du musst mir nichts erklären oder dich gar entschuldigen. Ich war es, der dich in Gewissenskonflikte brachte, ich verstehe dich, und ehrlich, mir war klar, dass du das Gespräch mit deinem Chef suchen würdest. Du bist Polizistin, du hast einen Eid geleistet und mit dieser unentdeckten Leiche im Kopf lässt es sich schwer als Polizistin arbeiten. Und deinen Chef in Kenntnis setzen, ich denke, dies ist gut so, die Last der Entscheidung liegt nicht mehr allein bei dir. Und jetzt?“
„Na ja, wir werden beide schweigen. Den Toten tot sein lassen. Alles andere würde einige Komplikationen nach sich ziehen.“
„Verstehe. Und, meinst du, du kommst mit eurer Entscheidung zurecht?“
„Das wird die Zeit erweisen. Aber es ist so, wie du sagst, das Hembach so entschieden hat, nimmt eine schwere Last von mir.“
„Und von dem, der dich niedergeschlagen hat, hast du da etwas Neues gehört?“
„Nein, nichts neues. Seine Frau wird weiterhin observiert. So wie es aussieht, hat er bisher noch keinen Versuch unternommen, Kontakt mit ihr aufzunehmen, was er aber müsste, denn er ist ja fast mittellos nach Russland geflüchtet.“
„Was meinst du, also ich habe mir natürlich Gedanken über die Geschichte gemacht, könnte es sein, dass er nicht vor euch, also der Polizei, sondern vor denen geflohen ist, die er bestohlen hat?“
„Hm, ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber wenn dem so wäre, warum nach Russland, die Drahtzieher des Schmuggels scheinen ja dort zu finden zu sein.“
„Nicht ganz, Betty, Russland ist Produktionsstandort, so habe ich es zumindest verstanden, der Auftraggeber sitzt, wenn ich mich nicht irre, irgendwo unerkannt in Deutschland.“
Stimmt auch wieder. Aber so richtig in den Fall eingetaucht ist Betty auch während der Klinikzeit nicht. Vielleicht, weil sie sich die Sache vom Leib halten will. Dem, was geschehen ist, will sie sich erst stellen, wenn sie wieder voll im Dienst ist und bis dahin ist, wie sie vermutet, viel Gras über den Vorfall gewachsen und der Boden immer weniger sichtbar.
„Das mag sein. Ich halte mir den Fall noch auf Distanz. Ich habe nun anderes vor und auf das muss ich mich konzentrieren. Ich bin in einem anderen Kampfmodus. Geruchs- und Geschmacksanwandlungen muss ich abwehren. Einiges ist mir nicht mehr präsent, aber der Geruch und Geschmack der Dinge, die sowas von ungesund sind, sind noch voll in meinen Kopf integriert. Bestimmte Gerüche lösen lustheischende Bedürfnisse aus. Hartnäckige Versucher…es wird ein harter Kampf, Harrie.“
Ja, das kann sich Harrie vorstellen, aber den wirklichen Widerstreit in Betty, nein, davon kann er keine Ahnung haben.
„Du hast aber doch eine gute Basis durch den Klinikaufenthalt. Du schaffst das (sagt man halt so. Was sonst?).“
„Ich hoffe es. Ja.“
Betty kommt auf die REHA zu sprechen und schildert Harrie, was da auf sie zukomme, was die REHA für sie an Einschränkungen und Umstellungen bedeutet, aber auch was für Möglichkeiten. Sie habe schon etliche Versuche unternommen, ihr Gewicht zu reduzieren, körperlich beweglicher zu werden, aber vieles sei bereits im Ansatz gescheitert. Sie sei immer dick, na ja fett, gewesen und einmal fett, immer fett, das hat sich ihr so eingeprägt. Aber jetzt durch den Klinikaufenthalt und die bevorstehende REHA habe sie ihre Einstellung grundlegend verändert und werde alles daransetzen, an sich zu arbeiten.
Doch, er glaube, dass sie es schaffen wird, bei der Stange zu bleiben, wohlwissend welche Energieleistung Betty erbringen müsste.
Den Ort, in dem die Klinik liegt, kennt Harrie, da er dreimal mit Sonja in Zingst einen Herbsturlaub verbracht hatte, sie solle unbedingt die Umgebung von Ahrenshoop erkunden, zu Wasser und zu Lande, es lohne sich. Hm, habe Hembach auch gesagt. Na ja, Betty ist nicht der Typ, der entdeckungsfreudig durch die Landschaft stapft, aber, sagt sie sich, was nicht ist, kann ja noch werden, wie so einiges noch werden muss.
Sie beschließen ihr Gespräch und Harrie meint, wenn sie zurück sei, werde sie sich selbst nicht wiedererkennen, rundum erneuert und halbiert würde sie sein.
„Ha-Ha-Ha-Ha.“
Nachdem sie Harrie weggedrückt hat, beginnen die Gedanken wieder in ihr zu kreisen. Der Hausmeister ist Russe, also steckt eine gewisse Logik dahinter, dass er sich nach Russland abgesetzt hat. Hat sicher dort Verwandte, Freunde, die ihm weiterhelfen können, da er ja an seine finanziellen Mittel nicht herankommt. Wobei, eine Vorsorge wird er sicher getroffen haben. Möglich, dass er bei irgendeiner Bank in Russland ein Konto hat. Ja, das ist möglich, was heißt, so schnell wird weder seine Frau noch die Polizei etwas von ihm hören.
Oh, sie hätte Hembach fragen können, ob der Hausmeister versucht habe, seine Frau, die noch überwacht wird, zu kontaktieren. Hm, nein, sie ist noch nicht schnell genug im Kopf, da klemmt noch einiges. Eigentlich wollte sie sich nicht mit dem Fall befassen, und doch ist er wieder in ihren Kopf eingedrungen. Sie muss sich ablenken, etwas lesen, Stoff hat sie ja jetzt. Dumm nur, nichts Erheiterndes dabei. Erheiterung wäre gut. Dann halt Maria Stuart.
So steigt sie lesend in das Schicksal der Maria Stuart ein, bereitet sich später zum Abendessen einen Kichererbsen-Salat zu: eine kleine Dose Kichererbsen, eine Mini-Salatgurke, von deren Existenz sie noch nie zuvor gehört hatte, eine rote Paprika, zwei Frühlingszwiebel, gewürzt und etwas Olivenöl darüber tröpfeln. Dies miteinander zu vermischen und zu essen, wäre ihr vor ein paar Wochen nicht im Traum eingefallen. Vielleicht hat der Schlag doch etwas Gutes ausgelöst.
Nachdem sie sich dieses karge Mahl einverleibt hat, liest sie noch ein paar Seiten, schaut kurz in den Fernsehen hinein, ohne bei einer Sendung, die sie interessieren könnte, zu verweilen, stellt den Kasten wieder aus, macht sich anschließend bettfertig, löscht die Lichter, zieht die Plissees herunter, begibt sich in ihr Schlafzimmer, setzt sich auf dem Bettrand ab und ist verdutzt, da die Matratze unter ihr nicht nachgibt, legt sich sacht ab und versinkt nicht wie in dem Krankenhausbett in einer Kuhle. Ein neues Liegegefühl, das eigentlich das alte ist. Seltsam! Obwohl sie nur vier Wochen ihrer Matratze fern war, ist ihr dieses Liegegefühl nun fremd. Schon merkwürdig, wie schnell sich ihr Körper an andere Umstände gewöhnen konnte. Gibt das Hoffnung? Trotz der ungewohnten Härte schläft sie schnell ein und gleitet traumlos durch die Nacht.
Mit den ersten Lichtstrahlen, die das dünne Plissee in ihr Schlafzimmer dringen lassen, schlägt sie die Augen auf, verwundert, dass die gewohnten Wischgeräusche unter und neben ihrem Bett und der Blick in ein abgeschlafftes mürrisches Gesicht, sie nicht aus dem Schlaf geholt haben. Keine Krankenschwester, die einen müden guten Morgen in das Zimmer ziehen lässt, die das Licht anknipst, Fieber und Blutdruck misst, ihr das Frühstück, nebst allen anfallenden Pillen, an das Bett bringt. Nichts dergleichen, keine alltägliche Routine, heute früh, dafür die frühen, störenden Verkehrsgeräusche der Straße.
Gerade mal 06:00 Uhr. Einen Wimpernschlag, länger nicht, muss sie sich an den neuen Realitäten orientieren. Was nun? Dem alten oder dem neuen Rhythmus folgen? Hm, Umdrehen, nochmals umdrehen, endlich einmal richtig ausschlafen. Sie dreht sich zur Seite. Ausschlafen? In ihr arbeitet schon alles in gewohnter Manier, die Gedanken längst unterwegs, den Tagesablauf sich zurechtzulegen, also aufstehen, duschen, Frühstück zubereiten, grünen Tee, Müsli, Vollkornbrot mit Diät-Butter und Radieschen.
Auch das anders, nunmehr allein, nimmt sie ihr Frühstück ein. Nun, Einsamkeit ist sie gewohnt, aber neben sich jemand im Bett liegen zu haben, den sie ansprechen konnte, mit dem sie sich tagsüber unterhalten, über das magere Frühstück, das pampige Diät-Mittagessen nörgeln konnte, das war schon ganz nett. Keine hochtrabenden, aber manche privaten Gespräche über Krankheiten, die Schlechtigkeit der Welt und die Versäumnisse des Lebens, die einem erst bewusstwerden, wenn das Leben auf der Kippe steht. Neue Themen, andere Töne, das Schmatzen beim Essen, das Stöhnen, wenn die Schmerzen drücken, das Seufzen beim Nachdenken, das Schnarchen in der Nacht oder, wie Frau Brenner das Furzen nach jeder Mahlzeit, die die Kontrolle über ihren Darm verloren hatte. Nie gekannte Erfahrungen, die sie gemacht hat. Ein einseitiges und hörbares Szenario, jetzt aber nur bleierne Ruhe in der Wohnung, abgesehen von den Verkehrsgeräuschen, die die Straße ihr hochschickt.
Als Frühstücksdessert schluckt sie ihre Metformintablette, die für den Blutdruck und den Cholesterinsenker. Dabei fällt ihr siedend heiß ein, dass sie sich gestern ihren Blutzucker hätte messen sollen. Lässt sich Vergessen therapieren? Nun, sie ist noch nicht in dem Alter, wo Senilität beginnt, also müsste Vergessen behandelbar sein. Aber selbst wenn, sie hätte sich gar nicht messen können, da sie die Voraussetzung für das Messen vergessen hatte, nämlich, in der Apotheke ein Blutzuckermessgerät zu kaufen. Vergessen, sie hat es einfach vergessen. Auch dies.
Und die Krankheit, der Diabetes hat sie auch nicht erinnert, ist eine hinterhältige, verschwiegene Krankheit. Nichts, was zu sehen ist, nichts, was zu spüren ist, nichts, was schmerzt, einfach nur ein Name, der aber irgendwann seine fiese Fratze zeigen wird. Aber dies will sie nicht zulassen und schleunigst nachholen, was sie versäumt hat.
Konzentrationsschwäche würde Professor Theissen jetzt sagen. Es ist nicht die erste Konzentrationsschwäche, die sie an sich feststellt. Hm, was, wenn auch ihr krimineller Sachverstand gelitten hat? Ihre Kombinationsfähigkeit? Der Instinkt, den Weg des Verbrechens nachzuvollziehen, eingeschränkt, gar beschädigt ist? Wird wieder, hat Professor Theissen gesagt. Aber wird es tatsächlich wieder?
Betty ist verunsichert. Geduld soll sie haben. Das sagt sich einfach für den, der sie nicht haben muss. Vor ihrem Tee sitzend, brütet sie über die Folgen einer dauerhaften Konzentrationsschwäche. Lässt sich so etwas beheben? Was, wenn nicht? Aus für die Fallanalytikerin? Zurück ins Glied? Niederschmetternde Gedanken.
Für die Einkäufe ist es noch zu früh, steht auf, stellt sich das Radio an, sucht einen Sender, der Musik ihres Geschmackes spielt, was nicht einfach ist, da sie eigentlich keinen Geschmack hat, wenn, dann hört sie gerne Oldies, siebziger, achtziger Jahre, als die Musik noch handgemacht war. Kein Techno, hasst sie wie die Pest, genauso wie Rap, Gangstermusik, meidet sie schon aus Berufsgründen, landet schließlich bei Radio Bob, geringe Lautstärke, ruft auf ihrem Smartphone die neuesten Nachrichten ab. Nichts Besonderes, nichts, was sie interessiert. Warum auch, die Welt geht sie nichts an und irgendwie ist ihr der Zungenschlag der News nicht geheuer. Kein seriös anmutender Zungenschlag. So vertrödelt sie die Zeit, bis sie, immer noch etwas zu früh, in die Stadt aufbrechen kann.
Ihr erster Weg wird sie zur Apotheke führen, danach zu Karstadt. Bereit? Ja, dann auf ins Getümmel. Sie schlüpft in ihre Schuhe, nimmt ihren kleinen Rucksack als Taschenersatz, stopft eine dünne Sommerweste hinein, für alle Fälle, trotz der Wärme, die wieder zu erwarten ist, lässt den Stock zu Hause, geht vor zur Bushaltstelle, wartet kurz, steigt in den gut besetzten Bus und fährt in die Innenstadt. Die verstohlen auf sie gerichteten Blicke einiger Mitfahrerinnen und Mitfahrer nimmt sie nicht wahr, ganz in Gedanken ihre Einkäufe durchgehend.
In der Apotheke lässt sie sich verschiedene Blutzuckermessgeräte zeigen, Prinzip bei fast allen gleich und entscheidet sich für das eher einfache Gerät, dazu Sensoren, eine Nadel-Lanzette liegt dem Messgerät bei. Sie löst das Rezept mit den Medikamenten ein, erhält vier unterschiedlich große Schachteln, jeweils gefüllt mit diversen Pillen. Teure Krankheit, stellt sie fest.
Als nächstes sucht sie die Sportabteilung von Karstadt auf. Der Jogging-Anzug dürfte erwartungsgemäß der schwierigste Einkauf werden und richtig, für ihre Größe hängen wieder nur zwei armselige Teile über den Bügeln, grau und dunkelblau, mit weißen Seitenstreifen. Seitenstreifen kann sie nicht ausstehen, haben was Militärisches und die Farben mag sie auch nicht. Das Erscheinungsbild, als sie sich die Hose anhält, na ja, eher eine Couchgarnitur, denn Jogging-Anzug. Der Stoff, keine Baumwolle, irgendein synthetisches Zeug, das den Geruch nach einer Fabrik irgendwo in Indien oder Bangladesch an sich heften hat, der allein schon abschreckend auf Betty wirkt. Was tun?
Sie schaut sich um, keine Verkäuferin oder Verkäufer in Sicht. An einem der Ständer auf der anderen Seite des Ganges hängen Jogging-Hosen, kann sie zur Not mit einem T-Shirt kombinieren. 4XL ist das höchste Maß, Hose in schwarz, Baumwolle, ohne seitliche Streifen, riecht aber auch nicht besser, aber dehnbar, gut so, nimmt sie.
Jetzt noch eine Jacke, nein, keine Jacke. Es ist Sommer, wozu Jacke? T-Shirt. Auch hier die Auswahl überschaubar, aber immerhin findet sie zwei T-Shirts, frisch aus China, wobei, auch denen haftet kein Frischegeruch an. Allein das ist ein Grund, Pfunde abzuarbeiten, endlich in Kleidergrößen zu schrumpfen, die eine breitere Auswahl ermöglichen, nicht alles kommt aus China, hofft sie.
Bei den Turnschuhen ist es etwas einfacher, Schuhgröße 48, da kann sie auch bei Männerschuhen zugreifen, falls notwendig, denen werden auch mehr Modelle angeboten als den Frauen. Warum eigentlich? Bei den Herren wird sie tatsächlich fündig. Orange-weiße, leichte Schuhe, Sneakers, schick. Jetzt noch ein paar Socken und dieser Teil des Einkaufes ist erledigt. Sie gibt ihre Einkäufe an der Sammelkasse ab, weil sie noch in die Haushaltsabteilung möchte.
Diese befindet sich im Erdgeschoß des Kaufhauses, in der sie einen großen Topf, vielleicht auch zwei, und eine große Pfanne kaufen will, sagt sich aber, vor den Töpfen stehend, deren Gewicht abwägend, das hat Zeit, wird sie erst nach der REHA kaufen, heute und morgen genügt der vorhandene kleine Topf. Was sie dann noch auswählt, sind kleinere Küchengeräte, mehrere Küchen-Messer mit unterschiedlicher Schneidlänge, zwei Kochlöffel, ein Schöpflöffel, ein Gemüsehobel, alles kein Gewicht. Das ist natürlich noch nicht alles, von dem, was sie sich notiert hat, aber für den Anfang das Wichtigste. Die restlichen Utensilien wird sie nach ihrer Rückkehr besorgen. Lässt sich alles zur Sammelkasse schicken, zu der sie wieder hochfahren muss, über sie tragende Rolltreppen, zahlt dort und erhält zwei Papiertüten, die sie nach Hause tragen darf.
Damit hat sie alles, schneller als gedacht, eingekauft. Die eingesparte Zeit nutzt sie, nach kurzer Abwägung, noch etwas durch die Breite Straße zu schlendern. Unwillkürlich, aus dem Hinterkopf gesteuert, in dem das Gespräch mit der Karstadt-Verkäuferin schlummert, führt ihr Schlendern vor die Schaufenster, vier an der Zahl, des Damenbekleidungsgeschäftes für Mollige.
Die in den Fenstern stehenden kleiderbehängten Plastikpuppen hatten nichts Molliges an sich, alle normale Konfektionsgröße, bis auf einen Torso, kopflos, mächtige Brust andeutend, der in ein Kleid gehüllt ist, gelb mit kleinen bunten Regenschirmen bedruckt, gefällt Betty auf Anhieb, also betritt sie das Geschäft. Eine junge Dame, die Verkäuferin, keineswegs in Übergröße, tritt zu ihr, fragt, ob sie helfen könne.
„Ja, ich hätte gerne das gelbe Kleid aus dem Schaufenster anprobiert. Haben Sie es in meiner Größe 4 oder 5XL?“
„Sie meinen das Kleid auf dem Torso?“
„Genau jenes.“
„Da muss ich im Lager nachschauen, dauert einen kleinen Moment.“
Sie weist Betty auf einen Sessel hin, bedeutet ihr, sich dort niederzulassen, was Betty aber nicht will, sie schaut sich lieber in den Kleiderständern um. Die Farben der Kleider, Blusen, T-Shirts auf den Ständern und den Auslegetischen wirken allesamt freundlich, fast fröhlich, empfindet Betty, keine dunklen Töne weit und breit zu sehen, das dunkelste Kleid, dass sie entdecken kann, ist in einem dunklen Blau, aber bedruckt mit weißen geometrischen Mustern. Sie schiebt die Kleiderbügel etwas auseinander, um den Blick auf die Kleider auszuweiten, alles farbig, grell bunt, frech, jugendlich gemustert, eines gar, ein weißes Kleid, ist mit Gummibärchen in allen möglichen Farben bedruckt. Schön, aber Betty ist keine Litfaßsäule, na ja, fast nicht. Nein, Reklame für die Kalorienbomben wird sie nicht laufen. Etwas für junge Mütter.
Weiter geht es, nicht um ein Kleid zu finden, einfach nur, um eine Idee zu finden, was ihr sonst noch stehen, was ihr gefallen könnte.
Schon seltsam, denkt sie, ihre Garderobe ist von dunklen Farben dominiert und hier ist alles in Farbe und Licht getaucht, positive Stimmung verbreitend. Hm, wenn so einiges bei ihr im Umbruch ist, warum nicht auch eine Typänderung? Weg von der grauen, schwarzen Umhüllung. Graue Maus, so hat sie sich immer gefühlt und verhalten. Unsichtbar sein (Klar, war unmöglich, aber die Hoffnung stirbt halt zuletzt), nicht bewusst, aber all die Kränkungen, die sie erfahren musste, haben ihr dies eingeflüstert. Nur, 210 Kilo (minus die 18 durch den Krankenhausaufenthalt) auf knapp ein Meter achtzig lassen sich nicht unsichtbar machen, nur unauffällig, wohl deshalb hat sie sich in Grau und Schwarz zurückgezogen. Graue Maus. Ja, auch das wird sie ändern. Verändern.
Im Spiegel an der Wand sieht sie sich, wie sie ist, schwarze Leggings, graues, abgetragenes Kleid, schwarze kleine, kaum mehr erkenntliche Blumen darauf, schwarze, kurze Haare und ein Blick, in dem nicht die Spur eines Lächelns zu sehen ist. Bist du das, Betty? fragt sie sich. Ja, zumindest, wenn sie mit sich allein ist. Schon eigenartig, wie unterschiedlich die körperliche Ausprägung der Menschen ist, obwohl sie doch am Anfang alle gleich waren. Ein weißer Haufen von Samenspritzer, aus dem sich Unterschiedlichkeit entwickelt. Warum ist ausgerechnet sie so unterschieden von den anderen, den normal gewachsenen Menschen, so wie die Verkäuferin. Und wie die Gestalt, so unterschiedlich der Lebensverlauf. Wie wäre ihrer verlaufen, wäre sie mit einer Normalfigur aufgewachsen? Wäre sie dann auch Polizistin geworden? Hätte sie das Leben ausgiebig gelebt? Es nicht verborgen?
Gut, an dieser Spiegelerscheinung muss sie arbeiten, wendet sich wieder den Kleiderständern zu, nimmt das eine und andere Kleid vom Ständer, hält es sich an, tritt vor den Spiegel, ja, mit der Farbe kommt auch das Lächeln. Führt das Kleidungsstück an ihre Nase. Der Geruch, der von dem Kleidungsstück ausgeht, erinnert Betty an den Frühlingsduft verheißenden Weichspüler, dem sie ihrer Waschmaschine vor dem letzten Waschgang hinzufügt. Gänzlich anders als der Geruch, der im Karstadt aus der Fernostware entstieg.
Hinter ihr taucht die Verkäuferin auf, etwas irritiert blickend.
„Woher beziehen Sie Ihre Ware? Sie riecht völlig anders als drüben die Ware bei Karstadt.“
„Das meiste kommt aus China, der Rest aus Indien.“
Hm, denkt Betty, auch dabei gibt es anscheinend Unterschiede.
Die junge Dame hat das Kleid über den Arm gehängt, reicht es nun Betty, die es sich anhält, an sich herabsieht, sich zum Spiegel dreht. Gut, hübsch, probiert sie an, nimmt zwei weitere Kleider mit in die Umkleidekabine, schält sich aus ihrem Kleid, schlüpft in das ausgewählte hinein, streicht es glatt, tritt vor den Spiegel, dreht sich. Ja, gefällt ihr und vor allem, es passt. Kurzer Blick auf die Naht. Einwandfrei. Anscheinend löst der Preis eine Qualitätssteigerung aus. Gleiches Prozedere mit den beiden anderen Kleidern. Sie wird sich aber nicht entscheiden, eines auszuwählen. Sie nimmt alle drei.
Was sie der Verkäuferin mitteilt, die freudig lächelt. Das letztprobierte Kleid, ein hellblaues knielanges Kurzarmkleid, mit weißen Kreisen, Kringel, Rauten und anderen geometrischen Mustern bedruckt, behält sie gleich an, lässt das Preisetikett entfernen und ist hochzufrieden mit ihrem Einkauf.
„Sagen Sie, hier in dem Verkaufsraum ist gefühlsmäßig eine heitere Stimmung, eine luftige Atmosphäre, ist das gewollt oder nur eine Empfindung von mir.“
Die junge Frau lächelt: „Das ist so gewollt. Frau Schröter, die Inhaberin, sagt immer, schwarze, dunkle Kleidung ist etwas für den Friedhof, nicht aber für ihre Geschäftsräume. Hier ist das Leben! Deshalb finden Sie keine dunkle Bekleidung bei uns.“
„Ist Frau Schröter auch eine mollige Frau, mit schlechter Erfahrung?“
„Nein, mollig ist sie nicht. Sie ist so etwas wie eine Frohnatur. Unerschütterlich optimistisch.“
„Erstaunlich, dass es so etwas noch gibt. Und wie ist Frau Schröter auf die Idee gekommen, Mode für Mollige anzubieten?“
„Sie dachte, sie würde in eine Marktlücke stoßen, da es doch immer mehr Mollige gibt. Nur, diese Molligen sind nicht die, die unsere Kunden sein könnten…Wir sind schlicht zu teuer für die.“
Welche Molligen meint sie? Klassifiziert sie Mollige? Klassenunterschiedliche Molligkeit? Ist das jetzt Gewichtsdiskriminierung? Lohnt es sich, jetzt in eine Grundsatzdiskussion einzusteigen? Nein, denkt Betty, lass es auf sich beruhen. Betty hat nicht auf die Preise der Kleider geschaut, will sie jetzt auch nicht mehr tun, ahnt aber, dass sie sich nicht gerade ein Schnäppchen geleistet hat.
Jetzt noch farblich passende Leggings dazu und der nächste Schritt ihrer Veränderung ist gemacht. Der einfachere Schritt. Leggings in hellem blau, weiß, beigem und hellem Gelb wählt sie aus. Die weißen Leggings behält sie gleich an. Gut, die neue Betty. So einfach geht das. Das sie gerade auf dem Weg ist, weitere Pfunde zu verlieren, ihre Kleider eventuell zu groß ausfallen, kommt ihr nicht in den Sinn.
An der Kasse hält sie ihre Karte hin, die mit einem Betrag belastet wird, der bei einem dieser Billigläden um ein Vielfaches günstiger ausgefallen wäre, aber was soll es, es geht ja um Typänderung, die kostet halt. Betty bedankt sich bei der freundlichen Verkäuferin und verabschiedet sich. Der Laden wird ihr Mekka werden, auch wenn sie dort nur eine Marktlücke ist. Mit nun vier Tüten beladen, verlässt sie den Laden.
Die Hitze staut sich mittlerweile in der Geschäftsstraße, schwüle Wärme, unangenehm. Betty hat das Gefühl, dass alle Menschen, die ihr begegnen, schwitzen, nach Feuchtigkeit hecheln und schlapp die Straße entlangstreben. Aber es ist nur sie, die diese Symptome zeigt. Die Balance zu halten, fällt ihr schwer, schaut sich nach einer Sitzgelegenheit um, vorne das Wiener Café, gut, strebt sie an, sucht sich dort einen schattigen Platz, schnauft durch, leichten Schwindel spürend, gibt ihre Bestellung auf, ein großes Mineralwasser und ein Kännchen grünen Tee. Langsam kehrt Ruhe in sie ein, ihr Atem wird wieder gleichmäßiger. Es ist viel Bewegung in der Straße, die gespeist wird von gemächlich, hastig, lachend, telefonierend, schwatzend, singend oder pfeifenden Touristen aus aller Herren Länder, Ausflüglern, Shoppern, Bettlern, Straßenmusikanten, Bummlern, und jenen, die am Rande der Straße vor ihrem Kaffee ihren Platz haben, dem Treiben folgen oder, wie Betty, einfach abschalten, vor einem Tee, Kaffee, einem kühlen Getränk oder einem klebrigen Eisbecher sitzend. Ach ja, denkt Betty, die das Treiben vor ihr beobachtet.
Ihr Smartphone gibt Töne von sich, ein Griff und sie hält es in der Hand. Oma Katharina! Sie hatte ihre Großmutter auf ihrem gedanklichen Zettel stehen. Gestern wollte sie sie anrufen. Hat sie nicht getan, obwohl es ihr wichtig war.
Sie nimmt das Gespräch an.
„Hallo Omi, bitte entschuldige mich tausendmal. Ich wollte gestern anrufen, aber ich war zu fertig, um ein spätes Gespräch zu führen.“
„Hallo mein Kind. Nicht schlimm, nicht schlimm. Du bist zu Hause? Und dein Befinden? Wird alles wieder werden, wie es einmal war?“
„Omi, ich bin gerade in der Stadt und auf dem Heimweg, kann ich dich in einer Stunde zurückrufen?“
„Natürlich Kindchen, lass dir Zeit. Überstürz nichts. Dir geht es aber gut?“
„Ja Omi. Soweit alles gut. Ich melde mich dann gleich.“
Betty kann es nicht ausstehen, in der Öffentlichkeit privat zu telefonieren und dass sie ihr Smartphone dabeihat, nichts als eine berufsbedingte Angewohnheit. Früher hätte sie den Tee jetzt in sich geschüttet oder einfach stehen lassen, nur um schnell zurückzurufen, aber sie hat anscheinend Gelassenheit gewonnen, denn sie bleibt sitzen, trinkt Schluck für Schluck ihren Tee, bevor sie zahlt und aufbricht.
Bettys Großmutter hatte sich, trotz heftigem Widerspruch ihrer Tochter, Bettys Mutter, entschlossen, in eine Residenz für Senioren, ein selbstbestimmtes Wohnen, nicht weit von ihrem jahrelangen Wohnort im Stadtteil Ottensen, überzusiedeln. Ilse Schwed, ihre alte Freundin aus der Nachbarschaft, die, nach dem Tod ihres Mannes, seit drei Jahren in dieser Senioren-Residenz wohnt, hat tätig geholfen, sie kurzfristig in der Residenz unterzubringen.
Mit ihren 82 Jahren ist sie geistig noch rege, aber ihre Beine wollen nicht mehr so, wie sie will. Arthrose in den Knien, den Fingern, setzt ihr heftig zu und vieles, was sie zuvor mit Leichtigkeit getan hat, fällt ihr zunehmend schwerer, etwa die Treppe hoch in ihr Schlafzimmer zu gelangen, eine Tortur. Deshalb ihre Entscheidung, ihr geliebtes Heim aufzugeben, aber auch, um näher bei ihrer Freundin Ilse zu sein. Dass der Übergang nun sehr flott vonstattenging, hing mit der freigewordenen Wohnung im Pflegeheim zusammen und Bettys Großmutter war dieser schnelle Umzug, vorbei an der Warteliste, recht, so musste sie nicht lange hadern, zögern und ihrer erinnerungsgefüllten Vergangenheit nachtrauern.
Die Pläne der Tochter sahen anders aus. Dieser ging es um das Grundstück und das Haus im Philosophenweg, über die Jahre an Wert stetig gewachsen, vor allem das Grundstück, gute 1200 qm umfassend. Die Mutter sollte in ein Altenheim draußen, weit draußen auf dem Land unterkommen, weil es dort kostengünstiger als in der Stadt sei, und das Grundstück sollte selbstverständlich auf sie überschrieben werden. Ihre Absicht war, es sofort zu verkaufen, nachdem es in ihren Besitz gelangt wäre. Mit dem finanziellen Zuwachs wäre sie aus der monetären Abhängigkeit von ihrem derzeitigen Ehemann entwachsen, hätte Unabhängigkeit von ihm erlangt, denn im Moment ist sie auf die Zuwendungen ihres Mannes angewiesen, dem Zweiten, den sie nach der Scheidung von ihrem ersten Mann, Bettys Vater, heiratete. Betty kennt ihn nicht, weiß nur von ihrer Großmutter, dass er ein Fabrikant von irgendetwas und Österreicher ist und ihre Mutter zwischen Salzburg und Menorca, dort hatte ihr Mann seinen Zweitwohnsitz, pendelt.
Aber Bettys Großmutter machte ihrer Tochter klar, dass sie nichts, außer ihrem Pflichtteil zu erwarten habe und den würde ihr Anwalt so klein wie möglich rechnen. Haus und Grundstück würden an Betty gehen und sie sich in ein Heim ihrer Wahl begeben wird. Es sei alles bereits geregelt und sie solle sich wieder dahin begeben, wo sie letzten zehn Jahre war, in denen sie nur gelegentlich von ihr gehört habe.
Klar, Bettys Mutter war stinksauer, drohte mit einem Anwalt, würde alles anfechten. Sie werde von ihrem Anwalt hören. Sie werde ihre Ohren aufsperren, sagte Oma Katharina, mehr aber nicht und ihre Tochter verließ wutentbrannt das Haus im Philosophenweg, in dem sie groß geworden war.
Dies alles hat Bettys Großmutter bei ihrem Besuch in der Klinik Betty angekündigt, nur bedingt überraschend für Betty, da ihre Großmutter immer angedeutet hatte, ihr werde einmal alles, was sie habe, zufallen. Dass sie dies nun tatsächlich und so konsequent durchgezogen hatte, verwunderte Betty dann doch.
Die Konsequenz der Entscheidung von Oma Katharina ist, Bettys Mutter würde den Kontakt zu ihr endgültig abbrechen, der allerdings seit Jahren eh nicht mehr vorhanden war; ihre berufliche Zukunft wurde ebenfalls tangiert. Bliebe sie in Lübeck, wo sie eine Stelle als Fallanalytikerin so gut wie sicher hatte, müsste sie pendeln, täglich gut eineinhalb Stunde Fahrt oder die Lübecker Wohnung behalten und nur die Wochenenden nach Hamburg fahren.
Würde sie nach Beendigung ihres Abschlusskurses zur Fallanalytikerin in Hamburg bleiben, wäre es sehr ungewiss, dort eine Stelle zu bekommen, sie müsste wahrscheinlich im Polizeidienst auf Wartestellung gehen und wo sie im Polizeidienst landen würde, ist auch ungewiss. Andererseits hatte sie das Angebot von Professor Giede, der nach einer Gastprofessur in England zum Wintersemester wieder in Hamburg lehren würde, seine wissenschaftliche Assistentin zu werden, bei ihm zu promovieren und eventuell gar zu habilitieren mit der Aussicht, Professor Giedes Lehrstuhl zu übernehmen.
Alle Aspekte gilt es abzuwägen, bis ins Detail zu bedenken, was sie allerdings auf die lange Bank, also nach der REHA aufschiebt, mit dem Anruf der Großmutter werden all diese Gedanken wieder reaktiviert. Na ja, und der Professor drängelt.
Während sie sich zur Bushaltestelle schleppt, einsteigt, Platz nimmt, geht ihr das, was ihre Großmutter für sie getan hat, durch den Kopf. Und dieses Tun ist nun fix, denn sie weiß, dass Großmutter gestern bei ihrem Anwalt war. Sie hätte nun unbedingt nach Hamburg gemusst, um in die Details einzusteigen und, wer kümmerte sich nun um das Haus, wenn Oma im Heim ist? Ach, auch dafür dürfte Oma gesorgt haben. Sie war immer eine Frau der Lösungen gewesen. Nun muss sie selbst eine Lösung finden, eine Lösung wie ihr beruflicher Lebensweg weitergehen soll.
Sie mag ihren Beruf als Polizistin. Und die Ermittlungsarbeit hat sie voll ausgefühlt, ja, sie empfand große Befriedigung dabei, hatte ihr aber auch gezeigt, wie nah der Beruf dem Tod ist, nicht nur dem eigenen. Der Gedanke, was wäre, wenn der Hausmeister fester zugeschlagen hätte, glimmt immer wieder in ihr auf. Ihr erster Fall gleich ihr letzter, überhaupt, das Letzte, was sie getan hätte. Die Konsequenz aus dem Vorfall auf ihre Arbeit kann sie sich noch nicht vorstellen, aber irgendeine Konsequenz wird es geben, nur, dies wird sie erst erkennen, wenn sie wieder voll im Dienst sein wird und wie dieser Dienst in Zukunft aussehen wird, ohne Hembach als Chef, auch dies noch vollkommen offen. Da ist einiges in Bewegung geraten. Einiges.
Verschwitzt und leicht angeschlagen ist sie zu Hause zurück, wirft die Einkaufstüten auf den Küchentisch, schnappt sich ihr Smartphone, geht zum Spülbecken, lässt ein Glas Wasser volllaufen, trinkt es in kurzen Zügen leer, füllt nach und geht zu ihrer Couch, setzt sich ab. Auf ihrer Stirn haben sich kleine, zum Teil winzig kleine Schweißperlen versammelt, unschlüssig noch, ob sie eintrocknen oder gesichtsabwärts rollen sollen. Die Entscheidung nimmt ihnen Betty ab, zückt ein Papiertaschentuch und wischt über ihre Stirn. Betty und heiß, dies verträgt sich nicht. Sie verschnauft und wartet einen Moment, bevor sie die Nummer ihrer Großmutter eintippt.
Eigentlich hätte sie lieber ihre neuen Kleider anprobiert, die T-Shirts müsste sie waschen, werden aber sicher nicht bis morgen trocken sein.
„Ja Kindchen. Wieder zu Hause?“ hört sie ihre Großmutter.
„Ja Omi, ich sitze auf meiner Couch. Jetzt können wir in Ruhe reden.“
Natürlich will ihre Großmutter ganz genau wissen, wie es ihrer Enkeltochter geht und Betty gibt ihr den Krankenbericht durch, erzählt, dass sie dringend ein paar Dinge in der Innenstadt hatte einkaufen müssen, die sie für die REHA brauche, sonst hätte sie bei der Hitze die Wohnung nicht verlassen.
„Du weißt, ich war gestern bei Anwalt Dewitz. Es ist jetzt alles fixiert und geregelt. Natürlich wäre es schön gewesen, du hättest dabei sein können. Es gibt noch einiges zu besprechen. Aber das hat jetzt Zeit, bis du zurück bist. Aber danach kommst du doch gleich?“
„Omi, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken kann. Ich mache aber alles wieder gut, wenn ich zurück bin. Jetzt, wo du schon im Heim bist, wer kümmert sich da um dein Haus?“
„Mein Haus? Betty, es ist jetzt deins. Und kümmern? Das macht Herr Lehhahn, der Rainer, er schaut nach dem Haus, gießt die Pflanzen und Peter Leuter ist einmal die Woche für den Garten da. Die beiden musst du dir warmhalten. Ich habe nur das Nötigste mit ins Heim genommen. Das Haus ist also noch voll möbliert. Was du brauchen kannst, musst du dann selbst entscheiden, aber ich hätte gerne noch ein paar Dinge hierher in die Wohnung geholt. Das machen wir dann zusammen.“
„Machen wir. War das jetzt nicht alles etwas überstürzt? Du hättest doch noch zu Hause wohnen bleiben können, bis ich zurück bin.“
„Darüber haben wir schon gesprochen. Was sein muss, muss sein. Weißt du schon, ob du hier wohnen wirst?“
„Ich werde Omi. Allerdings erstmals nur für ein paar Monate, bis ich meine Ausbildung beendet habe. Der Abschlusslehrgang findet in Hamburg statt. Was ich danach beruflich mache, weiß ich noch nicht. Ich denke aber, ich werde dein Haus beleben.“
Oma Katharina erklärt Betty, dass sie zusammen zur Bank müssten, damit Betty die Vollmachten über ihre Konten bekomme, was beim Anwalt für sie hinterlegt sei und dass sie nicht ins Haus komme mit ihrem Schlüssel, der sei veraltet, sie habe die Schlösser an der Hof- und Haustür auswechseln lassen, damit Bettys Mutter nicht in das Haus könne.
„Omi, du bist aber auch eine.“
„Du hast keine Ahnung, was deine Mutter für eine ist. Vorsicht ist bei deiner Mutter die Porzellankiste.“
Betty muss herzhaft lachen. Oma ist fit und okay, denkt an alles.
„Wann fährst du?“
„Morgen, um die Mittagszeit.“
„Gut, dann wünsche ich dir alles Gute. Komm bitte voll genesen zurück. Und melde dich ab und zu.“
„Klar Omi, mache ich und nochmals tausend Dank für alles.“
Gedanklich hat sie sich noch nicht mit dem plötzlich zugewonnenen Haus beschäftigt. Irgendwie ist es unwirklich. Betty als Hausbesitzerin? Was sie mit dem Haus vorhat, wie es einrichten, wie bewohnen, vor allem wann bewohnen, nein, keinen Kopf, darüber hat sie sich noch keinen Kopf gemacht, so fern noch, so fern und jetzt doch ganz nah. Stolz, Betty empfindet Stolz auf ihre Großmutter, eine solche Entscheidung getroffen und umgesetzt zu haben. So etwas macht nicht jede Großmutter. Nein, bestimmt nicht. Gut, nicht jede Großmutter verfügt über ein eigenes Haus, aber auch die, die eins haben, geben es nicht so einfach auf, hängt ja auch viel dran, meist ein ganzes Leben.
Mit einem Lächeln ruft sie sich die Erscheinung ihrer Großmutter vor Augen, wie sie sich immer um Betty behütend gekümmert, sie umsorgt, vor allem versorgt und gegen alle Krittelei seitens Bettys Eltern geschützt, sich vor ihr postiert, sie mit scharfen Worten verteidigt hat. Nie hatte sie ein böses Wort oder eine anzügliche Bemerkung über Bettys Leibesfülle von sich gegeben. Ohne Großmutters finanzielle Zuwendungen hätte sie ihr Studium nur unter erschwerten Bedingungen durchführen können. Ja, sie hat ihr viel, sehr viel zu verdanken und sie hat ihr viel zu wenig zurückgegeben. Muss sie ändern, auch dies muss sie verändern.
Upps, genug geträumt. Sie schüttelt sich, erhebt sich, räumt die gekauften Sachen aus den Taschen, legt die Kochutensilien im Spülbecken ab, trägt die T-Shirts und die Jogging-Hose in ihr Schlafzimmer, ebenso die beiden Kleider, zieht das neue Kleid, dass sie anhat, aus, um die beiden anderen Kleider nochmals anzuprobieren.
Zunächst zieht sie das gelbe Kleid mit den bunten Sonnenschirmen an (Regen- oder Sonnenschirme, hatte sie die Verkäuferin gefragt und die meinte, dass könne sie nach Tageslaune entscheiden, gut, heute war die Sonne dran), dreht sich, wendet sich, gefällt ihr an ihr, gefällt ihr sehr, etwas eng, aber wenn demnächst weitere Pfunde purzeln, wird das Kleid immer passender. Auch ihre Haare findet sie mittlerweile nicht mehr so schlimm, im Gegenteil, so wie die Haare sind, gefallen sie ihr, besser als die grause, gelockte Frisur vor dem Unfall. Ja, sie wird es in Zukunft kurz tragen. Ihr zweites Kleid passt ebenfalls, auch das schick, guter Kauf. Sie legt alle Zukäufe auf ihrem Bett bereit, wird am Nachmittag anfangen ihren Koffer zu packen. Für T-Shirt waschen, zu spät, muss halt so gehen.
Ihr Magen rührt sich, zwar durch den Klinikaufenthalt an kleinere als die sonst bei ihr üblichen Mengen gewöhnt, aber noch nicht ganz abgewöhnt, verlangt er mit Nachdruck eine Nahrungszufuhr. Ja, wird Zeit.
Aus dem Kühlschrank entnimmt sie ein Zucchino, sechs Champignons, eine kleine Zwiebel, ein paar Blumenkohlröschen, schneidet alles klein, würzt mit Salz, Pfeffer, Kurkuma, Oregano, brät alles in der kleinen Pfanne kurz an, gibt etwas Gemüsebrühe hinzu und fertig ist ihr Mittagessen. Langsam kauend, wie Frau Doktor Bunsen ihr eingeprägt hat, lässt sie die verschlingenden Zeiten hinter sich. Aber allein der Anblick dessen, was da auf ihrem Teller ruht, sagt ihr, damit wird mein Magen nicht zufrieden sein. Muss er aber, was heißt, sie wird mit ihrem Magen ringen müssen und das bis zum Abendessen.
Nach dem Essen geht sie noch einmal die Liste mit dem Aufschrieb dessen, was sie in die Klinik mitbringen muss, durch. Scheint alles zu haben, was sie braucht und was sie vergessen haben sollte, wird sicher in der Klinik oder dem Ort zu kaufen sein. Lusi wird sich wieder während ihrer Abwesenheit um die Wohnung kümmern, aber eigentlich gibt es nichts zu kümmern, keine Pflanze, die nach Wasser ruft, nur kurzes Lüften und die lästigen Werbeschriften, die Post, die spärliche Post, aus dem Briefkasten entfernen.
Nochmals in die Stadt gehen, um doch schon die Töpfe und die Pfanne zu holen, versagt sie sich, liest ihre Überweisungspapiere noch einmal durch, später dann weiter den Zweig, bei dem sie eindöst, nicht weil der Roman uninteressant wäre, im Gegenteil. Sie ist erschöpft, einfach nur erschöpft, die Hitze, der Kreislauf, der nicht so richtig laufen will, lässt sie bis in die Nachmittagsstunden hinein auf ihrer Couch ruhend dösen.
Das Summen ihres Smartphones schreckt sie auf, kurzes besinnen, orientieren, woher die Töne kommen, steht auf, etwas schwummrig im Kopf, das Smartphone wieder stumm. Im Schlafzimmer neben ihrer Tasche hebt sie es auf, schaut, wer da angerufen hat. Anscheinend Lusi, aus dem Büro. Samstag? Es ist wohl etwas passiert, also zurückrufen, drückt die entsprechende Taste und Lusi meldet sich.
„Hallo Betty, ich wollte nur hören, wie es dir geht.“
„Danke Lusi, mir geht es gut. Aber du, im Büro? Was ist los?“
„Die Einbruchserie ist gestern Nacht eskaliert. Ein Einbruchsopfer hat die Täter stellen wollen und wurde von denen schwer verletzt. Er liegt im Krankenhaus, auf der Intensivstation. Wir suchen mit Hochdruck nach den Tätern.“
„Es sind also mehrere Täter?“
„Mindestens zwei. Ja. Möglich, dass ein dritter im Auto vor dem Haus wartete. Die Einbrüche scheinen immer nur sehr kurz zu sein, so als ob sie genau wüssten, was wo zu finden ist.“
„Habt ihr schon nach Übereinstimmungen gesucht, also gleiche Landschaftsgärtner, gleiche Fensterputzer?“
„Daran hat Hembach auch schon gedacht. Wir haben bisher keine Parallelen gefunden.“
„Hm, würdest du mir bitte alles zumailen, was ihr bis jetzt ermittelt habt? Ich weiß, da gibt es wahrscheinlich nicht viel zu profeilen, aber es würde mir sehr helfen. Weißt du, ich merke, dass ich unkonzentriert, vergesslich bin. Ich habe Angst, meinen Spürsinn eingebüßt zu haben. Ein wenig Gehirnjogging kann mir deshalb nur nützen.“
„Du sollst dich doch erholen. Du solltest dich auf deine REHA konzentrieren und dich nicht schon wieder durch einen Fall wühlen.“
„Bitte Lusi. Es ist nur ein Training.“
„Gut, mal schauen.“
„Lieb von dir.“
„Wann geht es los?“
„Morgen Mittag. Drei Mal umsteigen und fasst fünf Stunden Fahrzeit. Das ist ungewohntes Terrain, das ich da betrete oder besser gesagt, befahre. Aber ich habe ja Unterhaltung, wird kurzweilig werden.“
„Du fährst in Hembachs alte Heimat. Das weißt du?“
„Er hat es angedeutet, was, wie du weißt, schon fast ein Roman ist.“
Lusi musste lachen, ja Hembach und etwas preisgeben, zwei Dinge, die nicht zusammenpassen. Sie verspricht Betty ihr die Unterlagen im Laufe des Nachmittages, spätestens morgen früh zuzumailen, wünscht ihr (mit einem süffisanten Lachen) eine angenehme Fahrt und eine gute und erfolgreiche Unterhaltung. Betty rätselt kurz, was Lusi mit Unterhaltung verstanden hat, bestimmt nicht den Zweig.
Der Samstag verstreicht, ebenso der Sonntagmorgen, der mit Packen und zwei Telefonaten ausgefüllt ist, nochmals mit ihrer Großmutter sprechen und mit Professor Giede hat sie geskypt. Der Professor wartet immer noch auf eine positive Antwort seitens Betty, die sich aber erst nach der REHA entscheiden will, da sie nur zusagen möchte, wenn sie körperlich und geistig vollständig genesen sei, denn die Assistenz würde ihr einiges abverlangen und dies ginge nur, wenn sie dazu in der Lage sei, was der Professor verstand, ihr alles Gute wünschte. Sie würden in Verbindung bleiben. Schwer, es wird eine schwere Entscheidung werden, egal welche Entscheidung sie treffen wird.
Kurzes Mittagessen, der restliche Blumenkohl, Erbsen, Karotten und zwei Kartoffeln, der Magen wird wieder unzufrieden sein, für mehr aber war keine Zeit mehr. Toilette, die musste jetzt noch schnell sein, weißderkuckuck wie die nächste Gelegenheit dazu aussieht. Für die Reise hatte sie sich schick gemacht, ihr gelbes Kleid, das mit den Sonnenschirmen, angezogen, dazu die weißen Leggings, freundlich, aber auffallend. Was soll’s? Ich bin Betty. Ich bin dick.
Das Taxi hatte sie vorbestellt, steht pünktlich vor der Tür, den schweren Koffer schleppt sie schwerfällig Stufe für Stufe die Treppe hinab, der Taxifahrer hievt ihn in den Kofferraum, Betty nimmt vorne Platz, muss den Sitz bis zum Anschlag zurückfahren. Der Taxifahrer, mit Migrationshintergrund, schaut sie lächelnd an, seine Augen fragen, kann es losgehen, Betty nickt, auf geht’s, zum Bahnhof.
„Lange Reise?“ fragt der Fahrer.
„Eigentlich nicht, also nicht weit, dafür aber länger als üblich.“
„Okay“ und steuert sein Gefährt entspannt durch den städtischen Verkehr.
Von Lübeck geht es mit der mit Fahrgästen gut gefüllten Regionalbahn Richtung Osten. Sie hat die Sitzbank für sich. Das übliche, der Flecken Platz neben ihr, bleibt leer, nur ihr schräg gegenüber lässt sich eine ältere Frau auf der Bank nieder, der man im Gesicht ablesen kann, was sie denkt, „Wie kann die Frau nur so fett sein?“
Indem Frau sich ungesund ernährt, hätte sie jetzt laut sagen können, macht sie natürlich nicht, zu alltäglich, dieser Blick. Sie schenkt der Frau ein Lächeln, ohne es erwidert zu bekommen. Immerhin ist die Luft im Abteil trotz der Hitze draußen erträglich, klimatisiertes Abteil. Möge diese durchhalten bis zum Reiseziel. Ihren Platz hat sie in Sichtweite, also Laufnähe, zur Toilette gewählt, die von außen geräumig wirkt, hofft aber, sie nicht in Anspruch nehmen zu müssen. Bewusst hat sie wenig getrunken, was nicht drin ist, muss auch nicht raus, so ihre Logik. Bad Kleinen ist die erste Umsteigestation. Neuland. Ostland ist Neuland für Betty. Und sicher geht es anderen Menschen genauso, warum sonst heißt es Neue Bundesländer?
Die Wiedervereinigung erfolgte kurz nach ihrer Geburt, zu jung, um zu verstehen, was die Erwachsenen da veranstaltet hatten. So wuchs sie mit der Tatsache der wiedervereinten Deutschen auf, ohne dass sie das weiter tangiert hätte. Die Trennung war eine Erinnerung, mit der Betty nicht viel anfangen konnte. Mancher Lehrer ihrer Schulzeit versuchte sich in Erklärungen, wie es kam, was dann kam, was, wie ein schlechter Film, an Bettys Ohr vorbeirauschte. Es ist, wie es ist, und gut so.
Später, also viel später, zog Groll in ihr auf, über das, was sie von den Nachrichten mitbekam. Da wurde demonstriert, sich beklagt, Unzufriedenheit mit diesem und jenem gebrüllt, Störgeräusche, deren Wurmfortsatz bis in den Westen schwappte, dort aber nicht so verfing wie drüben. Die Menschen dort hatten einen anderen Hintergrund als die im Westen. Das verstand Betty schon, nach dem strammen Nazi sein das stramme Kommunist sein, zwei Systeme, die so unterschiedlich gar nicht waren, aber im klein halten der Menschen sich ähnlich. Was Betty nicht verstand, war, warum so viele Leute nicht in der Demokratie mitspielen wollten. Ja, auch im Westen wurde und wird viel gejammert, das Niveau bewegte sich allerdings auf einem höheren Level. Dort drüben ist das Jammern schon fast militant. Gut, bei einer Minderheit, die lauter ist als die Mehrheit, aber alles fängt einmal klein an.
Dabei hatten die bekommen, was ihnen über Jahre vorenthalten wurde, von der Banane bis zum Braun-Rasierer, von der persönlichen Freiheit bis zur Reisefreiheit, womit aber anscheinend einige nicht zurechtkommen, gewohnt geführt zu werden, wird Selbstverantwortung zu einer Bürde. Ansonsten sind ihr die neuen Länder fern, was nichts heißen will, denn gleiches gilt auch für die süddeutschen Länder. Vor allem mit den Bayern, diesem seltsam eigenwilligen Völkchen, das mitunter tut, als gehöre es nicht zum Rest der Republik und der Anführer dort lässt Sätze aus seinem Mund, die Betty eigentlich den anderen, also den Schreihälsen aus dem Osten zugetraut hätte. Voralpentrump nennt ihn Betty für sich. Nun ja, denkt Betty, da fährst du nun hin, ins Neuland, obwohl es hier ja aussieht, wie woanders auch.
Und Bad Kleinen? Nie gehört und keine Ahnung, wo diese Stadt liegt. Klar auf der Strecke. Aber wo? Lässt sich googeln, sie klappt ihren Laptop auf, schaltet ein, ruft Google auf, gibt Bad Kleinen ein und wählt Google-Map. Die Landschaft draußen flach, Felder wechseln sich mit kleinen Wäldern und Naturlandschaften ab, na ja, halt norddeutsche Landschaft, nur in Ostdeutschland gelegen, aber dünner besiedelt als Holstein, weshalb der Regionalzug auch nicht jede Milchkanne bedient. Gut so.
Sie geht von der Google-Map auf die schriftlichen Google-Treffer und ein Aha-Erlebnis tritt in ihr Gedächtnis. An dem Bahnhof, an dem sie umsteigen muss, war es Anfang der neunziger Jahre zu einem GSG-9-Einsatz gegen RAF-Terroristen gekommen, mit tödlichem Ausgang für einen GSG-9-Beamten und einen Terroristen. Während ihrer Ausbildung an der Polizeischule hatten sie diesen Einsatz analysiert. Richtig, hat sie total vergessen. Trotzdem, der Osten ist Betty unbekannt.
Laut Plan muss sie in Bützow, Rostock, Ribnitz-Damgarten und Barth umsteigen. Von Rostock hatte sie schon gehört, wie hieß der Typ, dieser schludrige Bulle aus dem Polizeifunk? Bukow? Ja, dessen Revier war Rostock, und Hembach kam aus Rostock. Mehr aber weiß und kennt sie nicht und von den anderen Orten auf der Strecke hat sie auch keinen Schimmer und auch das Googeln der Orte hilft ihr dabei auch nicht auf die Sprünge.
Na ja, außer Hamburg und Lübeck ist da nicht viel an geografischen Erfahrungen. Warum eigentlich nicht? Weil sie sich lieber verkroch, in ihr Schneckenhaus, allein mit sich und ihren Pfunden? Ihres Körperbaus wegen? Der Angst vor den missbilligenden, abschätzigen Blicken, den Verletzungen der Sprüche, die auf sie geschossen wurden? Na ja, und der eine Flug, den sie in ihrem Leben geflogen ist, war als quälendes Detail in ihrem Kopf auf Ewig verankert. Ist sie denn so weit, mehr zu wagen? Ist diese Fahrt ein erstes Wagnis? Nein, diese Fahrt ist eine Notwendigkeit und kein Wagnis. Wagnis geht anders.
Noch eine halbe Stunde Zeit bis Bad Kleinen, ein Blick auf ihre eMail’s. Noch nichts, Lusi hat sicher anderes zu tun, als ihr einen Berg Daten rüberzuschaufeln. Also weiter googeln, Ahrenshoop und die Klinik. Zuvor aber den rumorenden Magen befrieden. Als Proviant für die Reise hat sie sich zwei Äpfel, fünf mittlere Möhren und zwei Selleriestangen eingepackt, handlich klein geschnitten, damit sie Platz in einer Tuperwaren-Schale fanden, aus der entnimmt sie nun zwei Möhren, beißt knackend von der ersten Möhre ein Stück ab, was die Frau im Parallelsitz ihr gegenüber erstaunt aufblicken lässt. Betty hält ihr die zweite Möhre hin, was die Frau verlegen lächelnd ablehnt und mit ihren Augen auf die vorbeieilende Landschaft flüchtet.
Ja, sollte sie auch machen, kaut auch die zweite Möhre knackend ab und sieht großflächige monotone, teilweise bereits abgeerntete Felder, vereinzelte Gehöfte, zwischen den Feldern kleinere Waldstücke, für eine dauerhafte Ablenkung zu trist und auf Googeln hat sie auch keine Lust mehr, also klappt sie den Laptop zu, versucht sich entspannt in den Sitz zu bequemen, was nicht so recht gelingen will, schließt dennoch die Augen, ein wenig zu dösen.
In Bad Kleinen muss sie umsteigen, Koffer ziehen, Treppe hoch, Treppe runter, 10 Minuten Zeit. Es sind etliche Fahrgäste, die hier umsteigen, anscheinend alle unterwegs in die Ferien an der Ostsee, wäre Betty auch lieber.
Über Bützow geht es nach Rostock und Greifswald, erneuter Umstieg, von dort nach Ribnitz-Damgarten, wo die Landschaft Charme annimmt, der Bodden sichtbar wird, die kleinen Seen mit ihrem Schilfbewuchs, Trauerweiden, vom Wind krummgebogen. Fast vier Stunden ist sie jetzt unterwegs und auf dem letzten Stück patzt die Bahn, der Bus, der sie nach Barth bringen soll, abgefahren, der nächste wird eineinhalb Stunden auf sich warten lassen. Ärgerlich.
Zwei weitere Frauen stehen etwas abseits voneinander an der Bushaltstelle, ebenso ratlos blickend wie Betty. Zwei Frauen, die alles andere als unauffällig sind. Die eine springt sofort ins Auge, versehen mit einer Leibesfülle, die an die Bettys reicht, wenn nicht sogar übertrifft. Allerdings, die Fülle ist sehr ungleich verteilt. Die Masse an Gewicht wuchert in der Mitte und den Beinen. Die andere Frau, das extreme Gegenteil, ist spindeldürr, nur Haut und Knochen. Nein, die beiden haben nicht vor, hier oben Urlaub zu machen.
Betty überlegt, warten oder was ist die Alternative? Sie spricht eine der beiden Frauen, die dünne Frau, die ihr am nächsten steht, an, fragt, ob sie auch nach Ahrenshoop wolle, was diese bejaht. Auch die dicke Frau, die ein sehr mürrisches Gesicht zeigt, stimmt in das Gespräch ein, ja, auch sie wolle nach Ahrenshoop.
„Dann sind wir schon zu dritt,“ stellt Betty grinsend fest.
„Wow, da kann eine, ähm, bis drei zählen,“ dröhnt die raue, pampig klingende Stimme der Frau, die ein immenses Becken zu tragen hat, verschmitzt lächelnd.
„Ich bin Lisette. Lisette Ostenhop, aus Röbel an de Müritz.“ (Beides hat Betty nicht auf dem Schirm, hat keine Ahnung, woher Lisette also kommt)
„Betty Sundberg aus Lübeck.“
„Hm, ne, ähm Wessi? Haste de dich verirrt oder sind euch die Klinike ausjegangen?“ Ein kehliges Lachen ausstoßend. Nein, denkt Betty, mit der wirst du nicht warm, auch wenn sie eine fette Leidensgenossin ist. Wobei, Genossin? Auf die Anspielung geht sie nicht ein, denkt sich ihren Teil.
„Vera Teimler (wobei Vera Betty die Hand reicht, nach kurzem Zögern auch Lisette). Ich komme aus Grevesmühlen bei Wismar (Wismar kann Betty verorten, hat sie schon einmal auf der Landkarte gesehen. Aber Grevesmühlen?)“
„Ferien oder REHA?“ fragt Betty.
Wie aus einem Mund kommt von beiden Frauen „REHA!“ Lisette, Vera übertönend.
Sich ratlos anblickend stehen sie da, jede überlegend, und nun?
„Warten wir oder bestellen wir uns ein Taxi, ein Großraumtaxi“, was Betty mit einem leichten Schmunzeln in Richtung Lisette fragt, die den Großraum aber anscheinend nicht versteht.
„Hm, wir könnten, ähm, dort drüben warten, sieht aus, wie ne Kneipe, ähm, bis n Bus kommt, also weiß der Henker, was wir zu essen kriejen, die nächsten Wochen, ähm, warten wir dort drübn?“ schlägt Lisette vor, Betty unschlüssig, Vera blickt skeptisch auf die beiden, meint dann „Gut, wir haben ja Zeit.“
Dort drüben, das ist ein asiatisches Restaurant, oder eher ein Imbiss, Asia Wok. Mit ihrem schweren Gepäck drücken die Damen auf das Restaurant zu, eine runde Hütte, nehmen einen Platz vor dem Restaurant ein und erwarten die Bedienung.
Betty hat nicht vor, etwas zu essen, na ja, vielleicht einen Salat, trinken wird sie einen Jasmin-Tee. Die Bedienung, eine gertenschlanke, mittelgroße junge Frau (Ob Chinesin, Taiwanesin, Japanerin oder sonst einem asiatischen Land stammend, kann Betty nicht unterscheiden, sehen alle gleich aus, wie die Mitteleuropäer, aber egal) bringt die Speisekarte, die Lisette gierig greift, aufschlägt und ihre Augen suchend über die Seiten ziehen lässt. Vera zögert noch, Betty legt die Karte zur Seite.
Lisette hat sich eine Zigarette in den Mund geschoben, schlägt die Speisekarte zu, blickt nach der Bedienung, die mit einem Notizblock ihren Tisch ansteuert. Lisette ordert eine Peking-Suppe als Vorspeise, süß-sauer scharf und Entenfleisch Chopsuey als Hauptgang und ein Bier, 0,5. „Letzte Tankstelle vor de Grenze“, meint sie zu den beiden. Betty bestellt den Jasmin-Tee ohne Essen. Lisette schaut sie streng an:
„Ähm, du weißt schon, dass es in der Klinik nischt mehr zu essen jibt. Es wird nach Achte, bis wir dort sind. Also, ähm, wir können froh sein, wenn die uns noch reinlassen.“
„Das meinst du jetzt nicht im Ernst?“
„Ähm, doch, jenau, also ähm, so steht das in de Hausordnung von de Klinik.“
„Sollten wir dann nicht doch besser ein Taxi bestellen,“ insistiert Vera.
„Also, ähm, du solltest dir was zu essen bestelln und der Rest wird sich irjendwie erjebn.“
Zwar ist Vera nicht glücklich über diese Aufforderung, aber Lisette scheint zu wissen, wie der Hase läuft, also bestellt auch sie, Hühnerfleisch mit Zwiebeln und ein Mineralwasser.
Vera ist der Kontrast zu den beiden fülligen Frauen, dünn an Armen, Beinen, Hüften, verhärmtes, schmales Gesicht, in dem sich Falten zeigen, keine des Alters, eher Rückstände einer ehemals vorhandenen Straffheit, eingefallene Wangen, leblose Lippen, die schon lange weder einen Stift noch einen liebenden Mund gesehen haben dürften, glanzlose zurückgezogene Augen, dünnes kurzes Haar, mit einer sanften, weichen Stimme versehen. Schwer einzuschätzendes Alter. Auf jeden Fall ist sie jünger, als sie aussieht. Vielleicht vierzig? Vielleicht älter? Trotz allem, etwas Erhabenes ist an ihr, sie war eine hübsche Frau gewesen. Betty vermutet eine langwierige, schmerzvolle, vielleicht überstandene Krankheit, die ihre Zeichnung zurückgelassen hat.
Sie will aber nicht nachfragen, noch nicht. Vor ihnen liegen vier, vielleicht, gemeinsame Wochen. Ihrer Frage kommt Vera selbst zuvor, die während des Bestellvorganges immer wieder nach Bettys Kopf schielte, auf die Narbe.
„Du scheints einen großen Tumor gehabt zu haben. Oder?“
„Tumor? Wegen der Narbe? Nein, kein Tumor, eine Eisenstange hätte mir fast den Schädel zertrümmert. Und jetzt ist einiges in meinem Gehirn aus dem Lot, und das wollen sie mir in der Klinik wieder einrenken.“
Lisette reagiert gleich interessiert: „Ähm, wie kommt ne Eisenstange an dein Kopf? Ehestreit?“ (ein höhnisches Kichern unterdrückend)
„Ich bin Polizistin und wurde bei einem Einsatz von hinten niedergeschlagen, was ein Schädel-Hirn-Trauma hinterlassen hat, Konzentrationsschwäche, Gleichgewichtsstörungen, Sprachstörungen und sonst noch ein paar Kleinigkeiten.“
„Polizistin? Du?“
Lisettes Blick haftet an Bettys Statur, erstaunte Mimik, will nachsetzen, dem Vera aber zuvorkommt.
„Wie konnte dich jemand von hinten niederschlagen, muss wohl heimtückisch gewesen sein,“ will Vera wissen.
So sei es gewesen. Und Betty erzählt in Kurzform die Geschehnisse vor und im Keller, denen Vera und Lisette aufmerksam zuhören.
„Also, ähm, und der ist euch durch die Lappen jegangen?“
„Na ja, ich lag auf dem Boden, außer Gefecht gesetzt und sonst war niemand da, der ihn hätte festnageln können und wohlweislich hat er sich dann weit genug abgesetzt, wo ihn die deutsche Justiz nicht mehr fassen kann.“
„Eine üble Geschichte. Dann kannst du froh sein, dass du heute hier bei uns sitzt.“
Was Vera ohne Ansatz eines Lächelns sagt, dabei Betty mitleidig betrachtet.
„Also, das is immer so, weißte, also, die Großen fressen den Kaviar und ähm, die Kleinen bekommen die leere Büchse zum Spielen.“
„Wie bitte?“
„Na ja, unsereins, ähm, is immer de Dumme, also, ich mein, du hast ähm, den Schade und der andere das Geld.“
„Nein, Lisette, Geld hat er nicht. Seine Konten sind eingefroren. Er hat sich nur schnell genug verdrückt, bevor wir ihn fassen konnten. Zu schnell, um seine Konten zu leeren. Und Russland ist leider nicht besonders kooperativ. Sonst säße er längst dort, wo er hingehört.“
„Früher, also in de DDR, gab es, ähm, keene Verbrechen, also keene Verbrecher un wenn, also unsere Vopos hätten den gefasst. Also, unsere Verbrecher, die warn nicht so, also raffiniert, wie die von drüben. Ähm, erst mit dem Westen kamen, ähm, die Verbrecher, die Richtige und die Andere.“
Vera hält sich zurück, Betty nun ebenfalls, denn sie spürt, dass sie jemand gegenübersitzt, dem mit Argumenten nicht beizukommen ist. Wäre sicher ein harter Brocken, bei einer Vernehmung, schwer zu knacken. Na ja, denkt Betty, die Zeit würde sie mürbe machen, sie redet unstrukturiert und würde sich irgendwann verheddern, nein, nicht die Intelligenz des Pflegers, trotzdem harter Brocken. Und beim dezenten Anblicken der beiden, fällt Betty auf, wie schmucklos sie alle sind. Die zwei tragen, wie sie selbst, keinerlei Schmuck, sieht sie vom Ehering, den Vera trägt, ab, weder um den Hals noch am Arm eine Kette, keine Ringe an den Fingern. Drei schmucklose Frauen. Lisette hat eine Tätowierung am Arm. Ist das Schmuck? Eine wirklich gut gestochene Rose, ansonsten nichts, was ihre triste Fassade aufhübscht. Drei schmucklose Frauen mit Körpern, die aus der Norm gefallen sind. Sie hatten also noch etwas gemeinsam, außer dem Ziel.
Da Betty nicht alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, vor allem das Thema wechseln will, fragt sie die beiden, woran es bei ihnen körperlich hapere. Lisette und Vera blicken sich an (Wer zuerst?). Vera beginnt ohne Umschweife von ihrer Krankheit zu sprechen. Sie habe einen Tumor gehabt, spät, aber noch rechtzeitig entdeckt. Mittlerweile habe sie fast alles hinter sich, Strahlentherapie, Chemotherapie und die Operation, von der sie nicht mit Gewissheit wisse, so zumindest der behandelnde Klinik-Arzt, ob der Tumor restlos beseitigt sei. Die Nachwirkungen der Operation seien den Symptomen ähnlich, die Betty aufgezählt habe, nur kämen bei ihr noch Sehstörungen hinzu, die ihr das Autofahren unmöglich machen und Kopfschmerzattacken, als hätte ihr Kopf Erinnerungen daran, dass ein schmerzhafter Fremdkörper in ihm sei. Ein hässlicher Schmerz, der immer urplötzlich aufkomme, als säße jemand in ihrem Kopf, sie zu ärgern. Na ja, bei Kopfschmerzen konnte Betty mitreden, nur jetzt nicht. Vera hofft, dass die REHA sie wieder ein Stück ihrem alten Leben näherbringen werde.
Lisettes Suppe kommt, was Betty nutzt, doch noch eine Speise zu bestellen, da sie Lisettes Befürchtung verunsichert hat und die beiden verbliebenen Äpfel sicher nicht ausreichen werden, die Unersättlichkeit ihres Magens zu dämpfen: Gebratenen Tofu mit Gemüse.
„Du bist wohl, ähm, ne ganz jenaue?“
„Ja, bin ich, seit vier Wochen.“
„Hm.“
Lisette löffelt ihre Suppe und schildert ihrerseits ihre Krankheit, einen Herzklappenersatz (Wow, hört sich nicht gut an. Nur hat Betty keinen Dunst, was diese Krankheit bedeutet. Fragen? Nein. Abwarten. Ihr schwant, dass ihr die nächsten Wochen noch einige ihr nicht bekannte Krankheit zu Ohr bringen werden) und wie sie sehen könnten, zu viel Gewicht auf den Rippen, dass sie aber nicht störe, von daher denke sie, die REHA sei für die Katz, da sie auf Verzicht keinen Wert lege, dass einzig lebenswerte, sei ein reichliches und gutes Essen.
„Hast du Diabetes?“ will Betty wissen.
„Hab ich, ähm, merks aber nich.“
„Nimmst du Medikamente oder spritzt du?“
„Ich spritze, ähm, wenn ich dran denk.“
Staunend nimmt Betty diese Ignoranz, oder ist es nur Naivität, von Lisette wahr. Ihre Fülligkeit verteilt sich nicht wie bei Betty gleichmäßig über den Körper, sondern Lisette hat einen fast normalen Oberkörper, gut, etwas fülliger als der Durchschnitt, aber ein gewaltiges Hinterteil und fett- oder wassergefüllte Beine. Elefantös.
Betty hat genügend für sich gegoogelt, um zu ahnen, dass die Herzklappe nur ein Teil der Wahrheit ist, ein derartig unproportionales Verhältnis des Körperbaus deutet auf ein Lipödem hin, einem unkontrollierten Wachstum des Fettgewebes. Schwer zu behandeln und meist nur durch eine oder mehrere Operationen oder Fettabsaugung zu mildern, allerdings nur bis zu einem bestimmten Körpermaßindex, darüber hinaus sind die Therapien fast wirkungslos.
Betty will nicht fragen, um ja nicht in den Modus Täterbefragung zu verfallen, vermutet aber, Lisette solle abnehmen, um sich anschließend einer Operation zu unterziehen. Nur, warum schweigt sie dies aus? Wahrscheinlich, weil sie keine Ahnung hat oder es gar nicht so genau wissen will, woran sie leidet. Gut, ihre Sache.
Ihre Essen kommen, Lisette beginnt sofort zu löffeln, wie es selbst Betty in ihrer besten Zeit nicht hinbekommen hatte. Als sie zu Vera schaut, kreuzen sich ihre, Unverständnis ausdrückenden Blicke.
Während des Essens tauschen sie sich über ihre persönlichen Verhältnisse aus. Vera ist verheiratet, wuchs in Wismar auf und vor 12 Jahren ist sie mit ihrem Mann nach Grevesmühlen gezogen, haben dort einen kleinen Hof gekauft, auf dem sie Hühner, Gänse und ein paar Ziegen halten, Blumen, Kartoffeln und verschiedene Gemüse anpflanzen.
„Ihr seid Selbstversorger?“
„Ja, unser Gemüse, das ich in meiner Küche verarbeite, muss nicht durch halb Europa fahren und das, was ich esse, von dem weiß ich, wie es gewachsen ist. Da ist alles gleich bekömmlicher.“
„Alles Bio, was?“
„Ja, Lisette, ich denke, wir wirtschaften biologisch. Wir verwenden nur natürlichen Dünger“
„Hört sich fast paradiesisch an,“ meint Betty.
„Idylle trifft es besser. Paradies geht anders. Dort wächst dir alles mühelos in den Mund. Garten ist viel Arbeit und Abhängigkeit, vom Wetter.“
Ihr Mann arbeite auf einer Offshore-Ölplattform in der Nordsee, vor Schottland, ist vier Wochen von zu Hause fort, um dann eine Woche zu Hause zu sein, was heiße, sie müsse viele Arbeiten auf dem Hof selbst erledigen, sich um alles kümmern. Die Ziegen hätten sie sich angeschafft, um Ziegenkäse herzustellen, aber das mussten sie auf später verschieben. Zu wenig Zeit. Sie ist Erzieherin, habe diesen Beruf aber des Hofes wegen aufgegeben. Solange es gesundheitlich ging, habe sie auf dem Hof drei Kinder als Tagesmutter betreut.
Die letzten Monate war aber die Arbeit auf dem Hof und die Kinderbetreuung nicht mehr möglich, so dass der Garten, der Hof auch, in keinem guten Zustand ist. Ihr Vater sei ihr eine große Hilfe gewesen, er sei aber auch nicht mehr der Jüngste, so dass einiges liegen bleiben musste.
Lisette ist irgendwie geschieden, kinderlos, ebenso wie Vera, lebt schon lange in Röbel, davor in Berlin, Ost-Berlin, und führe Gelegenheitsjobs aus, so richtig Arbeit gäbe es nicht in Röbel, nicht mehr. Mit ihrer schludrigen Stimme lässt sie sich über das Früher aus, da habe jeder eine Beschäftigung gehabt und selbst wenn er keine gehabt habe, sei er beschäftigt gewesen, es hätte ja keine Arbeitslosen im Arbeiter- und Bauernstaat gegeben. Das Dorf sei umgeben von Feldern, die eine LPG bewirtschaftet habe, Arbeit für Viele. Dann mit der Freiheit (was sie zynisch klingen lässt) kam der Westler, der die LPG übernahm, Polen, Ukrainer, Georgier, Bulgaren und Rumänen anheuerte, die die ersetzten, die vorher die Arbeit leisteten. Es habe eine Metallwarenfabrik gegeben, die Schrauben und so ähnliche Sachen produziert habe. Die Fabrik sei abgewickelt worden und die Menschen, die vorher dort beschäftigt gewesen seien, nun ohne Beschäftigung. Gekümmert habe das keinen, das sollten die Almosen übernehmen, die ihnen der neue Staat zukommen ließ. Und dann hätte ihnen die Merkel auch noch die Iraker, Syrer, Afghanen und die Neger in die in Röbel leerstehenden Häuser setzen wollen. Aber dagegen wären sie Sturm gelaufen, also die anderen, nicht sie.
„Du bist keine Montagsläuferin?“
„Seh ich so aus? Ich hab ne Meinung, die sag ich auch. Aber nich auf em Pappschild, wo se drauf steht. Un durch de Straßen trag ich sie schon mal jarnich. Die, die rumlaufen, schreiben ihre Meinung aufs Schild, um se nich zu verjessen, oder tun so, als hättense ne Meinung. Ne, und Montags kommt Barnaby, da bin ich zuhaus un gucke.“
Wer weggehen konnte, der machte sich auf und davon und die, die blieben, mussten sehen, wie sie klarkommen mit dem, was noch war, aber immer weniger wurde. Ihr Mann sei auch ab nach dem Westen, keine Spur von ihm. Das Irgendwie ihrer Scheidung will sagen, sie ist nicht geschieden, mangels des abwesenden Mannes. Sie bekomme keinen Unterhalt, nichts, verheiratet mit einem Phantom.
Hm, denkt Betty, harte Nuss, verbittert, hat resigniert, sich ausgeklinkt. Futter für die, die zündeln. Andererseits, diese Seite der Republik kennt sie nicht, nur die, die die Medien verbreiten. Ihre Medienzufuhr ist einseitig, die Stimmen der anderen werden sanktioniert, vielleicht sind die anderen wirklich das Volk, das vergessene Volk? Oder das festsitzende Volk? Das sich nur Montagabend bewegt?
Sie wird mit Lisette noch reden müssen, nicht jetzt, in ein paar Tagen, sie werden sich sicher oft über den Weg laufen. Doch, auch ihre Seite will sie, nein, muss sie, kennen lernen.
Ein kurzes Schweigen tritt ein, vier erwartungsvolle Augen sind auf Betty gerichtet, die, ob sie will oder nicht, nun ihren Teil der Vorstellung beisteuern muss.
„Bei mir gibt es nicht viel zu erzählen. Ich kenne nur Hamburg, wo ich eigentlich lebe und Lübeck, wo ich derzeit eine Ausbildung mache, ansonsten lebe ich zurückgezogen für mich.“
„Also, da, also, wenn ich das, ähm, richtig versteje, bist du nicht, ähm, verheiratet. Und warst es auch nich?“
„Richtig, nicht verheiratet, nie gewesen.“
Sie wollte gerade ein „Nie verliebt“ anhängen, bremst sich aber kurz bevor die zwei Worte über ihre Lippen gekommen wären. Das geht diese Nuss nun wirklich nichts an. Die Nuss aber hat Feuer gefangen.
„Wow, also, das geht?“
„Das geht. Ich habe mir das nicht so ausgesucht. Es hat sich halt so ergeben.“
„Und, also, da ist niemand, ähm, der nachts neben dir liegt?“
„Niemand.“
Ein entschieden genervter Ausdruck in Bettys Gesicht versteht Lisette nicht.
„Haste, also, da gibt es, ähm, im Internet Kuppelseiten, also, extra für Dicke (sie hebt die Augen, runzelt die Stirn), wenn ich ähm, recht erinner, rundeliebe oder rubensfan, also, da findste du enen…“
„Lisette, ich suche keinen.“
Das Betty Erfahrungen ganz anderer Art mit Dating-Seiten hatte, hätte sie berichten können, da der zu verschweigende Tote seine Opfer über Dating-Seiten gesucht und gefunden hatte, aber dies ist persönliche Verschlusssache, also tut sie, als hätte sie noch nie gehört, dass es solche Seiten gibt. Überhaupt geht diese Nuss ihr Sexleben, ihr nicht vorhandenes Sexleben, überhaupt nichts an. Ablenken. Hembach spielen.
„Warst du den fündig?“
War sie, was sie hemmungslos von sich gibt. Es gäbe tatsächlich Typen die voll auf Fett stehen, leider nicht auf so viel Fett, wie sie untenherum trage. Sie habe verschiedene Treffen gehabt, die alle sehr kurz gewesen seien. Sie habe halt nur ein Passfoto in ihrem Profil eingestellt, sagt sie verschmitzt lächelnd. Einmal sei sogar ein Neger (Betty hätte jetzt einwenden können, ja müssen, Neger zu sagen sei unkorrekt. Aber was hätte das geändert? Die Frau ist wie sie ist.) erschienen, der laut seinem Profil, hätte weiß sein sollen, wobei sie kurz auflachte, der sei auch gleich wieder gegangen. Betty spürt den Schmerz Lisettes, den diese überlacht. Trotzdem, sie ist unten herum dick und hat zudem einen unangenehmen Mundgeruch. Nein, die hatte keine Chance auf beste Freundin. Hm, ist das jetzt Dickendiskriminierung durch eine Dicke?
Vera verfolgt das Gespräch ohne erkennbares Interesse, vielleicht spürt sie auch, dass Betty das Thema unangenehm ist, weshalb sie auf das Früher zu sprechen kommt.
Die beiden sind also echte Geschöpfe aus dem Osten der Republik, Lisette dem Kinderwagen noch nicht entwachsen und Vera zählte elf Jahre, als die Mauer fiel, wuchsen auf, ohne den Ballast der Vergangenheit. Beide kennen nur das Danach, allerdings deutet Lisettes Erzählung an, dass durch die Eltern viel Früher anerzogen wurde, der Blick auf die Welt immer noch vom Früher bestimmt ist.
Vera hatte noch sozialistische Erziehung genossen, zumindest in der Schule, wie sie sagt. Zu Hause haben die Eltern das Gegenteil gepflegt. Sie seien mitgelaufen, ohne mitzuspielen. Im Wohnzimmer lebte eine liberale Gesinnung, während die Welt drumherum autoritär, nicht sozialistisch oder kommunistisch gewesen sei. Was es heißt, im Osten zu leben, auch dazu wird Betty einiges lernen, dessen ist sie sich sicher. Aber jetzt erst einmal Themenwechsel.
„Ihr hattet es nicht weit hier hoch, wart ihr schon einmal in der Gegend, habt hier Ferien verbracht?“
Lisette schüttelt verneinend, mit gefülltem Mund kauend, ihren Kopf: „Wusste bis vor n paar Tagen gar nich, dass es dieses Kaff jibt.“
Vera war mit den Eltern als kleines Kind im Sommer immer auf Rügen, mit ihrem Mann nur einmal auf Usedom, das aber östlicher liege als der Darß. Auf dem Darß Urlaub zu machen, war wie Lotterie spielen. Man musste einen Antrag stellen und mit etwas Glück bekam man den Zuschlag. War ein Elternteil oder ein Onkel für den sozialistischen Aufbau aktiv, dann war der Urlaub auf dem Darß kein Problem.
„Aber mein Vater wollte eh nicht auf den Darß, also bewarb er sich nie. Weißt du, damals liefen ständig bewaffnete Grenzer um dich herum, das hätte mein Vater nicht ertragen. Erinnert an das Gefängnis, in dem er leben musste, wenn auch mit schöner Aussicht.“
„Ehrlich gesagt, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie das war, also in der DDR zu leben.“
Wieso sie hier ihre REHA mache, drüben hätten sie doch bestimmt auch Kliniken, schönere Kliniken, will Lisette wissen.
„Der Professor, der mich operiert hat, hat mir diese Klinik wärmstens empfohlen. Natürlich gibt es auch in der Nähe von Lübeck einige Kliniken, aber ich bin dem Rat des Professors gefolgt und hoffe, dass es eine gute Empfehlung ist.“
„Also, ja, wern wir sehn. Mich, also, hat die, ähm, Kasse hergeschickt.“
Sie haben ihr Abendessen vertilgt, Lisette schiebt sich die nächste Zigarette zwischen die Lippen. Betty stellt erstaunt fest, dass sie die einzigen Gäste sind und bleiben, was sicher dem Essen geschuldet ist, dass so fade war, wie ihre Gemüsesuppe von vorgestern. Sie bestellen die Rechnung, Lisette noch eine gebratene Banane in Honig und ja, mit zwei Bällchen Vanilleeis. Nicht einfach für Betty diesem Gelage beizuwohnen, zumal ihr Magen unerfreut auf den Tofu und das Gemüse reagiert.
Mit der Banane kommt die Rechnung. Sie zahlen einzeln. Die junge, ja was? Chinesin? Vietnamesin? Egal. Die woherauchimmer Frau wirft ihrem Gepäck einen Blick zu, fragt, ob sie ihnen ein Taxi rufen solle.
„Danke,“ meint Betty, „wir fahren mit dem Bus nach Barth.“
„Bus? Geht nicht mehr. War letzter Bus vor Stunde. Ist Sonntag. Taxi rufen?“
„Was?“
Die Banane schon verputzt, springt Lisette auf und stampft gepäcklos vor zur Bushaltestelle, liest den Fahrplan, lässt resigniert die Schultern sinken, stampft zurück. Ja, sie stampft, watschelt nicht wie Betty. Ihr Gang wird unterstützt durch zwei rudernde, kräftige Arme, die sie leicht angewinkelt, links, rechts, schwenken lässt, als würde sie ein Nordic-Walking durchführen. Auch tanzen ihre Fettpolster nicht wie bei Betty hoch und runter, sondern, sie schwingen seitlich vor und zurück. So ganz anders als sie sich bewegt, denkt Betty. Na ja, nicht jeder bewegt sich gleich, wäre ja auch seltsam.
So stampft Lisette zorniger Miene den beiden noch Sitzenden entgegen, einem in der Arena irritiert irrenden Stier nicht unähnlich.
„Also, so en Scheiß, also, ähm, an Werktagn fahrn noch zwei Busse. Aber heut, ähm, fährt nichts mehr. Bloß weil, äh, Sonntag is.“
Lisette steht Groll auf der Stirn. Betty ahnt wieso.
Da am Bahnhof kein Taxi steht, was Betty untypisch findet, befürchtet sie eine längere Wartezeit, nickt aber der jungen Frau zu: „Ja, bitte bestellen sie uns ein Taxi, nach Ahrenshoop. Ein großes Taxi.“
Die Frau lächelt, scheint Bettys Andeutung verstanden zu haben.
„Setz dich Lisette. Es wird dauern und keine Sorge, ich bezahle das Taxi.“
Lisette wirkt erleichtert. Trotzdem, irgendwie ärgert Betty jetzt ihre schnelle Zusage. Für das Essen gibt sie Geld aus, nicht aber für ein Taxi, wahrscheinlich, weil sie Taxi nicht essen kann. Falsche Entscheidung, aber egal jetzt und ärgerlich dazu, da sie schon vor einer Stunde mit einem Taxi die restliche Fahrt hätten bestreiten können.
Vera scheint sich ihren Teil zu denken, Lisette schmollt und zieht hastig an ihrer Zigarette, keine genießende Raucherin, eher eine hektische.
Die junge Frau aus dem Restaurant schaut heraus und meldet, dass das Taxi in zehn Minuten käme. Geht ja noch.
Die Blase drückt, der Tee will schon wieder entlassen werden, Betty dreht den Kopf Richtung des Restaurants, schätzt von dessen Größe auf die Größe der Toilette und befürchtet einen engen Kabuff, muss aber sein, steht auf und watschelt auf den Eingang zu, schaut nach einem Hinweis, die junge Dame hebt den Arm und gibt die Richtung an, die Betty einschlägt. Entgegen ihrer Erwartung ist die Toilette relativ großzügig. Gut so.
Am Tisch zurück schweigen sich Vera und Lisette an, Lisette auf ihrem Smartphone herumtippend.
„Was, ähm, machen wir, wenn die uns, ähm, nich mehr reinlassn?“
„Lisette, das ist Blödsinn. Warum sollten die uns nicht mehr einlassen. Die haben sicher so etwas wie eine Nachtschwester, wobei es ja noch nicht Nacht ist. Mach dich locker.“
Schmolllippen bildend, stiert Lisette weiter auf das Smartphone vor sich, fantasiert sich wahrscheinlich eine Hotelübernachtung, die nicht in ihrem Budget eingeplant ist.
Das Taxi fährt vor, ein älterer Herr schält sich aus dem Großraumauto, Betty lächelt, dreht sich nach dem Restaurant um, winkt der jungen Dame kurz zu, steigt ein, der Taximann verstaut die Koffer, startet den Wagen und los geht es, am Bodden entlang, über die Meiningenbrücke, ein Schaufelraddampfer ist zu sehen, ein kleiner, Kind der großen Dampfer des Mississippi, an Zingst vorbei, auch Prerow nur gestreift, linksseitig die Dünenwälder, die See schon ahnen lassend, Hinweise auf Parkplätze und Parkverbote wechseln sich ab, wobei letztere eindeutig überwiegen. Irgendwie durchläuft Betty ein wohliges Gefühl, eine innere Freude, diese Landschaft zu erkunden, ein neues Gefühl. Noch etliche behelmte Radfahrer sind unterwegs, mal mit, mal ohne Rucksack. Gut, hier wird Urlaub gemacht.
Die Idee, sich in der Freizeit, die sie nach den Anwendungen, Therapiesitzungen und sonstigen Behandlungen haben wird, ein Fahrrad zu leihen, um die Gegend zu erfahren, kommt ihr beim Anblick der späten Radfahrer nicht. Wie auch. Radfahren kann sie nicht und einem Fahrrad ihr Gewicht aufzudrücken mutet sie keinem dieser Dinger zu. Also bleibt nur der verträumte Blick auf die still dahingleitenden Radler. Vielleicht später, irgendwann.
Vera unterhält sich mit dem, neugierige Fragen stellenden, Taxifahrer, Lisette schaut missgestimmt mal aus dem Fenster, mal vor sich hin, wahrscheinlich betend, dass ihnen die Türe aufgetan wird, bei ihrer Ankunft. Nein, nicht betend. Ihr geht etwas anderes durch den Kopf.
„Sach mal, Polizisten nennt man auch Bullen, also ähm, wie is das mit dir, wenn dich jemand Bulle nennt,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Bernd Engroff
Tag der Veröffentlichung: 22.03.2024
ISBN: 978-3-7554-8019-8
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