I
Wo ein Anfang ist, folgt zwangsläufig auch ein Ende
Die Morgendämmerung zwängt sich durch den kleinen Spalt zwischen den beiden Übergardinen in sein Schlafzimmer, er nimmt sie wahr, aber ist noch viel zu müde für eine Regung. Wie fast jede Nacht musste er zweimal aufstehen, seine Blase entleeren, deren Druck ihn aus dem Schlaf riss, was Spuren hinterlässt, dicke Ringe hängen unter seinen Augen, aber passend, wie er findet, zur Umhaarung seines Antlitzes. Das Antlitz eines Nichtsesshaften, eines Penners, eines Außenseiters, von einem, der sich aufgegeben hat, der sich den Regeln des Gewohnten nicht mehr verpflichtet fühlt.
Er dreht den Kopf von der sich erhellenden Fensterseite zur Innenseite des Zimmers, hält die Augen weiter geschlossen, will noch etwas dösen, ist aber gedanklich schon dabei, den Ausstieg aus seinem Bett und den Einstieg in den Tag vorzubereiten.
Ein tiefer Seufzer, ein leiser Fluch, noch viel zu früh, aber es soll ein besonderer Tag werden, eine Erwartung, die seinen Herzschlag erhöht, eine innere Unruhe in ihm auslöst, die das weitere Dösen unmöglich macht. Heute wird er seinem Leben ein Ende setzen, etwas Endgültiges vollbringen, etwas Unumkehrbares, konsequent zu Ende führen, was vor fast 84 Jahren begonnen hat.
Der Gedanke daran, irgendwie erregend und doch mittlerweile fast normal, so als würde er denken, so jetzt musst du aufstehen, was zu tun, er sich entschließt. Noch ein kräftiger Seufzer, dann schlägt er mit der linken Hand die Decke zurück, ein unangenehmer Geruch aus Schweiß und Ammoniak dampft ihm entgegen, untermischt von einem fauligen Mundgeruch, Spuren der Winde der Nacht, die er hemmungslos ziehen lässt, da er auf niemand mehr Rücksicht nehmen muss. Kein Zusammenpressen des Afters mehr, das Abwarten, auf den Moment, bis er ungehört ablassen, die Winde frei wehen lassen kann.
Aus seiner Rückenlage schiebt er das linke Bein langsam aus dem Bett, sein Fuß sucht nach Stand, ein paar Knochen knacken, irgendwo im Oberschenkel, in seinem Kreuz zwickt ein diffuser Schmerz, das Übliche halt, stemmt sich auf den Boden, stützt sich mit dem rechten Ellenbogen ab und drückt seinen Oberkörper langsam nach oben, erneuter Seufzer, tief ausatmen. Er sitzt. Jetzt noch eine Körperdrehung, das rechte Bein nachziehen, auf den Boden stellen. Jetzt sitzt er so wie sein soll. Er hält die Haltung bei, Kopf gesenkt, dem Schwindel wegen, der sich des Morgens seines Kopfes bemannt, wartet bis die Lebenssäfte seinen Kopf durchfluten und den Schwindel vertreiben, wischt mit den Händen Reste des Schlafes aus den Augen, fischt mit dem rechten Fuß nach seiner Baumwollhose, die achtlos zusammengeknüllt auf dem Boden vor dem Bett liegt. Noch gar nicht so lange her, da hing er vor dem Bett gehen seine Kleidung ordentlich über einen Stuhl, ist nicht in Unterwäsche, noch dazu tagelang getragene, und Socken in sein Bett gestiegen, jetzt aber schon. Was soll’s, wenn’s eh zu Ende geht, worauf dann also noch Rücksicht nehmen?
Er zieht die Hose mit dem Fuß bei, bückt sich vor, hebt sie ächzend auf und beginnt das rechte Bein in das Hosenbein einzuführen, dann das linke Bein, hebt den Hintern leicht an und schiebt sich die Hose nach oben. Kurzes Verschnaufen, ein schwaches Stöhnen. Vor ein paar Tagen zog er die Hose noch in aufrechter Stellung an, auf einem Bein stehend, das Gleichgewicht problemlos haltend, das andere Bein in das Hosenbein einfädelnd, hochziehen, das Standbein wechselnd und gleiche Prozedur mit dem linken Bein vollziehend, was aber misslang, er das Gleichgewicht verlor, ins Schwanken geriet und umkippte, eine Hand am Hosenbund, die andere am Ende des Hosenbeines, beide untätig ob des überraschenden Fallens, vergessend sich vor dem Aufprall zu schützen, den Sturz abzufedern, knallte er auf die Fließen im Bad, schlug sich den Kopf auf, kleine Platzwunde, gehörige Beule nachziehend, prellte sich die Schulter, die dann in den Farben eines Regenbogens anlief, ohne allerdings dessen strahlende Leuchtkraft zu haben, eher ein matter Abglanz, der da auf seiner Haut lag.
Einer Haut, die von rosiger Weichheit langsam, aber sicher, in welke, weiche Lederhaftigkeit übergeht, faltig, wie ein leichter Wellengang auf dem See. Er beobachtet diesen Übergang seit geraumer Zeit, roch daran, meinte Alter zu riechen, wieder etwas Unumkehrbares, Endgültiges: es leugnen zwecklos, er wurde alt, nein, er ist alt und das schon seit Längerem. Die folgenden Tage nahm er auf einem Stuhl Platz und zog sich im Sitzen die Hose an, unternahm nach ein paar Tagen einen erneuten Versuch, die alte Anziehtechnik wiederzubeleben, scheiterte wieder, dieses Mal sich abfangend, trotzdem den Armknöchel verstauchend, musste zum Arzt gehen, der ihm eine Handgelenkstütze verordnete und seitdem zog er sich nur sitzend die Hosen an.
Standhaftigkeit, das Wort tauchte plötzlich in seinem Kopf auf, ja, er hat seine Standhaftigkeit verloren, nicht nur beim Anziehen der Hose. Die Frage, wann man alt ist, hatte er immer beantwortet mit: „Solange man jung im Kopf ist, ist man nicht alt.“ Er hält sich für jung im Kopf, ist offen für Neues, zieht sich hell, freundlich an, glaubt sogar modisch zu sein, nicht wie andere Alten mit ihren beigen, braunen, eintönigen Altersklamotten, im Supermarkt, C & A, Karstadt oder sonst wo gekauft, wahrscheinlich zu Rabattaktionen, die die Ehefrau in der Reklamebeilage der Tageszeitung entdeckt hatte.
Er hört Rock-Musik, mit der er aufgewachsen ist, klassische Musik, die er zu schätzen gelernt hatte, Musik, je nach Stimmung. Er kennt keine Vorurteile, keinen Altersstarrsinn, geht aufrecht und viel, ist politisch und sozial interessiert, hält seine Meinung konstant bei, während er bei anderen dieses zunehmende Konservativwerden feststellte. Immer wieder stellt er fest, dass andere in seinem Alter, anders denken, handeln, sich anders bewegen, einfach älter wirken als er selbst. Nun aber, mit seinem Sturz, hat ihm sein Körper eine eindeutige Botschaft gesendet, alt bist du, wenn dein Körper deinem Willen nicht mehr folgen will.
Was wird ihm als nächstes Geschehen?
Helens Krankheit hatte ihn schwermütig gemacht, seine Heiterkeit, seine Lebenslust vertrieben. Er blickte auf die Welt, seine Welt, immer öfter mit Resignation, litt am Privaten, litt am Weltgeschehen. Und der Gedanke, der seit langem, latent vorhandene Gedanke, an ein selbstgewolltes vorzeitiges Ableben drängte immer mächtiger in ihm empor. Er ist überzeugt, dass sein Leben seinen Sinn verloren hat, die Orientierung ist ihm abhandengekommen, tagtäglich lebt er den gleichen Ablauf, die gleiche Routine, ohne Aussicht auf eine Abweichung dieser Geradlinigkeit, die auf das Ende zulief. Da gibt es keine Abwechslungen mehr, keine Impulse, nur dieses stumme Blicken auf ein unabänderbares Dahinsiechen, dem er seit über drei Jahren beiwohnt, dem er sich unterworfen hat, ohne sich dagegen zu wehren, sein Leben kam zum Stehen, auch wenn es weiterlief.
Er ist müde, ist es müde, sich zu mühen, ohne die Aussicht auf die geringste Änderung. Er ist es müde zu warten, zu warten auf sein Ende, das jeden Tag eintreffen kann, bisher aber nicht tat, warten, kann nur warten und will es nicht mehr. Er ist es müde, mit Bildern und Worten einer Welt konfrontiert zu werden, die von verantwortungslosen, selbstsüchtigen, engstirnigen, nur an sich selbst denkenden Führern beherrscht wird, den kommenden Generationen nie dagewesene Schäden hinterlassend, jeden Frevel zulassend, mit der Begründung, durch arbeitsplatzschaffendes Wachstum die Gegenwart zu sichern, von Zukunft ist selten die Rede.
Diese Typen streben nicht nach einer besseren Zukunft, von der sie anscheinend keine Vorstellung haben, außer ihrer persönlichen, also brauchen auch die anderen, die Jungen, keine Zukunft. All die verstörenden Nachrichten, von den Minderheiten, die lauthals schreienden ewig Gestrigen, die die Themen im Land bestimmten, der Untätigkeit der Regierenden und des ewigen Handelns mit dem Schielen auf irgendeine kommende Wahl, nie weiter denkend als über eine Wahlperiode hinaus.
Er ist es so leid, Bilder von im Meer Ertrunkenen in sich aufnehmen zu müssen. Es hat ihn aufgewühlt, die Leiche eines kleinen Jungen am Strand der türkischen Küste zu sehen, dessen roter Pullover sich in sein Hirn eingebrannt hatte. Der Kleine ertrunken, für die Hoffnung auf ein vielleicht besseres Leben, ohne den täglichen Tod an seiner Seite, begleitet vom Mitleid der Fern sehenden Menschen, das nur kurz währte, ihr Mitgefühl schnell wieder von anderen Ereignissen überspült wurde, ertrunken in einem Meer, auf dem die Luxusschiffe ihre stinkenden Kreise ziehen, gefüllt mit Menschen, deren Wohlstand sich in den Geweben ihres Körpers ablagerte.
Er ist es so leid, von vergewaltigten Frauen in Lagern, vom Bomben auf wehrlose Städte, dem Morden unbeteiligter Menschen mit fadenscheinigen Argumenten in den Konfliktgebieten dieser Welt zu hören und die Gleichgültigkeit zu erleben, mit der die mit sich selbst beschäftigte Mehrheit seiner Mitmenschen dies hinnimmt. Er ist es leid, immer nur untätiger Zuschauer zu sein, ob er es will oder nicht, es gibt kein sich Entziehen, nur Resignation vor der Ohnmacht, die er empfindet. Und die fühlt er nun schon lange, zu lange.
Der Gedanke an einen selbstbestimmten Freitod beschäftigte ihn schon lange, immer mal wieder, sporadisch, wenn ihn die Schwermut überkam, spielte er das Wie durch, ohne sich für das Wann zu entscheiden. Der Gedanke wurde konkreter, immer konkreter, bis er sich entschied, ihn in die Tat umzusetzen, solange er es noch selbst konnte.
Vielleicht hätte Edmund mit dem Gedanken des Freitodes weiter nur gespielt, nicht konkret werden lassen, aber Helens Krankheit veranschaulichte ihm drastisch, was mit einem passiert, wenn einem diese heimtückische Krankheit erfasst, in Besitz nimmt, nicht mehr loslässt. Er sah, wie sich Helen immer weiter von ihm entfernte, bis von ihr nichts mehr da war, außer der Hülle, in der sie steckt.
Nein, so wie sie will er keinesfalls enden, lebendig tot sein. Nein, wenn, dann zum richtigen Zeitpunkt die richtige Entscheidung treffen, was er getan, sein Vorhaben durchdacht, geplant und terminiert hat. Auf eben den heutigen Tag.
Seine größte Angst war immer, den richtigen Zeitpunkt des Handelns zu verpassen und in einen Zustand zu verfallen, in dem sich Helen jetzt befand, die Angst, nicht mehr fähig zu sein, selbstbestimmt das eigene Ende vorzunehmen oder die Angst davor, deckenanstarrend niederliegend, an piepsenden, tropfenden, tickenden Gerätschaften hängend, lebenserhaltende Geräte, gegen die er sich zwar durch eine Patientenverfügung wehren konnte, aber gegen Helens Zustand war auch eine Patientenverfügung machtlos.
Er erhebt sich vom Bett, hinterlässt das Schlafzimmer im zur Gewohnheit gewordenen Zustand der Verwüstung, schlürft ins Badezimmer, setzt sich auf die Toilette und lässt sein Wasser laufen, das sich mühsam seinen Weg durch die Harnröhre bahnt, pinkelt sich aus, wartet noch, da erfahrungsgemäß immer etwas unkontrolliert nachkommt, oft in die Unterhose geht, den vorhandenen Ammoniakgeruch neu auffrischend. Er weiß, dass er unangenehm riecht.
Früher, (immer dieses verdammte Früher, konnte er denn nur noch rückwärts denken? Hatte er das Denken nach vorne verlernt? Ist das so? Im Alter?) hätte er sich vor sich selbst geekelt, aber jetzt? Der Impuls, sich zu reinigen, frische Wäsche anzuziehen, die hygienischen Standards beizubehalten, drang anfangs immer wieder durch, doch nach und nach wich er einer Faszination seiner Verwahrlosung, zu der er sich nicht für fähig gehalten hat und die er sich täglich im Spiegel anschaut, mit seiner Nase einsaugt.
Er ist noch fähig, sich zu verändern. Ein Gedanke, der ihm ein Lächeln entlockt. Nur, es ist eine ziellose Veränderung, eine, die zu nichts führt, also passend. Mit der rechten Hand fährt er durch seinen Bart, nun fünfzehn Tage alt, eigentlich mag er sich nicht bärtig, ein Bart ist ein Versteck, ein Gebüsch, hinter dem sich jemand versteckt, um nicht gesehen zu werden. Der Aufwand, die Stoppeln zu entfernen ist ihm lästig geworden, also lässt er es jetzt sprießen. Den, den er im Spiegel sieht, ist ihm fremd, fremd geworden. Mit der Hand streicht er durch seine verbliebenen wenigen Haare, was genügt, sie in die richtige Lage zu bringen, jetzt noch eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht und die Morgentoilette ist erledigt. Das Hemd, das er die letzten Tage anhatte, liegt noch auf dem Schlafzimmerboden, bevor er es sich holt, geht er rüber ins Wohnzimmer und nimmt das Tuch von Filous Käfig. Filou ist ein Sonnensittich, der seinem Namen alle Ehre macht, mit kräftigem gelb, rotem und orangenem Gefieder protzt. „Gleich frühstücken wir mein Freund. Musst noch einen Moment ausharren.“
Er prüft den Stand des Wassers und des Futters, die Obststückchen muss er erneuern, etwas Kolbenhirse noch hinzufügen, Wasser und Futter muss drei Tage ausreichen, solange würde es sicher dauern, bis Marga wie gewohnt zum Aufräumen kommt.
Den Vogel hat er Marga vermacht, die davon noch nichts weiß, aber sie liebt den Vogel und spricht immer mit ihm, als wären sie alte Freunde. Da Filou es gewohnt ist, frei in der Stube herumzufliegen, setzt er sich gerne auf Margas Schulter und lässt sich von ihr im Nacken graulen. Allerdings ist nicht immer eitel Sonnenschein zwischen den beiden. Da sich Filou frei in der Wohnung bewegen darf, hat er bestimmte Plätze, die er anfliegt, dort verweilt, seine lauten, schrillen Schreie ausstößt oder an dem Möbelstück knappert, auf dem er sich gerade befindet und, natürlich, seine inneren Spuren hinterlässt. Marga müde, ihm ständig hinterher zu wischen, legte die Plätze, auf denen er gerne sitzt, mit einem Stück Küchenrolle aus, das Filou interessant fand, da er das Papier tatkräftig, unter herzhaftem Gekreische, zerkleinern konnte und es ausschauen ließ, als habe es in der Wohnung geschneit, was Marga genauso wenig gefiel, also gab sie es auf, seine Hinterlassenschaft in geordnete Bahnen zu bekommen, schimpfte stattdessen mit dem Vogel, im Glauben er würde es sich zu Herzen nehmen.
Helen mochte den Vogel nicht, schaute Edmund verständnislos an, als er mit dem Vogel nach Hause kam: „Der natürliche Lebensraum des Vogels ist mitnichten in unserem Wohnzimmer, mitnichten in einem Käfig, in dem er sich kaum um die eigene Achse drehen kann!“
Womit sie natürlich recht hatte, er einen größeren Käfig organisierte und Filou Ausflug haben durfte, wenn Helen nicht im Haus war.
Er hat überlegt, den Vogel freizulassen, ihm die Freiheit zu schenken, aber die hiesige Freiheit wäre sein sicherer Tod gewesen, also zu Marga, mit der er genauso gut auskommen wird wie mit ihm. Filou ist in den letzten Wochen sein Gesprächspartner gewesen, gut etwas einseitig, aber besser als die Wand, mit der er gelegentlich auch spricht, teilt die Einsamkeit und die Stille mit ihm, die über die Wohnung gekommen ist, seit Helen nicht mehr in ihr weilt. Das ist neu für ihn, Einsamkeit hatte er zuvor nicht gekannt. Mit Helen hatte er viel unternommen, Ausflüge, Urlaube, Spaziergänge in der näheren Umgebung, sie waren Essen gegangen, ins Theater, ins Kino, hatten Konzerte besucht, hatten ihre Zweisamkeit intensiv gelebt.
Ihm fehlen die sanften, gehauchten Berührungen, der Wechsel der Worte und selbst nach dem stillen Beisammensein sehnt er sich. Vertraut sein in den Abendstunden, wenn sie in ihren Ohrensesseln vor dem Kamin saßen und dem eifrigen Knistern des frisch aufgelegten Holzes lauschten, neben sich ein Glas schweren beerenaromatischen Rotwein stehend. Spießig? Ja das war spießig, trautes Heim, Glück zu Zweien. Warum nicht? Was ist falsch daran?
Diese Spießigkeit hatte ihm Harald wiederholt vorgeworfen. In ihrem letzten Telefonat, als Edmund seinem Sohn mitteilen wollte, dass er am Ende seiner Kräfte sei und seine Mutter in ein Pflegeheim geben würde, erging Harald in einen wütenden Zornesausbruch, wurde Edmund von seinem Sohn verwünscht, nannte ihn einen konsequenzlosen Allesversteher, einen folgenfreien Gutmenschen, einen selbstsüchtigen Dulder, der hinter der Fassade seiner Libertät ein Spießer sei, nur an sich denke und aus der Angst Falsches zu tun alles Falsch getan hätte, seine Mutter in einen unhaltbaren Zustand gebracht und sie von einer sachgerechten Pflege zurückgehalten habe.
Für den Zustand, in dem sich Helen befand, machte er seinen Vater verantwortlich, was er nun tun wolle, viel zu spät komme.
Die Vorwürfe trafen Edmund hart, er verstand die Wut nicht, die ihm Harald da entgegen schleuderte. Gut, er weiß, er ist kein einfach zu nehmender Mensch, aber diese Wut, diese Vorwürfe? Was hat er seinem Sohn getan?
Er fiel in eine Betrübtheit, die tagelang anhielt und, wenn er jetzt zurückdenkt, der Anfang seines sich Gehenlassens ist. Er grübelt über seine Motive nach, Helen nicht früher in pflegende Hände gegeben zu haben, kommt immer wieder zu dem Schluss, dass er es nur für sie getan hatte.
„Folgenfreier Gutmensch“, hatte Harald vielleicht doch recht? Er hatte fest geglaubt, das Richtige zu tun, Helen in ihrer gewohnten Umgebung zu belassen. War es doch Eigensinn? Sturheit? Dummheit? Angst vor der Einsamkeit? Ihre Zweisamkeit war genau das Gift, dass ihr nicht wirklich weiterhalf. Die Ansprache, die Abwechslung, die Anregungen, die sie gerade in der Anfangsphase der Erkrankung gebraucht hätte, konnte er ihr nicht geben, wohl aber eine professionelle Pflege, eine angepasste Therapie. Jetzt, im Nachhinein, macht er sich stumme Vorwürfe, falsch, aus gutem Glauben, gehandelt zu haben. Aber jetzt, jetzt ist es zu spät.
Ja, Helen und er waren so fixiert aufeinander, dass sie die Einsamkeit um sich herum nicht gefühlt hatten. Helens Krankheit kam und spannte ihn ein, er sorgte sich, kümmerte sich, machte, bis er einsehen musste, dass es so nicht mehr ging, er an seine physische und psychische Grenze gestoßen ist. Dem Übergang mit Marga folgte schließlich die schwere Entscheidung, Helen in ein Pflegeheim zu geben. All das hatte Einsamkeit von ihm ferngehalten, viel zu beschäftigt, zu besorgt, um sie zu fühlen, nun aber, wenn er abends, von Helen kommend, allein im Haus, allein in der Wohnung sitzt, durchflutet ihn dieses Gefühl, diese Leere, diese Einsamkeit.
Sitzt er in seinem Ohrensessel und versucht in einem Buch zu lesen, geht sein Blick immer auf die leere Stelle, an der zuvor Helens Sessel stand, der jetzt oben im Pflegeheim, das ihr letzte verbliebene Möbelstück ist, Tränen überkommen ihn dann bei der Erinnerung an unwiederbringliche Tage gemeinsamem nebeneinander Weilens, unmöglich zu lesen, der Text zerfließt in Erinnerungen, verwischt sich unter den Tränen. Irgendwann rückte er seinen Sessel mittig zum Kamin, so als hätten da nie zwei Sessel nebeneinandergestanden, aber die Rückbesinnung war stärker, ließ ihn jedes Mal die Leere neben sich spüren.
Er gab es auf, im Sessel zu lesen. War es die Angst vor der Stille im Haus? Dem Allein sein? Das er Helen so lange bei sich zu Hause behalten hatte? Hatte er doch mehr an sich als an Helens Wohlergehen gedacht? Immer und immer wieder gehen ihm diese Gedanken durch den Kopf, bemächtigen sich seiner, lähmen ihn, quälen ihn.
Er kann sich den immer wiederkehrenden Gedanken nicht erwehren, selbst wenn er flüchtet, nach draußen geht, spazieren geht, die Gedanken gehen mit ihm, stürzen über ihn, sobald er einem Stück Erinnerung begegnet, und die gibt es auf fast jedem Schritt. In seiner Verlassenheit ist er den Gedanken, wenn sie angeflogen kommen, ausgesetzt. Kurz vor dem Sterben soll das ganze Leben in Sekunden, wie in einem Kurzfilm, am Sterbenden vorbeirauschen, anscheinend ist das Leben am Ende wirklich nur so kurz gewesen. Ihm bleibt heute der ganze Tag Zeit, ein Privileg, sich des Gewesenen zu erinnern, da er genau weiß, wann es enden wird. Zeit, in der sein Gedächtnis wie eine Quelle Erinnerungen hochsprudeln lassen wird. Beginnen aber wird der Tag wie jeder Tag, mit dem Frühstück, für das er jetzt sorgen muss.
Zu Helens Verlust kam der Verlust all derer, die ihn einen großen Teil seines Lebens begleitet hatten, der eine verschied plötzlich, einfach so, ohne ein Auf Wiedersehen, der andere langsam, schmerzhaft, der Tod als Erlösung. Irgendwann war niemand mehr, mit dem er hätte reden, etwas unternehmen können, nur noch Filou, den er bei dem Gedanken an die Verblichenen betrachtet, der Arme, dem er die Rolle von all diesen Abwesenden aufgebürdet hatte. Sein Kauf, ein Strohhalm gegen die vorausgeahnte Einsamkeit? Die Leute in seinem Wohnumfeld, die er kennt, sind ganz in Ordnung, grüßen freundlich, halten ab und zu einen Schwatz mit ihm, fragen nach seinem Befinden, nach dem seiner Frau, bieten mitunter an, ihm zur Hand zu gehen, wenn nötig, wenn sie sahen, wie er vor seinem Vorgarten stand und sich das wachsende Unkraut ansah.
Er ist sich aber sicher, hätte er gesagt, ja gerne, und dem, der das Angebot gemacht hatte, eine Harke in die Hand gedrückt, dass er eine Ausrede auf später bekommen hätte. Na ja, wie die Leute halt so sind. Selbst die Müllabfuhrleute läuteten ab und an bei ihm, im Glauben, er hätte vergessen, die Tonnen vor die Tür zu schieben. Vergessen?
Nein, er hat einfach keinen Müll mehr, dass, was bei ihm anfällt, braucht Wochen, um seine Tonnen zu füllen. Zeigt sich daran, dass er zu alt ist für dieses Leben? Er freut sich aber immer, wenn ihn die Müllleute nicht vergessen haben. Na ja, man ist hier zwar in der Stadt, einer Kleinstadt, aber auch auf dem Land.
Er streckt Filou den Zeigerfinger hin, den der Vogel besteigt, noch verschlafen, nicht munter genug, vom Finger aus, seine Runden im Wohnzimmer zu drehen. Er flüstert ihm zu „Ich gehe jetzt unsere Brötchen holen. Dann gibt es Frühstück.“ Sanft bläst er ins Gefieder des Vogels, so dass dessen Farben sich zu einem bunten Federnspiel kräuseln, was Filou aber nicht gefällt und er dies, in lauten Tönen zu verstehen gibt. Er setzt ihn auf der Vitrine ab, geht rüber zum Radio und stellt es an, Musik für Filou und ihn, die den ganzen Tag gedämpft läuft, die Stille der Wohnung belebend. Er geht rüber ins Schlafzimmer, fischt sein Hemd vom Boden auf, das blau-weiß gestreifte, dass er schon wie lange anhat? Zwei Wochen? Drei Wochen? Der dunkle Kragen, der muffige Geruch, der vom Hemd ausgeht, und die strengen Blicke Margas, wenn sie ihn ansah, sagen ihm, dass es schon mehrere Wochen sein müssen. Was würde Helen sagen, wenn sie ihn in seinem derzeitigen Zustand sehen könnte, riechen könnte?
Entsetzt, sie wäre entsetzt, aber wenn er bei ihr ist, ist von Entsetzen keine Spur, keine Nase, die sie rümpft, keine Wahrnehmung seiner Ausdünstungen, keine Notiz nehmend von seiner Existenz. Das Entsetzt sein ist bei ihm. Er zieht das Hemd erneut über. Wozu zum Ende hin noch einmal das Hemd wechseln?
In der Garderobe nimmt er die leichte Jacke vom Haken, schlüpft hinein und verlässt das Haus, um der Bäckerei seinen täglichen Besuch abzustatten. Ein leichter noch kühler Wind frischt auf, der Himmel mit harmlosen Wölkchen durchsetzt, die Sonne strahlt zwischen den Bäumen, könnte ein guter Tag werden, ein guter Tag zum Sterben. Muss nachdenken, den Satz hat er schon einmal gehört, oder gelesen? Egal, es ist wie es ist.
Die Straße noch wenig belebt, die üblichen Gassigeher und im Auto fahrende Eltern, die ihren Kindern den Weg zur Schule vereinfachten, sind unterwegs, mitunter gibt ein Auto ein Tuten von sich, ob ihm das gilt und wer es schickt, keine Ahnung, zumal er zum Bäcker ohne seine Brille geht, den Weg kann er blind gehen, aber das ist er noch nicht. Nicht im, wie Helen immer sagte, Sturmschritt, Sturmschritt? Na ja, flotten Ganges lässt er gelten, nicht gerade, aufrecht, sondern die Schulter eingeknickt, einen leichten Buckel machend, hatte er sich so angewöhnt, warum auch immer, vielleicht weil man im Alter so geht? Vielleicht weil es Teil des Sichhängenlassens ist, in das er sich langsam hat gleiten lassen? So in Gedanken, geht er der Bäckerei entgegen.
Der Laden des Bäckers ist gut fünfhundert Meter von seinem Haus entfernt, einer dieser Ketten, beliefert aus der ketteneigenen Brotfabrik, wechselnde Verkäuferinnen, wechselnde Freundlichkeit, wechselnde Qualität, aber: eine Alternative gibt es nicht, denn auch die anderen Bäcker in der Stadt sind nur ein Abklatsch alter Backkunst mit ihren fabrikgefertigten Produkten. In der Bäckerei herrscht der übliche Rummel des Morgens. Er reiht sich ein. Kaum, dass er steht, weitere Kunden sich hinter ihm platzieren, spürt er dieses Nasehochziehen, Witterung aufnehmendes Suchen nach dem fremden Geruch, den der hinter ihm stehende wahrnimmt, ein- und ihm zuordnet. Er muss abscheulich riechen. Aber das ist ihm egal, schiebt sich langsam zur Theke vor.
Hinter der Theke die dicke, nein, die fette Frau Rehbein, der Name ein Hohn dem zarten Tier gegenüber, eine Erscheinung, die er absolut nicht ausstehen kann, geschwätzig, tranig, mit ihren breiten Flossen die Ware betatschend, zwar mit dünnen Plastikhandschuhen, aber er vermutet, dass ihre Körpersäfte diese längst durchtränkt hatten. In der Zeit in der Leni, die zweite Verkäuferin, drei Kunden versorgte, war Frau Rehbein immer noch mit dem ersten Kunden beschäftigt, der, nein die, ob sie wollte oder nicht, von den Schmerzen in den Beinen der Frau Rehbein erfuhr (fünfzig Kilo abnehmen und die Schmerzen sind weg, denkt er, sagt es aber nicht). Was hatte er sich nicht schon alles, geduldig wie er ist, von dieser Frau anhören müssen, von dieser Frau, die vormittags hier ihre anscheinend kümmerliche Rente aufbesserte, und dem einen oder anderen Kunden auf den Keks ging. Er hat sich, wie andere erfahrene Kunden, in Lenis Reihe angestellt, aber die wechselt überraschend die Seite, um einem Kunden die verschiedenen Variationen des Ciabatta zu zeigen und da steht er vor der Rehbein, die, ohne zu zögern, zwei Kernige eintütet.
„Ich hätte gerne noch ein Croissant dazu.“
„Ein Croissant?“, trällert sie, die Augenbrauen nach oben ziehend „Der Herr Wismut schlägt heut über die Stränge. Was? Übernehmen Sie sich da nicht?“ und lächelt dabei, was ihrem Gesicht noch mehr Fettigkeit verleiht.
Er schaut die Rehbein verdutzt an. Verhöhnt die ihn? Macht die sich lustig über ihn? Diese fette Matrone?
„Behalte Deinen Scheiß, Du dumme Kuh,“ kommt aus seinem Mund, dreht sich um und verlässt den Laden, grinsende Kunden und zwei entgeistert dreinblickende Verkäuferinnen hinter sich lassend.
Zurück auf der Straße überläuft ihn ein Schauer, was zum Teufel ist das jetzt gewesen. Was hat ihn da geritten? Hinter sich hört er die Stimme Lenis „Herr Wismut, Ihre Brötchen!“
Er dreht ein wenig seinen Kopf, so dass er sie gerade noch sieht, wirft den Arm wegwerfend nach oben und geht davon: Die werden mich nie wiedersehen! Was eine Tatsache ist, kein einfach so hingeschmissener Satz. Er muss lächeln, so ein Ausbruch, so eine Emotionalität hat er seit Jahren nicht mehr erlebt, der ruhige, sanftmütige Herr Wismut ist ausgerastet. Aus seinem Lächeln wird ein Lachen, schüttelt den Kopf über sich, den Wunderlichen. Den wunderlichen Alten. Und jetzt? Ausgerechnet heute Filou die kleine Freude verderben, heute, zum letzten Mal?
Innehalten, nachdenken, gut, geht er halt zum Stadtbäcker, der hat auch Kernige, etwas anders obenauf bestückt, Filou wird es nicht merken. Gut tausend Meter Fußmarsch oder den Bus nehmen? Bis er die nächste Haltstelle erreichen würde, wäre er auch schon fast an seinem Ziel, also Fußmarsch.
Er überschlägt, wie viele Jahre er jeden Morgen den Weg zum Bäcker genommen hat, keine Ahnung, es waren viele. Anfangs noch Vollkornbrötchen oder Dinkelbrötchen für Helen mitbringend, die Kernigen waren eigentlich für Filou, der die Ummantelung der Brötchen mit Sonnenblumenkernen, Kürbiskernen, Nusssplittern liebte, sie sich mit großem Vergnügen abpickte, Helen dies mit Missfallen sah und jedes Mal schimpfte, es sei unhygienisch und unappetitlich, denn er bestrich sich das untere, von Filou verschmähte, Teil des Brötchens mit Butter und Marmelade und aß es, Filous Reste.
Als Helen nichts mehr dazu sagte, hätte er eigentlich stutzig werden müssen. Ach, es gab so viele Anzeichen, alle hatten sie sie ignoriert, verdrängt. Sie lächelten über einen vergessenen Namen, versuchten ihn gemeinsam mit der ABC-Methode zu finden, witzelten über ein Wort, dass ihr nicht einfallen wollte, über Sätze, die nicht zu Ende gesprochen wurden, weil auf der Strecke blieb, was sie eigentlich sagen wollte. Als sie beim Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel ihre Figur in die falsche Richtung bewegte, lachte er auf, diese Mogelei sei aber zu offensichtlich, reagierte sie zunächst verärgert, sie mogele nicht, erkannte aber anscheinend ihren Fehler, blickte kurz irritiert, um dann vor sich hin zu Kichern „Du merkst aber auch alles!“
Im Nachhinein, klar da weiß er mehr, hätte die Symptome addieren müssen, sie anderen Gründen als nur den Alterserscheinungen zuordnen müssen, aber wie immer, hinterher ist man immer klüger. Dann der Blackout in der Küche, als sie vor einem Topf kochendem Wasser stand, beide Hände ins Gesicht verkrallt, entsetzt auf das starrend, was da vor und unter ihr brodelte, nicht mehr wusste, was da vor sich ging, was sie tun musste, ihn, als er eintrat hilfesuchend anschaute mit fragenden, geweiteten Augen.
Er nahm den Topf vom Herd, drehte den Temperaturschalter auf null, ging zum Telefon, wählte Dr. Sönkes Nummer.
„Wen rufst Du an?“
„Den Doktor.“
„Bist Du krank?“
„Nein, Du.“
So direkt wollte er nicht sein, es rutschte ihm einfach heraus. Sie stand neben der Küchentür, sie langsam bei Seite schiebend, schaute ihn an, die Augen voller Tränen, da wusste er, dass sie längst ahnte, ja wusste, was in ihr vorging. Er ging auf sie zu, nahm sie in seine Arme.
„Entschuldige bitte.“
„Es ist so.“
Er macht sich seitdem Vorwürfe, nicht rechtzeitig reagiert zu haben, redet sich ein, dass diese Krankheit kein Rechtzeitig kennt, wen sie sich nimmt, der hat keine Chance zu entkommen.
Jemand ruft ihm ein Moin Moin zu, kann die Stimme aber nicht identifizieren, winkt und ruft dem Unbekannten sein Moin Moin zurück. Wer kann das gewesen sein? So viel Leute kennt er nicht, kennen ihn nicht, vielleicht ein ehemaliger Schüler von ihm, na ja, egal, nähert sich seinem Ziel. Beim Stadtbäcker holt er sich sonst nur sein Brot, Sonnenkruste, gibt es nur bei diesem Bäcker und alle vierzehn Tage holt er sich zwei Laib davon, teilt sie in Portionen auf, friert sie ein, legt immer am Mittag eine Portion aus dem Gefrierschrank und ist so für den Abend mit frischem Brot versorgt, als Alternative, für die nicht genommenen Brötchen, hätte ihm das auch genügt, aber er hatte gestern Abend dem Gefrierschrank nichts entnommen. Wozu auch? „Zwei Brötchen. Die mit den Kernen oben auf. Und ein Croissant.“
Kommentarlos führt die Verkäuferin die Bestellung aus.
Er nimmt seine gefüllte Tüte entgegen, zahlt und verabschiedet sich von der Verkäuferin, die er nicht kennt. Keine Rehbein. Vor der Tür bleibt er kurz stehen und blickt hinüber zur Bushaltestelle, an der Fahrgäste stehen, Jugendliche, Schüler, ein paar Erwachsene, ältere Herrschaften, was heißt, es wird in Kürze irgendein Bus fahren, von denen die meisten an seinem Haus vorbei kommen und kurz danach anhalten, sofern eine Person den Ausstieg wünscht, was nicht allzu oft vorkommt, es sei denn, er ist derjenige, der den Ausstieg wünscht, und warum umständlich, also den langen Fußweg zurück zu gehen, wenn es auch einfach geht. Also schreitet er mit seiner Brötchentüte in der Hand zur Haltstelle und integriert sich unter die Wartenden.
Warten ist noch nie eine spannende Sache gewesen (na ja, ganz früher die Sache mit dem Weihnachtsmann), aber er beobachtet eine zusehende Verstummung des Wartens, selten, dass Wartende miteinander sprechen, außer man kennt sich, Wartende geben sich ihren Gedanken hin, die irgendwo in der Ferne liegen müssen, da ihre Blicke dahin gehen, zumindest bei den älteren Semestern.
Die Schüler und Jugendlichen richten dagegen ihre Blicke nicht in die Ferne, sondern in die Tiefe, in die Griffhaltung ihrer Smartphones, die sie befummeln, darauf starren, etwas konsumieren, das sicher keinen geistigen Mehrwert hat, oder sie sperren die Impulse aus der Umwelt durch Stöpsel in den Ohren aus, die ihnen Sprechgesang, Rap (anscheinend verwandt mit der App) oder auch härtere Sachen ins Gehirn pusten.
Keine kichernden, Heimlichkeiten austauschenden Gespräche, hinter vorgehaltener Hand, keine sehnsüchtigen Blicke nach den Jungs, den Mädels, Tratsch, Getuschel, über diese und jene herziehend, kein juchzendes, schmachtendes Stöhnen über die Angehimmelten aus Soaps, der letzten Musikshow. Nichts von all dem mehr, so etwas wird heute schweigend über WhatsApp oder was auch immer abgewickelt, selbst wenn man nebeneinandersitzt. Die Szene, die er hier vor sich sieht, hat er schon so oft gesehen und die ihn, je öfter er sie sieht, umso mehr befremdet. Nein, das ist nicht mehr seine Welt.
Seine Zeit, als er noch unterrichtete, kommt ihm in den Sinn, er hatte bei seinen Schülern Trends oder Moden kommen und gehen sehen, manche kurzlebig, manche länger weilend, meist waren es Trends der Hervorhebung, des sich Unterscheidens, des Abhebens von den Anderen, vor allem den Alten, den Erwachsenen, den Eltern, deren Teil auch er war, aber sich in seine Schüler einfühlen konnte und nur selten in Konfrontation mit einem von ihnen geriet, alles harmlos, pubertäre Anwandlungen, kleine Rebellionen, aber harmlos, so harmlos, wie es heute scheint, in der Bravo, der Trendsetterin über viele Jahre, ein Dr. Sommer mit seiner Aufregeraufklärung, damals ein Schrecken für die in Erklärungsnot geratene Elternschaft war.
Mit dem Smartphone-Trend, der eigentlich kein Trend mehr ist, sondern ein andauernder Zustand, hat er seine Probleme. Der Trend hatte viele Nebenwirkungen, die er immer wieder festzustellen meinte, Sprachverlust durch die Reduktion auf Trivialitäten und gekürzten Wortbildungen, Isolierung, Abhängigkeit von Facebook, Twitter und Co., diese Sucht ständig präsent und erreichbar zu sein, unverzüglich zu reagieren, als Zeichen man ist in jeder Lage online, geistige und körperliche Bewegungsarmut, Empathieverlust, Desinteresse an politischer, gesellschaftlicher Teilhabe, sind nur ein paar der Nebenwirkungen, sicher, nicht bei allen, aber bei vielen.
Ein Trend, der sich selbst genügt, sich gegen nichts und niemand richtet und doch so einiges anrichtet. Vielleicht versteht er das alles auch nicht mehr, ist zu alt zum Verstehen. Er ist in seiner Welt, die in ihrer. Nur, diese Nebenwirkungen sind Symptome, die er auch für Helen feststellen konnte. Nein, hier eine Parallelität zu ziehen, das ist absurd. Er übertreibt!
Ein Bus kommt, den er nehmen kann. Während die Fahrgäste in das Wageninnere vorstoßen, muss er den Umweg über den Fahrer nehmen, dem er zwei Euro fünfzig hinlegt, seinen Fahrschein entgegennimmt, entwertet und sich nach einem freien Platz umschaut. Einige der Schüler lehnen sich gegen die Innenwand, das linke Bein angewinkelt auf dem Sitz abgelegt, Blicke auf ihr Smartphone gerichtet, bedeutend: ich will meine Ruhe und allein hier sitzen. Edmund setzt seinen Pädagogenblick auf, bedeutend: ich will hier sitzen.
Schaut auf das Bein des Mädchens, das in einer dieser kaputten Hosen steckt, noch so etwas, was Edmund nicht versteht. eine kaputte Hose zu kaufen, für teures Geld. Früher wurde so etwas gestopft, geflickt, ein Lappen darüber genäht oder die Hose wurde notgedrungen entsorgt. Irgendwie absurd.
Sein einstiger Blick, der strenge Milde seinem Kontrahenten signalisierte, stets seine Wirkung tat, verfehlt sein Ziel, ist wirkungslos geworden, vielleicht sieht er sogar lächerlich damit aus, keine Reaktion, kein Aufblicken des Mädchens, ein Seufzer und er geht resigniert weiter, findet im hinteren Teil des Wagens eine freie Sitzbank und setzt sich, schließt die Augen, den Tränen nahe. Der Bus fährt los, und die Welt fährt weiter, ohne ihn mitzunehmen.
II
Sterben kann gar nicht so schwer sein, bisher hat es noch jeder geschafft
(Norman Mailer)
Wieder zu Hause zieht er seine Jacke aus, bringt die Brötchen in die Küche „Hallo Filou, tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber die dumme Kuh von Rehbein zwang mich in die Stadt.“ Filou schaut streng von seinem Vitrinenhochsitz auf ihn, anscheinend hat er sich nicht von der Stelle gerührt, abwartend ob weitere Abweichungen im gewohnten Ablauf kommen werden.
Edmund stellt Teewasser auf, legt die Brötchen auf einen Teller, sein Croissant auf einen anderen, holt ein Messer aus der Schublade, aus dem Kühlschrank entnimmt er die Margarine und die Kirschkonfitüre, stellt sie auf den Küchentisch, schaut nach dem Teesieb, füllt es mit grünem Tee und nimmt erstaunt wahr, dass Filou keine Anstalten macht, über die Brötchen herzufallen. Von der Küche aus kann er sehen, dass Filou, den Kopf leicht geneigt, beobachtet, was er da in der Küche hantiert. Edmund weiß, dass Tiere einen sechsten Sinn für ungewöhnliche Naturabweichungen haben, ahnen, wenn Regen, ein Gewitter oder gar Schlimmeres im Anmarsch ist, aber setzt der Sinn auch ein, wenn ein Mensch etwas Abweichendes vorhat? Ahnt Filou, was er vorhat? Na ja, gesagt hat er es dem Vogel und nein, verstehen kann er das natürlich nicht, sicher nur eine Laune des Vogels.
Das Teewasser kocht, er brüht sich den Tee auf, trägt die Tasse mit an den Küchentisch, streicht mit dem Messer etwas Margarine ab, schmiert es sich auf das Croissant, etwas Kirchkonfitüre obendrauf und beißt hinein. Es muss Jahre her sein, seit er das letzte Mal in ein Croissant gebissen hat, es hatte sich über die Jahre eingebürgert, dass sie ihre Brötchen und ihr Nussbrot aßen, mitunter hatte er sich ein Müsli gemacht, ein Apfel kleingehäckselt und untergerührt, hatte dies aber eingestellt, zu viel Arbeit, ansonsten herrscht die Monotonie des morgendlichen Gleichen. Aber Filou, was ist los mit ihm?
Er erhebt sich, geht hinüber zum Schrank, hält den Finger hoch, damit der Vogel auf ihn steigen soll, was er tut und die beiden gehen zurück in die Küche.
„Was hast Du mein Freund? Kein Hunger? Oder eine böse Vorahnung?“
Der Vogel, vom Finger gelassen, watschelt über den Tisch, betrachtet sich die Brötchen. Oh je, ein anderer Bäcker, ein anderes Brötchen, merkt oder riecht Filou den Unterschied?
„Na, iss schon.“
Nein, dem Vogel behagt etwas nicht, besorgt blickt er auf den Vogel, während er sein Croissant zu Ende isst, schneidet dann die untere Hälfte der Brötchen ab und bestückt sie mit Margarine und der Konfitüre, schlürft an seinem noch heißen Tee, versunken in Gedanken dem Getrippel des Vogels zuhörend.
Nach dem Frühstück wird er seine Papiere ordnen und die letzten Unterschriften setzen, anschließend noch einmal Helen besuchen, Abschied nehmen, obwohl er den seit drei Jahren fast täglich nahm. Er steht auf, Filou tippelt immer noch unschlüssig, was er tun solle, über den kleinen Küchentisch, die oberen Brötchenhälften lässt Edmund liegen, sonstige Reste und das Geschirr räumt er weg, das schmutzige Geschirr in die Spüle, konnte Marga dann spülen, aber, würde die noch spülen, in Kenntnis seines Ablebens? Wahrscheinlich nicht, also spült er die paar Teile schnell weg, Filou, im Hintergrund, beginnt mit einem verärgerten Gekreische, er trocknet ab und räumt das Geschirr an seinen Platz zurück, steht in der Küche blickt hinaus in den Garten, gut, tappst hinüber ins Wohnzimmer, setzt sich hinter den großen Esszimmertisch, auf dem alle wichtigen Papiere ruhen, die er in den letzten Tagen aus verschiedenen Ordnern zusammengesucht und fein säuberlich nebeneinander ausgebreitet hat, die Patientenverfügungen, Daten zum Aktiendepot, Versicherungspolicen, die zu kündigen waren, die Kontodaten der beiden Bankkonten, der Vertrag mit der Telekom, die Unterlagen zum Haus, das vom Erben verkauft werden muss, das Testament, den Kaufvertrag für den Baum unter dem Helen und er im Ruheforst beigesetzt werden wollen. Den Baum hat er noch gemeinsam mit Helen ausgewählt, als diese noch nicht ahnte, was da auf sie zukommen wird, ein kurzer Brief an seinen Anwalt, den Doktor Feissner, der den Nachlass regeln soll und die Anweisung, wie mit seinem Leichnam zu verfahren sei, letztere Dokumente muss er noch zu unterschreiben.
Er fährt mit den Augen das Papier ab, in dem er anweist, dass er so wie er vorgefunden würde in einen billigen, den billigsten, Sarg zu legen sei, keine Waschung, kein Schwamm, kein Waschlappen, keine nassen, kalten, klitschigen Hände sollten ihn, seine Persönlichkeit, auf einen Gegenstand reduzieren. Selbst tot war er noch er, er der Mensch, der in körperlicher und seelischer Unversehrtheit dem Feuer, der Urne übergeben werden wollte, und, was ihm besonders wichtig ist, keinesfalls die Arme über den Bauch legen, Hände zusammengesteckt, als bete er, nein, alles, nur das nicht, die Arme seien längs des Körpers zu legen.
Das letzte Mal, dass er seine Hände gefaltet hatte, lag wohl über siebzig Jahre zurück, kurz bevor ihn der Pfarrer vermöbelte, weil er sich gewagt hatte, während der Konfirmationsstunde nachzufragen, wie das ginge, das Adam und Eva die ersten und einzigen Menschen waren, zwei Söhne bekamen und die Menschheit sich trotzdem vermehrte. Pfarrer Höhl, ein Choleriker, Weltkriegsveteran und Freund der Nazibewegung geriet in Rage, gut, es war nicht die erste diesbezüglich Frage, die Edmund ihm stellte, schlug wild auf ihn ein und damit war für Edmund die Sache mit Gott gestorben.
Er will kein Totenhemd oder ähnlichen Unsinn an seinem Körper, wie etwa ein Kopfkissen unter seinem Kopf. In den Klamotten, die er bei seinem Ableben anhatte, sei er zu verbrennen, seine Asche in eine biologisch abbaubare Urne zu schütten und diese solle unter der Esche im Ruheforst ohne ein Wort von irgendwem eingegraben werden, bald wiedervereint mit Helen, die einen Meter weiter ihr Urnengrab haben würde. Keine Todesanzeige. Nichts! Gar nichts! So still wie er gelebt hat will er gehen.
Er fährt mit der rechten Hand über das Papier, ohne zu wissen, was er erwartet, vielleicht, ob eine Wirkung von dem Papier ausgeht. Ein Gefühl sich in ihm breit macht? Wehmut? Nein. Keine Wirkung.
Mit Schwung vollzieht er den Schlusspunkt, die Unterschrift, der damit gesetzt ist. Seine Augen ruhen auf der Seite Papier, angefüllt mit Worten, befehlenden Worten, Worte seines letzten Willens. Zufrieden mit sich und dem, was er formuliert hat, lehnt er sich zurück gegen die Stuhllehne, mürrischer Blick, den er langsam vom Blatt hebt, hin zum Fenster, zur Welt da draußen, so hell, so freundlich, in den Farben des späten Frühlings, eine Welt, die ihm fremd geworden ist, verloren der Sinn, in ihr zu weilen, sich in ihr zu bewegen, zu Dingen, zu Menschen, die nicht mehr existierten, nur in der Erinnerung, er allein ist geblieben, von denen, die ihn auf einem Teil seines Weges durch das Leben begleitet haben.
Beide Arme auf dem Tisch abstützend, den Kopf in die gefalteten Hände legend, blickt er über die Papiere auf dem Tisch. Ist er pietätlos? Pietätlos gegen sich selbst? Nein, sein Verhältnis zum Tod ist emotionslos, abgeklärt und die Rituale des Todes hat er zu verachten gelernt. Edmund hatte einige Beerdigungen besucht, Abschied genommen von nahen Verwandten, von Freunden, Bekannten und Nachbarn und war immer wieder erstaunt, welchen Aufwand die Hinterbliebenen betrieben, um einen eigentlich erwartbaren und normalen Vorgang zu zelebrieren.
Von manchen der Toten hatte er geglaubt, sie gut zu kennen, nach der Rede des Pfarrers oder schlimmer noch, eines Predigers, hatte er jedes Mal das Gefühl, den, den er gekannt hatte, sei ein ganz anderer gewesen. Fremde redeten über einen ihnen Fremden, als sei er ihnen nicht fremd, mit Aussagen, die dem Gewesenen in keiner Weise gerecht wurden, flochten in ihre Rede eigenartige, mitunter unsinnige Dinge ein, taten als sei der Herr Gott ein alter Bekannter des Verstorbenen, vor den er nun treten würde. Von Alex wusste er definitiv, dass dieser mit diesem Herrn absolut nichts zu tun haben wollte, und keinesfalls vor ihn treten würde. Nein, keine verklärende Rede an seiner Ruhestätte, keine Falschaussage. Abraham, seinen ältesten Freund, hatte er erst am Tag nach der Beerdigung einen Besuch abgestattet und sich auf seine Art, ganz im Stillen, von ihm verabschiedet.
Auch das Testament gilt es noch zu unterschreiben. Er hat Harald dessen Pflichtteil zugeteilt, der Rest geht an einen gemeinnützigen Verein, der weltweit in Krisengebieten seine wichtige ärztliche Arbeit tut. Ist dies Rache an seinem Sohn? Nein, sicher, da ist etwas Groll im Spiel, aber er hätte wahrscheinlich auch so verfahren, wäre ihr Verhältnis ein Besseres als es ist. Aber Harald hat sein eigenes Leben, sein eigenes Geld, wozu es dort hintragen, wo es nicht gebraucht wird, an anderer Stelle aber schon?
Harald, die Erinnerung daran, dass sie einen Sohn hatten, noch haben, schmerzt ihn. Bis heute versteht er nicht, was in ihrer Beziehung so schiefgelaufen ist. Gut, Harald war immer auf Helen fixiert, ihn hatte er immer nur als den gestrengen Hauspädagogen kennen gelernt, warf ihm immer vor, ihn zu behandeln, als wäre er einer seiner Schüler, was nicht stimmte. Na ja, manchmal kam da schon der Lehrer hervor, aber eher selten, kein Grund seinen Vater quasi zu vergessen, denn das ist der Fall.
Selten, sporadisch, kommt ein Anruf, eine eMail und seit Helen in der Pflege ist hört er fast nichts mehr von ihm. Dörte, die Leiterin des Pflegeheimes, hatte einmal von einem Besuch Haralds bei Helen berichtet, der ihn fassungslos machte. Harald war in der Stadt, ohne ihm guten Tag zu sagen. Edmund schrieb ihm eine eMail und drückte seine Verwunderung darin aus über diesen Besuch.
Seine Antwort traf ihn sehr „Du hast Dein Leben, ich das meine. Aber ein gemeinsames haben wir nicht mehr.“
Ja, er hat sein Leben und wahrscheinlich fing ihre Entfremdung damit an. Harald ist nach dem Abitur nach Berlin gezogen hat Marketing studiert, dies neun Jahre lang, nebenbei in einer Agentur gearbeitet, großzügig, wie Edmund wusste, von Helen gesponsert, was sie vor ihm geheim zu halten versuchte. In der Agentur ist Harald aufgestiegen, hatte promoviert, schließlich habilitiert und hat heute einen Lehrstuhl für Marketing inne und ist Geschäftsführer einer florierenden Werbeagentur. Viel Geschäft und wenig Zeit und wenige Kontakte mit ihm, mehr dagegen mit Helen. Besuche hatten Seltenheitswert, nie zu Weihnachten oder anderen festlichen Gelegenheiten. Sie wussten, dass er mit einer Freundin zusammenlebte, einer Musikerin und als er eines Tages anrief und seinen Besuch ankündigte, bei dem er seinen Eltern gerne etwas mitteilen wolle, dachten beide an eine Hochzeit, an die Enkelkinder, die dann mit Sicherheit nachkommen würden, an ein heimeliges OmaundOpasein. Harald kam ohne seine Freundin, erstes Erstaunen, teilte ihnen mit, dass er sich schon länger von Emilia getrennt hätte und fortan mit seinem Freund zusammenleben werde. Seinem Freund? Freund?
Für Helen und ihn ein doppelter Schock. Der erste Schock die Mitteilung an sich, bürgerliche Träume, die sich mit seinem kurzen Satz in nichts auflösten. Keine Schwiegertochter, keine Enkel, keine Oma, kein Opa. Der zweite Schock, die Erkenntnis, dass ihre liberale Fassade gewaltige Risse bekommen hatte, für weltoffen, tolerant hatten sie sich gehalten, aber in Bezug auf die Geschehnisse, die außerhalb ihres Lebensbereiches lagen und plötzlich stand das Schwul sein direkt vor ihnen, sie waren Betroffene und erstarrten vor dieser Tatsache, nur zu einem faden Lächeln fähig und Helen brachte ein „Ach? So?“ hervor.
Edmund erstarrte in Enttäuschung, unfähig einer geeigneten einfühlsamen Reaktion. Bilder stiegen in ihm auf, Bilder des Ekels, nackte Männer im Bett, erigierte Penisse, fließendes Sperma, Harald die Frau? Bilder, die er nicht sehen wollte, die er wegdrückte, von sich abschüttelte, ab in die Versenkung des Vergessens. Er hatte panische Angst vor homosexuellen Handlungen, warum auch immer, Liebe unter Frauen, bei Lesben, akzeptierte er, verstand sie, Liebe unter Frauen war für ihn etwas Reines, aber unter Männern? Nein, widerlich, geballt dringen die Visionen seiner Abscheu in sein Gehirn ein, stellten es ab, ließen es Erstarren, kein Ton, keine Regung in der Mimik, nur ungläubiges Staunen. Lediglich fünf Wörter hatte es bedurft, um die Verkrampfung zu lösen, einfach „Das freut mich für Dich.“, aber die Worte fielen nicht, fielen ihm erst ein, als Harald bereits wieder in Berlin war.
Sein Gesicht musste zu einer Maske aus Enttäuschung, Ekel und Wut erstarrt sein, die Harald da anglotzte, der seinen Besuch augenblicklich ohne Aussprache beendete, nach Berlin zurückkehrte und seither nur mit Helen kommunizierte, die versuchte zu kitten, was nicht mehr zu kitten war.
„Wusstest Du es?“
„Nein.“
Hast Du es geahnt?“
„Nein.“
Und damit war das Thema zwischen Helen und ihm vergessen und versiegelt.
Wenn er ehrlich zu sich ist, muss er sich schon eingestehen, dass er den Verlust von Harald schmerzlich verspürt, aber nicht gleich als Verlust erkannte, da Harald ja eh weit ab ihm lebt. Mit Helens Weggang von zu Hause aber wurde das Gefühl des Verlustes immer stärker, da nun doppelt verlassen, ihm der Mensch, der ihm eigentlich mit am nächsten stand, fehlte, der fehlte, mit dem er alle die Ereignisse um seine Mutter, die Gefühle, die Belastungen, die schweren Entscheidungen hätte besprechen können, mit ihm, dem Sohn.
Was hat er nur getan? Was hindert ihn, Harald zu verstehen, ihn, so wie er ist, zu akzeptieren? Hätte er nach Berlin fahren sollen, ja müssen? Sich Harald stellen? Sich mit ihm aussprechen, aussöhnen müssen? Hätte er, ja, aber Edmund fehlte die Kraft, fehlte der Mut, es zu tun. Zu verbittert, es zu tun.
Edmund setzt auch unter das Testament seine Unterschrift, schiebt die Papiere zwischen die jeweils dafür vorgesehenen Aktendeckel, auf denen Post-it kleben, beschriftet mit Angaben über die Art der Papiere, alles säuberlich und ordentlich vorbereitet, um dem Nachlassverwalter unnötige Arbeitszeit zu ersparen.
Filou hat sich mittlerweile vom Esszimmertisch auf den Stuhl vorgearbeitet, auf dem Sitzkissen seine schwarz-weißen Spuren hinterlassend, aber scheißegal, Marga würde dies nicht mehr verdrießen. Die Brötchen hat er immer noch nicht angerührt, der alte Gourmet, „Tja mein Freund, das hat Dir das fette Rehbein eingebracht. Eine Alternative habe ich leider nicht,“ was der Vogel, Köpfchen geneigt sich anhört, schrill los zetert, sich auf der Kante der Rückenlehne des Stuhls um sich selbst dreht, schließlich abhebt und zu seinem Käfig zurückfliegt.
Zwei Tage nachdem Harald sein Schwul sein offenbart hatte, ging Edmund in den Garten und fällte die Holzschaukel, die seit Haralds Kindertagen massiv dastand. Jahr um Jahr hatte er die Schaukel gepflegt, mit Lasur behandelt, die Ketten, die die Sitzfläche trugen, geölt, vom Rost befreit. Mahnmal einer stillen elterlichen Hoffnung, dass irgendwann wieder kindliches Leben in den Garten zurückkommen würde. Sein Tun rechtfertigte er Helen gegenüber mit Verweis auf die Möglichkeit des Enkelvergnügens. Sie hätte den Platz, den die Schaukel einnahm, gern genutzt, ein weiteres Blumenbeet anzulegen. Jetzt, als ihm dies in den Sinn kommt, wird ihm klar, warum Harald, wenn er einmal da war, diese Schaukel so nachdenklich ansah, die Schaukel der Erwartung, eine Erwartung, die ihn wohl sehr belastet hatte.
Er wollte aus dem Leben scheiden, stellte sich die Frage des Wie. Keine einfache Frage. Er hatte sich die Todesarten aufgerufen, die ihm bekannt waren und wägte das Für und Wider ab. In die Schweiz fahren, um die Todestropfen bei der Sterbehilfe zu erbitten? Dazu aber, soweit er wusste, war eine schwere Erkrankung Voraussetzung und die hatte er nicht, im Gegenteil. Dr. Sönke betonte nach jeder seiner Untersuchungen, dass er für sein Alter überdurchschnittlich gute Werte habe, also wie sollte er da einen Schweizer Todeshelfer überzeugen, ihm das zu geben, was er wünschte?
Nein, er musste dies schon selbst in die Hand nehmen. Mit dem Auto gegen eine Mauer oder einen Baum rasen? Davon hatte er schon gelesen, dass jemand sein Auto als Waffe gegen sich gerichtet hatte, ja, er erinnert sich, die kleine, stille, strebsame Renate Drewes soll sich auch mit ihrem Auto gegen die Betonwand einer Überführung gelenkt haben, hatte ihm Dieter, einer seiner ehemaligen Schüler, bei einer kurzen Begegnung erzählt. Die kleine Drewes, hieß jetzt anders, hatte zwei Kinder, vollkommen rätselhaft, was sie dazu getrieben hatte, meinte Dieter damals. Mit Vollgas gegen die Mauer? Vollgas?
Wenn Edmund das Auto benutzt, dann fährt er selten schneller als 80 Kilometer. Er weiß gar nicht wie Vollgas geht und was, wenn der Airbag aufgeht, dem Aufprall die Wucht nimmt?
Andererseits, wenn nicht, war es ein brutales Ende, war Selbstmord, kein Freitod, den er begehen wollte.
Ein Messer? Die Pulsadern öffnen? Was bedeuten würde, viel Blut zu verlieren, zu verspritzen, nein, die Sauerei wäre zu groß, dass wollte er demjenigen oder derjenigen, die ihn finden wird, nicht zumuten. Gut, er könnte sich in die Badewanne legen, soll eh den Schmerz beim Schnitt mildern, aber die Vorstellung, er käme in ein Badezimmer, fände eine Leiche in einer Wanne voller Blut, hielt ihn davon ab, diese Version zu Ende zu denken.
Aufhängen? Na ja, wäre eine saubere Art, aber was heißt sauber, hatte er nicht gelesen, dass sich in so einem Fall, oft mit Eintritt des Todes der Darm entleert? Er wollte so wie er war, ohne Waschung und sonstigen pietistischen Leistungen in den Sarg gelegt werden. Aber mit vollen Hosen? Nein, keine optimale Lösung.
Vergiften? Mit was? Tabletten? Schlaftabletten? Derartige Suizidale wurden mitunter noch lebend vorgefunden oder gar wiederbelebt. Das wäre ihm peinlich. Was ist die richtige, sichere Menge an Tabletten? Pilze? Sich mit Pilzen vergiften? Aber welche Pilze und wie findet man die? Da er nie Pilze gesammelt hatte wäre es ein leichtes, die falschen Pilze zu pflügen. Aber würde Gift nicht ein qualvolles Ende bedeuten? Bauchschmerzen? Übelkeit? Nein, wenn schon sterben, dann ohne Qualen.
Sich die Kugel geben? Doch woher nehmen? Nach Amerika fliegen? Das Kaufen war dort nicht das Problem, aber das Heimkehren mit dem Schießgerät, denn das musste er, heimkehren. In Amerika wollte er unter keinen Umständen sterben, denn die würden seine Wünsche sicher nicht respektieren, womöglich gar einen dieser evangelikalen Prediger vor seinem Sarg auftreten lassen und überhaupt, sich die Kugel geben hieß, es fließt Blut, Teile von ihm würden durch die Gegend spritzen. Womöglich würde er grässlich aussehen. Er wollte körperlich heil verscheiden.
Von einem Hochhaus springen? Nein, auch dies endete im Unheil, alle Knochen würden zu Bruch gehen. Sich vor einen fahrenden Zug werfen? Auch dies bedeutete körperliche Versehrtheit, Zerstückelung und würde dem Zugführer sein weiteres Leben erschweren, denn dass diese von einem solchen Vorfall einen schweren Schock bekäme, bis hin zur Arbeitsunfähigkeit, davon hatte er schon öfter gelesen und das wollte er keinem Zugführer antun.
Von einem Schiff springen? Ja, das wäre eine saubere Lösung. Er könnte eine Kreuzfahrt buchen, und seine Verachtung gegen diese obskure Art seinen Urlaub zu verbringen, damit ausdrücken, dass er der heilen Weltordnung eines Schiffes einen Makel anheften würde. Was aber, wenn sie ihn aus dem Wasser fischten? Okay, er könnte nachts springen, das erschwert die Suche, andererseits, was, wenn sie ihn nicht mehr finden? Dann wäre das Meer sein Grab und nicht die recyclebare Urne unter dem Baum, weit ab von Helens Urne, oder er gerät in die Schiffsschrauben, nein, nicht vorstellbar, durch sie zerstückelt und zu Futter der Fische zu werden. Was sollte dann in die Urne kommen?
Was blieb noch an Möglichkeiten? Wasser wäre schon nicht schlecht. Ertrinken in der Badewanne? Zu flach! Den laufenden Fön in das Wasser halten und durch Stromschlag versterben. Ja, das könnte gehen, aber die würden ihn bestimmt nicht seinem Wunsch gemäß mit seinen nassen Klamotten in den Sarg legen, würden ihn ausziehen, Hände an seine Nacktheit legen und weiß der Teufel in was für Kleider stecken, wahrscheinlich sogar in ein Totenhemd. Nein, welch gruselige Vorstellung. Wasser? Der See? Hm, er hatte den See fast vor der Haustür. Im Boot rausrudern oder paddeln, Stein ans Bein und die Sache wäre gegessen. Diese Lösung gefiel ihm. Ja, so würde er es machen, zu Knutson runterfahren, einen seiner Kajaks mieten, raus paddeln, eine geeignete Stelle suchen, den Kajak kippen und statt die Eskimorolle zu vollenden, die Lungen voll Wasser ziehen, stillhalten, kopfunter die letzten Sekunden verbringen. Wieder das Problem mit den nassen Klamotten. Könnte er trocknen, wenn sie ihn ans Ufer brachten, in der Sonne? Hm, nach einigem Nachdenken kam er zu dem Entschluss, den Kajaktod durchzuführen und sich die Anweisungen nach seinem Ableben in eine Plastikfolie eingeschweißt, um den Hals zu hängen, damit müsste seinem Wunsch entsprochen werden, auch wenn er nass im Sarg landen würde.
Die Idee mit dem Einschweißen entsprang einer Erinnerung, die ihn überkam, als er nachdachte, an damals, als sie Hernandez vom Flughafen abholen wollten. Hernandez, noch so ein Trauma, war ihr Patenkind aus Honduras, gekommen waren sie dazu, die einmal etwas Gutes tun wollten, über die Anzeige einer Gesellschaft, die diese Patenschaften vermittelte. Mit zwanzig Euro im Monat das Leben eines heranwachsenden Kindes unterstützen, ihm ein gesichertes Aufwachsen, eine richtige Schulbildung zu ermöglichen, hehre Ziel, für nur zwanzig Euro erfüllbar. Warum also nicht? Sie übernahmen die Patenschaft für Hernandez.
Zur ersten Weihnacht ihrer Patenschaft bekamen sie Post, die Eltern von Hernandez bedankten sich und nach ungefähr einem Jahr kam wieder Post, Hernandez würde gerne seine Pateneltern persönlich kennenlernen, nur halt der Flug, nicht finanzierbar für ihn, könnten sie da eventuell einspringen? Hernandez würde sich so freuen. Warum nicht? Überwiesen das Geld, die Eltern übermittelten die Flugdaten und Helen und Edmund fuhren am angekündigten Termin zum Flughafen nach Hamburg, voller Erwartung, wie ihr Patenkind wohl aussah und dann warteten sie.
Passagiere kamen durch den Ausgang, dabei auch zwei Kinder an den Armen einer Stewardess, mit Schildern um den Hals, auf denen anscheinend Name und Zielort standen. Edmund betrachtete die Schilder ganz genau, vielleicht stünde ja Hernandez darauf, aber nichts da. Aber das Bild, das Bild der beiden Mädels an den Händen der Stewardess prägte sich ihm ein, die suchenden, erwartungsvollen Blicke der Mädels. So Bilder gab es öfter in seinem Leben, wie ein Foto, eine Momentaufnahme, nicht in einem Album vergraben, sondern solche die sich in sein Gedächtnis hefteten. Die Zeit war längst verstrichen, der Flieger längst gelandet, beladen und weitergeflogen, die Leute längst in alle Winde zerstreut, sie beide wurden immer unruhiger, ratloser, mit angespannten Blicken auf die Ankommenden schauend. War da etwas passiert? Etwas schiefgelaufen? Edmund ging zur Information, schilderte verzweifelt sein Anliegen, die Servicekraft machte ein, zwei Telefonate, ein freundlicher Herr kam, führte ihn zum Schalter der Delta Airlines, auf die angeblich der Flug gebucht war. Die Durchsicht der Passagierliste ergab keinen Treffer, ein Hernandez Sanchez, ohne Begleitung, nicht aufgeführt, auch nicht storniert.
Er ging zurück zur weiterhin spähenden Helen, beschlossen ihr Warten einzustellen. Er hatte sie versetzt. Betrogen? Nein, das gestanden sie sich noch nicht ein. Es hatte Nerven gekostet, die Sorgen, die Ängste und der Kerl war gar nicht angereist und gehört hatten sie nie wieder etwas von ihm. Natürlich stellten sie die Unterstützung ein, die Patengesellschaft entschuldigte sich, was an ihrer Entscheidung, nie wieder Paten zu werden, nichts änderte.
Mit diesen Gedanken im Kopf, geht er in Helens Zimmer, die ein Schweißgerät hatte, in das sie immer ihre Verstehbilder, ihre Informationen, mitunter Blätter, Blumen, Kräuter bei ihren Spaziergängen mit den Kindern gesammelte Naturprodukte einschweißte. Er hatte es
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Bernd Engroff
Lektorat: ohne
Korrektorat: Bernd Engroff
Tag der Veröffentlichung: 30.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4368-1
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