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Und noch immer ist kein Meister vom Himmel gefallen

Jedes Kunstwerk ist Kind seiner Zeit, oft ist es Mutter unserer Gefühle.
Wassily Kandinsky „Über das Geistige in der Kunst“


Geht bei Ebbe
Schritt nach Schritt,
bis die Flut löscht, was als Spur
dauert und ihn kenntlich macht.
Günter Grass, Selbstbild, in: Vonne Endlichkait

 

 

 

 

 

Theophil, sich selbst schon mit der Geburt nur Theo nennend, den „h“ hätte er auch gerne noch getilgt, aber da phonetisch kein großer Unterschied zwischen mit und ohne „h“ bestand, beließ er ihn, schleppte ihn als Ballast mit durch sein Leben, war der Erstgeborene des Ehepaares Matschke, Theophil und Jana (eigentlich Johanna, aber…), danach folgten noch Mädels, drei an der Zahl, Silke, Sylvia und Sabrina.

Sein Name, kaum dass er ihn wahrnahm, empfand er als rustikal, als antiquiert, aus dem Zeitalter gefallen. War er aber nicht. Theos weltliche Ankunft erfolgte 11 Jahre nachdem Deutschland von den Nazis gesäubert worden war, die gröbsten Trümmer zur Seite geschafft, die ganz Bösen verurteilt, die anderen Bösen im Leben oder im Ausland abgetaucht waren. Die Wirtschaft lief unter der Kurbel der Amerikaner langsam wieder an, den Rest besorgte Herr Erhard, das Volk lebte im Hier, einige bereits im Morgen, manch einer jedoch noch im Vergangenen, was niemand störte, denn es gab Wichtigeres zu tun als Schuld zu sühnen.

Dass Theo eigentlich Theophil hieß, lag an einer jahrhundertealten Familientradition, die dem erstgeborenen Sohn einer Matschke-Familie den Namen Theophil verpasste. Gelegentlich gab es einen Bonus, in dem ein Zweitname angehängt wurde, so auch bei Theo, den Eberhard. Noch schlimmer als schlimm. Er verschwand im Laufe der Jahre aus allen amtlichen Dokumenten, nur in seinem Gedächtnis geisterte gelegentlich der Eberhard hoch. Ein weiterer Bonus, die römische Ziffer, die die Reihenfolge der Theophils festhielt, keiner verloren ging, keiner aus der Reihe tanzte, blieb Theo bis zum Tode seines Vaters unbekannt, denn der wurde als VI. beerdigt, woraus Theo messerscharf schloss, er sei demnach der VII, was Theo dann tatsächlich in seiner Geburtsurkunde festgehalten sah.

Und dennoch war es Theos Streben, dem ausgegrenzten „phil“ gerecht zu werden, also rein gefühlsmäßig. Alle seine Vorgänger-Theophils hatten künstlerische Ambitionen, das Künstlerische lag, sozusagen, in der Gene der Familie Matschke.

Der Urgroßvater, weiter ging die Ahnenschau seiner Familie leider nicht zurück, bespielte die Geige. War aber keiner, der in einem großen Orchester geigte, eher in kleinen Orchestern, meist einem Quartett, in und um Lübeck, wo die Matschkes so lange lebten, wie es Theophils gab. Nebenbei bezog er Einkünfte aus dem Geigenunterricht, den er Kindern aus begüterten Häusern gab, das gelegentlich Spielen auf Hochzeiten, Beerdigungen oder sonstigen feierlichen Gelegenheiten und halt der Einsatz in einem dieser kleinen Orchester, die im Sommer den Boulevard oder die Parks belebten. Für die Sicherung des Lebensunterhaltes der Familie war dies aber nicht genug, weshalb der Urgroßvater bei Reeder Christiansen in Dienst stand, als Wiegemeister in dessen Kontor. Kein Gramm zu viel durfte hinausgelangen, ein Gramm zu viel aber hinein. So geigte und wog sich der Urgroßvater unauffällig durch sein Leben.

 

Der Großvater war Wortkünstler, schrieb Gedichte und hymnische Verse, die blöderweise kein Mensch verstand. Dadaismus, Expressionismus und Futurismus waren noch nicht aus der Taufe gehoben. Jetzt könnte man sagen, Großvater sei seiner Zeit vorausgewesen, aber das war er nicht. Nein, wirklich nicht. Seine Ergüsse waren mit nichts zu vergleichen, auch mit dem nicht, was später einmal in Mode kommen sollte.

Kein Verlag druckte seine Worte, nur selten wagte die Lokalzeitung eines seiner Gedichte, und auch nur die ganz kurzen, abzudrucken. Die meisten seiner Wortpflanzungen wucherten endlos über das Papier und wer es schaffte, ein Gedicht zu Ende zu lesen, hatte bis dahin längst vergessen, was der Ausgangspunkt war.

Großvater schrieb auch Reden, Grabreden, Geburtsreden, Hochzeitsreden, Reden zum Schützenfest und sonstigen feierlichen Angelegenheiten. Reden, die zu lang, die Geduld der Zuhörenden arg strapazierten, so dass diese Einnahmequelle je seltener in Anspruch genommen wurde, desto weiter sich seine Bekanntheit verbreitete.

Und so erging es ihm wie seinem Vater. Um das Geld für das tägliche Brot zu verdienen, fuhr er eine Droschke mit zwei Pferdestärken, später dann eine Droschke mit mehr Pferden, die nun drinnen, nicht mehr vorneweg. Sein Selbstbewusstsein aber blieb davon unberührt. Er hatte sich eigens eine Visitenkarte drucken lassen: Theophil Wilhelm (der gerade Kaiser der Deutschen war) Matschke, Wortkünstler und Dichtereibesitzer.

 

Theos Vater setzte die künstlerische Familientradition fort, als Sänger an der städtischen Bühne, aber nur im Chor, allerdings fand auch er Gelegenheiten, sein spärliches Können im privaten Rahmen zum Besten zu geben und wie es zur Familientradition gehörte, reichte seine Kunstfertigkeit nicht aus, eine sechsköpfige Familie zu ernähren. Zunächst als Gärtner, später dann, nachdem er das braune Parteibuch erwarb, als Chefgärtner des Burgtorfriedhofs, danach wieder als Gärtner, also nach der Reinigung, wobei sich dies im Sprachgebrauch der Familie nicht niederschlug, Vater Matschke blieb immer der Chefgärtner. So reimte sich Theo die Geschichte um seinen Vater zusammen. Ob dem tatsächlich so war, wusste er nicht, war kein Thema in der Familie.

Der „phil“ sollte den künstlerischen Anspruch des männlichen Teiles der Familie Matschke betonen. Der Ursprung, so die Familiensage, war ein Vorfahr, der Philosophie zu seinem Lebensinhalt gemacht hatte. Seinen Sohn aber Theophilosophie zu nennen, stieß auf entschiedene Ablehnung der Ehefrau, ja, und daraus wurde die Kurzfassung, eben Theophil.

Und der „phil“ (trotz aller Ablehnung) war dennoch der Anreiz für Theo, auch ein Talent zu entwickeln. Und ein Talent hatte er, nur wusste er es nicht gleich.

Der Vater war klug genug, genau wie sein Vater und all die Väter zuvor, keinen Einfluss auf die künstlerische Entwicklung seines Sohnes zu nehmen. Kunst kam von Können und Können von Innen. Also übte er sich in Geduld, gespannt, was aus Theos Innerem kommen würde.

Der erste, dem das hervorbrechende Talent auffiel, war Theos Lehrer, Heinz Johannsen, in der Grundschule, und zwar im Zeichenunterricht. Allerdings ein Talent, das Theos Lehrer auf eine harte Probe stellte, denn statt, zum Beispiel, wie vom Lehrer gewünscht, eine Kornblume zu malen, so wie eine Kornblume nun einmal aussieht, also aussehen könnte, malte Theo etwas, das der Kornblume durchaus ähnlich, allerdings nur mit einiger Fantasie zu erahnen war, in einer unstrukturierten Orgie von Strichen und Farben. Theos Zeichenblatt war prallvoll und bunt, während auf den Blättern seiner Mitschüler so etwas wie grüne Stängel mit einem blauen Kopf, manche mit Fransen an jenem Kopf, Blätter andeutend, bestückt waren.

Sein Wasserfarbenmalkasten war ein Bild für sich, sah aus wie seine Bilder. Keine Farbe hatte mehr ihre Farbe, Theo mischte, verwischte, holte die alte Farbe wieder hervor, nur um sie wieder zu verwischen. Seine Mitschülerinnen und Mitschüler gaben ihm deswegen mit Klecksel einen Namen, den er behielt, sogar über die Schulzeit hinaus.

Sein Verschleiß an Malkästen war für einen Jungen seines Alters wirklich enorm, was den Vater einiges kostete, aber er kaufte seinem Sohn gerne einen neuen Malkasten, der Kunst wegen, die es zu fördern galt, was allerdings immer unter strengster Geheimhaltung erfolgen musste, quasi von Theophil zu Theo(phil), denn die Schwestern, allen voran Silke, waren sehr bedacht auf gerechte Behandlung, weshalb, bekam Theo etwas, forderten sie Gleiches oder sie bekamen als Ausgleich einen Betrag in eine Sparbüchse. Selbst die jüngste, damals knapp ein Jahr alt, bekam 50 Pfennig in ihre Sparbüchse, wenn Theo sein monatliches Kinogeld von eben jenen 50 Pfennigen erhielt. Gerechtigkeit ging Theos Vater über alles, zumindest, was die Kinder betraf. Und um diese Forderung zu umgehen, arbeiteten die beiden Männer im Geheimen, was wiederum zur Folge hatte, dass Theos Vater beim wöchentlichen Besuch seines Stammtisches drei Glas Bier weniger trinken konnte, die Einsparung für Theo zurücklegte, um die Finanzierung des nächsten Malkastens zu sichern. Was die Gerechtigkeit wieder herstellte, dachte der Vater.

 

Das Dumme an der Kinogeld-Regelung war, dass ein Monat drei weitere Sonntage hatte, zu denen Theo auf die laufenden Filme verzichten musste, während etliche seiner besser gestellten Mitschüler jeden Sonntag ihrem Filmvergnügen nachgehen konnten. Um auf dem Pausenhof mitreden zu können, kam Theo auf die Idee, sich die Schaukästen des Kinos anzusehen, in denen Schnappschüsse von Filmszene aushingen. Die betrachtete er sich genau und spann sich die Geschichten, die hinter den Bildern standen, zurecht. Mitunter half auch die Filmvorschau mit ergänzenden Filmausschnitten.

Dermaßen aufgerüstet sprach er munter mit, wenn am Montag über einen Film vom Sonntag geredet wurde, haute seine Kommentare heraus, bewertet locker die Schauspieler, erklärte, was ihn langweilte an dem Film, vor allem die Knutschszenen, der Klassiker, keiner seiner Mitschüler mochte die Knutschszenen, die unterbrachen nur den Fortlauf des Filmes oder hinderte gar den Helden, das zu tun, was er eigentlich vorhatte, mit der Folge eines schrillen Pfeifkonzertes der Kinobesucher. So mogelte er sich die Sonntage zurecht, ohne dass jemand seine Aussagen in Zweifel zog. Nur Detlef wusste, dass Theo sich da etwas zurechtbog, hielt aber still, konnte eh nicht mitreden, da er den Kinobesuch für Zeitverschwendung hielt. Er las lieber seinen Karl May, als sich dessen Figuren auf der Leinwand anzusehen, polterte, Winnetou sei kein Apache, sondern Pierre Brice und Apachen sehen eh anders aus.

Fantasiearbeit leistete Theo auch bei den obligatorischen Aufsätzen nach den Sommerferien: Mein schönstes Urlaubserlebnis. Da Theos Familie nie in Urlaub fuhr, er aber nicht abseits von denen stehen wollte, die die Schweiz, Italien, Spanien oder gar Portugal als ihr Urlaubsziel nennen konnten, ging er zu Frau Krewels Reisebüro, schaute sich die Auslage an, nahm sich mitunter in einem unbeobachteten Moment einen Katalog, suchte sich ein Ziel und beschrieb dies in seinem Aufsatz mit blumigen Worten. Ließ das Meer türkisblau wogen, obwohl er noch nicht einmal die Ostsee gesehen hatte, die nur ein paar Meter entfernt von ihm, schlapp vor sich hin schwabbelte. Frau Hauser, die kleine, dicke, strenge Deutsch-Lehrerin, lobte seine ausschmückende Beschreibung, begleitet von neidischen Blicken seiner Mitschülerinnen und Mitschüler.

Nur Detlef grinst immer vor sich hin, wenn Theo seine Erlebnisse vorlas, angereichert von seinen Erzählungen vergangener Urlaube. Theo, als er später darüber sinnierte, woher wohl seine Fantasie kam, die sich in seinen Bildern niederschlug, glaubte, dass in diesen Fantastereien der Ursprung lag und nicht in den Matschke-Genen, wie sein Vater behauptete.

 

Das Bewusstsein einer angehenden Künstlerschaft, hervorkommend aus der Anerkennung durch seinen Lehrer, unterschied ihn von seinen Mitschülern. Obwohl von der Statur her prädestiniert ein guter Sportler zu sein, wollte er dieser nicht sein, bolzte nicht mit seinen Kameraden mit einem Ball herum und blieb im Sportunterricht weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Ein angehender Künstler ist sich für ein so langweiliges Unterfangen wie Sport viel zu schade. Wüste Beschimpfungen musste er in Mannschaftswettbewerben über sich ergehen lassen, wenn er mal wieder nicht schnell genug war, den Staffelstab fallen ließ, seinen Einsatz verpasste, weil seine Gedanken ganz wo anders waren, über den Medizinball fiel und weiteres Malheur, die seinem Desinteresse geschuldet waren. Wurde eine Mannschaft zusammengewählt, war es Theo, der als Letzter zu Auswahl stand.

So bugsierte er sich aus der Gemeinschaft, wurde zur Randerscheinung, was ihn nicht weiter störte, Hauptsache er hatte seine Ruhe und seine Träume und da war er gut drin, richtig gut.

Verständlich, dass er kaum Freunde fand, diese auch nicht suchte. Nur Detlef Prager war ihm zugeneigt, selbst so etwas wie ein Außenseiter, ein Mathegenie, der die Mathearbeit beendete, bevor der Lehrer alle Aufgabenzettel verteilt hatte. Er war, im Gegensatz zu Theo, ein nützlicher Außenseiter, zumindest für die, die in seiner Nähe saßen. Logischerweise war Detlefs Traum, Mathematiker zu werden. Auch er fast nicht von dieser Welt und zwei, die nicht von dieser Welt sind, verstehen sich mitunter ganz gut, auch wenn sie sich nicht verstehen.

Detlef wurde tatsächlich studierter Mathematiker, wechselte nach der Grundschule auf ein Gymnasium und ließ Theo allein zurück. Viel später schrieb Detlef Computer-Programme für industrielle Anwendungen und wurde ein vermögender Mann. Er realisierte seine Träume, was von Theo nicht zu sagen war, also, nicht ganz. Eigentlich hatten sie nicht viel gemein und dennoch hielt ihr Kontakt über viele Jahre, wahrscheinlich, weil Theo der Einzige war, der nicht nur an sich, sondern auch an Detlef glaubte. Sie tauschten ihre Träume aus, ihre Sorgen, ihre Probleme, Detlef half Theo, wenn dieser wieder einmal auf Kollisionskurs mit der Klassenversetzung war, und Theo brachte Detlef den Umgang mit Wasserfarben und der Fantasie bei.

Durch Detlef lernte Theo, was er später als Klassenunterschied begriff. Detlefs Eltern bewohnten eine Villa in einem besseren Stadtteil und er hatte ein eigenes, großzügig möbliertes Zimmer, in dem Bücher, Schallplatten, Zeitschriften, technische Spielsachen zu Hause waren. Auch im Haus, vor dessen betreten Theo seine Schuhe ausziehen musste, hingen Gemälde an Wänden, standen Bücher in Regalen, edle Möbel ruhten sanft auf großflächigen Teppichen, ein Klavier, auf dem Detlef, vor allem aber seine Mutter, sanfte Töne zauberte, stand in einem großen hellen Wohnzimmer, mit breiter Fensterfront und Blick in den gepflegten Garten. Alles anders als bei Theo zu Hause. Aber dieses Privilegiertsein spielte Detlef gegenüber Theo nie aus, war bescheiden, hilfsbereit und zuverlässig.

 

Die Matschke-Wohnung war bilderfrei. Wenn etwas an der Wand hing, dann ein Kalender, den der Konsum zu jedem Jahresende verschenkte. An Büchern gab es die Schulbücher von Theo und später die der Mädels. Selbst Comics konnte Theo nur durchblättern, wenn er bei Detlef war, was allerdings nicht oft der Fall war. Einzig die herumliegenden Notenblätter des Vaters zeugten von der Anwesenheit eines Hauches von Kultur. Die Wohnung bot nicht den geringsten stimulierenden Anreiz. Woher seine Bilder- und Mallust rührte, blieb ihm, wenn er später darüber nachdachte, ein Rätsel. Wie kam so etwas in einen Menschen, einem eher kulturfernen Menschen? Doch die diffuse Gene der Matschkes?

Naja, eine Nuance Kultur boten Theo die Sammelbilder aus der Haferflockenpackung. Seine Mutter nutzte die Flocken vielseitig, weil billig, für Haferflocken-Suppe, fleischlose Haferflocken-Frikadellen, Hafergrütze zum Frühstück und weitere bei Theo unbeliebten Gerichten. Um an die Bilder, die auf dem Grund der Packung lagen, zu kommen, musste die Packung leer werden. Die Bilder einfach herauszufischen, war ihm strikt untersagt, der Hygiene wegen. Also würgte er den Haferschleim in sich, in Erwartung der nächsten Bilder. Die Bilder mussten in ein Album geklebt werden, der in umfangreichen Texten die Bilder ergänzte. So lernte Theo die Deutschen Helden Sagen in 48 Bildern kennen, glitt ins Reich der Blumen mit vier weiteren Folgealben und lernte die Wundersame Tierwelt kennen. Dann fing Silke an, die Bilder, boshafterweise, aus den Packungen zu stibitzen, nicht um sie zu sammeln, sondern sie Theo zu entziehen.

Theos Wut hielt sich in Grenzen, er war im Umstieg auf Sammelbilder befindlich, die beim Schulsparen beim Erreichen eines bestimmten Betrages ausgeteilt wurden. Allerdings war dieses Sammeln noch zäher als der Brei, den er schlucken musste für zwei Haferflocken-Sammelbilder. Wenn er später über die Herkunft seiner Kreativität nachdachte, waren die Sammelbilder Im Reich der Blumen so eine Quelle. Oft blätterte er in den vier Alben, kannte viele Texte fast auswendig, war erstaunt über die Fantasie der Natur, die die Blumen mit so außergewöhnlichen Farben und Wuchs ausstattete. Leibhaftig Blumen zu sehen, war in der versteinerten Stadt nur auf wenige überall wachsende und blühende, aber wenig interessante Gewächse reduziert. In Detlefs Wohnung aber standen, wen er zu Besuch war, immer Blumensträuße im Flur und im Wohnzimmer, anfangs noch uninteressant, aber mit dem Inhalieren seiner Alben viel sein Augenmerk mit Bewunderung auf diese Sträuße.

 

Nach Detlefs Wechsel auf das Gymnasium stand und saß Theo allein auf dem Schulhof oder im Klassenzimmer, eine Randfigur, allerdings nicht lange, denn Tina Werder und deren Freundin Christa Peters, zwei, die Theos Bilder, letztlich auch Theo selbst, mochten, schlossen sich mit Theo zusammen. Die beiden waren genauso verträumte Wesen wie Theo, sie glaubten an Elfen, versuchten, sich den Himmel vorzustellen, in dem sie später einmal leben würden, nachdem sie eine Karriere als Filmstars hingelegt hätten.

Theo war in der Achtung Tinas enorm gestiegen, weil er ihren kleinen Bruder gegen einen Jungen aus einer höheren Klasse ritterlich verteidigt hatte, wobei Theo nicht bewusst war, dass der Verprügelte Tinas Bruder war, er nur eingriff, weil keine Chancengleichheit herrschte. Jedenfalls schritt Theo ein und verabreichte dem größeren Jungen, der eine Klasse über Theo war, eine Abreibung, die dieser mit blutender Nase und aufgeplatzter Oberlippe überstand. Ein Akt der Gerechtigkeit für Theo, was der Aufsichtslehrer anders sah und Theo eine Strafarbeit einbrachte, woraus Theo die Lehre zog, zukünftig die Sache mit der Gerechtigkeit anderen zu überlassen. Es war Theos einziger Fight während seiner Schulzeit, ansonsten genügten Drohgebärden, die Theo resolut anbrachte und den überraschten Gegner einschüchterte, der sehr wohl die Reichweite von Theos Fäusten einzuschätzen wusste. Theo, kein kräftiger, aber großer Junge, der zweitgrößte seiner Klasse, schaffte sich so eine Aura, die ihm den Spott und die Häme mancher seiner Mitschüler in Grenzen hielt.

Die Sache mit der Prügelei hatte noch eine andere Wirkung. Heiner Woitka, der Klassentyrann, der sich nie so recht an Theo herangetraut hatte, wurde nun noch viel vorsichtiger und hielt seine Kumpane davon ab, Theo zu hänseln. Die durften sich an Clemens Heine austoben, der, klein, dünn und dümmlich, das Hänselgesicht hatte, das den Spott der anderen geradezu auf sich zog. Kopfnüsse, Ohrenziehen, Schläge auf die Oberarme, Stoßen, Beinstellen, nichts blieb dem Armen erspart. Theo aber hatte seine Ruhe und die Freundschaft der beiden Mädels und Gerechtigkeit sollten andere herstellen.

Mit dem wachsenden Busen und dem Wechsel von Mädel zu Mädchen, stieg das Interesse anderer Jungs an den Mädchen und diese wechselten Wesen, Aussehen und Interessen, schwärmten von diesem und jenem und vergaßen langsam, aber stetig, Theo, der weiter ins schulische Abseits rutschte, was ihn aber nicht störte, weil nur noch von kurzer Dauer war.

 

Es hatte eine Weile gebraucht, bis Theos Lehrer verstand, dass sich bei Theo eine brodelnde Fantasie ihren Weg brach, die weit über der seiner Mitschüler schwebte. Da seine Zeichnungen nicht dem entsprachen, was der Lehrplan vorsah, konnte der Lehrer kein „Sehr gut“ verteilen, obwohl er wusste, dass Theos Bilder diese Note verdient hätten, aber es gab halt Vorschriften. Theo musste sich, sehr zu seinem Verdruss, mit einem „Befriedigend“ zufriedengeben, wobei dies noch einer seiner besten Noten war. Theo aber wusste fortan, was seine Berufung war, Maler, Kunstmaler würde er werden.

Theo hätte durchaus ein besserer Schüler sein können, aber er wollte nicht. Dumm war er nicht, beileibe nicht, halt einfach nur desinteressiert, phlegmatisch. Alle gut gemeinten Gespräche mit dem Lehrer, den Eltern, waren vergebliche Mühe. Das Einzige, was Theo nicht wollte, war, eine Klasse zu wiederholen, weshalb er, wenn er knapp auf Kante stand, sich zusammenriss und sich mit der notwendigen Leistungssteigerung von der Kante bugsierte.

Ja, er konnte, wenn er wollte, ansonsten sagte er sich, Geometrie, Mathematik, Physik, Chemie und alle die anderen ihm nutzlos erscheinenden Fächer, natürlich außer Zeichnen, seien für die Katz, aber nicht für ihn, das braucht ein Künstler nicht und das, was ein Künstler bräuchte, lehrte die Schule nicht, wobei, was das hätte sein können, hätte Theo, hätte man ihn gefragt, ohne Antwort gelassen.

Herr Johannsen, trotz allem, zunehmend beeindruckt von dem, was Theo zu Papier brachte, sprach dieses Talent in einer Elternsprechstunde Theos Mutter gegenüber an, doch die meinte nur, alles brotlose Kunst, das sei in dieser Familie Tradition. Der Vater aber glaubte fest an Theos Berufung, stand oft minutenlang vor den Blättern, die Theo mit Farbe überzogen hatte, verstand nicht, was er sah, dachte sich aber, das ist Kunst, die ist so, und verzieh Theo all die schlechten Noten, die er nach Hause brachte.

Zwar unverstanden, malte oder fantasierte sich Theo durch seine Schulzeit, den Gedanken in sich tragend, einmal ein ganz großer Künstler zu werden und all seine theophilen Vorgänger in den Schatten zu stellen.

 

Mit dem Ende der Schulzeit, nach mehr oder weniger öden neun Jahren, musste Theo einen Brotberuf erlernen. Der Vater entschied für ihn, dass er eine Tischler-Lehre absolvieren sollte. Die Tischler-Werkstatt war um die Ecke, also praktisch gedacht, Vater Matschke hatte vorgefühlt und Hein Stendall, der Tischlereibesitzer, war bereit, Theo als Lehrjunge aufzunehmen.

Allerdings eine Entscheidung, die Theo innerlich ablehnte, sich aber dem Vater fügte, aus Mangel an eigener Vorstellungskraft, wie seine berufliche Zukunft aussehen sollte. Na ja, er wollte Kunstmaler werden, dumm nur, dass dies kein Lehrberuf war und er nicht wusste, wie das geht, Kunstmaler werden. Theo war nicht ungeschickt, aber das Bearbeiten von Holz lag weit von dem Bearbeiten eines Zeichenblattes, eigentlich hatte beides nichts miteinander zu tun. Gegenüber der Schulzeit blieb nun wenig Zeit über, die er sich mitsamt dem Malkasten teilen konnte.

Da ein Tischler nun nicht, wie Theo zunächst dachte, Tische anfertigt, sondern auch andere Fertigkeiten beherrschen musste, führte sein erster Einsatz auf einer Baustelle zur Bekanntschaft mit dem Malermeister Gretholm, der die Innen-Wände in dem Gebäude anlegte, in dem auch Theo und seine Kollegen aktiv waren. Gretholm scherzte mit seinem Gesellen und dem des Hein Stendall, bestrich fröhlich lachend die Wände mit Farbe, während Theo zusehen sollte, wie der Geselle die Zimmertüren einpasste, sein Blick aber fasziniert auf Gretholm und seinen Mitarbeiter schweifte. Da wusste er, was er werden wollte: Maler.

Am fünften Tag des gemeinsamen Arbeitens in dem Rohbau wagte Theo es, den Malermeister anzusprechen und ihm sein Anliegen vorzutragen. Sein Wechselmotiv, er male gern, genügte dem Meister, um sein, gut, versuchen wir es, auszusprechen, aber nur, wenn sein Vater einverstanden sei. Und den zu überzeugen, war nicht schwer, es genügte die Berufung auf die Familientradition und seine Leidenschaft für das Malen. Was das eine mit dem anderen zu tun hat, verstand Theos Vater zwar nicht, aber egal, er merkte dem Jungen das Feuer an, ein Feuer, das nur die Kunst befördern konnte.

 

Also beendete er seine Ausbildung als Tischler, um stattdessen bei Malermeister Gretholm eine Lehre zu beginnen und die hielt er die vollen drei Jahre durch. Theo hatte vier Kollegen, Sedar Taski, sechs Jahre älter als Theo, ein netter, stets zu Späßen aufgelegter türkisch-stämmiger Deutscher, irgendwo aus Anatolien stammend, dessen Vater in Deutschland sein Geld verdienen wollte, die Familie mitzog und Sedar hier zur Schule ging; Arne Fischer, Junggeselle, das Arschloch der Truppe, kräftig gebaut, blond, blaue, kalte Augen, der, sobald der Chef nicht auf der Baustelle war, eben jenen heraushängen ließ, besonders Theo gegenüber, den Schwächsten.

Gegen Sedar und Valea wagte er nur selten Frechheiten oder böswillige Anspielungen. Ein irgendwie hinterfotziger Typ. Er nannte Valea „Schimmy“, meinte eigentlich Schimpanse oder gar Affe, wagte dies aber nicht direkt auszusprechen, also sagte er „Schimmy“ und Valea verstand „Jimmy“. Warum der Blonde ihn so nannte, war Valea egal, was hatte er mit einem „Jimmy“ zu tun? Fischer hatte einmal beim abendlichen Umziehen, Valeas Rücken und Brust gesehen, die voller dunkler Haare waren, ihm selbst wuchsen nur ein paar blonde Flaumhaare auf der Brust, ein gefundenes Fressen für seine Sticheleien. Valea hatte eine mächtige Faust, weshalb Fischer sehr vorsichtig agierte. Später wurde Fischer zum Militär gerufen und blieb gleich ein paar Jahre dort, wo er seine Ressentiments ausleben konnte.

Dann war da noch Hauke Petter, der Altgeselle, Mitte fünfzig, ein ruhiger, gelassener Mensch, starker Raucher, wettergegerbt, Hände aufgeraut wie ein Reibeisen, der jeden, der mit ihm und gut arbeitete sein Kumpel nannte, nationale oder regionale Unterschiede nicht kannte. Die Wochenenden verbrachte er mit seiner Frau in seiner Laube im Kleingartenverein Frischluft, wohin er die Kollegen gelegentlich zum gemeinsamen Grillen einlud. Er war der ausgleichende Kollege in Gretholms Truppe und stutzte den Fischer zurecht, wenn dieser gegenüber Theo allzu herrisch auftrat.

Valea Antonescu stammte aus Rumänien, ein mittelgroßer Mann, der der Spezialist beim Tapezieren war. Bis auf Fischer kam Theo mit den Kollegen bestens klar, die schnell merkten, dass der Chef große Stücke auf Theo hielt, nur Fischer neidete ihm dieses Ansehen.

 

Theo erfuhr einiges über die Lebensverhältnisse in der Türkei, etwas über die Geschichte des Landes, einiges über Rumänien, aus dem die Eltern von Valea fliehen mussten, weil der Vater auf Versammlungen der Regierung unpässliche Fragen stellte und deswegen aus dem öffentlichen Dienst entfernt wurde und Valea, der Sippenhaft wegen, die Schule, die er besuchte, verlassen musste. Dumm war, dass er, anders als Sedar, zu spät für einen schulischen Neuanfang kam und sein Deutsch in Kursen und bei Gretholm lernen musste. Bei dem er als Hilfsarbeiter unterkam. Von Vorteil für ihn war, dass ein Rumäne so ziemlich alles konnte, können musste, des ewigen Mangels wegen, so war er handwerklich vorgeprägt. Seine Eltern gingen, nachdem der Eiserne zu einem Weichen Vorhang geworden war, zurück nach Rumänien, um nach etwas über einem Jahr diesem Land endgültig den Rücken zu kehren. Missgunst, Hass, das unverarbeitete Gestern, wucherten über dem Dorf. Die Atmosphäre vergiftet, Nachbarn waren nicht mehr die Nachbarn, die sie einmal waren und selbst die nahen Verwandten wirkten verändert, einerseits abweisend, andererseits erwartungsvoll, dass von denen, die im Westen waren, etwas kommen würde, was ihre derzeitige Situation verbessere. Denn besser war es nur für wenige Nutznießer des Wandels geworden.

Wie Sedar war Valea verheiratet, hatte zwei kleine Kinder, einen Sohn, eine Tochter und eine Ehefrau, die hier aus dem Norden stammte und im Bürgerbüro in Stockelsdorf ihre Arbeit hatte. Ellen, eine spröde Norddeutsche, Ostseegebräunt, blonde Haare, gesprenkelt mit Sommersprossen rund um die Nase und einem Wortwitz, der gewöhnungsbedürftig war, so dass Theo mitunter ein falsch gesetztes Lachen erklingen ließ, sonst aber war sie in Ordnung.

Sedar war ebenfalls verheiratet, mit einer Frau aus seinem ehemaligen Dorf, die er von Kind auf kannte und die mit ihren Eltern einige Zeit nach Sedars Eltern nach Deutschland gekommen war. Zeynep war eine Schönheit, dunkles Haar, dunkle Aura, aber eine liebenswerte Person. Zeynep und Sedar waren noch kinderlos.

Theo lernte von diesen Kollegen einiges über Farben, das Tapezieren, die Bearbeitung von Holz, Feinputz, Rauputz und sonstigen Materialien und Aufgaben, die der Malerbetrieb von Gretholm seinen Kunden anbot. Dumm war halt, wenn er Farbe auf Wände oder Tapeten streichen durfte, dann vielfach einfarbig, nur selten fand ein mehrfarbiges Gebilde seinen Platz auf einer Hauswand, etwa ein Familienwappen, die Weintraube und das Glas auf der Vorderfront eines Landgasthofes. Doch auch dies sollte sich ändern.

 

Bei einem Vorgespräch bei Carlo Albanesi, dem Besitzer des Restaurants „Toscana“, bei dem es um Vorschläge ging, wie die Außenfassade von dessen Restaurant neugestaltet werden könnte, durfte Theo mit dabei sein. Dem Meister fiel nichts Zündendes ein, außer dem üblichen Rauputz, in weiß oder grau, etwas anderes kannte er nicht, gut, eventuell könnte man die Fassade in zartem Gelb anlegen. Bieder, zu bieder, dachte Theo, merkte, dass sein Chef der Situation nicht ganz gewachsen war, denn Albanesi erwartet etwas anderes, ein Statement, ein Ausrufezeichen für sein Restaurant. Dieses lag an einer gut befahrenen Straße, zum Haus gehörte ein kleiner Parkplatz, wodurch ein Blick auf die kahle Außenwand frei einsichtig war, und da musste etwas anderes als weiße, gelbe oder graue Farbe darauf. Zögerlich wagte Theo sich einzuschalten, schlug Herrn Albanesi vor, die Fassade in leicht herbstlaubähnlicher Toskana-Farbe anzulegen, oben mit sanftem Gelb beginnend, in Orangetöne übergehend und in Terracotta-Farbe enden zu lassen, und an der Seitenfront, vor dem hauseigenen Parkplatz, schlug er vor, mehrere Zypressen von drei, vier Meter Höhe aufzumalen, Teil einer Toskana-Landschaft, was Herr Albanesi auf Anhieb zusagte und er seinerseits hinzufügte, noch ein Olivenbaum müsse dazukommen. Zu kitschig, wehrt Theo ab. Er würde Herrn Albanesi gerne ein paar Skizzen anfertigen, so dass er sich für eine entscheiden könne. Womit der Auftrag unter Dach und Fach war.

„Den Auftrag hast du dir eingebrockt, jetzt löffele ihn auch aus,“ scherzte der Meister und Theo durfte auf die Hauswand, unter kritischem, interessiertem Blick des Meisters, mit eigens gemischten Farben eine Zypressen-Allee, die sich in einer hügelige Landschaft verlief, aufmalen. Mit schmunzelnder Miene sah der Meister am vierten Tag, wie Theo zum Abschluss ein TM auf dem Stammansatz einer der Zypressen signierte.

„Warum nicht Theo Matschke?“

„Das kommt erst, wenn ich oben angelangt bin.“

Die Lektion die Theo aus diesem Auftrag lernte war, es gab Auftragsarbeiten, die nach Wunsch des Kunden zu erfüllen waren und ungezwungenes freies Schaffen. Zwei Dinge, die er trennen musste.

 

Doch, der alte Gretholm war mit der Arbeit seines Lehrjungen sehr zufrieden, ebenso wie Herr Albanesi, dessen Hausfassade mediterrane Atmosphäre ausstrahlte und Meister Gretholm einige Folgeaufträge beim Griechen, der Pizzeria Italia, dem Restaurant Einstein und weiteren gastronomischen Betrieben in der Umgebung Lübecks einbrachte.

Zwar war Theo nicht immer bei der Sache, manchmal ließ er verträumt den Pinsel ruhen, mal traf er den Farbton nicht, den der Kunde gewünscht hatte oder er vermasselte die Tapete, deren anbringen nun wirklich nicht seine Stärke war. Ansonsten war er lernwillig, zuverlässig, ein Gewinn für den Malerbetrieb.

Gretholm hatte Theos Talent bereits vor der Fassadenmalerei erkannt, als er Theo in einer Mittagspause mit einer Skizze beschäftigt sitzen sah, ihn beobachtete, fragte, was er da zeichne, ließ sich das Blatt geben, betrachtete es von nah. Hielt es sich auf Distanz, lächelte.

„Werde ich beobachtet oder beobachte ich?“

Theo schmunzelte zurück: „Je nachdem, wie Sie es wollen.“

Die Zeichnung war ein Blick aus dem Fenster des Raumes, in dem sie gerade tätig waren, vor dem Fenster wiegte sich ein Baum im Wind, soweit blickte der Betrachter also hinaus, bei entfernter Betrachtung der Zeichnung aber wurde ein Konterfei erkenntlich und es blickte jemand in das Zimmer hinein.

„Wie hast du das gemacht? Ist dies Absicht oder Zufall?“

„Beim Malen gibt es keinen Zufall, Chef.“

Ob er denn schon einmal mit Öl- oder Acrylfarben gearbeitet habe, verneinte Theo, dazu fehle ihm das Geld für die Grundausstattung und die Erfahrung, aber er spare darauf hin.

Zu Theos 17. Geburtstag, der kurz darauf anstand, überraschte ihn Meister Gretholm mit einem Malkasten, darin 15 Ölfarben, eine Tube Titanweiß, mehrere Pinsel, Palettmesser, Zeichenkohle und Terpin, einer Palette sowie mit der Mitteilung, dass Gretholms alter Freund Peter Petersen, ihn, Theo, in die Ölmalerei einführen werde. Theo natürlich hellauf begeistert, dankte dem Meister überschwänglich, gedanklich schon bei der Ausgestaltung einer Leinwand war.

 

Peter Petersen, seinerseits Maler, Lübecker Kunstmaler, Vorsitzender des Vereins der malenden Hobbykünstler, war auf Landschaftsbilder spezialisiert und Landschaft war für ihn die Brodtener Steilküste, die er in allen Varianten malte, in allen Jahreszeiten, bei jedem Wetter und immer nur draußen malend, in der freien Natur, bis auf die Vollendung, die er für Gewöhnlich in seinem kleinen Atelier ausführte. Ein klassisch, konservativ malender älterer Herr, um die 70, Eigenbrötler, gerne Selbstgespräche führend durch die Landschaft zog. Es kostete Gretholm Mühe, den alten Künstler dafür zu gewinnen, einem jüngeren Kollegen den Einstieg in die Welt der Ölmalerei zu ebnen. Er war erst gewogen, als ihm Gretholm versprach pro Sitzung 10,00 DM zu zahlen, worauf Petersen aber nach kurzem Überlegen verzichtete.

„Hm, Albrecht, dir ist es wichtig, dass der Junge etwas lernt. So wichtig?“

„Er kann etwas und er kann noch viel mehr, wenn er lernt, mit Ölfarben zu hantieren. Ob ihr miteinander auskommt weiß ich nicht, wenn es nicht funkt, dann lassen wir es.“

„Gut. Und wie soll das ablaufen? Du weißt, ich male meistens an der frischen Luft und allein.“

„Auf jeden Fall nach Feierabend oder an Samstagen, sofern keine Überstunden anstehen.“

„Dann schick ihn Samstag nach dem Mittagessen her, damit ich ihn besichtigen kann.“

Samstag, um 13.00 Uhr stand Theo vor der Tür des Malers, der aus einem Gartenhaus trat und Theo zu sich rief. Das geräumige Gartenhaus war das Atelier, eine Couch, ein Tisch, ein Stuhl, eine Staffelei und eine Menge Gemälde an der Seite gegeneinander gelehnt, nach Terpentin, den Ölfarben und abgestandenem Rauch riechend.

Petersen betrachtete Theo von oben bis unten, warum auch immer, fragte, was und wie er bisher gemalt habe. Auf diese Frage vorbereitet, hatte er eine kleine Präsentationsmappe mitgebracht, zeigte seine Bilder und versuchte, sie zu erklären. Das sachverständige Auge des Künstlers streifte über die Zeichnungen, nickte mit seinem Kopf, schaute ihn an.

„Hm, junger Mann, ich verstehe zwar nicht, was du da gemalt hast, aber es hat etwas. Ich spüre die Stimmung, die mich ergreift. Interessant, doch sehr interessant. Du weißt, dass Öl etwas anderes ist als Wasser?“

Und damit begannen die Lektionen, die Petersen seinem Schüler angedeihen ließ.

 

Theo hörte zu, verstand nicht alles, wollte nicht alles verstehen, weil es nicht mit seinen bisherigen Malbestrebungen einherging. Geduld müsse er haben, die Ölfarben haben lange Trockenzeiten, er dürfe nicht zu schnell die nächste Farbe auftragen. Es empfehle sich, zunächst die eigenen Vorstellungen des Motivs zu skizzieren (für Theo nicht vorstellbar, auf der Leinwand eine Skizze vorzuzeichnen), dazu solle er Zeichenkohle benutzen. Wie sollen die Lichtverhältnisse sein, entscheidend für die Mischung der Farben. Bewegung und Perspektive sollten wenigstens in Gedanken in die Skizze einfließen.

Der alte Maler erklärte, wie Konsistenz und Glanzgrad beeinflusst werden können, welche Malmittel wie und wann eingesetzt werden und vor allem müsse er die richtige Kleidung tragen, alte Kleidung, den Boden müsse er gut auslegen, Kleckse seien unvermeidlich. Und immer vor geöffnetem Fenster oder in gut durchlüftetem Raum arbeiten oder Räumlichkeiten finden, wie er sie habe, in der Geruch keine Rolle spiele.

Petersen erklärte, wie welche Pinsel wann eingesetzt werden, wann eine Spachtel benutzt wird, wie Ölfarben gemischt, wie verdünnt oder angereichert werden. Lächelnd verrät er Theo, dass er, um bestimmte Lichteffekte zu erzielen, Kurkuma oder auch mal Eigelb in die Farben mische, was Theo überrascht zur Kenntnis nahm und schon überlegte, welche Effekte er wohl mit Paprika, Ingwer oder anderen Gewürzen erzielen könnte.

Vier Stunden trockene, spröde Theorie, die Theo über sich ergehen lassen musste, aber im Fluge vergingen. Kurz vor Ende zeigte Petersen noch, wie eine Leinwand angefertigt wird, wie der Leinenstoff aufgespannt wird. Dafür hatte er sich einen Stahlrahmen anfertigen lassen, in den das Format 60 x 80 passte, andere Formate kannte Petersen nicht. Wichtig sei das Grundieren, zweimal grundieren empfahl der Alte, damit kein Öl durch die Leinwand läuft, sonst bekomme die Leinwand Risse und der Boden hässliche Flecken, was Theo bei einem kurzen Blick auf den Fußboden bestätigt bekam. Das wird er hinbekommen, war die Tischlerkurzlehre nicht ganz umsonst.

Petersen verabschiedete seinen Schüler, forderte ihn auf, in malgerechter Kleidung, kommenden Samstag um 07:00 Uhr hier vor der Hütte zu stehen. Für die Praxis gehe es raus in die Natur, und Natur ist für Petersen nun einmal Brodtener Steilufer.

Und Theo stand, Pünktlichkeit gewohnt, zur bestellten Zeit vor Petersens Haustür. Praktischerweise war Theo in seine übliche Arbeitskleidung geschlüpft, was Petersen naserümpfend zur Kenntnis nahm. Sie fuhren zur Hermannshöhe, parkten vor dem Parkplatz im Straßengraben, das Verwarnungsgeld ist nicht so hoch wie ein Tagesticket und Jens vom Ordnungsamt kenne ihn und sein Auto, so dass nur Gefahr bestand, wenn der Kollege von Jens Dienst tat. Petersen schleppte die Staffelei unter den rechten Arm geklemmt, die Leinwand in der rechten Hand, einen Rucksack mit den Malutensilien auf dem Rücken zur Treppe, die hinunter zum Strand führte, und ließ sich nicht, trotz des Angebotes von Theo helfen. Sturkopf. Von der Höhe stiegen sie die Treppen hinunter zum Strand, Theo folgte in kurzem Abstand dem Alten, der anscheinend genau wusste, wo er hinwollte.

 

Ein leichter, kühler Wind wehte Theo ins Gesicht, glücklicherweise hatte der Nieselregen aufgehört, als Petersen seinen Standort einnahm.

„Du musst genau wissen, wo du dich positionierst. Die Lichtverhältnisse dürfen nicht so oft wechseln, das Motiv sollte ruhen. Es gibt zwei Möglichkeiten. Du malst entweder direkt auf die Leinwand, was du siehst oder sehen willst. Oder du nimmst ein Skizzenbuch mit und zeichnest alles vor, um es später in Öl umzusetzen. Ich male direkt auf die Leinwand. Das mache ich schon immer so. Ich bin nicht nur Rentner, ich bin auch Routinier,“ was er mit Schmunzeln im Gesicht zu Theo sagte.

Theo fiel eine weitere Methode ein, die er viel einfacher und einleuchtender fand, Fotos machen oder oben am Kiosk Postkarten kaufen, von den Motiven, die es wert waren, gemalt zu werden. Sich Wind und Wetter auszusetzen, nein, das war Theo schon jetzt klar, dies wird nicht sein Ding.

Bejahend nickte er der Belehrung durch Petersen bei und dachte, „Leck mich!“ Nie und nimmer wird er, wie Petersen, im Freien, bei Wind und Wetter, Motive kopieren, hört dem Geschwafel des Alten weiter mit Engelsgeduld zu (seinem Chef zuliebe), sagt ja, und oh, und ah, bestätigt, lobt, weiß aber, dass er alles ganz anders machen wird.

Petersen skizzierte mit dem Kohlestift vor, mit gemächlichen Strichen, sein Motiv fest im Visier, das Brodtener Steilufer, mit einem erst vor Kurzem auf den mit Natursteinen übersäten Strand gestürzten Baum, dessen blätterlose Krone vom Wasser umspült wird, zitternd, als würde er frieren. Die breite Wurzel ruhte auf den großen Kieselsteinen, der Stamm behangen mit Moos, angeschwemmtem Seegras, vom letzten Sturm. Gut, überlegte Theo, sieht irgendwie pittoresk aus, aber so etwas kann man doch einfach fotografieren.

Und als Petersen dann auch noch anfängt, Theo die Punkttechnik zu erklären und zu demonstrieren, muss Theo gewaltig an sich halten, um nicht vor Ungeduld auszurasten, oder einfach davonzulaufen. In der Zeit, in der Petersen seine ersten Punktierungen vornimmt, hätte Theo die Leinwand komplett mit Farbe überzogen.

Weit über den Mittag hinaus war Theo dazu verdammt, dem Alten zuzuschauen, ohne selbst den Pinsel schwingen zu dürfen. Malgerechte Kleidung hatte Petersen gesagt, von belegtem Brot oder einer Flasche Wasser hatte er nicht gesprochen und die hätte Theo jetzt gebraucht, der Alte anscheinend nicht.

 

Erst als Petersen die See, den Baum in der See, die Sträucher über dem Ufer fein säuberlich in einer Farbschicht abgebildet hatte, erlaubte er Theo das Steilufer zu gestalten und der legte gleich los, in dem er mit zwei, drei Pinselstrichen Farbe auf die noch weiße Fläche trug. „Nein, nein, tupfen, nicht schmieren,“ stoppte ihn Petersen, nahm den Pinsel wieder selbst in die Hand und tupfte, vor sich hin brummelnd.

Nun hätte man denken können, das sei das Ende der Mallektionen gewesen, war es aber nicht. Fast ein halbes Jahr lang stand Theo jeden Samstagmorgen auf der Matte, folgte Petersen, hörte zu und dachte sich seinen Teil. Längst aber hatte er begonnen mit dem, was ihm Meister Gretholm geschenkt hatte, kreativ zu werden und das erste Gemälde, das er anging, war, warum auch immer, niemand anderes als Peter Petersen, wie er hinter seiner Staffelei steht und gen Meer schaut. Nicht gepunktet, sondern in feinen und fetten Strichen, dunklen Farben aus denen nur das Antlitz Petersens hell, fast strahlend erschien. Das Bild hatte etwas Bedrückendes und etwas Erheiterndes, hätte man Theo gefragt, er hätte nicht beantworten können, warum und wie er diese Stimmungen erzeugt hatte.

Petersen war kein Lehrmeister, das wurde Theo schnell klar. Anders als Gretholm erklärte Petersen nicht, sondern kommentierte das, was er tat, sprach nur von sich und stellte selten Fragen an Theo, was diesem ganz recht war.

Und trotzdem faszinierte ihn dieser alte Sonderling, ja, das war er, so besessen wie Theo selbst, so verliebt in sein Motiv und wie er es in Szene setzte. Er lebte nur seine Malerei. Rücksicht musste er keine mehr nehmen, seine Frau vor Jahren verstorben, die Kinder verteilt im Land, zu weit entfernt, um nach dem Alten zu sehen. Nie hörte Theo eine Klage seitens Petersen, der mit sich, seinem Werk und der Welt in Einklang stand.

 

So malte und arbeitete sich Theo durch sein junges Leben, und während andere in seinem Alter Discos, Konzerte oder andere Lustbarkeiten aufsuchten, saß Theo in seiner Stube vor der selbstgezimmerten Staffelei, zum Verdruss der Eltern, denen der Geruch aus Theos Stube, aus Theos Kleidung unangenehm wurde. Und zu noch größerem Verdruss der Schwestern, die, während Theo allein die 18 qm bewohnen durfte, sich zu dritt einen Raum teilen mussten, was zu schweren geschwisterlichen Streitereien führte.

Von seinem Lehrgeld blieb ihm nicht viel, da er seiner Mutter Kostgeld abgeben musste, aber für den gelegentlichen Kauf einer Künstlerbiografie, einem Ausstellungskatalog oder einer Monografie reichte es.

Von dem Geruch wurden die Eltern und die Schwestern durch den Umstand erlöst, dass Theo gerufen wurde, um zu lernen, wie er sein Vaterland im Falle eines hoffentlich nicht eintretenden Falles, zu verteidigen hatte. Nicht heimatnah, nein, nach Bebra, oben im Nordhessischen, zu den Panzergrenadieren schickte man ihn. 15 unproduktive Monate lang durfte er das Gelände rund um die Kaserne erkunden, mehrmals umgraben, sich eingraben, die Augen auf, den Feind erspähen, abwehren, sich anbrüllen lassen, von einem Hornochsen, musste ihm unsinnig erscheinende Dinge ausführen, alles unter Gebrüll. Stundenlang laufen, schweres Gepäck auf dem Rücken. Und wozu? Dazu kamen verschärfte Wachdienste, der Linksterrorismus sorgte noch immer für Unruhe, auch in den Kasernen. Theo sah sein zu Hause und seine Staffelei nur selten.

 

Aus dem Dienst am Vaterland entlassen, musste sich Theo mit Silke, der ältesten der Schwestern, auseinandersetzen, die während seiner Abwesenheit sein Zimmer okkupiert hatte, nicht nur das, seine Malutensilien einfach in eine Kiste gepackt und diese im feuchten Kellerraum verstaut hatte. Ein lebenslanges Zerwürfnis (nicht nur deswegen) nahm seinen Lauf und Theos Erkenntnis daraus war, er musste eine eigene Wohnung finden, eine geeignete, malfreundliche Wohnung.

Gretholm, bei dem er wieder in Arbeit ging, konnte ihm eine leerwerdende Wohnung, zwei Zimmer mit breiten Fenstern, Bad und Küche, in einem der versteckten Lübecker Gänge in der Altstadt gelegen, anbieten, die sich Theo mit seinem Gesellengehalt leisten konnte, musste allerdings bis zu seiner Übersiedlung zwei Monate warten, zwei Monate, die er im Gästezimmer der Gretholms verbrachte.

Theos Abschied aus dem Matschke-Haushalt kam für seine Mutter nicht unerwartet und trotzdem überraschend und, der Auszug schmerzte sie, also weniger sie selbst als ihre Haushaltskasse, denn der Abschied hieß auch das Ende des Kostgeldes, das Theo seiner Mutter abgab und dieses Fehlen schlug eine empfindliche Lücke in den Haushalt.

Theos Mutter hatte keinen Beruf erlernt, war nie irgendwo in Arbeit und der Vater verdiente als Friedhofsgärtner gerade das Nötigste. Ab jetzt musste sein Verdienst, die Stütze des Haushaltes werden, wobei die paar Kröten, die seine Singerei ihm einbrachten, ein zu vernachlässigender Posten im Haushalt war.

Theos Kostgeld diente vor allem zur Finanzierung von Silke, die das Gymnasium besuchte und Kosten verursachte, die nur bedingt mit Bildung zu tun hatten, eher mit Einbildung. Ein Ärgernis, jedes Monatsende, wenn er die 180,00 Mark auf den Tisch legte, wegen des Geldes, des Verwendungszweckes und der dummen Kuh, die keineswegs dumm war, sonst wäre sie ja nicht auf dem Gymnasium gelandet.

Sylvia und Sabrina hatten keine Chancen auf das Gymnasium zu gehen, der familiären Finanzsituation, vor allem aber der fehlenden Intelligenz wegen. Mitunter dachte Theo für sich, Silke habe einen anderen Vater als seinen Vater, hätte aber nicht erklären können, wie dies hätte geschehen können.

 

Wie dem auch sei, Theo verstand sehr wohl, was der Verlust seines Kostgeldes für die Familie bedeutete und da Theo Theo war, beruhigte er seine Mutter in dem er zusicherte, die Familie auch weiterhin zu unterstützen. Allerdings müsse er sich erst einrichten und feststellen, was sein neues Leben ihn kostet, bevor er einen Betrag nennen könne.

Da Theo ein genügsamer Mensch war, würden sicher ein paar Mark überbleiben. Er rauchte nicht, trank nicht, benötigte keine modische Ausstattung, da er ja nie, oder nur selten ausging. Seine Ausgaben betrafen hauptsächlich Farbe, Holzlatten und Leinentücher und gelegentlich, vielleicht alle Vierteljahre, eine Schallplatte, gut, mitunter auch einmal zwei. Der Plattenspieler dazu, war seine erste Anschaffung für die neue Wohnung.

Im Hause Matschke dominierte seine Mutter über das Radio, das einzige, das die Familie besaß, und damit herrschte sie auch über den gültigen Musikgeschmack und der war nicht der von Theo. Der Käse-Holländer-Bub mit seiner Mama, Roy Black mit seinem Du bist nicht allein und wie die adretten, jungen Schnulzensänger alle hießen, diese Lieblinge aller Hausfrauen, die einen albernen, kitschigen Text nach dem anderen durch den Äther hauten, Texte, die seine Mutter beglückt mitsang, gelegentlich auch die Schwestern einstimmten und Theo aus Küche und Haus flüchten ließen.

Ganz selten, wenn seine Mutter einkaufen war, konnte er das Radio kapern, stellte AFN ein, den Sender der Amis, und hörte sich die aktuellen Titel aus Rock, Beat und Soul an. Diese Musik schob alles Alte auf die Seite, war etwas gänzlich Neues, explosives und für die Eltern bedrohliches. Sowohl Vater als auch die Mutter rannte, sobald Beatklänge aus dem Radio kamen, zu diesem und drehten ihm den Saft ab. Hottentottenmusik nannte der Vater sie.

Dass Theo die Texte nicht verstand, keine Einschränkung des Musikgenusses, vielleicht sogar gut so, denn wahrscheinlich hätten die Texte diesen nur versaut. So war der Gesang nichts weiter als ein zusätzliches Instrument.

Einen dieser neuen wilden Kerle liebte er besonders, Jimi Hendrix, nicht nur wegen dessen außergewöhnlicher Musik, seiner Art, wie er die Gitarre behandelte, nein, auch wegen des Typs selbst. Er mochte dessen Auftreten, das Aussehen, das Anderssein, dessen Bewusstsein einer großen Künstlerschaft, ohne überheblich zu wirken. Jimi war Jimi und blieb Jimi.

Den Tod seines Idols nahm Theo sprachlos, hilflos, tief trauernd auf, damals kurz nachdem er die Tischlerlehre begonnen hatte. An einen Plattenspieler war damals nicht zu denken, daran, eine Schallplatte zu kaufen, genauso wenig.

Der Gedanke, ihn auf Papier festzuhalten stieg in ihm auf, aber mehr als eine Skizze brachte er nicht zustande. Stattdessen hing er sich den Bravo-Künstlerschnitt in sein Zimmer. Mit der Leidenschaft für Hendrix war Theo ziemlich allein in seiner Schulklasse, er konnte sie auch nicht mit Detlef teilen, der die Beat-Musik nicht für mathematisch hielt, da sie keiner Logik folge, Rhythmus folge keiner Logik. Eine Ansage, die Theo nicht verstand. Na ja, so war halt Detlef. Erst mit seinem Umzug kam auch die musikalische Freiheit, uneingeschränkt zu hören, was er wollte, und diese Freiheit erweiterte sich mit der Anschaffung des Plattenspielers.

 

Während die Eltern Theos Auszug betrübt hinnahmen, waren die Schwestern hocherfreut. Mit dem Wenigen, das er besaß, zog er in seine neue Wohnung, in der ihn die Aussicht auf ungestörtes Ausleben seiner bildgestalterischen Fantasien erwartete.

Nachteilig war, er musste nun für sich selbst sorgen und das hatte er nicht gelernt und, die zum Selbstversorgen notwendigen Gerätschaften fehlten zunächst gänzlich in seinem Haushalt. Naja, er hatte ja noch eine Mutter, die stellte eine Liste auf, was sich Theo besorgen musste, entschied aber, nachdem sie Theos ratloses Gesicht sah, diese Besorgungen selbst zu erledigen.

So richtig zum Malen war er die ersten Wochen nicht gekommen. Nachdem aber alles Notwendige vorhanden und einen Platz gefunden hatte, er alles so eingerichtet hatte, wie er es wollte, konnte er sich endlich dem widmen, was Grund seines Auszuges war, dem Malen. Als ersten nahm er sich den Petersen vor, betrachtete ihn. Naja, er könnte kleinere Korrekturen und Verbesserungen anbringen, sagte sich aber schließlich, nein, das Bild bleibt, wie es ist, lächelte vor sich hin und entschied, Petersen den Petersen zu bringen.

Der Fundus fertiger oder halbfertiger Gemälde war noch sehr, sehr überschaubar. Aber beim Anblick dieses kleinen Fundus fragte er sich, was tun, wenn dieser sich vergrößern würde? Zum Aufhängen blieb ihm in dieser kleinen Wohnung nur wenig Fläche. Wie wohl Petersen mit seinen Werken umging?

Dieser freute sich wirklich, seinen ehemaligen Schüler zu sehen, noch mehr sein Abbild, dass ihm Theo überreichte und sorgsam vom Packpapier befreite. Er strahlte das Bild an, strahlte zu Theo.

„Die Technik hast du aber nicht von mir.“

„Technik ist etwas Individuelles. Ich wende an, was ich kann, mehr nicht.“

Petersen klopfte Theo auf die Schulter, lobte das Gemälde und dankte ihm herzlich dafür. Aus einem kleinen Schrank holte er eine Flasche, goss zwei Gläser voll, stieß an, auf die Kunst und Theo trank den ersten Whisky seines Lebens. Und was für einer! Aber was für einer, das wusste er nicht.

Theo fragte den Meister, was dieser mit seinen Bildern mache, seine Wohnung sei klein und wenn er erst richtig anfangen würde, hätte er bald gerade mal Platz zum Schlafen. Der Alte lachte, verkaufen müsse er, ausstellen müsse er, zur Not auch verschenken, was er ja gerade getan habe.

„Nein Theo, Malen ist harte Arbeit, und nichts zum Verschenken. Im Oktober stellen wir wieder aus. Wenn du willst, kannst du vier oder fünf Gemälde aufhängen. Es ist wichtig, Resonanz von außen zu bekommen. Die Ausstellung ist eine gute Gelegenheit. Ist die Resonanz gut, musst du einen Galeristen finden, der für dich die Gemälde anbietet. Nicht einfach hier in Lübeck, wir sind keine Großstadt, unsere Klientel ist eingeschränkt und die Galerien hängen voll. Sei penetrant, gib nie auf. Irgendwann hast du deinen ersten Verkauf.“

„Können Sie sich einfach von ihren Bildern trennen.“

„Ja. Was ich male, ist nicht persönlich, Allerweltware, romantischer Kitsch könnte man sagen. Da entsteht kein Trennungsschmerz. Weißt du, ich hatte einmal einen Kollegen, dessen beste Bilder, die waren, die er nach seiner Scheidung gemalt hatte. Landschaften, die so triste und blass waren, dass man die Depression ahnen konnte, in die der Kollege gefallen war. Er bot diese Bilder zum Kauf an und als er sie verkauft hatte, merkte er, dass er mehr als Bilder verkauft hatte, nämlich seine Trauer, sein Leiden, seine Vergangenheit, seine Gegenwart. Er setzte alles in Bewegung die Bilder zurückzuerlangen, ohne Erfolg und ich sage dir, was er danach malte, war nur noch bedeutungsloser Abklatsch. Was ich dir sagen will, Bilder, die dir persönlich wichtig sind, gebe nie aus deiner Hand.“

Hob das Glas und schüttet den 21 Jahre alten Redbreast Single Pot Still Irish Whiskey in sich, ein kräftiges Ahhh ausstoßend.

 

Nachdenklich ließ Theo seinen Blick durch die Hütte schweifen, an den Wänden standen ein paar Bilder zum Trocknen, es herrschte eine aufgeräumte Unordnung. Wo Petersen wohl seine anderen Bilder stehen hat? Von ihren gemeinsamen Ausflügen in die Natur, wusste er, dass Petersen im Nachgang mehrere Sitzungen aufwandte, um ein Bild den letzten Schliff zu geben. Wahrscheinlich bewahrte er die Bilder in seinem Wohnhaus auf.

„Können Sie von Ihren Bildern leben?“

„Leben? Theo, ich bin Rentner und lebe von meiner Rente. Die Bilder sind ein kleines Zubrot, mehr nicht. Mir ging es auch nie um Geld. Ich liebe es, zu malen, mit der Farbe zu arbeiten, die Natur zu beobachten und festzuhalten und wenn ich es mir recht überlege, nehme ich Material und Arbeitsstunden und setze sie den 300,00 DM gegenüber, die ich in der Regel für ein Bild verlange, mache ich sogar ein Minusgeschäft. Ich könnte also, selbst wenn ich wollte, nicht von meinen Bildern leben…Und du? Würdest du gerne davon leben?“

„Ich glaubte immer daran, dass ich es eines Tages schaffen würde, ohne zusätzliche Arbeit mich nur der Malerei widmen zu können, frei und ohne äußere Zwänge zu malen, wonach mir der Sinn steht.“

Der Alte wirft Theo ein mitleidiges Stirnrunzeln zu. Natürlich hätte er jetzt sagen können, ja, so habe ich auch einmal gedacht und dann ist alles anders gekommen, aber warum dem Jungen seinen Glauben nehmen.

„Es ist ein langer Weg zur Unabhängigkeit. Und vieles ist von Zufällen abhängig, vom richtigen Galeristen, dem richtigen Käufer, bis zum Zeitgeist. Wenn du den triffst, stürzen sich alle auf dich, aber den triffst du nicht einfach auf der Straße…Und du musst ein paar Voraussetzungen erfüllen. Nehmen wir das Bild, dass du von mir angefertigt hast. Es ist wunderschön. Du hast mich in eine Aura des Wohlgefühls gesetzt. Das Bild spricht und das ist gut so. Aber…der Kunstkenner sieht sofort, dass es eine schnelle Arbeit war. Deine Strichführung, der einfache Farbauftrag in dünner Schicht, keine Spuren nachträglicher Einarbeitungen oder Korrekturen, sagen dem Kunstkenner, hier ist ein Anfänger am Werk, ein Freizeitkünstler und diese Preisklasse ist schnell nach oben begrenzt. Ich will sagen, Kunst erkennst du daran, dass der Künstler lange mit dem Bild gerungen hat. Wusstest du, dass Monet zwischen zwanzig und sechzig Sitzungen darauf verwendet hat, um eines seiner Seerosenbilder zu malen? Studiere die Gemälde der großen Meister, gehe in Museen und vergleiche sie mit dem, was du malst. Du wirst den Unterschied erkennen und der heißt Geduld.“

Theo verstand, was der Alte meinte. Nein, dies war kein Geschwafel, Petersen wusste, wovon er sprach, und Theo nahm sich vor, seine Worte zu beherzigen.

 

Der Gang, in dem er jetzt wohnte, beherbergte insgesamt sechs Wohnungen, alle gleichen Zuschnittes, Relikt eines verflossenen mittelalterlichen Städtebaus, allerdings eines sehr spezifischen. Da die Lübecker Altstadt, von der Trave umschlossen, kein Raum für Ausdehnung bot, wurde Raum in den Hinterhöfen geschaffen, in diese gelangten die Bewohner durch einen schmalen Gang, der, so die Vorschrift, groß genug war, um einen Sarg hindurchzubekommen. Aus den Buden, die als erstes entstanden, wurden im Laufe der Jahrzehnte kleine Wohnungen, in denen die Hausangestellten, Tagelöhner, Laufburschen, der im Haupthaus lebenden Bürgerfamilien lebten. Später dann kamen hier auch Schifferwitwen unter, da der Lübecker Reichtum durch die Hanse mit ihren die Ostsee und darüber hinaus die Meere der Welt besegelnden Schiffe kam. Nicht jedes Schiff kehrte zurück in den heimatlichen Hafen, was hieß, Witwen und Waisen zu hinterlassen, die versorgt sein wollten.

Diese städtebauliche Besonderheit lebte weiter fort, allerdings mit veränderter Bewohnerschaft. Heute lebten zwar immer noch die eine oder andere Witwe in einer Gangwohnung, allerdings nur in den Gängen, die von einer Stiftung verwaltet wurden. Ansonsten waren die Wohnungen über den freien Wohnungsmarkt anzumieten. Begehrt bei Künstlern, Studenten oder ganz normale Mittelstandsbürgern.

Auch in dem Gang, der nun Theos neue Bleibe war, wohnten Künstler, eine Frau, die Keramiken herstellte, ein Bildhauer, der sein Atelier allerdings an anderer Stelle hatte, zwei Studentinnen sowie zwei Ehepaare in mittlerem Alter, hippiemäßig aussehend, die anscheinend davon lebten, auf Flohmärkten Sachen zu verkaufen, die sie irgendwoher organisiert hatten.

Theo, der üblichen zivilen Prozeduren nicht mächtig, versäumte es, sich nach seinem Einzug seinen neuen Nachbarn vorzustellen, die ihn fortan dafür mit schrägen Blicken straften, was ihn aber nicht sonderlich störte. Er war keiner, der Kontakte suchte oder gar brauchte. Kontakte bedeuten Fragen, Fragen verlangten Antworten und die wollte er nicht geben, nichts von sich preisgeben.

Wurde gefeiert, kamen alle Bewohner auf einer kleinen Rasenfläche am Ende des Ganges zusammen, außer Theo, dem zwar auch eine Einladung zukam, dem Feiern aber zuwider waren, nur Fressen, Saufen und dann sinnloses Gequassel. Seine Mitbewohner gewöhnten sich an den stillen Theo, grüßten, wenn ihnen danach war, mehr nicht, respektierten ihn als Sonderling, der nach Farbe roch.

Nun war es aber so, dass Theo nicht nur die Feiern wegen dem Feiern mied, sondern auch der Musik wegen. Eine der Studentinnen studierte Musik und die Geige war ihr Instrument. Wenn er sein Fenster geöffnet hielt, hörte er sie gelegentlich üben und die lieblichen Klänge des Instrumentes beförderten seine Mallust. Bei den Feiern, oder auch einfach spontanen Zusammenkünften, spielte die Studentin mit einer Freundin, die die Querflöte spielte, klassische Stücke. Theo saß dann bei geöffnetem Fenster vor der Leinwand und ließ die Musik in sich wirken. Er hatte keinen Dunst, was die Mädels da von wem auch immer spielten, aber es beschwingte sein Tun. Nicht dass er den Pinsel wie ein Dirigentenstab über die Leinwand sausen ließ, nein, seine Hand sog die Melodie auf und gab dem Pinsel ein streichendes Gefühl, das seine Striche schwingen ließ.

So fiel sie ihm auf, die Musik und die Frau. Und auch die Frau, Anke Schmitz, hatte ein Auge auf Theo geworfen, denn sie bemerkte wohl, dass beim Klang ihrer Geige Theos Fenster aufging und wenn sie dort unauffällig hineinsah, erkannte sie die bunte Leinwand und erahnte den Künstler in ihrer Nachbarschaft. Sie suchte den Kontakt, nicht Theo, der in solchen Dingen völlig ungeübt war.

 

Theo sah nicht aus wie ein Prinz, also wie die adretten Typen in verfilmten Märchen, dennoch war Theo zu einem passablen jungen Mann herangereift, trotz Sportabstinenz, gertenschlank, was vor allem den Ernährungsbemühungen seiner Mutter zu verdanken war. Saisonal und regional (damals noch kein irreführender Werbeslogan von Supermarktketten), war ihr Grundsatz oder anders gesagt, die Notwendigkeit, die Familie bei dem ihr zur Verfügung stehenden schmalen Budget, zu ernähren. Sie kaufte bei Nachbarn ein, die das Glück hatten, eine Parzelle in einem Schrebergarten bewirtschaften zu können, kaufte in Hofläden, bis diese gänzlich aus der Stadt verschwanden, kaufte auf dem Wochenmarkt, beim Bauern und somit stand Gemüse in jeglicher Form abwechselnd auf dem Esstisch.

Vielleicht waren es die Vitamine im Gemüse, die Theo einen immer braunen Teint verliehen, stets nach Urlaub aussehend, den er vor der Zeit mit Anke nicht machte, also Urlaub schon, aber ohne erholsame Reise und auch dem Sonnenbaden frönte Theo nicht. Er mochte keine Hitze, liebte den Schatten.

Hatte er in seiner Jugend die Haare lang, wie seine musikalischen Idole und nur so lange bis der Vater, Theo zum Friseur mahnte, und immer mit Scheitel, linksseitig, trug er es nun kurz, weiterhin mit Scheitel, linksseitig. Nur wenn er frisch beschnitten vom Friseur kam, kämmte er seine Haare streng nach hinten, bis ihm der Nachwuchs wieder den Scheitel aufzwang.

Seine Augen waren hell, ein helles Blau zeigend und verliehen Theo einen freundlich wirkenden, selbst wenn er verärgert war, Ausdruck, den manche, die mit ihm zu tun hatten, falsch bewerteten, da sein Mund immer aussah, als würde er leicht Schmunzeln, was ihm bei seinem Soldatensein mitunter Ärger eintrug („Machen Sie sich lustig über mich?“ „Finden Sie meinen Befehl zum Grinsen?“). Aber Theo war halt so, beschenkt mit einem sonnigen Gemüt und einer verdruckten, fast schamhaften Schüchternheit. Es war aber nicht unbedingt Theos Aussehen, eher diese Ausstrahlung, die Anke so anzog.

 

Und so sprach sie ihn eines Tages, nach mehreren dezenten Versuchen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu richten, an, bei einem, natürlich rein zufälligem, Zusammentreffen vor dem Laden für Hobbyausrüstungen, den Theo regelmäßig frequentierte. Ob er Künstler sei, wollte sie wissen, weil er ständig Farben kaufe, und sie sei seine geigende Nachbarin. Sie lud ihn zu einem Kaffee in einem Café ein, sprachen, wobei es Anke war, die sprach, ihm erzählte, dass sie an der Musikhochschule studiere, die Geige ihr Lieblingsinstrument sei und sie hoffe, nach dem Studium in ein Orchester aufgenommen zu werden. Das sein Urgroßvater ähnliche Ambitionen hatte, erwähnte Theo nicht, hörte ihr zu, schaute ihr in die Augen und hatte das Gefühl, ihre Stimme ähnele ihrem Geigenspiel.

Wie Theo kein Prinz, war Anke keine Prinzessin (für ihren Vater schon), die als Schönheit zu bezeichnen wäre, leicht füllig um die Hüfte, was bei ihrer Größe, die gleichauf mit der Theos war, nicht besonders auffiel, hatte brünettes, welliges kurzgeschnittenes Haar, kräftige Wangen, mit Sommersprossen besprenkeltes Gesicht, kleine, rundliche Nase und eine freundliche Ausstrahlung, selbst wenn sie nicht lächelte, mit einer gewissen Ähnlichkeit zu Theo.

Theo gestand ihr, wie sehr ihre Musik seine Malfreude ansporne, wie quasi der Geigenbogen seinen Pinsel führe, was Anke wie eine Liebeserklärung aufnahm.

Sie trafen sich nun öfter, Anke durfte sogar ohne Vorankündigung in Theos Wohnung eintreten. Sie kamen sich näher und irgendwann landete Anke auf Theos Leinwand, zunächst noch züchtig, Anke an einen Fensterrahmen gelehnt, sinnlich aus einem Fenster blickend, draußen blättertragende Bäume, in die er sein Konterfei mogelte, wie auf der Aquarellzeichnung von Gretholm. Allerdings nahm er mehrere Anläufe sein Konterfei verdeckt zu verstecken, mal zu deutlich, mal nur zu erahnen. Er bekam es aber hin, Anke benötigte erst Theos dezente Hinweis, um zu sehen, was da so gut wie nicht zu sehen war, freute sich aber umso mehr über dieses Bild. Und kurze Zeit später lag Anke hüllenlos auf einem Bild, klassisch auf dem Sofa posierend, verträumter Blick, leicht verschämt nach der Seite blickend, einen roten Seidenschal über ihrer Scham liegend. Anke fand das alles unglaublich erotisch, nicht unbedingt das Bild, aber den gesamten Entstehungsprozess.

Gut, die praktische Erotik folgte dann auf dem Fuß, eine neue Erfahrung für Theo, die aber zunächst keine Folgen auf seine Motive hatte, nur auf seinen persönlichen Status, die beiden entschieden sich, sich das Ja-Wort zu geben, standesamtlich, nur standesamtlich.

Ankes Eltern, der Besuch und die Vorstellung war notwendig, waren wenig begeistert von der Wahl ihrer Tochter, zumal noch nachwirkte, dass Anke nicht den juristischen Pfad des Vaters eingeschlagen hatte, sondern das studierte, was viele Leute auf der Straße vorführten, wie ihr Vater meinte. Der Vater, angesehener Staatsanwalt, die Mutter Redakteurin in der Nachrichtenredaktion des NDR hatten nicht mit einem Maler, der malt, gerechnet, für ihre Tochter. Noch dazu einer, der Gottes Existenz leugnete, nicht vor den Altar Gottes treten wollte und die Tochter in dieses, wie Ankes Vater es nannte, subversives Milieu zog. Er nahm es Theo übel, nicht seiner Tochter, dass nicht er, der Vater, der Zeuge der Trauung sein durfte, sie nicht, wie in seiner Vorstellung erhofft, seine Tochter durch die Kirche, vorbei an staunenden, ausgewählten Gästen, bis zum Altar führen durfte. Noch nahmen Anke und Theo es gelassen hin, dass über ihrer Beziehung eine tiefe Ablehnung lag, erkannten nicht das Gift, dass im Laufe ihrer Ehe zunehmend belastend auf diese drückte.

Bei Theos Antrittsbesuch wirkten Ankes Eltern irritiert und selbst ihrem Lächeln war anzusehen, wie sehr sie sich mühten, ihre Enttäuschung zu verbergen. Theo spürte die Kälte, die von den beiden ausging und nur Anke zuliebe, erduldete er bei einem steifen Essen die Spitzen, die Ankes Vater auf ihn schickte, Theo Fragen stellte, als sitze er als Angeklagter im Gerichtssaal. Zwar sagte sich Theo, er würde ja die Eltern nicht heiraten, dumm nur, dass sie aber unumgängliche Beigabe waren.

 

Die Hochzeitfeier fand in kleinem Rahmen statt. Der Standesbeamte leierte seinen eingeimpften Text herunter, sie sagten beide ja, womit der offizielle Teil zügig vonstattenging. Sedar war Theos Trauzeuge, ein Affront für Ankes Vater, Jaqueline Soussey, Ankes französische Freundin, war ihre Trauzeugin vor dem Standesbeamten. Der Traum von Ankes Eltern von einer pompösen weißen Hochzeit war in einer kurzen Zeremonie aufgegangen.

Valea und Petter mit ihren Frauen, Theos Eltern, nicht aber, sehr zum Verdruss der Eltern, Theos Schwestern, Ankes Eltern sowie der Bruder von Ankes Vater und dessen Ehefrau waren zusammengekommen, um einen gemeinsamen Nachmittag und Abend in einem Lübecker Traditionslokal, das Ereignis zu feiern, wobei Feiern nicht korrekt war, es war einfach ein schlichtes Beisammensein. Die jüngeren Leute saßen für sich, die Elternteile fanden kaum zueinander, es fehlte ein gemeinsames Thema, dass das Wetter nicht hergab, kein Dauerthema. Ankes Mutter unterhielt sich fast ausschließlich mit ihrer Schwägerin, der Vater mit seinem Bruder. Nein, Ankes Eltern waren alles andere als in Feierstimmung, sehr zum Verdruss von Anke, die dies aber mit einem Dauerlächeln überspielte.

Theos Mutter begann schließlich mit den Schmitz von der Familientradition der Matschkes zu reden, von den künstlerischen Ambitionen der Theophils, die über peinliche Versuche nicht hinausgingen und meinte, ihr Theophil (Wieso Theophil, dachte Ankes Vater) habe wenigstens eine echte Künstlerin gefunden, was Ankes Vater schmerzlich zur Kenntnis nahm. Verschwendung, dachte er, welche eine Verschwendung.

Und Theos Vater schmollte, nicht weil seine Frau ihn und seine Vorfahren schmähte, nein, weil sich Theo jede musikalische Einlage seines Vaters verbeten hatte und er doch so ein schönes Lied, eigens aus dem Anlass der Trauung, eingeübt hatte.

Ankes familiärer Anteil an der Feier verabschiedete sich frühzeitig, mit dem Verweis auf die lange Wegstrecke zurück, als gäbe es keine Hotels in Lübeck. Anke begleitete ihre Eltern bis zum Ausgang des Restaurants, Theo einige Schritte hinterdrein, in gebührendem Abstand, hörte, wie sein Schwiegervater zu Anke sagte: „Du hast einen schweren Fehler gemacht, mein Kind.“ Und Anke antwortete: „Papa, das ist Liebe, kein Fehler.“

Die anderen Gäste blieben noch, waren nun quasi unter sich, aber eine gewisse Anspannung war spürbar, niemand wollte im Beisein von Anke das abweisende Verhalten von deren Eltern thematisieren. Valea und Sedar hatten mit ihren Fragen Zeit bis Montag.

Theo und Anke waren nun Mann und Frau, was zunächst nicht viel Veränderung mit sich brachte. Sie waren sich schon vor der Heirat einig, vorerst nicht aus ihren Wohnungen auszuziehen, in Ankes Wohnung zu leben und Theos Wohnung als Atelier zu nutzen, in der nun öfters Ankes Geige erklang.

Schon bald nach ihrem ehelichen Zusammensein begann Theo aber zu verstehen, in was er sich hineinbegeben hatte. Ankes finanzielle Mittel waren sehr eingeschränkt, nachdem die Eltern beschlossen hatten, ihre Zuwendungen an Anke einzustellen, zumindest väterlicherseits. Zwar immer noch Studentin, aber Ehefrau, sollte doch der Anstreicher für sie sorgen. Theo hatte ein kleines Einkommen, von dem beide nun leben mussten. Logischerweise erwuchsen bei Anke aus dem Zusammenleben Bedürfnisse, die Theo bisher fremd waren. Lass uns shoppen gehen! Ein Fernseher, den Theo nicht hatte, wohl aber Anke, halt nur ein kleiner, musste her, groß und bunt. Theo musste, Anke hinterher, ihr in Klamottenläden folgen.

 

Lass uns ausgehen! Ins Kino, ins Theater, in Museen, in Konzerte, alles Dinge, an denen Theo nicht das geringste Interesse hatte. Kino! Auf Anke wirkten die Filme mit den Sternenkriegen wie ein Magnet. Sie saugte die Filme auf und Theo verstand nicht warum. Ihn langweilte diese alberne Geschichte, diese seltsamen Kisten, die durch das Universum schlichen, und diese schrägen Gestalten, die ihn an die Märchengestalten seiner Kindheit erinnerten und dann, dieses ständige Geballer, Hauen und Stechen, als gäbe es nicht eben solches zuhauf in der Realität dieser Welt.

Konzerte! Natürlich ein Muss für Anke, nicht für Theo. Zu klassischer Musik fand Theo keinen Zugang, mit ganz wenigen Ausnahmen, wenn sie ihn an Ankes Geigenspiel erinnerten, aber dies kam nur zufällig vor.

Theater! Festgezurrt auf harten Stühlen, das hochgestochene Gequatsche fremder Leute anhören. Worte, die Theo nur bedingt verstand. Opern! Warum singen die? Können die nicht einfach miteinander reden? Gut, als kleiner Junge schleifte ihn seine Mutter zu den Veranstaltungen, bei denen der Vater seine Sangeskunst einbrachte, beim Shanty-Chor, dem Liederkranz, den Konzerten und Opern, von denen der Vater ein Teil war, eins ehr kleiner Teil. Sein Vater fragte nach jedem Einsatz: Und wie war ich? Mutters Standardantwort war: „Theophil, dort oben stehen 30 Mann, wie soll ich da hören, wie du klingst?“

Und Vater war danach immer stundenlang verschnupft. Irgendwann, als die Mädels da waren, blieb Mutter zu Hause und Theo es erspart, quälend langweiligen Darbietungen zu folgen. Und nun wurde ihm dies wieder abverlangt.

Zu viel, nein, zu viel für Theo. Gut Museen waren schon eher etwas, was Theo auch interessierte, aber mussten sie deshalb bis Hamburg oder Hannover und noch weiter wegfahren? Gut, London und Paris waren ein Erlebnis, nicht die Städte, nein die Museen.

Der Louvre in Paris, gewaltig. Zwei Tage durchstreifte Theo die Räume, lächelte natürlich Mona Lisa an, wobei, warum die Menschen so verrückt auf dieses Lachen waren, wollte er nicht verstehen.

 

Anke zog Theo zwei Tage durch Londons Museen: das Modern Tate, das Tate Britain, das British Museum, National Gallery of Art, Theo immer hinterher. Alles sehr interessant, aber Theo fühlte sich von keinem der angesehenen Bilder und Künstler inspiriert, da war zu viel sakrale Malerei, Madonnen mit Kind, darauf stand er überhaupt nicht. Andererseits gab es Selbstverherrlichungsbilder früherer Adelsgeschlechter, Helden der Geschichte Britanniens, alles schön anzusehen, Zeugen der Vergangenheit. Und irgendwann war seine Aufnahmefähigkeit und -lust erschöpft, während Anke, geleitet von ihrem Baedeker, Bild für Bild abarbeitete, die dieser empfahl.

Nur im Tate Britain war nichts mehr mit ziehen, Theo blieb einfach sitzen, Anke war nach kurzer Zeit an seiner Seite weitergegangen mit dem Hinweis an Theo, es gäbe noch mehr in diesem Haus zu sehen, gab, nachdem sie wieder zurück war, auf, ihn aus dem Raum zu bewegen, ging zurück ins Hotel, ließ Theo sitzen. Der verharrte wie hypnotisiert vor den Gemälden von William Turner, fasziniert staunte er diese malerische Urgewalt dieses Künstlers an, diese Lichtexplosionen, diese Detailversessenheit. Die Räume der Turner-Collection waren aufgeteilt in die Schaffensphasen des Malers, seine Reisezeit in Italien, wo er lernte den Himmel und das Licht über Italien für sich zu nutzen, Reisen in Deutschland, seine Zeit in den Niederlanden, in Frankreich, der Schweiz, aus denen die lichtdurchfluteten Landschaftsbilder entstanden, die ihrer Zeit voraus waren. Turner wanderte bei seinem Streifzug durch Europa nicht, wie Petersen, mit einer Leinwand und einer Staffelei durch die Landschaft, er bediente sich eines kleinen Notizbuches, das er mit Skizzen seiner Eindrücke vollkritzelte und sie, für Theo nahezu unglaublich, in teilweise großformatige Gemälde übertrug, angefüllt von einer Flut an Details, die von einer überschäumenden Fantasie gespeist wurden.

Die Seebilder, einfach faszinierend, wie er Urgewalten einfing, Katastrophen malte, den Mensch gemahnend, demütig der Natur gegenüber zu sein. Turners Bilder waren nicht gefällig, nicht dem Geschmack der Zeit unterworfen, zumindest die Bilder, die er ohne Auftrag malte. Auch er malte Earls und Lords, in Maßen und der Zeit entsprechend, dem Auftraggeber zu gefallen. Er erlaubte sich Kritik, stille Kritik an dem technischen Fortschritt, malte eine die Natur mit Qualm einhüllende Eisenbahn. Sein Bild Die letzte Fahrt der Temeraire" von 1839, eine von Wehmut begleitete Fahrt, lebend aus dem Kontrast des Seglers und des Dampfschiffes, der Fortschritt fährt das Alte zum Abwracken. Die Geschichte der Temeraire hatte Theo in einem Bildband zu Turner gelesen, jetzt vor dem Bild zu stehen, ließ Schauer über seinen Rücken laufen.

Nein, an diesen Großen wird Theo nie heranreichen. Nun, dies war auch nicht seine Absicht, genau so wenig, wie er die Reisetätigkeit eines Turners nacheifern würde. Andere Zeiten damals, ohne Fernseher, ohne Kino, ohne mit Hochglanz-Fotos bestückte Fachzeitschriften. Die Welt musste man sich mit den Füßen oder der Kutsche erobern. Es gab so viel Neues zu sehen, zu entdecken oder wieder zu entdecken, was seinen Weg auf die Leinwand fand. Heute ist selbst der letzte Winkel dieser Welt offengelegt, dokumentiert, in Film gebannt. Entdeckungen gab es nur noch am Meeresgrund, nur geben die keine Bilder ab.

Theo grübelte, was er wohl lernen könnte, von diesem genialen Kollegen, sagte sich aber, nein, er wolle nichts lernen. Er war Theo und Theo musste seinen eigenen Weg gehen oder malen. Im blieb nur, diesen Meister zu bewundern und, naja, seine Art Licht in Szene zu setzen, mittels Licht Szenen zu gestalten, darin wird er sich üben.

 

Die Museumsaufsicht war auf den seit Stunden wandelten und wieder verharrenden Theo aufmerksam geworden. Sie ging auf ihn zu, fragte etwas, was Theo nicht verstand, er lächelte die ältere Frau nur überglücklich an, sagte, er sei German und don‘t unterstand the englisch. Ah, machte die Frau und betrachtete Theo irgendwie mitleidig. Die Frau wollte etwas sagen, vielleicht erklären oder ihn auf etwas aufmerksam machen. Er verstand sie nicht, fühlte sich in seiner Innigkeit mit Turner gestört, gestand sich aber schnell ein, nein, so ist das nicht. Er spürte Hilflosigkeit. Schon als Anke im Museumsshop eine Broschüre zur Turner-Collection gekauft und ihm gereicht hatte, war ihm diese Hilflosigkeit unangenehm aufgestoßen.

Nicht in der Lage, die ihm fremde Sprache zu verstehen oder zu lesen, was Anke keinerlei Probleme machte. Hilflosigkeit, Abhängigkeit, Unterlegenheit, da schlich sich etwas in ihre Beziehung, etwas Zerstörendes. Alles hier war genau wie in Paris, die Fahrt hatte Anke organisiert, das Einchecken im Hotel, die Bestellungen in Restaurants, das Kaufen der Tickets, das Übersetzen der Erklärungstafeln in den Museen und all das andere, bei dem Theo, stumm neben Anke stand, die machte und handelte, damit er wenigstens etwas von dem verstand, was er sah und hörte.

Er erinnerte sich an ähnliche Situationen im Beisein von Ankes Eltern, oder wenn Anke Freundinnen zu Besuch hatte, oder sie diese besuchen gingen. Immer stand er im Abseits, die Gesprächsinhalte blieben ihm fremd, ganz andere Themen als die, die er mit Sedar oder Valea besprach. Schmerzlich wurde es für ihn, wenn Ankes Vater hörte, dass Anke und Theo im Theater waren und Ankes Vater wissen wollte, wie Theo das Stück empfunden habe, den Fragen, die der Vater stellte, nicht gewachsen war, merkte, dass sich der Vater einen Spaß daraus machte, ihn vorzuführen.

Theo war aber nicht blöd, er begriff sein Dasein immer deutlicher, verstand sogar, warum Ankes Vater so unglücklich über die Wahl seiner Tochter war. Anke und Theo kamen aus zwei unterschiedlichen Welten und nur der gemeinsame Sex reichte nicht aus, die immer fühlbarere, Theo einschüchternde Diskrepanz, zu überdecken.

 

Zwangsläufig musste sich diese Spannung irgendwann entladen und dies kam dann auch. Anke wollte Urlaubsreisen machen, beschrieb Theo all die Reisen, die sie mit ihren Eltern gemacht hatte, Ägypten, Iran, Jordanien, Amerika, Griechenland, Marokko und die anderen Länder, die Theo dem Namen nach kannte und nur oberflächlich über die Türkei und Rumänien hätte mitreden können. Da Theo nur zögerlich einer Urlaubsreise zustimmte, entschieden sie, für einen ersten Versuch, nach Frankreich zu fahren, in die Bretagne. Wieder war es Anke, die mit ihrem Französisch, das dem der Einheimischen in nichts nachstand, alles organisierte, was es zu organisieren gab, Theo erneut der Statist, das Anhängsel seiner polyglotten Frau.

Und dann dieses nutzlose, zeitfressende Herumliegen, eingeschmiert mit Sonnenschutz, auf dem der juckende Sand eine ideale Grundlage fand, eine Anke, die ständig ins Wasser rannte, wieder zurück, sich einschmierte, die Sonne anstarrte und alles wieder von vorne. Was für eine Zeitverschwendung.

Theo weigerte sich fortan den Strand aufzusuchen, ging stattdessen mit einem, durch Turner inspiriert, DIN-A4-Skizzenbuch der Küste entlang, morgens aus dem Hotel, spät abends zurück und entwarf Skizzen, von denen er nicht wusste, ob er sie je umsetzen würde. Die Küste hatte schon etwas Prickelndes, rau, bizarr, eine Steilküste, die getrost so heißen durfte, wirklich steil, das anrollende Wasser geräuschvoller als zu Hause die eher lahme Ostsee.

Beim Anblick dieser Küste kam ihm TurnersFelsenbucht mit Figuren“ in Erinnerung. Ein unvollendetes Gemälde, das durchaus hier während seines Frankreichaufenthaltes seinen Ursprung gehabt haben könnte. Er skizzierte, was er sah, war sich aber sicher, die Skizzen nicht in Öl umzusetzen, dass hatten alle die anderen schon vor ihm getan. Er ging in die küstennahen Dörfer, fand in die Landschaft geduckte Häuser, bunt bemalt, pittoresk anmutend, von Hortensien umkränzt. Und er fand alte Menschen, vor diesen Häusern sitzend, deren Gesichter sonnengegerbt, ledrig in der Abendsonne strahlten. Die hielt er fest, bedankte sich bei seinen unfreiwilligen Modellen, die froh waren, einmal nicht mit dem Foto, sondern dem Bleistift festgehalten worden zu sein.

Diese Ausflüge und daraus resultierend ihr Alleinsein führte zu einem Streit bei dem Anke Theo Realitätsflucht, Weltfremdheit, Ignoranz, Kulturbanausentum und noch Schlimmeres vorwarf. Theo hörte sie geduldig an, ließ die Kanonade über sich ergehen und fragte sie, nach dem Anke in ihrem Eifer etwas nachgelassen hatte, ganz ruhig: „Haben wir einen Fehler gemacht? Nicht verstanden, welche Leben wir führten?“

„Ja,“ meinte Anke, „es war ein Fehler. Du bist der Fehler.“

Womit das Ende ihrer Ehe ihren Anfang nahm.

 

Alle diese neuen, gemeinsamen, nicht-alltäglichen Aktivitäten hatten eines gemeinsam, sie raubten ihm Zeit, Zeit, die er gerne vor seiner Leinwand verbracht hätte. Selbst die Inspiration, die Idee für ein neues Gemälde, wollte ihm nicht mehr einfallen. Das Grübeln nach einem Motiv brauchte seine Zeit, und die fehlte ihm.

Geh allein! war schließlich seine Reaktion, wenn Anke ihn aufforderte: Komm!

Seine persönliche Freiheit war dahin, all diese Erwartungen, die an ihn gestellt wurden, die nicht seine Erwartungen waren, begannen ihn zunehmend zu stören und ließen die Risse in ihrer Beziehung immer breiter werden. Er fühlte sich zunehmend fremdbestimmt. Konnte nicht mehr seinem eigenen Willen folgen. Ungeübt im Austragen von Konflikten wählte er, um Streit aus dem Weg zu gehen, den inneren Rückzug. Nur, damit ließen sich die gegensätzlichen Lebenserwartungen aber nicht harmonisieren. Im Gegenteil.

Mit Ankes Studien-Abschluss stand das Thema an, wo sie mit ihrer Geige unterkommt, um ihr eigenes Geld zu verdienen, denn das wollte sie, eine eigene Karriere. Irgendwann, nein, möglichst schnell, wollte sie die erste Geige spielen. Das Lübecker Orchester war gut besetzt, auch Kiel konnte sie vergessen, was blieb war Hamburg oder Hannover oder, unvorstellbar, noch weiter weg.

Sie bewarb sich in alle Richtungen und kam schließlich, dankt der helfenden Hand ihrer Mutter, beim NDR-Symphonieorchester unter, wobei Theo der Verdacht beschlich, dass die Wahl und die Unterstützung durch die Mutter, die späte Korrektur des Fehlers war, des Fehlers ihn zu heiraten.

Zu den nicht-alltäglichen kamen die alltäglichen Misslichkeiten hinzu. Die Stelle in Hamburg hieß für Anke, von Lübeck nach Hamburg zu pendeln, spät heimzukommen, den schlafenden Ehemann vorzufinden, in einer Wohnung, in der der Ölgeruch zu Hause war, der Anke immer öfter Kopfschmerzen verursachte, sagte sie zumindest, hieß, allein in der eigenen Wohnung zu schlafen.

Der Ehemann bereits weg, zur Arbeit, wenn sie zwar noch unausgeschlafen, aber dennoch gerne mit ihm gefrühstückt hätte. Wenn Theo von der Arbeit zurückkam, aß er müde und meist mürrisch zu Abend und zog sich in sein Malzimmer zurück. Die Streitigkeiten nahmen zu, wurden böswilliger, gehässiger, das beiderseitige Verständnis löste sich auf.

Anke blieb eines Tages über Nacht in Hamburg, was sich in Folge, ohne Reaktion von Theo, wiederholte, aus einem wurden mehrere Tage, schließlich eine Woche. Anke sagte ihm schließlich, dass sie sich von ihm trennen werde und ganz in Hamburg bliebe. Ob sie zu ihren Eltern ging, verneinte sie. Anke war über das Verhalten ihres Vaters noch immer verärgert und würde ihm den Triumph, recht in seiner Einschätzung gehabt zu haben, nicht gönnen. Gut, Theo fragte nicht weiter nach, war halt so.

 

Theo nahm es hin, nicht wissend, ob er froh sein sollte, nun wieder für sich zu sein, oder traurig, über den Verlust eines gewohnten Zusammenseins. Theo stimmte ohne Gegenwehr der Trennung zu, schenkte Anke die drei Aktgemälde, die er von ihr angefertigt hatte, die sie nahm, zu Regina, der Keramikkünstlerin, ging, und deren Brennofen nutzte, die Gemälde, kleingeschnitten, in ihm zu verbrennen. Theo selbstverständlich entsetzt, ein nicht erwartetes Ausmaß an Hass spürend. Das Fensterbild wollte er ihr erst ebenfalls überlassen, behielt es aber dann doch für sich und rettete es so vor der wahrscheinlichen Vernichtung.

Der Einzige, der von der Trennung tief erschüttert war, war Theos Vater, der gehofft hatte, die nächste Generation Theophils würde bald ins Leben treten. Er wusste nicht, dass Theo für sich entschieden hatte, keine Kinder zu zeugen, Anke verhütete und um ganz sicher zu gehen, zog Theo zusätzlich ein Kondom über. Und sollte dennoch etwas schief gehen, warum auch immer, sich eine Schwangerschaft ergeben würde, und ein Junge zu Welt käme, hätte er diesen nie und nimmer Theophil genannt.

Anfangs der Trennung dachte er, er habe seinen Freiraum wiedergewonnen und nahm sich vor, diese nicht noch einmal leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Aber Theo war nicht frei, auch wenn er nun ein paar Freiheiten mehr hatte. Mit jedem Tag allein sein, krochen Gedanken in ihn, die das Gewesene heraufbeschworen. Bestimmte Dinge fing er an zu vermissen, vor allem ihr Geigenspiel, ihre Stimme, die Gemeinsamkeit in der Küche, wenn sie versuchte, ein Essen zuzubereiten und meist selbst an einfachen Dingen scheiterte, das gemeinsame Lachen darüber. Er begann Anke zu vermissen, was auf seine Stimmung drückte.

 

Vor der Leinwand sitzend, malte er das erste Bild nach der Trennung. Ein Bild, von dem er nicht wusste, wie er auf das Motiv gekommen war, es war einfach hochgekommen, in seinen Kopf eingedrungen und wollte Gestalt werden auf der Leinwand, auf der nach und nach ein Mohnblumenfeld entstand, leicht behügelt, wie Wellen aussehend, die knallroten Köpfe mit ihren schwarzen Fruchtkapseln, in nur leicht variierenden Rottönen, smaragd-grüne Stängel, verdeckt von den Blüten und mitten in dem roten Meer platzierte er ein Kind. Ein Kind von vielleicht einem Jahr, nackt, bis auf die Pampers, die es trug. Fast weiß der zarte Körper, verletzlich, mit herabhängenden Armen, anscheinend unwissend, was es in diesem Feld zu suchen hatte. Der Blick des Kindes ist auf den Betrachter gerichtet und bei genauem Hinsehen ist zu erkennen, dass die Lippen des Kindes leicht geschürzt sind, als wäre es wütend. An diesem Ausdruck hatte Theo tagelang gefeilt und auch sonst ließ er sich für seine Verhältnisse viel Zeit, das Gemälde weiter in Nuancen zu verbessern. Je öfter und länger er auf das Bild schaute, desto weniger verstand er, was er da gemalt hatte. Nicht wie üblich in der Strichtechnik, nicht schnell, nein, ganz langsam, über mehrere Sitzungen hinweg und hochkonzentriert hatte er gemalt. Richtig gemalt. Eine neue Erfahrung, die ihm gefiel. Petersen würde es freuen.

Er schrieb es seiner Stimmung zu, dem Fehlen von Anke und ihrer Geige, die lieblichen Töne der Geige, die so oft seinen Pinsel geführt hatten. Ja, ihm fehlte die Musik, die eine CD nicht ersetzen konnte, denn die Geige war eins mit Anke. Warum hatte sich ihre Beziehung so entwickelt, wie sie sich entwickelt hatte? Wegen ihm? Ja, weil er nur an sich gedacht hatte, nur auf seine Bedürfnisse bedacht. Er war der Fehler, da hatte Anke und ihr Vater recht.

Mit Ankes Abschied aus seinem Leben reduzierte sich die Außerhauszeit auf ein Minimum, keine Konzerte, kein Theater, keine Reisen sonst wohin, nur gelegentlich ein Museumsbesuch, im hiesigen, nicht in einem auswärtigen Museum. Ausgehen, in einen Club oder ein Restaurant, vorbei. Naja, ab und zu besuchte er Röbeles Imbiss, in der Mittagspause. Sein Leben verdichtete sich auf seine vier Wände, im Gang, hinter der Mauer, vor seiner Leinwand, seiner Couch, auf der er in den Abendstunden gerne lag und in Ausstellungskatalogen oder in Monografien schmökerte, nicht um zu lesen, sondern die Bilder von Turner, Kokoschka, Feininger, Nolde, den Impressionisten aus Worpswede zu betrachten. Naja, eigentlich zu lesen, denn alle diese Bilder hatten eine Geschichte zu erzählen, je nach Fantasiegrad des Betrachters. Nach und nach verließ Anke seinen Kopf und kehrte erst später wieder dorthin zurück, je intensiver Einsamkeit, Wehmut und Verlust spürbar wurden.

 

Theo war bisher nicht festgelegt in seinem Schaffen, oder anders ausgedrückt, er hat keinen eigenen Stil, kopierte, wilderte in fernen Epochen, bei verblichenen Künstlern, wechselte die Motive und vermochte mit seinen Gemälden nichts anderes auszudrücken, als farbige Vielfalt mit wechselnden Motiven und Titeln.

Er variierte von Genremalerei zu Stillleben, von Portraits zu Historiengemälden, in denen nicht allzu viel Historie einfloss, da er für filigrane Schlachtengemälde nicht genügend Fingerspitzengefühl und Geduld aufbrachte. Er malte pralle, farbenfrohe Landschaften, die See, in allen möglichen Zuständen. Alles, was er auf die Leinwände brachte, ließ sich nicht als gegenständlich bezeichnen.

„Meine Bilder sollen nicht abbilden, sondern die eigene Fantasie beflügeln,“ war sein einfacher Standardspruch, wenn ihn jemand, was selten vorkam, nach der Aussage eines Gemäldes fragte.

Trotzdem, das Gegenständliche war die Voraussetzung seines Tuns. Theo war keiner der rausgeht, wie ein van Gogh, ein Friedrich, ein Gauguin, der gleich in die Südsee schiffte, der sich in die Düne, die fast vor Theos Haustür lag, setzte und das, was er sah, abmalte. Und ein Petersen war er erst recht nicht. Seine Wanderungen in der Bretagne geschahen eher aus der Tristesse des Strandliegens, denn aus einem Bedürfnis ein Naturaugenblick einzufangen.

Viel lieber nutzte er Vorlagen aus einem Ausstellungskatalog oder einer seiner Monografien, Fotografien, Postkarten, Fotos aus dem Familienalbum, um seine Motive daraus zu generieren. Mitunter wurde er durch einen Bericht in einer Zeitschrift, einer Meldung im Radio oder Fernsehen, insbesondere wenn diese von einer Katastrophe berichteten, angeregt. Dann entstanden wüste, düstere, apokalyptisch anmutende, vor Farbe strotzende Bilder. Aber ein Stil, ein eigener Stil war dies nicht, oft bestimmte der Zufall, was er auf die Leinwand brachte.

Aber das Mohnblumenfeld war kein Zufall, es kam aus ihm heraus, also musste er auf, musste in sich hören, seine Motive zu finden. Sein nächstes Bild skizzierte er zunächst mit dem Kohlestift auf die Leinwand, aus Unsicherheit, wohin ihn seine Grundidee führen würde, die Fantasie einer brandenden Meeresgicht, sturmgetrieben, sich ballende, aufquellende Wolken. Beängstigend düstere Wolken, Unheil verkündend, türmten sich am Horizont. Die Sonne brach sich durch einen kleinen Spalt in den Wolken, warf kurz einen Strahl auf zwei Menschen, die am schmalen Strandstreifen, weit auseinander stehend, vage als Mann und Frau zu erkennen, in die Kulisse dieses gewaltigen Naturschauspiels blickten. So bestrahlt warfen die beiden Schatten auf den Strand, Schatten, die aufeinander zuliefen, sich irgendwann oder nie erreichen werden, den Betrachter sicher verwirrend, eine Unmöglichkeit, in der die Möglichkeit verborgen lag.

 

Seine frühen Bilder waren emotionsfrei, gut, ein paar Emotionen flossen schon ein, aber fast alle Bilder waren einfach so gemalt, ohne inneres Zutun. Nun aber flossen seine Gefühle über die Leinwand, Larmoyanz, Trauer, Wehmut, Sehnsucht, Freude, jeder Farbauftrag, gedanklich wohl abgewogen, jedes Betrachten des entstehenden Bildes, erzeugte Gefühle, war entstanden mit Gefühlen. Musste er erst den Verlust erleiden, um diese Gefühle zuzulassen? Ist Leiden ein Antrieb für Kunst?

Plötzlich störte ihn die Musik, die bisher sein Malen begleitet hatte. Hendrix, Cream, Led Zeppelin und all die anderen Bands seiner Kindheit, seiner Jugendzeit, deren musikalische Produkte er sich nach und nach hatte angeschafft, passten nicht mehr, sie harmonierten nicht mehr mit den Gefühlen und seinem Malstil. Waren zuvor die Drums eines Charly Watts, eines Ginger Baker, Keith Moon die Taktgeber seiner Pinselführung, so störten diese nun das erinnernde, sanfte, langsame auftragen der Farben. Aber ohne Musik fehlte etwas. Ankes Geige! Schuberts Klassische Werke war die einzige Klassik-LP, die er besaß und Anke hatte alle anderen LP‘s, die ihr eigen waren, mitgenommen. Also wird er morgen losziehen, sich Tonträger zu kaufen, auf denen die Geige die Dominanz hatte.

 

Theo stand auf, schlich durch das enge Zimmer, überlegend, welche Farben er nutzen sollte, setzte sich wieder, mischte blaue Farbe an, dunkles Blau, wusch den Pinsel aus, setzte gelbe Farbe daneben und etwas brillant-weiße Farbe. Ja, mit diesen Tönen wird er weiterarbeiten, nur diese drei Farben, die Figuren in dunklem Blau, den Strand in einem helleren Blau, ein paar Grautöne dazwischen, den Himmel setzte er in Wolkenungetüme, in weißen, schwarzen und grauen Tönungen, das Meer in allen mögliche Blauvarianten, die Kronen der Wellen, grau und weiß betupft. Schließlich, gelbstichige Strahlen, unheilvoll wirkend, die sich aus den Wolken schälten bis hinunter zum Strand und diesen in diffuses, gelblich-blaues Licht tauchten.

Er taufte das Bild Seeeinsamkeit, setzte sein TM unten rechts in die Ecke.

Nachdem er den letzten Strich gesetzt hatte, wischte er den Pinsel an einem alten Lappen ab, stellte ihn in das Glas mit dem Verdünner, schlug die Arme übereinander und starrte das Bild an, von dem der herbe Geruch der Ölfarbe abstrahlte. Hier und dort musste er noch Farbe nachsetzen, an sich war das Bild fertig. Zufrieden mit sich, ließ er das Bild auf sich wirken. Ja, er wollte es nicht so, aber das Bild drückte genau die Stimmung aus, in der er sich befand. Der Verlust von Anke hatte Spuren in ihn gefurcht. Anke!

Und damit schälte sich das nächste Bild aus seinem Kopf. Er wird ein Portrait Ankes mit Geige malen, es ihr schicken, ihr danken und sich bei ihr entschuldigen, wohlwissend, dass sie nie wieder zu ihm zurückkehren würde, aber es würde ihn entlasten, hoffte er.

Tagelang, kaum dass er von der Arbeit zurück war, skizzierte er Anke, verbesserte, konkretisierte, arbeitete heraus, was ihm an den Zügen ihres Gesichtes wichtig war, bevor er die ersten Farbtupfer setzte. Ja, er tupfte, tupfte, wie er es von Petersen gelernt hatte, Striche nur da, wo sie notwendig waren, verfremdete nicht, malte realistisch, klar, stellte eine konzentriert, glücklich wirkende, die Augen halb geschlossen, verzückt ihrem Spiel lauschende Anke dar, den Kopf an ihre Geige geschmiegt, wie an einen lieben Menschen, der Arm schwungvoll den Bogen über die Saiten streichend. Er zog ihr eine weiße Bluse, mit halben Ärmeln an, eine leichte Brauntönung der Haut, die fast überging in den Körper der Geige, die Haare nach hinten zu einem Zopf gebunden.

Wochen, nicht Tage oder gar Stunden, verbrachte er vor dem Bild, bevor er sich sagte, dass es gut sei, ja, dass es ihm gelungen sei, wie selten ein Bild davor. Und mit jedem Blick auf das Bild wurde im schmerzhaft bewusst, dass er sie nie wieder so spielen hören würde, wie zu Zeiten im Gang, in ihrem, in seinem Zimmer.

Das Bild stellte er zum Trocknen beiseite und entschloss sich, Anke das Bild nicht zu schicken. Nein, er würde sie hierbehalten. Es war wie es war und nicht mehr zu ändern.

 

Die Nach-Anke-Zeit war produktiv, nicht in der Quantität, aber der Qualität. Mit dem Anke-Bild hatte er überraschend für sich festgestellt, dass ihm Portraits gut gerieten, er die Geduld aufbrachte, viel Zeit darin zu investieren und beschloss, zunächst diese Entdeckung weiter zu perfektionieren. Er erinnerte sich des Skizzenblocks, den er in der Bretagne angelegt und seit ihrer Rückkehr von dort nicht mehr angerührt hatte. Den holte er hervor, in der Absicht, die Bretonen-Köpfe in Ölfarbe zu setzen.

Dabei ging es ihm zunächst nur darum, einfach nur Portraits zu üben und diese Köpfe, je länger er sie im Blick hatte, waren des Malens wert, nicht wegen des pittoresken, folkloristischen Aussehens, nein, die wetterzerfurchten Gesichter, diese Gesichter, erzählten von einem langen entbehrungsreichen Leben, ein Leben, das er auf die Leinwand bannen wollte. Er hatte mehrere Skizzen angefertigt, davon wählte er drei aus, die er ausgestalten wollte.

Zwei Brustbilder wurden daraus und eines von einem der alten Männer, vor seinem Haus sitzend, Hände auf einen Stock gestützt, den breitrandigen, schwarzen Hut tief in die Stirn gezogen, ein Gesicht ohne ein Lächeln, der Mund starr, ernst, traurig, den Betrachter anschauend. Ihm gab er graue, ehemals weiße, Pluderhosen an die Beine, Kniestrümpfe, Holzpantoffeln, denen der Holländer ähnelnd, eine an den Rändern verzierte blaue Bluse über der Weste mit ihren zwei Knopfreihen, der Hemdkragen verdeckt von einem Bart, der Rücken leicht gebeugt.

Die Folklore der traditionellen Männertracht ließ er außen vor, auch bei den Brustbildern, bei denen es Theo um die Gesichter seiner unbekannten Modelle ging, verfremdete er die Tracht, ließ unter dem Kopf aus einer abgewetzten Weste, einen verschmutzten grautönigen Kragen herausragen, ganz im Gegensatz zu den touristisch aufgemotzten, sauberen Trachten, wie sie auf den Festen oder den touristischen Veranstaltungen zu sehen waren. Diese Trachten hatten nichts mehr zu erzählen, waren stumm, hatten nichts mehr zu berichten von der harten Arbeit, dem genügsamen Leben der Dorfbewohner. Und genau dieses wollte er darstellen.

Beide Männer richteten ihren Blick auf den Betrachter, Theo arbeitete jede Falte, jede Alterswarze, jedes von der Sonne aufgebrannte Pigment heraus, ließ die Augen Leere ausstrahlen, den Mund des einen mit Stoppeln umkränzen, spärlich die Haare, fast bis auf die Schultern fallend. Das Gesicht in einem dunklen Braun, strahlte Düsternis aus, der Hintergrund, die Mauer eines Hauses, grau, brüchig, betonte diese Düsternis zusätzlich, nur indirekte Beleuchtung, als gäbe es die Sonne nicht.

Das zweite Brustbild, das er Wochen nach der Beendigung des ersten Bildes begann, gestaltete er vom Gesicht und Ausdruck ähnlich, setzte aber einen grünen Hintergrund ein, als säße oder stehe der Mann vor einer Hecke, von der er einen grünlichen Schimmer auf die rechte Gesichtshälfte fallen ließ. Der Mann, ohne Bart, einen Hut auf dem Kopf, den er, leicht keck, nach hinten geschoben hat, wirkte in seinen Zügen freundlicher, entspannter, die ledern wirkende faltige Haut aber erzählte von den Mühen, die ihm sein bisheriges Leben gekostet hatte.

 

Alle drei Bilder holte er immer wieder hervor, um hier und da Farbe nachzutragen, Nuancen zu verbessern, zu ändern, bis er sich eingestand, dass er die Bilder unter einem ganz anderen Aspekt immer wieder hervorholte.

Denn jedes Mal stand ihm die kleine Bucht vor Augen, Anke im Bikini auf einem breiten Handtuch liegend, Felsen, große Steine, links und rechts der Bucht und im Hintergrund das Dorf Poulhan mit dem kleinen Hotel, in dem sie zwei Wochen verbrachten. Zwei Wochen, die er nicht in der Lage war, diese zu genießen. War es das kleine Zimmer, zu eng, obwohl Enge gewohnt? Die spürbar werdende Distanz zwischen Anke und ihm? Sein Charakter? Seine Unfähigkeit, sich von seinen Routinen zu lösen? Ja, es gab viele Gründe, aber fast alle Gründe lagen bei ihm, dem Fehler. Und die Portraits erinnerten ihn daran.

Und er grübelte nicht nur vor der Leinwand. Die Nachdenklichkeit, geschuldet seiner Selbstzweifel, lähmte ihm auch den Arm bei der Arbeit, abwesend strich er die Bürste in halber Geschwindigkeit über die Wände.

Gretholm blieb dieses ungewohnte Verhalten Theos nicht verborgen. Er sprach Theo darauf an, wenn er wolle, können sie über das reden, was in bedrücke. Doch Theo wollte nicht reden, meinte nur, nichts weiter, das gehe vorüber.

Gretholm riet Theo, eine Mal-Pause einzulegen, weil er den Grund von Theos Zerstreutheit im Malen sah, Urlaub zu machen, wandern gehen (meine Güte, Gretholm, nicht schon wieder), den Kopf frei machen und vor allem sollte er endlich unter Menschen gehen, reden, sich austauschen, solle Petersens Verein der Hobbykünstler aufsuchen, beitreten, dort fände er Gleichgesinnte. Gleichgesinnte?, dachte Theo, keiner ist gleich gesinnt, lauter Individuen, vereinzelte Individuen, die nur an sich selbst denken, alle, wie er selbst war.

Nur, dass er sich selbst überdenken musste, war ihm einsichtig. Aber wie geht das?

Er grübelte viel über sich, sein bisheriges, sein zukünftiges Leben, seine Fehler, seine Träume und mit jedem Tag, der seit ihrer Trennung verging, begann er Anke mehr zu vermissen.

 

Einem inneren Impuls folgend, machte er sich am Abend auf den Weg zu Petersen, ohne so recht zu wissen, was er von ihm erwartete. Licht schien aus der Gartenhütte, so dass er erst gar nicht an der Haustür klingelte, klopfte an, hörte das „Hereinspaziert“, öffnete die Tür und trat ein. Petersen schaute überrascht hinter seiner Leinwand hervor, freudig überrascht, Theo nach geraumer Zeit wiederzusehen.

„Moin Theo. Na, das ist ja mal eine Überraschung. Treibt dich die Sehnsucht nach deinem alten Meister her?

„Sehnsucht? Kann sein. Nein, ich musste einfach mal raus und mit jemand reden, der mich vielleicht versteht.“

„Oh je, so schlimm?“

„Ja. Ich frage mich, ob ich ein schlechter Mensch bin. Meine Frau hat es mit mir nicht mehr ausgehalten und hat mich verlassen…und ehrlich, ich nehme es ihr nicht übel…ich dachte, die Trennung würde mir nichts ausmachen, tut es aber, mit jedem Tag mehr. Ich bin, ich weiß nicht, wie ich diese Stimmung nennen soll, in die ich gefallen bin, sie hat meine Malerei verändert.“

Ihm würden andere Motive einfallen, teilweise fast surreale Motive. Er male anders, getrieben von seiner Stimmung. Was daran schlecht sei, unterbricht ihn Petersen. Das mache etwas mit ihm, das er nicht verstehe. Also, ihm kommen Motive in den Sinn, die, wenn sie auf der Leinwand sind, er nicht verstehe. Er male geduldig, lasse sich Zeit, viel Zeit. Er male weniger, aber besser, genauer, realistischer und trotzdem, ach, er wisse auch nicht, könne es nicht erklären.

„Was meinen Sie, wird dieses Stimmungsmalen vorübergehen, wenn meine Stimmung sich wieder ändert? Verliere ich dann die Fähigkeit, die Motive aus mir zu saugen?...Sie hatten mir die Geschichte Ihres Kollegen erzählt, der nach seiner Scheidung tiefgründige Bilder malte, sie verkaufte und danach nie wieder solche Meisterschaft erreichte….Ich glaube, es war nicht der Verkauf, der den Rückschlag brachte, sondern der Verlust der Trennungstrauer…und genau davor habe ich Angst.“

„Hm, Theo, da ist ein kleiner Unterschied. Frank hat nur das Motiv gewechselt, du aber anscheinend den Stil, die Arbeitsweise. Du bist geduldiger geworden. Dinge, die bleiben, Dinge, an denen du weiterarbeiten musst. Weißt du, ich male seid, ich weiß nicht wie lange, fast immer das gleiche Motiv. Trotzdem ist jedes Bild ein Unikat und unterscheidet sich von den Bildern zuvor. Ich nenne es meinen Stil. Aber das ist mir eigentlich egal, ich male, um zu malen. Das hat sich in all den Jahren nicht verändert. Aber, und das verrate ich nur dir, als meine Frau gestorben war, fiel ich in eine düstere Stimmung, vielleicht wie deine, und nur in dieser Stimmung ist es mit gelungen, ein Portrait meiner Frau anzufertigen, ganz aus meiner Erinnerung heraus. Ja, ich kenne diese Stimmung, von der du sprichst. Es war ein kurzes Ausscheren aus dem Gewohnten und ich habe nicht versucht, die Ausnahme zum Neuen zu machen. Danach habe ich in alter Weise meine Bilder gemalt. Bei dir ist das etwas anderes, du bist nicht festgelegt oder festgefahren, wie ich, versuche deinen neuen Stil beizubehalten. Ich werde dieses Portrait dieses Jahr ausstellen. Ich möchte, dass meine Frau gesehen wird. Das Bild aber werde ich nie verkaufen. Dafür habe ich nie gemalt. Du malst um Anerkennung, um Beifall, um Erfolg zu haben. Dafür musst du dich aber zeigen. Ich sehe dich und deine Bilder nirgendwo. Du willst etwas, tust aber nichts dafür. Das funktioniert so nicht.“

 

Das ist richtig. Er hatte bisher keinen Schritt unternommen, seine Bilder irgendwem oder irgendwo zu präsentieren. Wie auch, wie geht so etwas? Mit Ausnahme von Anke, die alle seine Bilder gesehen hatte, aber ob sie sie wirklich gesehen hatte, bezweifelte Theo.

Warum eigentlich zeigt er seine frühen Bilder nicht öffentlich? Lag dies an den Erfahrungen aus dem Malunterricht? Immer wenn Lehrer Johannsen die Bilder der Schüler einsammelte, zögerte Theo mit der Abgabe. Er wollte seine Zeichnung nicht hergeben und dann hängte der Lehrer auch noch die Bilder, von denen er glaubte, sie seien gut gelungen, an der Wand auf. Und Theos Bilder waren immer dabei. Seine Mitschüler waren da gänzlich anderer Meinung, sie kicherten, belächelten Theos (Klecksels) Bilder, machten sich lustig, spotteten. Dieser Spott machte ihn wütend und am liebsten hätte er alle seine Bilder von der Wand entfernt. Hält er, dessen gedenkend, seine Bilder deswegen zurück? Scheut vor negativem Urteil? Gar vor Spott? Oder war es, weil ihm seine frühen Bilder entrückt waren?

Nur, ist er auf das Urteil von außen angewiesen? Ja, Anerkennung kommt nur von außen, aber halt auch die Kritik. Nicht, wie Petersen, der malt, weil es ihm Freude bereitet, sondern um Berühmtheit zu erlangen, um zu einer Unabhängigkeit zu kommen, die ihm ein Leben nur als Künstler erlaubt, deshalb malt er, und zweifelt, ob er gut genug ist, diese Ziele zu erreichen.

„Wissen Sie, es ist seltsam, aber alle meine Vorfahren waren Dilettanten, Dilettanten auf ihre ganz spezifische Art. Sie hatten aber anscheinend ein großes Selbstvertrauen, weswegen sie keine Scheu hatten, sich in der Öffentlichkeit zu exponieren. Ich glaube nicht, dass ich diese Dilettantismus-Tradition fortsetze, aber mir fehlt das Selbstvertrauen, das meine Vorfahren auszeichnete.“

„Ein paar Bilder an die Wand zu hängen, damit ein paar Leute drauf schauen, ist kein Ding, zu dem du Selbstvertrauen brauchst. Freizeitkünstler sind keine Kunstkritiker, sie sind wie du, lieben das Malen und den Austausch mit den anderen Gleichgesinnten, bewerten nicht den möglichen finanziellen, sondern den künstlerischen Wert deines Gemäldes. Das Publikum flaniert vorbei, nur wenige Kenner sind darunter. Etwas anderes ist es, wenn du eine eigene Ausstellung hast oder dich auf einer Messe präsentierst. Dort hast du es mit denen zu tun, die Weichen stellen können, die einen ökonomischen Blick auf deine Bilder haben. Die stellen andere Fragen. Dazu brauchst du Selbstvertrauen. Du musst wissen, was du willst und es denen klar machen, um dich durchzusetzen. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Fang klein an, stelle im Herbst aus. Ich würde gerne die Bilder, die du angesprochen hast, sehen. Zeige mir alles, was du hast. Wir reden darüber und wählen zusammen ein paar Bilder aus. Unsere Ausstellung ist in sechs Wochen. Ich organisiere das für dich und dann schauen wir, was passiert. Öffne dich endlich.“

„Ich weiß nicht, Herr Petersen. Da ist noch etwas. Ich fühle Unzulänglichkeit. In London stand ich vor den Bildern von William Turner. Diese Wucht, diese lichterne Wucht. So würde ich gerne, werde aber nie so malen können. Die Bilder haben mir vor Augen geführt, dass ich diese Stufe der Malerei nie erreichen werde. Ich habe das Gefühl, das Vertrauen in meine Malerei verloren zu haben.“

„Ach, Theo, Turner ist einzigartig, ebenso wie van Gogh, Breughel, Liebermann und wie sie alle heißen. Nicht nachzuahmen. Jeder einzigartig auf seine Art. Theo diese Einzigartigkeit ist nicht zu erreichen. Und das, was du malst, ist auch einzigartig. Es gibt nichts, was deinen Zweifel an dir selbst begründet. Möglich, du hast eine Schaffenskrise. Das kommt vor, kommt bei jedem von uns einmal vor. Also, noch einmal, lasse mich sehen, was du auf die Leinwände gebracht hast und lass uns schauen, was damit zu machen ist.“

 

Petersen hielt Wort und suchte Theo eine Woche später auf, ließ sich vorführen, was Theo bisher auf die Leinwand gebracht hatte und das waren sechsundzwanzig Bilder, farbgewaltige Bilder in seiner alten Strichtechnik, dicke, dünne, kurze, lange Striche summierten sich zu Landschaftsmotiven, küstennahe Motive, Stillleben oder Gebäuden, von denen eine seltsame wuchtige Wirkung ausging.

Erst als er diese vorgeführt hatte, zeigte Theo Petersen die Bilder, die er in der Nach-Anke-Zeit gemalt hatte, Frau am Fenster, Mohnblumenfeld, Die Geigerin, Seeeinsamkeit und die drei Bretonen, ein Bild nach dem anderen.

Petersen geriet in Verzückung, ein Strahlen überzog sein Gesicht, schaute glückstrahlend auf Theo, leicht mit seinem Kopf nickend.

„Theo, was hast du da gemalt? Diese Frau mit der Geige, wunderschön, einfach wunderschön, so harmonisch, so lebensnah. Das ist ein völlig anderer Stil als der, den du bisher hattest. Und dieses Mohnblumenfeld, welche Pracht, dieses Kind, diese Trauer, diese Wut, so alleingelassen worden zu sein. Ich verstehe deine Bedenken nicht. Theo, das ist genial, was du auf die Leinwand gebracht hast.“

Natürlich freute es Theo, die lobenden Worte von Petersen zu vernehmen, der war zwar nicht die wirkliche Kompetenz, aber ein ehrlicher Kritiker, dem er glaubte.

„Diese Bilder werde ich nicht ausstellen, nicht verkaufen. Es sind sehr persönliche Bilder und wie Sie mir einmal gesagt haben, sollte ich nie persönliche Bilder verkaufen. Zu den erstgezeigten Bildern habe ich kaum noch Bezug, die gebe ich gerne ab, aber die hier, nein, das ist Erinnerung, schmerzhafte Erinnerung.“

„Du musst die Bilder nicht verkaufen, aber ausstellen. Zeige sie, mache deine Ohren auf, höre, was die Leute dazu sagen und ich garantiere dir, vor diesen Bildern werden einige Leute stehen bleiben. Die Box hat eine U-Form, die beiden äußeren Wände behängen wir mit den Bildern, die du zum Verkauf anbietest und in die Mitte platzieren wir die unverkäuflichen Bilder, nur damit du die Reaktionen des Publikums erfahren kannst. Ich weiß allerdings nicht, ob noch eine Box frei ist. Aber kein Problem, dann bekommst du meine, du musst diese Bilder ausstellen. Tue mir den Gefallen und zeige dich endlich.“

Theo überließ es Petersen, die Bilder auszuwählen, die er verkaufen könnte. Acht Bilder, vier links, vier rechts, die die Wand ausfüllen würden. Petersen riet Theo zu, die Geigerin rahmen zu lassen, dieses Bild muss in einen Rahmen und er schlug Theo vor, seinen Bekannten Adrian aufzusuchen, der den Rahmen machen könnte und um gemeinsam den geeigneten Rahmen auszuwählen.

 

Wochen später fand der traditionelle Herbstmarkt der Hobbykünstler im Heiligen-Geist-Hospital am Koberg statt, dem Theo mit skeptischer Unsicherheit entgegensah. Petersen hatte in seiner Funktion als Vereins-Vorsitzender Theo eine eigene Box verschafft, in der nun die ausgewählten Bilder hingen. Die Geigerin war das einzige gerahmte Bild. Einem der Gesichtsfarbe von Anke farblich angepasster Holz-Rahmen, fünf Zentimeter breit, in detailreicher Used-Optik, die Lebendigkeit und freudige Hingabe der Geigerin betonend.

Freitagabend erfolgte die Eröffnung der Ausstellung, die bis Sonntagabend ging.

Theo stand, angelehnt an der Wand gegenüber seiner Box, und registrierte die unterschiedlichsten Reaktionen des Publikums. Die mittig hängenden Bilder erzeugten das größte Interesse, insbesondere Die Geigerin. Einzelpersonen verharrten einen Moment, innig das Bild in Augenschein nehmend, Paare tuschelten miteinander, was Theo nur schwer verstand. Die Bilder an den Seitenwände, die er verkaufen wollte, fanden kaum Interesse.

Zwei Damen, mittleren Alters, beide in weiße hautenge Jeans gepresst, die eine, eine kurzärmlige blumengemusterte Bluse an, die andere ein T-Shirt mit viel Schnick-Schnack aufgedruckt und einer Aufschrift, die dem blauen Meer vor Nizza huldigte. Beide blieben in Distanz zu den Bildern stehen.

„Schau mal. Sieh dir das an,“ und deutete mit einem Kopfnicken auf das Kornblumenfeld.

„Interessant. Aber so etwas kannst du nicht in ein Wohnzimmer hängen. Oder?“

„Stimmt. Es ständig anschauen zu müssen, würde zwangsläufig zu Depressionen führen,“ wobei sie ihrer Freundin, die sie anscheinend war, zulächelte. „Aber im Kinderzimmer würde es sich gut machen.“

Die beiden brachen in ein kurzes Gelächter aus, sich dabei umsehend, um nicht zu sehr aufzufallen.

„Aber die Geigerin. Einfach wunderschön. Sie könnte ich mir gut vorstellen, hinter das Klavier zu hängen. Hm, irgendwie erinnert sie mich an jemand.“

„Hm, bestimmt an Mona Lisa.“

Und wieder Gelächter. Anscheinend vertrieben sich die beiden hier Zeit. Blöde Ziegen, dachte Theo und wollte sich gerade genervt abwenden, als eine der Damen, die mit dem T-Shirt, ihn ansprach, ob er der Künstler dieses Werkes sei.

„Ja, der bin ich.“

„Hm, ich sehe keinen Preis an dem Bild.“

„Ganz einfach. Es hat keinen Preis, weil es unverkäuflich ist.“

„Was heißt unverkäuflich? Wenn Sie nicht verkaufen wollen, warum hängen Sie die Bilder dann aus?“

„Nun, in Museen hängen diverse Gemälde. Ich wüsste nicht, dass die dort hängen, um verkauft zu werden. Ich möchte die Bilder, wie im Museum, zeigen, damit sie gesehen werden.“

„Und davon leben Sie?“

„Ich lebe von der Anerkennung. Und für die restlichen Dinge gehe ich einer Arbeit nach. Sie befinden sich hier auf einer Ausstellung von Hobbykünstlern, nicht in einer Galerie.“

Die, die mit ihm geredet hatte, blickte ihn verächtlich an, die andere zeigte eine irritierte Miene, sie drehten sich um und schlenderten weiter. Theo sah, wie die, die mit ihm geredet hatte, den Kopf wendete, in seine Richtung schaute, den Mund bewegte, was Theo mit Arschloch übersetzte. Selbst, dachte er.

 

Petersen sorgte ständig für sprechenden, lobenden Nachschub, seitens seiner Künstlerkollegen, die kamen, staunten, begutachteten, sagten anerkennende Worte und gingen, nach kurzem Verweilen, wieder. Einer der Kollegen meinte, Die Geigerin sei keine Hobbykunst, diese sei Vollendung, was Theo wie Olivenöl die Speiseröhre herunterlief.

Am zweiten Tag stand plötzlich, kurz nach Mittag, Regina, die Keramikkünstlerin aus dem Gang, neben ihm.

„Wieso hast du ihr nie gesagt, wie sehr du sie liebst. Dies Bild kann nur jemand gemalt haben, der innig liebt. Du hast Anke getroffen, wie sie war. Wenn ich dies Bild anschauen, höre ich sie spielen.“

Ihre Augen richteten sich auf Theo, der verlegen, wie ertappt, dastand und nicht wusste, was er erwidern sollte.

„Ach, Theo, du kannst wunderschön malen, wenn du nur halb schön sprechen könntest. Es hätte anders kommen können.“

„Hm, wenn alles so einfach wäre. Es ist so, es waren die Worte, die uns auseinanderbrachten, weil jeder nur die Worte gelernt hatte, die die jeweilige Welt lehrte. Und Liebe kann diese Kluft nicht überwinden, zumindest nicht auf Dauer. Und, du weißt ja selbst, welche egozentrische Menschen wir Künstler sind. Zwei von dieser Sorte in einer Beziehung, da ist einer zu viel. Wir waren nicht wie Christo und Jeanne Claude, die gemeinsam Projekte hatten, wir hatten nicht ein Projekt. Es war ein Irrtum. Von Anfang an.“

„Das Bild sagt etwas anderes.“

„Mag sein. Ich mache mir immer noch etwas vor.“

Regina klopfte Theo auf die Schulter: „Komm einfach zu uns, wen wir abends zusammensitzen. Selbst wenn du nur zuhörst. Es ist alles besser als immer nur mit dem eigenen Kopf zu reden. Ich muss zurück zu meinem Stand,“ und zog davon.

Der Tag heute war gut besucht. Er wurde öfters angesprochen, mal wurde er gefragt, wie viel Zeit er für das Bild (Die Geigerin) aufgewendet hätte, ob es diese Frau wirklich gäbe, wie er dieses Leuchten in ihr Gesicht bekommen habe und natürlich, wieso er das Bild nicht verkaufen wolle. Die Geigerin stand im Mittelpunkt, als hätte er sonst nichts gemalt, Theo überlegte schon, sie abzuhängen, sagte sich aber, gut morgen noch mal, und vorbei ist es. Auf alle Fragen gab Theo kurze, mitunter auch patzige Antworten und irgendwann entfernte er sich von seiner Box und ging in der Stadt spazieren, der ihn nervenden Fragen überdrüssig und kehrte es kurz vor Schließung der Ausstellung zurück.

 

Am dritten und letzten Tag der Ausstellung ging es etwas ruhiger zu, letztlich aber das gleiche Prozedere, die gleichen Fragen. Dann endlich interessierte sich ein älteres Ehepaar für die seitlich ausgestellten Bilder.

Neben den Bildern hingen kleine Zettel, die den Künstler, den Titel des Gemäldes und den Preis nannten, den Petersen Theo vorgeschlagen hatte, 460,00 Mark. Der Preis drücke sein Selbstbewusstsein aus, zwar hoch, aber müsse so sein. Diese Zettel lasen die beiden, tuschelten miteinander, blieben vor einem Bild verharren, gingen dann aber doch gemächlich weiter.

Das Paar, so um die siebzig, wie Theo vermutete, kehrte ein zweites Mal zu Theos Box zurück, ein Bild im Auge, das Theo einfach „Wald“ genannt hatte, Bäume, Buchen, Eichen, vereinzelt Tannen, alle leicht in lichtes nebulöses Licht getaucht, in einer Vielfalt grüner Töne, die Theo unermüdlich gemischt hatte, stets einen neuen Ton kreierend, die diesem Waldbild seine Pracht gab. Zwischen all den Bäumen ein kleiner Pfad, der irgendwohin führte, aber von niemand begangen wird. Der Boden in satten grünen Farben, durchwuchert von den Resten des angebräunten Herbstlaubes. Die Farbe dick aufgetragen, fast wie ein Rauputz anmutend. Das Bild sollte wuchtig wirken und dies tat es auch.

Theo näherte sich den beiden, sprach sie an, ob er ihnen behilflich sein könnte.

Die Frau hatte ein leichtes Lächeln um die Lippen, schaute ihren Mann an, Einverständnis bittend. Nun nahm sie Theo wahr, fragte, ob an dem Preis noch etwas zu ändern wäre. Ein entschiedenes Nein von Theo, ließ deren Mundwinkel sinken.

„Nicht einmal 10,00 Mark?“

„Auch keine 10,00 Mark. Dies Bild, meine Dame, ist sowieso ein Schnäppchen, eine Kapitalanlage. Glauben Sie mir, in zehn Jahren bekommen Sie das X-fache dafür zurück, sofern Sie es verkaufen wollen.“

Der Mann kniff seine Augen leicht zusammen, zog Falten auf die Stirn.

„Haben Sie schon mehr Bilder verkauft?“

„Ehrlich gesagt, nein. Es ist das erste Mal, dass ich ausstelle und dies wäre das erste Bild, dass ich verkaufe. Ich signiere es Ihnen gerne.“

Und lächelte dabei, als hätte er einen Scherz gemacht. Naja, war ja auch einer.

„Wissen Sie, das Bild passt farblich und atmosphärisch herrlich in das Arbeitszimmer meines Mannes. Ähm, würden Sie uns das Bild reservieren. Ich würde gerne einen Bekannten vor einer Kaufentscheidung hinzuziehen.“

„Mache ich gerne für Sie. Nur müssen Sie sich eilen, die Ausstellung schließt demnächst.“

Die beiden schauten sich an, nickten sich zu, was auch immer dies aussagen sollte, bedankten sich und verabschiedeten sich auf später. Später aber kam nicht mehr.

 

Die Ausstellung bot Theo tatsächlich die Gelegenheit mit Kollegen zu sprechen, die einen wohlwissend, dass ihre Kunst nicht zu Höherem reichte, die anderen, stets in der Hoffnung, ein Galerist käme vorbei, um ihre Bilder bei ihm auszustellen. Petersen meinte, immer die gleichen Diskussionen und nur sehr selten irrt ein Galerist durch diese Räume. Man belächelt uns.

„Wozu malen wir eigentlich?“ fragt Theo seinen Mentor „Also ich habe das Gefühl gewonnen, wir stellen Dekorationsartikel her und keine Kunstwerke. Die Leute sehen nur, ob das Bild farblich in ihre Wohnung passt, und interessieren sich nicht dafür, was in dem Bild steckt.“

„Nochmals, zu unserer Ausstellung kommen nicht die Leute, die normalerweise Galerien aufsuchen, auf Entdeckungen hoffen, ihr Kapital anlegen wollen. Wir haben es hier mit einer einfachen Klientel zu tun, da musst du schon deine Erwartungen herunterschrauben. Alles kommt zu seiner Zeit. Und, was in den Bildern steckt? Deine Bilder, würde ich sagen, sind hier die Ausnahme. Nimm meine Bilder, in den steckt nichts außer Malleidenschaft und so ist es bei fast allen Kollegen. Das hier war dein Anfang, begnüge dich zunächst damit und irgendwann machst du dann den größeren Schritt. Ich habe dir schon mehrfach gesagt, habe Geduld. Weißt du, dass alle die großen Künstler erst späten Ruhm erlangt haben, oft erst nach ihrem Ableben. Gut, solang wirst du nicht warten müssen. Habe Geduld. Es wird, da bin ich mir ganz sicher.“

Verkauft hat er lediglich ein Bild. Nicht dem Ehepaar, das nicht wiederkam, sondern einer jungen Frau, die sein Meeresrauschen nun ihr Eigen nennen durfte. Eine in Blau-, Grau- und Weißtönen gemalte Strandlandschaft, heller Sandstrand, leicht anrollende Wellen, am Horizont zeichnet sich ein Unwetter ab, ein kleines Fischerboot dümpelt verloren auf der See. Kein freundliches Motiv, aber der Dame gefiel es und ohne es gedanklich farblich mit ihrer Zimmereinrichtung abzustimmen.

Von seiner Hoffnung, vom Verkauf seiner Gemälde zu leben, war er noch weit, sehr weit, entfernt, die Lehre aus der Ausstellung.

 

Auch im Folgejahr und dem darauffolgenden Jahr beteiligte sich Theo an der Ausstellung, ohne nennenswerten Unterschied zur ersten Teilnahme, bis auf die Bilder, die er aufhing. jedes Jahr andere. Die Verkäufe waren mickrig, die Resonanz verhalten und wenn, dann waren es die unverkäuflichen Bilder, die Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Einige Kollegen, in deren Achtung er zumindest gewachsen war, rieten ihm, in der Stadt, also Hamburg, einen Galeristen aufzusuchen. Doch Hamburg gegenüber war er abgeneigt, seit die Stadt Anke aufgenommen hatte. Anke, die mittlerweile von ihm geschieden war. Eine schnelle, unkomplizierte Scheidung, da es nichts zu verteilen gab, weder Geldwerte noch Kinder noch Haustiere. Es gab noch nicht einmal einen Versorgungsausgleich, auf den Anke verzichtet hatte. Sie sahen sich nicht mehr, da nur Theo zum Gerichtstermin erschienen war, Anke angeblich auf einer Tournee mit dem Orchester, wobei Theo glaubte, Ankes Vater habe hier seine Beziehungen spielen lassen. Aber egal, es war nach vier Jahren Trennungszeit der Schlussstrich, dachte Theo.

Vier Jahre, in denen weder er noch Anke einen Schritt gemacht hätten, auszuloten, ob eventuell eine Fortsetzung der Ehe möglich sei oder nur, um freundschaftlich verbunden zu bleiben. Nein, in Freundschaft waren sie nicht auseinandergegangen, eher sprachlos.

In Gedanken hatte Theo oft Worte zusammengefügt, die er Anke sagen wollte, sollten sie aufeinandertreffen oder ein Telefongespräch führen, wozu es aber nicht kam, und Theo wusste, wäre es so weit gekommen, er hätte die richtigen Worte nicht herausbekommen.

 

Theo verdiente bei Gretholm weiterhin gutes Geld, dank auch der Zusatzstunden, die die gute Auftragslage von Gretholms Malerbetrieb ermöglichte. Zwar bedeutete dies, dass Theo wenig Zeit blieb für seine Malerei, er allerdings auch keine Stimulanz dazu hatte. Nur selten saß er vor der Leinwand und fragte sich, angesichts der Leere vor ihm, ob es das jetzt war. Er verkroch sich in seiner Wohnung, antriebslos, resigniert, ging selten aus und wenn, dann folgte er einer Einladung von Sedar oder Valea, die ihm beste Freunde waren.

Von dem Weltenlauf um ihn herum bekam Theo wenig mit, er betraf ihn nicht, interessierte ihn deshalb auch nicht. Wählen war er noch nie gegangen. Ein Kreuz zu setzen, bei jemandem, den er nicht kannte und der gewiss nichts für ihn tun konnte. Wozu das?

Dass das alles beherrschende Großereignis des Mauerfalles erfolgt war, vernahm er zwar aus den Medien, war halt unvermeidlich, aber so richtig bekam er es nur deshalb mit, weil sein Renault 4 einen Schaden, einen irreparablen Schaden, einen Altersschaden hatte, und er deshalb einen neuen Gebrauchten kaufen wollte. Nur, die gab es nicht. Jeder Autohändler, den er kontaktierte, verwies auf einen leergefegten Hof. Alles drüben und wenn etwas käme, ginge dies gleich hinterher.

Nach den Händlern versuchte Theo auf Anzeigen zu reagieren, doch, wenn er sich bei einem Verkäufer meldete, war dessen Auto bereits auf und davon. Allerdings, der Autokauf war nicht zwingend, er nutzte den Wagen nur, um zur Arbeit zu fahren, wozu er auch den Bus hätte nehmen können. Nur, das bedeutete Warten und das hasste er, schließlich wartete er seit Jahren auf seinen Durchbruch und davon hatte er genug. Und dann musste er darauf warten, dass alle Ostler mit einem westdeutschen Gebrauchtwagen versorgt waren, bevor er an die Reihe kommen würde. Wäre nicht Valeas Kumpel gewesen, der seinen A-Kadett gegen ein neues Auto tauschen wollte, hätte er noch einige Zeit Geduld aufbringen müssen.

 

Gretholm hätte noch zwei oder gar drei Leute einstellen können, um der Auftragslage besser Herr zu werden, aber der Alte wusste, dass er seinen Betrieb in Bälde in andere Hände legen musste und scheute deshalb, das notwendige Personal einzustellen.

Und die Hände, in der sein Betrieb übergehen sollte, sollten eigentlich die von Theo sein, wie er sich erhofft hatte. Nur, Theo war denkbar ungeeignet einen Betrieb zu führen, Mitarbeiter zu führen, Buchhaltung, Rechnungen schreiben, mit Kunden umgehen, alles Dinge, die Gretholm nach und nach kapierte, nicht Theos Sache waren.

Theo war zwar ein sehr guter Maler, aber ein untauglicher Geschäftsmann, viel zu zaghaft, fast gehemmt, um Kundenakquise zu betreiben, sich mit Kunden auseinanderzusetzen, die Zahlungssäumig waren, oder unberechtigte Beschwerden hatten. Und dann war da noch die Sache mit dem Geld, das Theo nicht hatte, Gretholm aber wollte.

Petter war zu alt, den Betrieb zu übernehmen und der einzige, dem er zutraute, einen Betrieb zu führen, war Sedar, nur, auch dem fehlte das Geld, Gretholm auszuzahlen. Auf dem Grundstück, auf dem der Malerbetrieb beheimatet war, stand auch das Wohnhaus der Gretholms, das mit zum Verkauf stand und das machte die Sache teuer, zu teuer für Sedar.

So kam es, dass Gretholm mit seinem 75. Lebensjahr seinem Betrieb ade sagte, ohne einen Nachfolger dafür zu haben.

Ja, und damit wurde Theo arbeits- und orientierungslos, denn, klar, er hätte auch woanders, mit Unterstützung von Gretholm, eine Anstellung gefunden, so wie Sedar und Valea, die direkt zum Malergeschäft Lüdecke wechselten, aber Theo wusste nicht, ob er das wollte. Was er wollte, war, mehr Zeit für seine Malerei zu haben und die glaubte er zu bekommen, wenn er Taxi fährt, also machte er den Taxischein und fuhr für Grete Niemann, die Taxiunternehmerin, Leute durch die Gegend, Geschäftsleute vom Bahnhof zu den Betrieben und zurück, fuhr Kranke, Krankenbesucher, Leute, die zum Flughafen nach Hamburg oder einfach nur in der Stadt einkaufen wollten, wie Elisabeth Kummerer, Theos feste Kundin, die nur er fahren durfte, Dienstag und Freitag, jeweils um 10:00 Uhr. Elisabeth, ausgerüstet mit den Angebotsprospekten, musste er in das Einkaufszentrum chauffieren, wo sie die vermeintlichen Angebote einsammelte, ob sie sie brauchte oder nicht, während Theo zum Pauschalbetrag auf sie wartete. Was Theo über sie dachte, behielt er für sich, denn die Dame zahlte ein gutes Trinkgeld und kehrte glücklich über die Schnäppchen, die sie dachte, gemacht zu haben, nach Hause zurück.

Ungern fuhr Theo über Land, wenn zum Beispiel Patientenfahrten anstanden nach Neustadt oder Malente, schlimmer noch nach Kiel. Die Leute zahlten einen mit der Chefin ausgemachten Betrag, Trinkgeld in der Regel Fehlanzeige und sein Feierabend zog sich in die späten Nachmittagsstunden. Er fuhr Frühschicht, um möglichst früh wieder vor seiner Staffelei sitzen zu können.

 

So fuhr er sein Taxi, malte gelegentlich in den Abendstunden, allerdings kaum Neues. Die inspirierende Stimmung nach der Scheidung, auf und davon. Zurückfallen in seinen alten Stil wollte er nicht, also feilte er, dem Rat Petersens folgend, an seinem neuen Stil. Er experimentierte, malte abstrakt, merkte aber schnell, dass dies nicht die Art war, in der er sich ausdrücken wollte.

Leben musste auf die Leinwand, sichtbares Leben, oder eines, dass der Betrachter erahnen konnte. Er probierte Farbmischungen aus, versuchte Effekte herzustellen, verwendete diverse Spachteln, nutzte seine Finger, zog dicke Malerpinsel hinzu, aber das Ergebnis missfiel ihm. So kehrte er wieder zu seinen wohlgesetzten, feingliedrigen Strichen mit unterschiedlich beschaffenen Pinseln zurück. Sein Stil. Sicher, den hatten vor ihm auch andere angewandt, aber das war Theo egal. Es war sein Stil, so wollte er zukünftig malen und nicht anders. Und die Motive, die Inspirationen werden kommen. Ganz sicher.

Er lebte fraulos seine Tage, stellte bei den Hobbykünstlern aus, stand gelegentlich auf Flohmärkten, bei denen allerdings die allerwenigsten Einkünfte flossen, da die Menschen in Schnäppchen und nicht in Kunst unterwegs waren. So verkaufte er mit spärlichem Ergebnis seine farbigen Erzeugnisse, verzichtete auf die Flohmärkte und setzte schließlich auch bei den Hobbykünstlern aus.

Und das wäre sicher noch viele weitere Jahre so weitergegangen, wäre da nicht ein Brief in seine Wohnung geflattert, von einer Kanzlei in Lübeck, keine unbekannte, da er den oder die eine oder andere vor der Kanzlei abgesetzt hatte. Was wollte eine Kanzlei von ihm? Sollte er den Brief öffnen? Er blieb unschlüssig, ob er den Brief öffnen oder lieber gleich entsorgen sollte. Der Inhalt eines anwaltlichen Briefes ließ ihn nichts Gutes erwarten. Sein erster Gedanke nach kurzem Grübeln war zunächst, dass Anke späte Rache an ihm nehmen würde, ihr Anrecht auf Unterhalt behaupten würde. Aber dann hätte sie einen Anwalt aus Hamburg beauftragt, einen aus dem Bekanntenkreis der Familie und, Anke war nicht rachsüchtig, sie hatten sich ohne Streit, einvernehmlich, getrennt. Späte Rache war nicht ihr Ding, da war Theo sich sicher. Wenn dann bohrte ihr Vater. Also, was konnte der Brief sonst noch bedeuten?

Nein, er konnte sich keinen Reim auf das Schreiben machen, ließ ihn zunächst einmal liegen, nur, je länger er lag, desto heftiger querten die inhaltlichen Spekulationen seinen Kopf, schließlich, nach viertägiger Liegezeit, riss er den Brief auf. Ein Notar Doktor Ehlers bat um Kontaktaufnahme wegen einer Erbschaftsangelegenheit. Eine Erbschaftsangelegenheit? Wer sollte ihm etwas vererben? Die Eltern lebten noch, Gretholm lebte noch, Petersen lebte noch, wer also sollte ihm etwas vererben? Tante Gerda? Dann wäre aber seine Mutter die erbberechtigte, nicht er. Tante Gisela, die andere Schwester seiner Mutter, längst verstorben und fast vergessen. Die Schwester seines Vaters lebte noch. Oder? Nur, die hatte Mann und Kinder und Onkel Anton hatte bereits 1945 diese Welt verlassen. Theo war verwirrt, irrte durch seine Familie und deren Ausläufer, ohne einen erklärenden Todesfall zu finden. Blieb, die Eltern befragen, verwarf diesen Gedanken aber sehr schnell, besser abwarten, ja, besser erst einmal abwarten und den Staub da liegen lassen, wo er lag.

Ein an ihm nagendes Rätsel, dass er schnellstens auflösen musste, also rief er in der Kanzlei an. Dort wurde ihm ein Termin gegeben, übermorgen um 10:00 Uhr vorbeizukommen.

 

Dieser überraschende Vorgang ließ in seinem Kopf eine Vorstellung aufsprudeln, eines Tunnels, eines scheinbar endlos in die Dunkelheit führenden Tunnels, in den eine Person auf einer Draisine hineinfahren will. Sofort setzte er die Vision in eine Skizze mit dem Kohlestift um, betrachtete sie, schloss seine Augen, setzte Farben, konträre Farben, um den Tunnel leuchtendes mittleres Grün, gelber Ocker, mittleres Gelb, Orange, helles Rot, ja, je näher zur Tunneleinfahrt, desto rötlicher die Farbe, durchzogen von schwarzen Strichen.

Den Tunnel setzte er etwas über die Mitte der Leinwand, ließ den eingleisigen Schienenstrang von unten, gerade auf den Tunneleingang zulaufen. Dieser stieß in einen grauen, mit Sträuchern bewachsenen Berg hinein, dessen grau-grüne Wand schroff, massiv und abweisend aufragte. Kurz vor den Eingang setzte er die Draisine, die Person darauf nur von hinten zu sehen, aber als Mann zu erkennen.

Wie er zu dieser Vorstellung kam und was sie mit dem Brief zu tun hatte, ließ ihn darüber nachdenken, was er vom Notar zu hören erwartete und er glaubte, etwas, was er nicht hören wollte. Wer sollte ihm Gutes tun? Rätselhaft, so rätselhaft wie der Mann, der in den Tunnel einfuhr, der niemand anderes war als Theo selbst. Ein düsteres Bild für ein freudiges Ereignis? Theo saß vor dem Bild und verstand nicht, was er da auf die Leinwand gebracht hatte.

Als der Termin beim Notar dann anstand, zog er sich dem Anlass gemäß an. Einen Anzug besaß er nicht, aber eine ordentliche schwarze Hose, ein braun-gelb kariertes Sakko, weißes Hemd, einen Binder legte er nicht um, die Dinger hasste er und die zwei, die er in seinem Schrank hängen hatte, passten nicht zum Sakko, also um den Hals herum ohne.

Nach dem Eintreffen in der Kanzlei hieß ihn eine junge Dame einen Augenblick Platz zu nehmen, Doktor Ehlers habe noch einen Klienten. Er blätterte, innerlich furchtbar aufgewühlt, in einer Zeitschrift, ohne zu lesen, nur die Bilder betrachtend und stetig den Gedanken durch den Kopf laufen lassend, was ihn wohl gleich erwarten würde und ihm partout nicht einfallen wollte, wer ihn da zum Erben gemacht hatte.

Nun, als er endlich vor dem Notar saß, meinte dieser, schön, dass er gekommen sei. Theo musste sich ausweisen. Er habe lange, fast ein Jahr gebraucht, ihn aufzuspüren, jammerte der Notar. Ein Jahr? Wozu braucht jemand ein Jahr, ihn aufzuspüren? Ein Blick in das örtliche Telefonbuch hätte genügt und er wäre auf Theophil und Theo Matschke gestoßen. Wobei, wieso saß er nun hier und nicht sein Vater? Gut, warten wir ab, sagte sich Theo und fragte den Notar, wozu er ihn gesucht habe, er rätsele die ganze Zeit, wer ihm etwas vererbt haben sollte, und komme nicht darauf.

Nun, Herr Friedhelm Matschke, sei derjenige den er beerbe und dieser Herr Matschke sei verstorben, vor über einem Jahr, habe kein Testament, aber einen Hof in Tankenhagen hinterlassen.

„Tankenhagen?“

„Das liegt unweit von Dassow, ein kleiner Weiler, ein paar Häuser, meist Höfe. Ungefähr 50 Kilometer von Lübeck in Mecklenburg-Vorpommern gelegen.“

Friedhelm? Sein Cousin, der Sohn von Onkel Anton, dem ältesten Bruder seines Vaters, zerrissen von einer Fliegerbombe in Kiel, in den letzten Kriegstagen. Friedhelm kam am 09. Mai 1945 zu Welt, weshalb ihn seine Mutter Friedhelm taufte. Sie heiratete später wieder, Friedhelm aber blieb ein Matschke, wurde Bankangestellter in einer Kieler Bank und ward aus dem Gedächtnis der Familie Matschke verdrängt. Theo war dieser Friedhelm fast unbekannt geblieben. Erst als Greta Stabow, verwitwete Matschke verstarb, wurde kurz über ihn gesprochen. Zur Beerdigung ging aber weder sein Vater noch seine Mutter. Greta war zu weit weg von der Familie.

„Ähm, Friedhelm war doch bei der Bank. Wieso hatte er einen Hof, also einen Bauernhof, oder um was für einen Hof handelt es sich?“

 

Der Notar betrachtete Theo fragend und meinte, dass sei eine lange Geschichte. Dann möge er sie doch bitte erzählen. Der Notar zog eine Falte auf seine Stirn. Ja, es stimme, Herr Matschke sei in Hamburg bei einer Bank angestellt gewesen, über viele Jahre. Er habe als Fondsmanager gearbeitet und dabei nicht immer korrekt verfahren, habe einiges verwaltetes Geld privat abgezweigt. Eine große Schadenssumme sei aufgelaufen, der Betrug offengelegt worden und Herr Matschke sei für vier Jahre ins Gefängnis gegangen.

Klar, dass er danach in keiner Bank mehr Arbeit fand. Er sei nach der Maueröffnung für kurze Zeit nach Rostock gezogen und habe sich kurz darauf den Hof gekauft.

„Aber bestimmt nicht mit dem Geld, dass er im Gefängnis verdient hatte,“ scherzte Theo.

„Klar, die Vermutung liegt nahe, dass er rechtzeitig genug finanzielle Mittel zur Seite geschafft hatte, bevor er aufflog. Der Verbleib von geschätzt 8,5 Millionen DM ist bis heute nicht aufgeklärt. Andererseits, er hat den Hof nach der Wende gekauft, der Preis dürfte nicht allzu hoch gewesen sein. Aber das können Sie dann alles den Papieren entnehmen, die ich Ihnen, falls Sie sich entscheiden, den Hof zu übernehmen, überreichen werde, beziehungsweise, den Papieren, die Sie im Haus vorfinden werden.“

„Das heißt, das Haus ist in dem Zustand, wie es zum Todeszeitpunkt war?“

„Ja. Im Prinzip können Sie sofort einziehen, es ist alles vorhanden, was man zum Leben braucht.“

„Ach was. Das ist ja ein Ding.“

Was Herr Matschke auf dem Hof machte, sei unklar, aber Landwirtschaft habe er nicht betrieben, lediglich ein paar Hühner gehalten, deren Eier er auf dem Wochenmarkt in Dassow angeboten habe. Und Theo müsse noch wissen, dass Herr Matschke nicht einfach gestorben sei, sondern mit einer Kugel im Kopf aus der Welt geschieden sei. Da eine Pistole in seinem Umfeld nicht gefunden wurde, sei die Polizei von Mord ausgegangen, der bis heute nicht aufgeklärt sei.

„Ach du meine...Und jetzt?“

„Jetzt ist die Frage, ob Sie das Erbe antreten wollen oder ablehnen. Mein Rat, schauen Sie sich den Hof an und entscheiden danach, was Sie damit anfangen können und wollen.“

„Nein, nein. Ich meine, ein Mord? Eine Kugel im Kopf? Und nicht aufgeklärt? Was bedeutet das? Niemand bekommt einfach so eine Kugel in Kopf, was steckt dahinter? Es muss doch Vermutungen gegeben haben. Oder?“

Der Notar gab einen dezenten Seufzer von sich, schob sich mit seinem Bürostuhl leicht von seinem Schreibtisch zurück, zog eine Schublade auf, kramte darin herum und holte schließlich ein Kärtchen, eine Visitenkarte, hervor und reichte sie Theo entgegen.

„Den Mann sollten Sie kontaktieren. Hauptkommissar Fietke, vom Morddezernat in Rostock. Er hat den Fall bearbeitet und wird Ihnen mehr sagen können als ich, der eigentlich nichts weiß.“

Theos anfängliches euphorisches Gefühl wurde gedämpft von der Mordnachricht, die so gar nicht in Theos Welt passte, in der so etwas im Fernsehen passierte, aber nicht eine ihm nahegehende Realität war. Eigentlich war er so weit, dass er am liebsten aufgesprungen wäre, um seinen neuen Besitz sofort in Augenschein zu nehmen, jetzt aber drückten ihn die Worte des Notars fest in seinen Sitz.

 

Von den Schwestern sprach der Notar nicht, von sich aus wollte er sie auch nicht ins Spiel bringen. Da dämmerte es Theo, dass diese ja nicht mehr Matschke hießen und schwerer aufzuspüren waren als er. Also gab es sie gar nicht. Gut so, da er wenig Kontakt zu seinen Schwestern pflegte, würden die gar nichts von der Erbschaft mitbekommen und wenn der Hof in einem Familiengespräch hochkommen würde, kann er behaupten, den Hof gekauft zu haben.

Und sein Vater? Wäre nicht sein Vater derjenige gewesen, der als Erbe noch vor Theo in Frage gekommen wäre? Wäre er. Wieso also er? Klar, er hätte jetzt den Notar fragen können. Tat er aber nicht, er musste ja keine schlafenden Hunde wecken. War das jetzt listig oder hundsgemein? Er bescheißt seinen eigenen Vater, nicht um eine Kleinigkeit, sondern um einen ganzen Hof. Nur, was wäre denn, wenn? Der Vater würde den Hof sicher, von den Schwestern bedrängt, verkaufen, jedem der Kinder einen Teil abgeben. Was wäre das für ein Teil? Ein kleiner Anteil! Und der Hof? Weg! Stattdessen hat er das Ganze und es ist seine alleinige Entscheidung, was er mit dem Hof machen würde. Sein Vater hat immer gesagt, nimm es, wie es kommt, denn was kommt, geht wieder. Naja, und so machte er es. Ist doch besser so? Ja, so ist es besser!

Nein, sein Gewissen regte sich nicht, blieb gelassen, vielleicht einen Hauch verschämt, mehr nicht, nur eine kichernde innere Unruhe machte sich in ihm breit. Theo war sich sicher, den Hof nach der Besichtigung als Erbe anzunehmen, egal, was ihn dort erwartet.

Eine Frage hatte er aber dennoch an den Notar: „Sagen Sie, eins noch, wie kommt es, dass sie diese Erbschaftsangelegenheit durchführen?“

„Das hat zwei Gründe. Wir sind eine Sozietät, die mehrere Niederlassungen hat, vor allem in den neuen Bundesländern. Die Erbschaftssache lag zunächst bei den Kollegen in Wismar, nur, die suchten in die falsche Richtung, suchten im Osten. Die Sache wurde dann an uns nach Lübeck weitergegeben, weil wir in der Erbensuche eine gewisse Erfahrung besitzen und des Öfteren mit der Polizei zusammengearbeitet haben. Und der zweite Grund ist, ihr Cousin hat den Kauf des Hofes über uns abgewickelt, was die Kollegen in Wismar aber nicht wissen konnten. Von daher auch der lange Zeitraum, bis wir Sie kontaktieren konnten.“

„Aber dann müssten Sie doch wissen, wie der Kauf des Hofes abgewickelt wurde.“

„Das, Herr Matschke, war wiederum vor meiner Zeit.“

 

Sein erster Weg, nachdem er vom Notar die Schlüssel zum Haus überreicht bekommen hatte, führte ihn natürlich nach Tankenhagen. Der Hof lag, wie fast alle Häuser, an denen er vorbeifuhr, zurückgesetzt von der Hauptstraße, mehr Straßen gab es auch nicht, nur wenige Häuser oder Höfe bildeten das Dorf oder war das ein Weiler, egal. Von der Hauptstraße bog er auf das Gelände, und traf auf einen im ersten Eindruck deprimierenden Zustand. Der Innenhof war überwuchert von Unkraut, quer durch den spazierten munter etliche Hühner. Hühner?

Auch dem Haupthaus, auf das er direkt zufuhr, war anzusehen, dass lange Zeit niemand mehr für die äußerliche Instandhaltung gesorgt hatte, das Dach befand sich in keinem guten Zustand, der graue, aufgeraute Putz der Hausfassade spröde, an einigen Stellen aufgeplatzt, wellig, Hohlräume andeutend, ohne jeden Glanz. Weiter oben offenbarte sich Fachwerk, über das der frühere Eigentümer den Putz hat werfen lassen. Nicht gut. Aber Theo wusste schon, was zu tun war, das alte Aussehen wieder herzurichten.

Und die Scheune, in altem Fachwerk, links vom Haupthaus, hatte ein Dach, das wie ein Flickenteppich anmutete, da die unterschiedlichsten Ziegel anscheinend nach und nach als Ersatz eingesetzt wurden, die schlimmsten Mängel abzustellen. Die kleineren Stallgebäude, rechts vom Haupthaus, trugen ein schräg nach vorne laufendes Wellblechdach, ein unverputztes Mauerwerk aus unterschiedlichem Material. Hier wartet viel

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Bernd Engroff
Bildmaterialien: ohne
Cover: BookRix
Lektorat: ohne
Korrektorat: Bernd Engroff
Übersetzung: keine
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4535-7

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