Unschlüssig, ob er mit oder ohne Jacke losziehen soll, steht er vor der Garderobe, als ob sie ihn die Wärmeverhältnisse draußen spüren lassen würde und ihm so seiner Entscheidung Unterstützung wäre. Nun, es ist sonnig, Ende Mai, also muss es warm da draußen sein, er kann ohne Jacke gehen, einfach nur im Strickhemd. Er schaut in den Spiegel, fährt sich mit den Fingern durch die noch, aber nur spärlich, vorhandenen Haare, schaut Richtung Wohnzimmer und ruft Sonja, die dort nach dem Mittagessen ihren Espresso einnimmt, zu: „Also, ich fahre dann mal los!“
„Viel Vergnügen, und quassle die alte Frau nicht so zu!“
Wie der Besuch so der rituelle Satz. Immer das Gleiche. Unverhohlen sarkastisch. Er hat ihren Spruch längst auf die Liste der nichtzuvergessenden Dinge gesetzt, die er seiner Frau beim nächsten Streit entgegenhalten wird. Und da finden sich schon einige Punkte aufgelistet. Es wird Zeit für einen Streit! Dickster Punkt: Sonja hat sich aus den Routinebesuchen seiner Mutter ausgeklinkt, es sei Zeitverschwendung, sich einer Frau beizusetzen, die nicht mehr wahrnimmt, wer da vor ihr sitzt.
Gut, Harrie hat das respektiert, sie führen ja eine Ehe auf Gleichberechtigung, also ist es allein Sonjas Entscheidung, ihn nicht mehr ins Pflegeheim zu begleiten. Doch, Harrie hat respektiert, aber nicht akzeptiert, hat es ihr übelgenommen, ohne ihr allerdings dies auch mitzuteilen, nur innerlich abgelegt.
Er hatte mehr Mitgefühl, mehr Feingefühl von Sonja erwartet. Gut, seine Mutter hatte in den letzten Jahren Sonjas Nerven arg strapaziert und die eh nur geringe Zuneigung, die Sonja für ihre Schwiegermutter empfand, war schnell verbraucht. Aber diese Kälte, diese Ignoranz seiner Mutter gegenüber nimmt Harrie persönlich, obwohl er ein nicht gerade gut zu nennendes Verhältnis zu seiner Mutter hat.
Hinzu kommt ein sehr egoistisches Motiv, ist Harrie natürlich klar, sein Groll hängt auch damit zusammen, dass Sonja diejenige bei den Besuchen war, die die Unterhaltung führte, wobei Unterhaltung nicht stimmt, es war ein Monologisieren, ein Einreden auf seine Mutter, im Glauben, es würde sie erfreuen, bekannte Stimmen zu hören. Harrie richtete nur gelegentlich ein paar unbeholfene Worte an seine demente Mutter. Das freundliche Einreden auf ihre Schwiegermutter bekam ab dem Zeitpunkt Risse, als Sonja bemerkte, dass sich durch ihr Zureden keinerlei Anzeichen von Freude auf deren Gesicht abzeichneten, aber feststellen musste, dass sobald Claudia, die Pflegerin in der Tagesschicht, das Zimmer betrat, ein weicher Zug in das sonst vergrämte Gesicht ihrer Schwiegermutter zog. Das ärgerte sie, Harrie versuchte dies, mit der ständigen Anwesenheit der Pflegerin zu erklären.
„Aber ich bin ihre Schwiegertochter!“
„Schatz, sie weiß dies nicht mehr und Claudia hat Dir jeden Tag und drei Wochen voraus.“
Ja und dann setzte sie den Punkt. „Schluss jetzt!“
Den Groll über diesen Entschluss trägt er in sich, mit sich, tagelang, bis er einsah, wie töricht seine Haltung war, schließlich hatte Sonja genug, also mehr als sie gemusst hätte, für seine Mutter getan. Er verzieh ihr, sagte es ihr nicht und ließ dennoch den Punkt auf der Liste der nichtzuvergessenden Dinge stehen (Man weiß ja nie!). Und so muss er heute wieder ohne den Beistand seiner Frau, sich seiner Mutter annehmen. Für eine gute Stunde. Alle dritte Woche. Für den Rest sind sein Bruder und seine Schwester zuständig. Zu Beginn der Erkrankung von Mutter hatten die drei sich noch auf einen gemeinsamen Pflegeplan geeinigt, der sich aber schnell als nur bedingt durchführbar erwies. Sie waren eigespannt in ihre Jobs, Astrid oft mit spontanen Geschäftsreisen, Detlev ständig mit Problemsituationen konfrontiert, mal die Finanzen, mal der Druck durch den Autokonzern, der Dieselskandal und Harrie, der hatte etwas Spielraum in seinem Tagesablauf, weshalb er weitaus stärker als die Geschwister beansprucht wurde. Das Kümmern durch die Geschwister erfolgte immer sporadischer und jetzt, da seine Mutter im Pflegeheim untergebracht ist, hat sich alles auf die eine Stunde reduziert.
Mitunter beschlich ihn ein ungutes Gefühl, dieses Kribbeln um den Magen herum, einfach ein schlechtes Gewissen, dass er seine Mutter so weit von sich geschoben, ja abgeschrieben hat. Die Geschwister sind alle Nestflüchter, früh aus der elterlichen Wohnung gezogen, an entfernten Orten studiert, nur gelegentlich nach Hause kommend, gründeten ihre Familien, bauten ihr Leben abseits der Eltern auf, Astrid und Detlev in der weiteren, Harrie in der näheren, zu nahen, Umgebung. Die Eltern waren nur dann Teil der Familie, wenn besondere Tage anstanden. Nein, so richtig hatte keines der Geschwister einen innigen Bezug zu den Eltern, später dann als der Vater gestorben war, zur Mutter. Selbst Harries Jungs waren nicht erpicht auf einen Oma-Besuch. Schon auffällig, dass sie immer dann zum Wochenende nach Hause kamen, wenn Astrid oder Detlev den Oma-Besuch abzuleisten hatten. Nun, wie Sonja unpädagogisch sagt: „Lass sie doch!“, lässt er sie. Es ist ihre Großmutter, ihre Entscheidung, sie zu besuchen oder nicht. Pädagogisch ausgedrückt: „Zwang ist kein Erziehungsmittel!“ Harries Leitspruch als Pädagoge und Vater, und daran hat er sich zu halten.
Er verlässt das Haus, seinen Gedanken schon vorauseilen lassend, schaut sich vor der Haustür kurz in seinem Garten um. Er müsse unbedingt den Rasen mähen, hatte Sonja ihn angemahnt, aber die Notwendigkeit eines Schnittes kann er nicht erblicken, wohl aber den Maulwurfshügel. Verflucht nochmal, der ist ganz frisch. Der rasenzerstörende Eindringling muss bekämpft werden, nicht die Spitzen des Rasens. Später! Später wird er den blinden Gräber stellen, ihm Knoblauch vor die Schnauze setzen, hat bisher immer funktioniert.
Nachbar Thiede geht da rabiater vor, legt den Gang frei und schiebt einen Chinaböller, mitunter auch einen aus Polen, hinein. Er puste ihm das Gehör weg, sagt Thiede, und damit das Leben, wobei er auch schon andere Methoden angewandt hat. Etwa seinen Hund, den Rauhaardackel Hasso, setzte er an, den Maulwurf auszugraben, was Thiedes Garten noch ärger verwüstete als dies der Maulwurf je gekonnt hätte. Hasso war anscheinend der Meinung, es gäbe überall Maulwürfe, weil er anfing an den unterschiedlichsten Stellen nach dem Maulwurf zu suchen. Hundehaufen bekam eine neue Bedeutung.
Bei allen Grabungen hatte Hasso übrigens nie einen Maulwurf aufgespürt. Oder Thiede ließ Wasser in den Maulwurfsgang laufen. Seine Frau nannte es Unsinn, fragte ihn, ob er die Wasserwerke sponsern oder ob er den Garten zum Einsturz bringen wolle. Unstimmigkeiten im Haushalt, Ergebnislosigkeit bei der Jagd, also blieb nur das Böllern.
Thiedes liebt und pflegt seinen Rasen, nein, lässt ihn pflegen. Er hat sich einen Mähroboter (Igelschredder, wie Harries Sohn Timo das Ding nennt) angeschafft, den er Harrie natürlich vorführen musste, wie überhaupt, wenn etwas neu auf den Markt auftauchte, schaffte es sich Thiede an. Man muss mit der Zeit gehen, sonst bleibt man im Gestern stehen, ist Thiedes Standardspruch. Na ja, seine Sache.
So ein Maulwurfshügel stand dem Mähroboter im Weg. Er fuhr auf Sand. Zufällig hatte Harrie einmal gesehen, wie sich der kleine Kerl auf den Rücken legte, nicht strampelte wie eine Schildkröte, sondern still vor sich hin summte, bis der Akku leer war, Thiede fluchend ihn wiederaufrichtete und die Böller holte.
Und so eine Methode ist Harrie entschieden zu brutal. Er ist tierlieb, allerdings nicht so tierlieb, einen Maulwurf unter seinem Rasen zu tolerieren, also sanft und mit Knoblauch gegen den Eindringling vorgehen. Hässlich, der Hügel von dem Kerl ist hässlich, wie ein großer Hundehaufen, ein Makel auf dem sonst gepflegten, moosfreien Rasen. Gut, wenn er genau hinschaut, gibt es da weitere Makel und das ist das Problem, das genaue Hinschauen. Also nimmt er seine Augen aus dem Garten, lässt den Garten Garten sein und bewegt sich in Richtung der Garage.
Mit der Fernbedienung öffnet er das Garagentor, entriegelt die Autotür, steigt ein, startet den Wagen, fährt aus der Garage und los, quer durch den müden sonntäglichen Stadtverkehr an das andere Ende der Stadt, wo in einem gepflegten Park das Senioren- und Pflegeheim steht, in dem seine Mutter ihr neues, letztes zu Hause, gefunden hat, wobei, sie hat es nicht gefunden, es wurde ihr gefunden. Es hat seine Zeit gedauert, ein paar Umwege mussten gegangen, ein Lernprozess durchlaufen werden, bis sie seine Mutter in diesem Heim unterbringen konnten. Als die Krankheit bei ihr ausbrach lebte sie noch in der Wohnung über dem Feinkostladen, allein, und es dauerte eine beträchtliche Weile, bis sie realisierten, was mit und bei ihr vorging. Nein, sie gestanden es sich endlich ein, was eigentlich nicht mehr zu übersehen war. Die Kinder waren die ersten, die aufmerksam registrierten und aussprachen, dass Oma schrullig wurde. Wenn sie ihre Zahnprothese verlegte, nicht mehr wusste, wohin, gleiches mit der Brille vollführte, in Stiefeln in der Wohnung herumlief, statt einem gleich zwei oder einmal sogar drei Kleider übereinander anzog oder mitten im Satz abbrach, weil ihr die Worte fehlten oder sie vergaß, was sie erzählen wollte. So machten die Geschwister noch ihre Witze, was aber mit jedem Tag und jedem Malheur aber einer Besorgnis wich, wohin dies wohl noch führe. Was eigentlich jedem der Geschwister bewusst war, aber es fehlte noch das Eingeständnis und die entsprechende Reaktion.
Die Routinen ihres Alltages reduzierten sich auf das Wesentliche. Zwar verstand sie es noch verletzungsfrei Kartoffeln zu schälen, nur konnte sie keine Verhältnismäßigkeit mehr erkennen und schälte munter weiter, weit über ihren Bedarf hinaus, bis keine zu schälende Kartoffel mehr in ihrem Haushalt vorhanden war. Der Fernseher lief in Dauerbetrieb, die Suche nach Worten, die Lücken in Gedächtnis und in ihrem Kühlschrank, eigenartige Gerüche, der für sie ungewöhnliche Schmutz auf und in ihrem Herd und viele weitere zuvor wenig beachtete Details führten zur Erkenntnis, sie müssen endlich eingreifen!
Zu all diesen Unzulänglichkeiten kam ein Bewegungsdrang, eine innere Unruhe, zunächst noch auf die Wohnung beschränkt, sich aber dann nach draußen verlagernd. Mit ihrer Einkaufstasche zog sie ziellos los, meinte einkaufen zu müssen, wusste aber nicht was, stand im kleinen Supermarkt des Herrn Süleq vor den Regalen, ratlos. Frau Süleq brachte Mutter nicht nur einmal zurück in ihre Wohnung, die sie, kaum zurück, wieder verließ. Herr Süleq rief schließlich Harrie an, mahnte ihn, endlich etwas zu unternehmen.
Sträflich, ja, es war sträflich, das, was offensichtlich allen längst klar war, so lange bis zu einer Entscheidung zu verdrängen. Seine Mutter wollte nicht. Wozu? Aber Harrie drängte sie, mit ihr zu ihrem Hausarzt zu gehen. Doktor Heller stellte, nach einigen Tests und Untersuchungen eine irrereversible degenerative Hirnerkrankung fest, also Demenz, möglich Alzheimer. Er konnte aber noch nichts Genaueres sagen. Beobachten und weiter untersuchen. Sie sei allerdings in einem Stadium, in dem sie keinesfalls allein gelassen werden dürfe. Er empfahl eine sofortige, zumindest schnelle Unterbringung in einem Pflegeheim oder einem Ort, an dem sie rund um die Uhr betreut werden könne. Dabei schaute der Arzt Harrie mit besorgtem Blick an: „Sie müssen aber genau wissen, auf was Sie sich dann einlassen.“ Harrie ahnte es, wissen konnte er es nicht.
Doktor Heller schrieb Medikamente für seine Mutter auf ein Rezept, deren Einnahmerituale er Harrie genaustens erklärte.
„Sie verzögern den Abbauprozess. Wissen Sie, die Krankheit ist ein Zurückschreiten in kindliche Zustände bis hin zum Erlöschen, quasi dem Stadium eines Säuglings. Ihre Mutter wird ihr Zeitgefühl einbüßen, den Tag- Nachtrhythmus umkehren, alle kognitiven Fähigkeiten wird sie nach und nach verlieren, Lesen, Rechnen, Schreiben, das Sprechen und das Denken. Die Medikamente werden ihnen etwas Zeit verschaffen, mehr nicht. Heilen können sie nicht.“
Neben der medikamentösen Therapie, von der selbst Doktor Heller nicht wusste, wie und ob sie wirkt, sollten sie mit ihrer Mutter das Gedächtnis trainieren, Spazieren gehen, aber immer nur auf gewohnten Wegen und sie sollten mit ihr Gesellschaftsspiele spielen, was sie dann auch taten. Nur „Mensch ärgere Dich nicht!“ wurde zum Ärgernis der Familie, da Oma Lisa keine Regeln einhielt und tief beleidigt das Spiel abbrach, wenn eine ihrer Spielfiguren aus dem Spiel genommen werden sollte. Memory legen, selbst mit nur ganz wenigen Karten, ging nicht mehr.
Harrie rief den Geschwisterrat kurzfristig zusammen, der entschied, zunächst eine Betreuung in die Wohnung der Mutter zu holen, wogegen ihre Mutter zotenreich Einspruch erhob. Polaken, Russen, alles Kommunisten, nein, die kämen ihr nicht ins Haus, die stehlen, und holen die ganze Verwandtschaft ins Haus, machen alles schmutzig, manche hätten schon gemordet, um an die Ersparnisse ihrer Patienten zu kommen. Sie spuckte das förmlich heraus, wobei nicht jedes Wort gleich gefunden war. Sie lief gestikulierend durch ihr Wohnzimmer, verzog den Mund zu einer Grimasse, stieß Fluch auf Fluch aus, ließ kein Gegenargument an sich heran, zeigte mit dem Finger auf ihre Kinder und schallt sie, sie wollten sie verkaufen, an die Russen verkaufen.
Nun, das hätten sie wissen können, dass die Vergangenheit ihr noch im Kopf stand. Geboren in Krojanke in Pommern auf einem Gutshof, den ihre Eltern in dritter Generation bewirtschafteten, aufgewachsen zwischen Tieren, purer Natur und einem dem Führer treu ergebenen Vater floh sie mit ihrer Mutter, ihren Geschwistern und den Tanten, die sich auf dem Gut eingenistet hatten, vor den anrückenden sowjetischen Soldaten nach Norddeutschland, nach Gut Seelsberg bei Preetz, wo entfernte Verwandten sie vorübergehend aufnahmen. Elisabeths Vater blieb zurück, im Glauben sein Eigentum behaupten zu können, aber noch bevor die Sowjets auf dem Gut ankamen hing er bereits an einer Diele in einer der Scheunen, aufgeknüpft von seinen polnischen und russischen Zwangsarbeitern, die er, so die Familiensage, doch so gut behandelt hatte.
Wenn Mutter über die Vergangenheit sprach, dann bei Besuchen ihrer Geschwister und wenn, dann sprach sie immer nur von Vertreibung, obwohl sie ja geflüchtet waren. Mutters Vater wusste sehr wohl, warum er die Familie in den Westen schickte. Er wusste um die Verbrechen von SA, SS, Wehrmacht, Gestapo und fürchtete die Rache der Polen und Russen, also fort von hier, auch wenn er blieb. Flucht und Vertreibung, einfach nur zwei Worte, aber inhaltsschwer. Kam, was selten geschah, Rheinfried, Mutters Bruder, zu Besuch, waren diese beiden Worte schnell Anlass zum Streit zwischen den Geschwistern. Rheinfried, der sich nach 1945 Reiner nannte, da er seinen Namen hasste (nur ein Nazi konnte seinen Sohn so nennen). Sein Vater hätte ihn am liebsten Rheingold genannt, nach Götterdämmerung, die Lieblingsoper seines Vaters, aber Rheingold ist kein Jungenname und Götterdämmerung schon mal gar nicht. Rheinfried ist der Kompromiss aus Rheingold ohne Gold und Siegfried ohne Sieg, wobei dies nicht prophetisch gedacht war, Georg August Strehlow predigte bis zur letzten Sekunde den Endsieg (an den er anscheinend aber nicht wirklich glaubte. Denn, warum sonst schickt er seine Familie in den Westen?), dem er zwei Söhne opferte. Sein Vater wars zufrieden, Reiner nicht.
Reiner kannte keine Gnade für seinen Vater, dem er die Schuld am Tod seiner beiden Brüder Otto und Friedrich gab. Der Vater drängte Otto in die Wehrmacht, als die Wehrmacht in Russland feststeckte. Auch Otto blieb in Russland stecken, verschollen, irgendwo gestorben. Friedrich war nicht gut genug für die Wehrmacht, hatte ein Augenleiden und einen kürzeren linken Fuß, der ihn zum leichten Hinken zwang. Der Vater sorgte dafür, dass er wenigstens im Volkssturm dienen durfte, worauf Friedrich gerne verzichtet hätte. So durfte er einen Streckenabschnitt der nahegelegenen Bahnlinie überwachen, auf denen Nachschub nach Russland rollte. Überwachen vor befürchteten Anschlägen polnischer Partisanen, die Minen legen konnten, den Nachschub zu unterbrechen. Die Partisanen legten nur eine Mine, auf die dummerweise Friedrich trat und von ihr zerrissen wurde.
Reiner, noch zu jung, um verheizt zu werden, war offen, über die Familientragödie zu sprechen, nannte seinen Vater einen alten fanatischen Nazi, der Schuld auf sich geladen, und genau wusste, was seiner Familie drohte, weshalb er sie in den Westen schickte, von wegen Vertreibung.
Kam Onkel Reiner zu Besuch, galt es für Harrie die Ohren zu spitzen, um wenigstens ein paar Fetzen der Familiengeschichte zu erfahren. Harries Vater dagegen war schon angespannt, wenn er hörte, dass Reiner kommen würde, und war Reiner dann da, versuchte er von Anfang des Besuches an, jedes Gespräch über die Vergangenheit zu unterdrücken, in dem er fast ohne Unterbrechung redete. Nicht immer glückte diese Strategie und irgendwann blieb Reiner seiner von der Vergangenheit nicht loskommenden Schwester ganz fern. Als er starb nahm dies Harries Mutter fast ohne Reaktion zur Kenntnis. Er war ihr noch nicht einmal ein Abschiednehmen wert.
Am Grab standen Harrie und seine beiden Geschwister mit ihrem Vater, der die Mutter entschuldigte, sie sei heftig erkrankt, wobei er es ja war, der unübersehbar mehr als heftig erkrankt war. Die beiden noch lebenden Schwestern der Mutter, die mit am Grab standen, hätte Vater nicht so belügen brauchen, sie wussten eh Bescheid.
Nach dem Fall der Mauer setzte Harries Mutter einen Anwalt darauf an, Rechtsansprüche auf das verlorene Gut geltend zu machen, was sich aber nur für den Anwalt auszahlte. Das Gut war für immer verloren. Mutter nannte es Diebstahl, was ihre Verbitterung weiter untermauerte. Elisabeth Kohlberg ist, soweit sich Harrie erinnern konnte, eine mürrische, unzufriedene Person voller Misstrauen. Sie ist eine notorische Nörglerin, die sich über alles und jeden ereifern konnte, voll von Vorurteilen, deren sie sich verbal entledigte, meist aus belanglosen Gründen und, wie Harrie immer behauptet, noch den Schmutz des Dritten Reiches im Kopf hatte, der mit dem Alter wieder hervorgespült würde, was seine Geschwister mit vorwurfsvollen Blicken auf ihn, aber ohne Worte, abwiesen.
Sie hatte August Kohlberg geheiratet, einen Neffen des Seelsberg-Besitzers, der allerdings mit dem Gut, mithin in der Erbfolge, nichts zu tun hatte, sondern ein Lederwarengeschäft im Zentrum Lübecks unterhielt. Über diesem Geschäft wohnten die Familie Kohlberg in einer 5-Zimmer-Wohnung, in der der Geruch nach Leder allgegenwärtig war, nicht weichen wollte, selbst als der Vater das Geschäft aufgeben musste und ein Feinkostladen einzog.
Die Ehe war keine Liebeshochzeit, darin waren sich die Geschwister einig, den die Anzeichen dazu konnten sie während ihres Heranwachsens und auch später nicht wahrnehmen. Für sich selbst hatte Harries Mutter keinen Ehrgeiz mehr, sie stand gelegentlich als Aushilfe im Geschäft ihres Mannes, aber ihr Mann wusste, warum er sie möglichst aus dem Verkaufsraum fernhaben wollte.
Ehrgeiz entwickelte sie nur für ihre Kinder. Ihr Traum war, dass eines ihrer Kinder den Beruf des Arztes ergriff, weiß bekittelt, warum auch immer. Nur, weder Astrid noch Harrie noch Detlev verspürten den Drang zu ärztlichen Weihen, eine weitere Enttäuschung für ihre Mutter. Den Enkelkindern war sie keine liebevolle Großmutter, nahm Anstoß an der lockeren Erziehung mit der Sonja und Harrie sie ins Leben führten. Nur selten und nur, wenn sich keine Alternative anbot, vertrauten sie ihre Kinder den Großeltern an und auch dies nur, weil sie wussten, Opa würde es richten, was er tat. Sonjas Eltern waren das Gegenteil, weshalb die beiden Jungs Oma und Opa Clausen eindeutig der garstigen Oma (so nannten die Jungs Oma Kohlberg) vorzogen, wohnen allerdings so weit entfernt im Süden der Republik, dass ein einfaches Vorbeikommen nicht möglich ist.
Ihre Enttäuschungen trug seine Mutter zur Kirche. Zu pommerschen Zeiten war es der Vater, den sie zu vergöttern schien, so zumindest suggerieren es die wenigen Fotos, die aus dieser Zeit den Weg in ein Fotoalbum gefunden hatten, das irgendwo im Schlafzimmer verborgen ruhte und nur bei seltenen Anlässen hervorgeholt wurde. Ein Foto stach heraus, Harries Mutter auf den Armen ihres Vaters, der, wie üblich, in voller Montur in die Kamera lächelte, und seine Tochter in der Tracht von Hitlers Mädchen, weiße Bluse, dunkler Rock, weiße Socken, braune Halbschuhe, das schwarze Halstuch um den Kragen, festgehalten von einem Knoten aus Hanf. Ihren Kopf an den des Vaters gelehnt, schaute sie stolzen Blickes in die Kamera.
Erst später stellte Harrie fest, dass seine Mutter noch zu jung für Hitlers Mädel war, der Vater anscheinend seine Autorität eingesetzt hatte, um auch seine jüngste Tochter dem Führer zu weihen. Auch diesen dürfte seine Mutter geliebt haben, wenn auch mehr des Vaters wegen als aus Überzeugung. Aber auch später, kein kritisches Wort über Hitler. Irgendwann nach ihrer Vermählung begann seine Mutter regelmäßig in die Kirche zu pilgern. Allein. Sie war von Haus aus katholisch, der Vater evangelisch.
Harries Vater war Geschäftsmann, kein Glaubender, also blieb die Missionierung der Familie der Mutter überlassen, die immer wieder versuchte, ihre Kinder auf den Gottesweg zu bringen. Aber auch dies trug keine nachhaltigen Früchte. Mit dem Tod des Vaters intensivierte sich die Gläubigkeit der Mutter, die nun selbst unter der Woche die Frühmesse aufsuchte. In ihre Sprache woben sich immer öfter christliche Ausdrücke, ja ganze Sätze ein, entlehnt der Bibel oder dem Mund des Priesters. An ihren Geburtstagen begann der Priester mit am Tisch Platz zu nehmen, was Harrie mehr als störte.
Detlev, sein Bruder, war es, der mahnte, sie müssten aufpassen, dass ihre Mutter der Kirche nicht zu viel Geld vermacht, denn das deutete sie immer wieder an, meist wenn sie über eines ihrer Kinder verärgert war. Mit dem stetigen Verlust ihrer geistigen Fähigkeiten machten sich Gott und der Priester aus dem Staub und selbst ihre geliebte Bibel litt unter ihrer Krankheit und teilte das Schicksal seiner Mutter.
Für die Betreuung zu Hause musste eine andere Lösung gefunden werden. Nach wie vor wollte Harrie, wie er es in der Literatur und beim Googeln nachgelesen hatte, die Mutter zu Hause versorgen, der vertrauten Umgebung wegen, denn deren Verlust würde ihren Gesundheitszustand verschärft verschlechtern. Nur, zu Hause ging nur mit Betreuung und die musste gut ausgewählt werden, und vor allem nicht aus dem Osten kommen, was nicht von heute auf morgen ging. Was also tun?
Die Spannung zwischen den Geschwistern, als sie zusammensaßen, war zum Greifen, jeder wartete auf den anderen, den entscheidenden Vorschlag zu machen, bis Harrie sich schließlich bereit erklärte, Mutter fürs Erste zu sich ins Haus zu holen, zum Entsetzen von Sonja, die sofort die Unmöglichkeit dieses Unterfangens erkannte. Harries Bedingungen waren, einen Heimplatz zu finden, wenn die Unterbringung zur Belastung würde und ein Betreuungsplan mit festen Absprachen unter allen Angehörigen. Sie wendeten sich an das hiesige Rote Kreuz beauftragten den Pflegedienst, zweimal am Tag bei der Mutter vorbeizuschauen, wobei sie die Qualität und Quantität dieser Besuche vollkommen falsch einschätzten.
Die Verwirrung der alten Frau wurde nach dem Umzug offensichtlich. Nichts war mehr, wie sie es gewohnt war, alles war fremd, die Routinen, die sie noch beherrschte, aufgehoben mit der Folge, dass sie wie ein gehetztes Tier durch die Zimmer lief, als würde sie etwas suchen und nicht finden. Sie suchte das Gewohnte, fand es nicht mehr.
Die Menschen um sie herum wechselten ständig, mal Detlev, mal dessen Tochter, dann Astrids Tochter, Detlevs Ehefrau, selbst die Pflegerin war nicht immer die gleiche Person und die Achtsamkeit wurde unterschiedlich gehandhabt. So konnte Mutter ungehindert Sachen in der Wohnung umräumen, die Kaffeemaschine landete im Badezimmer, Nippes, Bücher, Vasen, ganze Blumentöpfe änderten ihren Standort, schließlich ging sie dazu über, in den Schränken herumzuräumen, Wäsche im Haus zu verteilen. Sonja blieb gelassen, verlangte nur, dass Harrie alles wieder in Ordnung bringe. Einiges ging auch zu Bruch, was Harrie beseitigen konnte, sofern er es mitbekam, bevor Sonja nach Hause kam. Zwar musste sie nicht das Zerstörungswerk sehen, wohl aber den verwaisten Platz.
Seine Mutter schuf sich ihre eigene in der fremden Welt. Eine Welt in der ein Stuhl zum Ersatz für die Toilettenschüssel wurde. Die Pfütze auf und unter dem Stuhl straften sie dafür, dass sie dies nicht bedacht hatten. Windeln anzulegen, ließ sie nur widerwillig zu, mitunter entfernte sie sie, sobald sich der Pflegedienst, der für die körperliche Hygiene zuständig war, verabschiedet hatte.
Harrie steuert sein Auto durch die fahrzeugarmen Straßen der Innenstadt, wobei, fahrzeugarm stimmt so nicht, die Fahrzeuge ruhen am Rande der Straße oder vor den Wohnhäusern, in denen ihre Bewohner vor dem Nachmittagskaffee sitzen. Gut eine halbe Stunde braucht er, werktags gut eine Stunde. Nur eine halbe Stunde, die kurz genug ist, um ihm die Verantwortung für ihre Mutter in den Schoß zu legen, na ja, die Verantwortung hatte er schon die ganze Zeit, sie blieb an ihm kleben, weil Schwester und Bruder sich weit genug aus dem Verantwortungsbereich verzogen hatten. Astrid lebt mit ihren beiden Kindern in Itzehoe, mannlos, den hatte sie vor die Tür gesetzt (wie sie, sich selbst belügend, behauptet) und Detlev, der werktags seine Autohäuser managt, lebt auf einem umgebauten Bauernhof in Bünsdorf am Wittensee. Mit schnellem Kommen bei einem Notruf ist bei ihnen nicht zu rechnen.
Er nähert sich dem Stadtpark, an dessen Rand das Pflegeheim des Herrn von Hasselstedt idyllisch gelegen thront, umringt von grünen Rasen- und Wiesenflächen und altem Baum- und Buschbestand. Ein ehemaliges Gutshaus derer von Hasselstedt, dass der Alleinerbe der Familie zu einem Altencentrum hatte umbauen lassen. Das alte Gutshaus blieb stehen, aufwendig restauriert und die Organisation darin untergebracht, links und rechts des Gutshauses hat er zwei vierstöckige Anbauten errichten lassen, architektonisch dem Gutshaus angepasst, was nicht eindeutig zu erkennen ist, mit insgesamt 90 Zimmern für unterschiedliche Ansprüche der Bewohner.
Astrid hatte, nachdem Harrie den Geschwistern mit Nachdruck sagte, es gehe so nicht weiter, das Heim vorgeschlagen und gesagt, sie würde einen sofortigen Heimplatz bekommen, bevor die Brüder auch nur den Hauch von Chance hatten, Herrn Google diesbezüglich zu konsultieren. Ihnen blieb nur noch, im Internet das Pflegeheim aufzurufen und es oberflächlich zu begutachten, für gut zu befinden und Astrid den Auftrag zu erteilen, sich zu kümmern. Was für sie nur eine Formalie war, denn, wie Harrie herausfand, ist Herr von Hasselstedt Astrids Chef und anscheinend auch noch etwas mehr als das.
Sie ist Geschäftsführerin eines großen Einkaufszentrums in Neumünster, dass Herrn von Hasselstedt gehört. Diese Verquickung war Harrie aber Wurst, da Schnelligkeit über irgendwelche Bedenken ging. Mutter verkauften sie den Wechsel aus Harries Haus in das Pflegeheim als Kuraufenthalt, was sie nicht verstand: „Was für eine Kur?“ Sich sträuben, sich stur stellen wie ein arbeitsmüder Esel und unter geduldigem Zureden von Sonja und Astrid konnte sie zum Auto geführt werden, Harrie abwartend mit dem Koffer, bis die alte Dame sicher auf dem Rücksitz saß, dann schnell zum Auto, Koffer in den Kofferraum und losfahren, die stumm staunende Mutter zwischen Tochter und Schwiegertochter.
Die Front des Heimes fand sie anscheinend interessant, weil sie nach Ankunft davorstand und die Fassade mit einem, bei ihr seltenem, Lächeln anstrahlte, wahrscheinlich kam ihr die pommersche Vergangenheit in Erinnerung.
Damit war der Transfer einfacher als erwartet verlaufen und das Empfangskomitee, drei Pflegerin der Station, auf der Mutter untergebracht werden sollte sowie Frau Doktor Detlevsen, die Leiterin des Heimes, in ihrer schicken weißen Arbeitskleidung an Mutters Traum der Ärzte werdenden Kinder erinnernd, taten den Rest, dass sie sich heimisch fühlte. Vertrauensvoll begab sie sich in die Obhut dieser Menschen.
Das Zimmer, von Detlev und Harrie im Vorfeld der Übersiedlung auf die Schnelle eingerichtet mit einer kleinen Auswahl der Möbel aus ihrer alten Wohnung, betrat sie, als wäre es eine Selbstverständlichkeit „Ach, zu Hause.“ Doch, es war die richtige Entscheidung und sicher auch mit etwas Glück dabei.
Harrie biegt in die Warthestraße ein, fährt gemächlich durch die 30iger-Zone seinem Ziel entgegen, an dem er gedanklich schon längst angelangt ist. In seinem Kopf sind die sich gleichenden Bilder gespeichert, Bilder eines Rituals, dessen Bedeutung ihm längst verlustig gegangen ist, was er aber nie, weder seinen Geschwistern noch seiner Frau gegenüber, offen eingestehen würde. Die Frau in dem Zimmer, seine Mutter, ist ihm noch fremder geworden als sie es eh schon war. Die Linden, links und rechts an der Warthestraße, hatte er, als er anfangs diese Strecke nahm, noch mit wohlwollender Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen, besonders im aufgrünenden Frühjahr, oder im Sommer, wenn die Fahrt eine Fahrt durch einen lichten Blättertunnel in sattgrünen Farben ist. Jetzt sind die Linden nur noch unbeachtete Staffage.
Was wird er heute mit seiner Mutter reden? Wobei reden? Wird er wieder stumm bleibend neben ihr sitzen? Etwas über die Schule berichten, von zu Hause erzählen, von Sonja, von den Söhnen, wobei er eine spezifische Version dieser Erzählungen hat, die er nach seinen Wunschvorstellungen gestaltet, nicht immer der Wirklichkeit entsprechend, ohne dass seine Mutter die geringste Reaktion zeigen wird. Er könnte ihr Vorlesen, hatte er auch schon öfters gemacht, anfangs die Pilcher, im Glauben, ihr würde dies gefallen, zumindest tat es das früher, doch irgendwann konnte er sein Vorlesen nicht mehr hören, diesen sentimentalen Stuss, wechselte zu Romanen oder Krimis, die er aktuell las oder eh lesen wollte, las sich quasi selbst vor. Eine Stunde lang, denn das ist die Zeit, die er seiner Mutter jeden dritten Sonntag spendiert.
Klar, mitunter kommt ihm die Schäbigkeit seiner Gleichgültigkeit hoch, mit der er bei seiner Mutter sitzt, seine Zeit absitzt, jeden Versuch unterlassend, sie zu irgendetwas anzuregen. Selbst der kurze Rundgang durch den Garten, den er in den ersten Wochen ihres Aufenthaltes noch mit ihr im Arm eingehängt unternommen hatte, wurde von ihm eingestellt, der Reglosigkeit neben ihm wegen, aber auch, weil seine Mutter sich zu weigern begann, ihr Zimmer zu verlassen, wollte in der ihr noch bekannten Welt bleiben. Draußen war ihr alles fremd, fremd geworden. Später änderte dies sich wieder, später, als sie nicht mehr wusste, dass sie ein Zimmer hatte und da draußen eine Welt existierte. Aber nur Claudia durfte sie aus dem Zimmer geleiten, auf den Flur, mitunter in den Garten, sofern Claudia sich die Zeit dazu nehmen konnte.
Er lässt sein Auto zwischen die beiden angedeuteten grauen, vor Zeiten weißen, Markierungen rollen, tritt kurz auf die Bremse, der Wagen kommt zum Stehen. Mit einem Dreh des Zündschlüssels stellt er den Motor ab, zieht die Handbremse an, legt beide Hände fest um das Lenkrad, neigt den Kopf nach vorne, legt ihn sanft auf dem Lenkrad ab.
Nein, spurlos geht diese Situation nicht an Harrie vorbei, sie macht ihm schwer zu schaffen, besonders wie jetzt, wo er vor der Situation parkt und alles Zurückliegende ihm durch den Kopf schießt. Er schnauft tief durch. Es ist anstrengend, nicht nur seiner Mutter beizusitzen, nein, die Atmosphäre des Hauses kommt noch hinzu, die stumm, teilnahmslos im Foyer herumsitzenden Insassen, die, die durch die Gänge irren, nicht wissend wohin, zu viel Motorik in ihnen, die selbst die Medikamente nur bedingt bändigen können, Pflegerinnen, die eilenden Schrittes von Zimmer zu Zimmer streben, die Rufe, das Stöhnen, diese geballte Hilflosigkeit. Ihn ängstigt diese Zukunftsperspektive, ja, es ist eine Konfrontation mit seiner möglichen Zukunft, oder der von Sonja. Einer Perspektive, der er lieber aus dem Weg gehen würde.
Aber, alles lamentieren hilft nicht. Pflichtsonntag! Er hebt den Kopf, stößt sich sacht vom Lenkrad zurück, steigt aus dem Wagen, schließt ab, und bewegt sich gemächlichen Schrittes über den Fußweg in Richtung zum Eingang des Heimes, steigt die Stufen der Treppe hoch, drückt die Eingangstür auf und steht in dem hellen, großzügigen Foyer, bestückt mit Grünpflanzen, Sitzgruppen, in denen die Alten sitzen, von denen nur die Wenigsten den Eintretenden beachten, in der Hoffnung, er würde zu ihnen kommen, wäre ihr Besuch. Die Mehrzahl der Herumsitzenden sind Stierende, ziellos vor sich hinstarrende Menschen.
Harrie wendet den Blick auf den Flur, den er zu gehen hat, öffnet die Zwischentür zum Nebentrakt, geht in den hinteren Bereich, in dem seine Mutter ein, dank Schwesters Beziehung, großzügiges Zimmer bewohnt, dass ursprünglich gedacht war, für weit angereiste besuchende Angehörige, oft leer stand, nun ständig von ihr bewohnt. Die Geschwister konnten einige von Mutters Lieblingsmöbelstücke, zumindest die, die die Geschwister dafür hielten, mitnehmen, so dass ihr Zimmer fast wie ihr früheres Wohnzimmer aussieht, nur mit dem Krankenbett an der Fensterfront. Diesen Wunsch konnte sie noch selbst aussprechen.
Vom Bett aus in die scheinbare Weite des Parkes blicken bis hin zur Spitze des Turmes von St. Petri. An den Wänden hatten die Geschwister Bilder gehängt, den Gutshof in Pommern zeigend, als Gemälde, als Foto, von den Familien ihrer Kinder, ein Foto ihrer Eltern, von ihrem verstorbenen Mann, ihren Kindern, Enkelkindern, Bilder, die sie zu Anfang ihres Aufenthaltes noch abgegangen war, immer wieder vor ihnen stand, besonders vor der Aufnahme des Gutshofs, der ihr Leben geprägt hat, obwohl er nur einen Bruchteil ihres Lebens ausgemacht hat.
Sie hatte eine unbeschwerte Jugend in den Weiten Pommerns gelebt, dem freien Schweifen durch die gutseigenen Wiesen, Äcker, Wälder, in einem Haus mit ausgedehnten Zimmern, dass sie alles zurücklassen musste, als sie in die Enge der fremden Verwandtschaft fliehen musste, nur die Habseligkeiten mitnehmend, die auf den Leiterwagen passten. Der Weite trauert sie ihr ganze Leben lang in ihrer nach Leder riechenden Wohnung nach, ohne aus der Enge herauszukommen. Harrie hatte oft über das Leben seiner Mutter nachgedacht, wollte sich ihre Missmutigkeit allem und jedem gegenüber erklären und glaubte, sie in dem Verlust ihrer Jugendzeit gefunden zu haben. Mit ihr über ihr frühes Leben zu reden, nicht möglich, schon der Ansatz dazu wurde mit Schweigen oder einem zürnenden Blick unterdrückt, in ihren Gedanken schien sie aber diese Zeit fest verankert zu haben.
Elisabeth Maria Magdalena Kohlberg, geborene Strehlow, kurz Lisa, ist in den späten Achtzigern angekommen, körperlich noch agil, ohne dass sie diese Agilität leben kann, der Geist nicht mehr fähig oder willig, sie zu Bewegungen zu animieren. Zäh, drahtig, kein Gramm Fett zu viel auf den Rippen, was nicht an ihrer Küche lag, die war hervorragend, Pommersche Hefeplinsen, Kartoffelsuppe mit Pflaumen und Speck „Tüffel un Plum“, Pommersche Gans, Eintöpfe, viel Fisch und Geflügel standen auf dem Speiseplan. Eine Küche, die Harries Vater sehr zu schätzen wusste und ausgiebig kostete, zweimal nachlegen war obligatorisch, was sich an seinen Körpermaßen abzeichnete, die Jahr für Jahr an Gewicht hinzugewannen. Erst seine Krebserkrankung ließ sein Gewicht rapide schwinden, ebenso wie seinen Appetit. Harries Mutter aß immer nur den Hauch dessen, was sein Vater zu vertilgen vermochte, ohne ersichtlichen Grund. Sie rauchte nicht, trank keinen Alkohol und verweigerte selbst vom Arzt verschriebene Medizin, in der Spuren von Alkohol enthalten sein konnten. Mutter barg so einige Rätsel, wie das über ihren Vater. Es war offensichtlich, dass sie diesen sehr verehrte, aber über ihn zu sprechen, dies war in der Familie tabu. Sein Bild, er strahlend, aber dienstbeflissen in die Kamera schauend, in der Uniform des SA-Sturmbannführers, hing über ihrem Schreibtisch, so dass sie ihn, wenn sie aufblickte, voll im Visier hatte. Fragen zu Großvater fanden keine Antwort oder nur ein hingenuschelter Satz, nicht zu verstehen, aber so gebieterisch von ihr gesäuselt, dass sofort klar war, keine Nachfrage erlaubt.
Von all den Bildern und Fotos, die sie aufgehängt hatten, die Vertrautheit bei ihrer Mutter wecken sollten, hatten sie das Foto von Mutters Vater ferngehalten, Harrie hat ihn still und heimlich entsorgt. Wenn er aber seine Mutter bei ihren Inspiziergängen den Bildern entlang mit seinem Blick folgte, hatte er immer das Gefühl, sie suche genau dieses Foto, das ihr ihr ganzen Leben lang vor ihren Augen hing.
Wenn Harrie zurückdenkt, so war sie oft in einem melancholisch-lethargischen Zustand, fast so wie jetzt, nur, damals noch versehen mit Stimme und Verstand. Weihnachten bei Harries Familie waren solche Tage, da saß sie in einem Sessel, den sie sich so drehte, dass sie durch die Terrassentür in den trostlos daliegenden, blätter- und farblosen Garten blicken konnte. Am Geschehen um den Weihnachtstisch nahm sie zur Verwunderung der Kinder keinen Anteil, wahrscheinlich feierte sie in Gedanken an die Pommersche Zeiten ihr eigenes Weihnachtsfest. Auf Sonja wirkte diese, wie sie sagte, emotionale Kälte, abweisend, weshalb zwischen ihr und ihrer Schwiegermutter nie so etwas wie herzliche Nähe entstand.
Sie steckte immer in dunkler Kleidung. Seit dem Tod ihres Mannes vor nunmehr elf Jahren dauerhaft in schwarz gehüllt und zunehmend ihr Selbst verlierend. Ihre Bildung, ihre Sprache hatte sie sich durch die Lektüre von Romanen der seichten Art, Biografien pommerscher Größen, die nur von seiner Mutter als solche gesehen wurden, angeeignet.
Harries Vater war das Gegenteil von Mutter, von klein auf gewohnt im Laden zu stehen und die Kunden seines Vaters freundlich anzulächeln, sich über den Kopf streicheln zu lassen, einschmeichelnde Worte zu setzen, hat er diese Fähigkeiten über die Jahre zur Perfektion gebracht und als er den Laden des Vaters übernahm hatte er eine treue Stammkundschaft durch seine unermüdliche Freundlichkeit aufgebaut.
Er war in der Lage, Damen, die wegen einer Einkaufstasche, Handschuhen oder sonst einem Lederartikel in den Laden kamen, eine Handtasche anzudrehen, von denen die Damen gar nicht wussten, dass sie kaufen wollten. Er war anscheinend auch ein Charmeur, ließ mitunter die Verwandtschaft durchblicken. Er heiratete spät, nachdem ein Besuch auf Gut Seelsberg in mit Lisa bekanntmachte, die Verwandtschaft erkannte, dass hier eine Chance war, einen Esser loszuwerden, und die Verkupplungsversuche auf Gegenseitigkeit stießen, ja, deshalb heirateten die beiden. Er blieb weiterhin Frohnatur, liebte sein Glas, manchmal auch mehr, Wein, und genoss es, von seiner Frau mit gutem, deftigem Essen verwöhnt zu werden. Bei Lieferanten und Freunden wurde er zu Kugelberg, was Vater mit einem kräftigen Lachen aufnahm „Kugelberg. Finde ich gut.“
Der Laden florierte, solange die Menschen noch nachholen mussten, was sie verloren hatten, oder sich langsam ein klein wenig Luxus gönnten. Vaters Lieferanten kamen größtenteils aus Offenbach am Main, die Lederwarenfabrik Seeger, die Firma Goldpfeil, ehemals Ludwig Krumm AG oder die Lederwarenfabrik der Gebrüder Krauss, Namen die damals Klang hatten. Vaters Einnahmen nährten die Familie. Nur leider geht die Geschichte nicht immer geradlinig weiter. Es kamen die Designermarken, neue Hersteller, es kam das Kunstleder, schließlich die Plagiate aus Fernost und immer mehr Konkurrenz, die im großen Stil einkaufte und Preise verlangte, denen Vater nicht viel entgegensetzen konnte und mit seinem ansteckenden Lachen ließen sich auch keine Kunden mehr gewinnen, diese Zeiten waren vorbei, die Kundschaft längst beliebig geworden. In den sechziger Jahren hatte Vater noch über eine Filiale nachgedacht, letztlich aber blieb ihm nur die Kapitulation vor der übermächtigen Konkurrenz. Und nur kurz danach wurde bei ihm die Diagnose Krebs festgestellt.
Alle Bemühungen des Arztes und Mutters Flehen um die Hilfe von ganz oben blieben erfolglos. Mutter sagte, die Sorge um das Geschäft hätte der Krebs schamlos ausgenutzt. Vater war der Teil der Familie, der für den Sonnenschein zuständig war, Mutter für den Trüb-Wetter-Teil. Und trotzdem, Harrie beschwert sich nicht, er und seine Geschwister hatten eine unbeschwerte Jugend, die sie mit nur wenigen Einschränkungen leben konnten.
Harrie fragte sich mitunter, ob es nicht besser gewesen wäre, seine Mutter, nach dem Tod des Vaters nicht in der Einsamkeit zu lassen, sie irgendwo einzugliedern, in seine Familie oder einem Pflegeheim. Denn nur kurz nach Vaters Tod stellten sich erste Merkwürdigkeiten bei seiner Mutter ein, wobei diese erst im Nachhinein als merkwürdig erschienen.
Es war das Erste, was Harrie an seiner Mutter auffiel: er fand sie nicht mehr lesend vor. Eins kam zum anderen mit einer Geschwindigkeit, die die Geschwister überholte. Nun nur noch der Rest von Leben, nur noch ein Vorsichhindämmern, hinter einem undurchdringlichen Schleier des Schweigens. Schon bald nachdem sie im Heim untergekommen war, setzte die Apathie ein, sie redete immer weniger, bis sie schließlich gänzlich schwieg und dies nun seit über einem Jahr. Sie nahm an keiner gemeinsamen Aktivität teil, wurde dennoch regelmäßig zu den Singstunden, die sie stumm erduldete, die Gymnastikstunde, die sie begleitete, ohne eine Hand zu rühren, die Bastelstunde, von der sie wahrscheinlich nicht wusste, dass es sie gab; die Spielerunden, zweimal die Woche, bei der sie ohne ersichtlichen Grund die Spielfiguren vom Spielbrett fegte und sich zu keiner Teilnahme gewinnen ließ. Die Pflegerin, die die Spieler und Spielerinnen betreute, schob sie schließlich auf die Seite ab, wo sie einfach dasaß, ohne sich zu regen oder einen Mucks von sich zu geben.
Mitunter stieg in Harrie der Verdacht auf, seine Mutter würde ihn und die anderen aus reinem Trotz beschweigen. Doch, hält man über ein Jahr Schweigen so konsequent durch? Wohl eher nicht! Was geht da in einem Menschen vor sich, der so ganz ohne Teilnahme an seiner Außenwelt dahindämmert. Ja, sie dämmerte dahin, sonst nichts, ist angewiesen auf die Hilfe fremder Menschen, denn weder er noch seine Geschwister sind in der Lage, das zu leisten, was die Fremden, die Pflegerinnen, nun an ihr leisten müssen. Was bleibt, ist das dreiwöchige Aufsuchen, Beisitzen, Vorlesen, Schweigen ihrerseits, aus dem Fenster starren, bis die Stunde um ist, die er seiner Mutter meint schuldig zu sein.
Noch hat er die Tür ihres Zimmers nicht erreicht, hört oder glaubt er (?), eine Stimme zu hören. Eine Stimme, nicht die einer der Pflegerinnen, die nur gebrochen Deutsch reden konnte, nein, eine Stimme, die eindeutig die Stimme aus der Vergangenheit ist, die herbe nasale Stimme seiner Mutter. Sein Herzschlag erhöht sich, eine Verwirrung bemächtigt sich seiner. Es kann nicht sein, was er vermeint zu hören. Spricht da wirklich seine Mutter? Es muss, es kann nur die Stimme seiner Mutter sein.
Er legt die letzten drei Meter zum Zimmer rasch zurück, stürzt auf die Tür zu, öffnet sie, nicht wie sonst, nachdem er angeklopft hat, und bleibt wie angewurzelt, die rechte Hand am Türgriff, stehen. Seine Mutter in einer ungewohnten Motorik, geht zügig mit in der Luft schwingenden Armen, drehenden Händen, als wolle sie ein Orchester in Ekstase dirigieren, vor dem Panoramafenster auf und ab und redet in lauten deutlichen Worten vor sich hin, ohne dass Harrie auch nur annähernd erfasst, was sie da von sich gibt. Harrie erinnert sich, dass dies exakt das Verhalten ist, mit dem sie sich dem Vorhaben der Geschwister, ihr eine Pflegerin in die Wohnung zu holen, wütend abwehrend entgegenstemmte.
Eruptiv, wie der Ausbruch eines lang erloschenen Vulkans wirkt das auf ihn, was seine Mutter da vollführt. Wie immer ihre schwarze Schlapperhose an, die wild um ihre spindeldürren Beine weht, die schwarze Bluse mit dem grauen Blümchenmuster, die schwarze Strickweste, trotz der Wärme im Zimmer, flattert an ihrem Körper, zuckt hoch mit jedem Armschwung den sie ausführt.
Hinter ihr im Raum ein Mann, gesehen hat Harrie ihn schon, aber was macht er hier? Im Zimmer seiner Mutter? Ist er der Grund ihrer Aufgeregtheit? Ein Mann in einem Rollstuhl, leicht linkslastig in ihm sitzend, der nun den Rollstuhl halb wendet, Harrie anblickt, wieder zurückwendet, mit der rechten Hand neben sich greift, einen Block hervorholt, aus der Brusttasche einen Stift zieht, sich an den vor ihm befindlichen Tisch schiebt, mit der rechten Hand seinen linken Arm anhebt, ihn auf den Block legt, anscheinend um den Block zu stabilisieren, und beginnt, etwas aufzuschreiben. Völlig irritiert, was hier vor sich geht, hat Harrie nur den Mann beobachtet, während seine Mutter weiter auf und ab hastet, etwas Unverständliches von sich gibt, vom dem Harrie zunächst nur „Paul“ versteht, dann „..das darfst Du nicht..“ „Nein, nein….ich muss….habe ich eingekauft?“ „…das ist alles Falsch.“
Neben ihm steht plötzlich Claudia Alexandra, die Pflegerin aus Mexiko, die sich in der Tagschicht um seine Mutter kümmert, lächelt verlegen mehr vor sich hin als ihn an, sie wirkt ratlos, als sei sie verantwortlich für das, was hier vor sich geht, schiebt ihren Blick zu seiner Mutter: „Sprecht wieder!“
„Will…die Flasche…Paul?“
Der Mann im Rollstuhl hält einen Zettel hoch, wedelt ihn Harrie zu, der kapiert endlich, geht auf den Mann zu, nimmt den Zettel und liest in Krachselschrift FRAU DOKTOR KOMMT GLEICH. ERKLÄRT ALLES.
Erklärt alles? Was geht hier vor? Was gibt es da zu erklären? Seine Mutter spricht! Bewegt sich! Unfassbar. Harrie geht, Schritt vor Schritt setzend, langsam auf seine Mutter zu, stellt sich ihr in den Weg, legt ihr, die weiter redet, weiter drängt zu laufen, die Hände auf ihre knochigen Schultern, stoppt sie, spürt eine ungewohnt widerspenstige Kraft, die sie weiter vorwärts drängen lassen will, drückt sie, klammert sie fest an sich.
„Mutti, was ist los. Du sprichst? Was sprichst Du? Erkennst Du mich? Ich bin es, Harald.“
„..das sagst Du immer…dann wird’s nur schlimmer..“
Eine klare Aussage, nur, was soll sie bedeuten? Und was hat das mit ihm zu tun? Was macht er schlimmer?
„Was meinst Du damit? Was wird schlimmer?“
„...das sagst Du immer…wird schlimmer..“
Ihre Stimme lässt merklich nach, wird immer leiser, ihre Bewegungen scheinen einzuschlafen, aber immer noch dieses „…wird schlimmer…wird schlimmer..“, das sie nun wie einschlafend vor sich hin säuselt.
Harrie durchzuckt der Impuls, sein Smartphone aus der Tasche zu ziehen, aufzunehmen, was es zu hören gibt, nur, da ist nur noch dieses schwache Säuseln, kraftlos hängt seine Mutter an ihm, sacht führt er sie zurück zu ihrem Stuhl, lässt sie sich draufsetzen, die Arme auf der Lehne liegend, ihr Blick nun vollkommen ruhig nach draußen in den Park gerichtet. Was hat er da gerade erlebt? Was war das? Er schaut auf die hilflos dreinblickende Pflegerin, dann zu dem Mann im Rollstuhl, dann zur Tür, die geöffnet wird und Frau Doktor Detlevsen tritt ein, wirkt gehetzt, ihre eh schon großen Augen scheinen noch größer geworden zu sein, blickt alle im Raum befindlichen Personen an: „Oh, ich bin zu spät. Stimmts? Tut mir leid. Aber mein Chef rief an, als ich mich gerade auf den Weg machen wollte.“
„Guten Tag, Frau Detlevsen. Sie erklären mir das sicher jetzt? Also, das, was ich gerade erlebt habe.“
„Ja, guten Tag, Herr Kohlberg. Ja, natürlich. Gleich. Claudia fahr bitte Herrn Zieldorff auf sein Zimmer zurück.“ Zu Harrie: „Nehmen Sie bitte Platz.“
Claudia nimmt die Griffe des Rollstuhls in die Hände und schiebt den Herrn aus dem Zimmer, Frau Detlevsen setzt sich Harrie gegenüber an den Tisch, der blickt zu seiner Mutter, die wieder in der üblichen lethargischen Haltung verharrt, als wäre nichts gewesen. Er versteht nichts. Nichts von dem, was er gesehen und gehört hat.
„Kurz, Claudia hat bemerkt, dass ihre Mutter in Reden ausbricht, und zwar immer dann, wenn sie Herr Zieldorff wahrnimmt. Claudia geht mit ihrer Mutter am Arm im Flur auf und ab, damit sie sich wenigstens etwas bewegt und dabei trafen sie auf Herrn Zieldorff. Claudia sagt, wenn ich sie richtig verstanden habe, beim ersten Treffen wirkte sie nur aufgeregt, als wäre ihr etwas eingefallen. Beim zweiten Aufeinandertreffen hätte sie dann angefangen zu sprechen, also eher zu schimpfen, wie Claudia es empfand. Als mir Claudia dies berichtete, wollte ich es nicht glauben. Also so etwas habe ich bei einer Demenzpatientin noch nicht erlebt. Es schien mir unmöglich. Es geht immer nur abwärts. Also bat ich Claudia Herrn Zieldorff nach dem Mittagessen zu Ihrer Mutter ins Zimmer zu fahren, mich anzupiepsen, damit ich dazukomme, um mir selbst ein Bild zu machen. Ja, und kurz bevor es piepste, kam der Anruf von meinem Chef. Den kann ich nicht abwimmeln. Herr Zieldorff schrieb mir auf, dass diese Phase etwa 15 bis 20 Minuten andauert und sie immer die gleichen Wortfetzen von sich gibt. Wissen Sie, das Komische ist, Herr Zieldorff wohnt seit nunmehr zwei Jahren hier im Heim, also fast genauso lang wie Ihre Mutter. Sie haben sich schon öfters gesehen und gleiches wie jetzt ist zuvor nie passiert. Ehrlich, ich verstehe es nicht. Es ist mir ein Rätsel.“
Sein Blick ruht auf dem Gesicht der Heimleiterin, in dem die Irritation festgeschrieben scheint.
„Wer ist dieser Herr Zieldorff?“
„Er hat sein Zimmer hier auf dem Flur, zwei Zimmer weiter. Nach einem Schlaganfall ist er seitdem linksseitig gelähmt. Sein Sprachzentrum ist in Mitleidenschaft gezogen worden, so dass er sich nur schriftlich mitteilen kann. Nach dem Krankenhaus und der REHA kam er zu uns ins Heim.“
„Und…er heißt Paul?“
„Paul?“
„Ja, meine Mutter sprach ihn als Paul an, oder sprach von einem Paul.“
„Wenn ich recht erinnere, heißt er Hein. Auf keinen Fall Paul. Ich weiß nicht, wer Paul ist.“
„Gibt es denn einen Paul im Heim?“
„Hm, möglich…aber in der Nähe Ihrer Mutter? Ich wüsste von keinem Paul.“
„Schon sehr sonderbar. Aber wie kommt sie auf den Namen? Mein Vater hieß Ehler, mein Bruder Detlev, die Brüder meiner Mutter hießen Otto, Friedrich und Reiner, nein, zu unserer Familie gehört kein Paul.“
Frau Detlevsen hat beide Hände auf dem Tisch liegen, daneben eine Hängetasche, die sie nun zu sich zieht und aufklappt, entnimmt ihr zwei Blätter, die sie mit fragendem Blick anschaut: „Ihre Mutter wurde vor vierzehn Tagen von Doktor Striehler untersucht. Ihre Laborwerte sind für ihr Alter erstaunlich gut. Wir hatten ein großes Blutbild gemacht. Also, aus ihren Werten lässt sich kein Rückschluss auf ihr Verhalten ziehen.“
„Sie wirkte sehr aufgewühlt auf mich, als wäre da etwas, was sie furchtbar erregt hat. Aber ob der Mann der Auslöser war, das kann ich nicht sagen, da sie ihn noch nicht einmal anschaute. Überhaupt, ich denke, sie weiß gar nicht, dass sie gesprochen hat, dass sie aufgeregt umherlief…Aber? Ich verstehe es auch nicht.“
Frau Detlevsen steht auf, geht zu seiner Mutter vor, stellt sich vor sie, lächelt sie an: „Hallo Frau Kohlberg. Wie geht es Ihnen?“
Keine Reaktion seiner Mutter.
Die Heimleiterin greift ihren Arm, fühlt den Puls, wendet sich Harrie zu: „Der Puls ist noch erhöht und die Pupillen sind leicht vergrößert. Hm, Frau Kohlberg, was hat Sie so in Aufruhr versetzt?“
Natürlich gibt seine Mutter darauf keine Antwort, ist irgendwo, vielleicht in Pommern, vielleicht im Nirgendwo.
„Konnten Sie verstehen, was sie sonst noch sagte?“
„Nein, es wirkte konfus und zusammenhanglos…wobei, ihre letzten Worte…das war ein fast kompletter Satz: Das sagst Du immer. Und dann wird es schlimmer. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Sie sprach den Satz nicht zu mir…aber, wenn ich es mir überlege, sie könnte es zu diesem Paul gesagt haben. Das ist alles so unwirklich, so seltsam.“
Der Blick von Frau Detlevsen drückt Mitleid aus, Verständnis, denn auch sie vermag nicht zu überblicken, was dies alles zu bedeuten hat.
„Hm, Sie sagen, der Herr Zieldorf kann nicht sprechen? Aber hören, er kann doch hören?“
„Äh, ja das kann er.“
„Könnten Sie ihn dann bitten, alles aufzuschreiben, was meine Mutter von sich gegeben hat? Vielleicht lässt sich daraus ein Sinn lesen.“
„Natürlich, dies kann ich machen.“
Nachdenklich schaut Harrie nach seiner Mutter. Könnte es ein Schub durch die medikamentöse Behandlung gewesen sein?
„Sagen Sie, könnte ein Medikamentenwechsel so einen, nein nicht Anfall, aber Ausbruch auslösen?“
Das schließt Frau Detlevsen nicht aus, sagt aber, dass die Patienten mit den Medikamenten weiter versorgt würden, die der behandelnde Hausarzt bisher eingesetzt hat. Sie führten die Medikation fort, nur in Ausnahmefällen, zum Beispiel wenn die Patienten unruhig werden oder gar aggressiv, dann kann es vorkommen, dass das Medikament gewechselt wird oder gar ein neues hinzukommt, aber so viel sie weiß, sei bei seiner Mutter keinerlei Veränderung in der Medikation vorgenommen worden. Sie schaut in der Krankenakte vor ihr nach.
„Ja, sie bekommt weiterhin Rivastigmin und Antidepressiva. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Medikamente einen solchen, wie sie sagen, Ausbruch, hervorrufen können. Ich werde aber trotzdem Doktor Striehler daraufhin ansprechen. Wie gesagt, ich habe so etwas in meiner Praxis noch nie erlebt.“
Sie schaut Harrie direkt ins Gesicht mit einem hilflos wirkenden Ausdruck.
„Sie sagen Antidepressiva. Ist das denn notwendig? Wenn ich meine Mutter so betrachte, frage ich mich, was soll ein Antidepressiv-Medikament in ihrem Zustand bewirken? Ist das nicht sinnlos?“
„Nein, wir glauben, dass es das nicht ist. Sehen Sie, demenzerkrankte Patienten merken früh das etwas mit ihnen passiert, da entsteht Panik im Kopf. Je weiter die Krankheit fortschreitet wehren sich die Patienten innerlich, aber mit dem Wissen, dass sie nichts ändern können. Viele Patienten fallen dann in eine Lethargie, in Depressionen, ziehen sich in sich zurück oder werden aggressiv. Die Verläufe sind da sehr unterschiedlich. Und diese depressive Stimmung bleibt, auch wenn bei den Patienten die Gehirnfunktionen weitgehend erlöschen. Wir glauben, dass das Medikament hilft, wissen es aber nicht. Demenz hat nicht viel mit Wissen zu tun. Wir wissen sehr wenig über die Krankheit, vor allem, was in den Patienten vorgeht. Wir glauben oder hoffen, dass das, was wir tun, das Richtige für unsere Patienten ist.“
Sie hat ein leichtes, unsicher wirkendes Lächeln um ihre Lippen, soll wohl Hoffnung machen, aber Harrie ist nicht überzeugt, lässt es aber so stehen. Er weiß, dass er noch weniger weiß als die Frau Doktor.
„Ich möchte Ihnen folgendes vorschlagen. Wenn Sie damit einverstanden sind, würde ich gerne noch einmal versuchen, den Vorgang von Heute zu provozieren. Ich hätte dann gerne Doktor Striehler mit dabei, der kommt Mittwoch zur Sprechstunde ins Heim. Er ist der Spezialist für Demenzerkrankungen. Er kennt Ihre Mutter, vielleicht finden wir zusammen eine Antwort.“
Nachdenklich dasitzend, die Worte der Heimleiterin im Kopfe wendend, fällt ihm keine rechte Antwort ein. Er hat genug über die Krankheit gelesen, um zu wissen, dass es kein Zurück gibt, es wäre nur ein Experimentieren, ein sinnloses Experimentieren an seiner Mutter, dass sie nur aufregt und weiter verwirrt. Andererseits wüsste er schon gerne, was hinter diesem Ausbruch steht, irgendeine Erklärung muss es geben. Mittwoch 14:00 Uhr. Hat er da überhaupt Zeit? Mittwoch ist Langtag, also Nachmittagsunterricht. Hm…16:00 Uhr ginge.
„Gut, Frau Detlevsen, aber ich möchte keine unnötigen Experimente, nur einen Erklärungsversuch, eine Analyse. Verstehen Sie? Und Mittwoch geht bei mir erst ab 16:00 Uhr.“
„Mal sehen, ich muss das mit Doktor Striehler abstimmen. Ich erwarte Sie um 16:00 Uhr im Foyer. Falls etwas dazwischenkommen sollte, melde ich mich, ihre Rufnummer liegt uns ja vor. Wir besprechen uns kurz und versuchen eine Erklärung für das Mysterium zu finden.“
Mysterium? Ja, so kann man es durchaus nennen.
Frau Detlevsen erhebt sich, reicht Harrie ihre Hand und verabschiedet sich bis Mittwoch. An der Tür bleibt sie stehen, den Blick auf Harrie gerichtet.
„Es ist verwirrend. Ja, sehr verwirrend“, dabei schüttelt sie leicht verneinend ihren Kopf.
Ein weiterer Kopf, der von Claudia, taucht auf, die beiden sprechen miteinander, Claudia kommt auf Harrie zu und fragt ihn, ob er ein Kaffee möchte, was Harrie bejaht. Sie geht, er wendet sich seiner Mutter zu, trägt den Stuhl, auf dem er saß, zu seiner Mutter, platziert ihn neben dem ihren, schaut sie an, die weiterhin stur mürrisch mit geschürzter Unterlippe, kleine Falten auf der Stirn, nach draußen blickt, in eine in allen Grüntönen von der Sonne bestrahlten Natur.
„Mutti? Verstehst Du mich? Ich bin es, Harald.“
Nein, keine Reaktion, nichts in der Mimik seiner Mutter, die andeutet, dass sie ihn wahrnimmt.
„Mutti? Wer ist Paul? Verstehst Du? Paul? Wer ist das?“
Wie erstarrt sitzt seine Mutter in ihrem Stuhl. Nein, kein Herankommen.
Claudia balanciert eine dampfende Tasse wohlriechendem Kaffee zu ihm, er zeigt auf das Fensterbrett, auf das Claudia die Tasse abstellt. Sie geht auf die Sitzende zu, stellt sich vor sie, streichelt seiner Mutter über die Hand, lächelt sie an, Harrie vermeint ein Zucken in den Mundwinkeln seiner Mutter zu erkennen, kann sich aber auch getäuscht haben.
„Ist angestrengt, die Mutter. Braucht jetzt Ruhe.“
„Danke Dir Claudia…Ja, ich gehe gleich…Ach, sagt mal, kennst Du einen Paul hier im Haus?“
„Paul?“
„Ja, ein Mann, der Paul heißt. Mit Namen P a u l.“
„Ahh, versteh. Kein Paul. Kenn kein Paul.“
Harrie muss lächeln, unmöglich Claudia oder Ximena zu einem „Nein“ zu bewegen. Die beiden, wie anscheinend alle Mexikaner, können einfach nicht 'Nein' sagen. Für Mexikaner klinkt das Wort sehr hart. Etwas für das man sich entschuldigen müsste. „Ich kann nicht direkt 'Nein' sagen, weil ich denke, dass sich der andere dann schlecht fühlt", hatte Ximena einmal zu ihm gesagt.
„Schade.“
Claudia ist eine kleine Person, vielleicht einen Meter sechzig groß oder klein, wie man will, mit brauner, gesund aussehender Hautfarbe (wobei, denkt Harrie, seine Hautärztin sagt immer, es gibt kein gesundes Braun), Mandelaugen in einem Gesicht, dass Zuneigung, Wärme, Freundlichkeit ausstrahlt, so ganz anders als die deutschen Trübsalgesichter, in die er sonst blicken muss. In der weißen Tracht, von der er weiß, dass sie seiner Mutter gefällt, ist sie bei ihr und ihrer Kollegin Ximena in guten Händen.
Ximena und Claudia sind nicht die einzigen Mexikanerinnen im Heim, aber Harrie kennt nur die beiden, Claudia hat die Früh-, Ximena die Spätschicht in der Betreuung seiner Mutter und der anderen Bewohner auf dem Flur.
Die anderen Pflegerinnen aus Mexiko sieht er mal über die Flure huschen oder hört von ihnen, wenn er sich mit Ximena unterhält. Diese ist geschieden, hat zwei Kinder, die sie in Mexiko bei ihren Eltern zurückließ und hatte die Herausforderung nach Deutschland zu kommen noch mit zweiundvierzig Jahren gewagt. Ihr Vertrag mit dem Heim geht über vier Jahre, aber sie möchte gern bleiben, sagte sie Harrie, und die Kinder zu sich holen.
Harrie zollt ihr großen Respekt, nicht nur wegen dessen, was sie auf sich genommen hat, sondern auch, weil sie von einer gleichbleibenden Freundlichkeit, ja Herzlichkeit ist, die sie, ebenso wie Claudia, auf ihre Patienten überträgt.
So viel Negatives hat er schon über Pflegeheime und die unter Dauerstress stehenden Pflegerinnen gehört, dass er gleich, nachdem seine Schwester das Heim bestimmt hatte, sich auf den Weg machte und vor Ort Erkundigungen einzog, damit seine Mutter eine Pflege erhielt, die diesen Namen verdient hat.
Wichtig war ihm vor allem, keinen Pfleger an seine Mutter heranzulassen, da er deren Schamhaftigkeit zur Genüge kannte und sie sich mit Händen und Füßen gewehrt hätte, wenn ein Pfleger, ein Mann, ihr die Windeln gewechselt hätte. Im Heim gab es nur wenige Pfleger, die sich meist um die älteren Herren kümmern, ansonsten nur Pflegerinnen aus verschiedenen Ländern. Erst nach dieser, ihn befriedigenden Erkundung, gab Harrie den Geschwistern sein Einverständnis für die Unterbringung ihrer Mutter.
Im Laufe der Zeit und einigen Besuchen, die zu Beginn der Unterbringung seiner Mutter öfters anfielen als später, in der dreiwöchigen Routine, fand er Kontakt zu den beiden Pflegerinnen, die sich durchaus die Zeit für ein Gespräch mit ihm nahmen. So erfuhr er von Ximena, die ein sehr passables Deutsch sprach, dass die Mexikanerinnen im Rahmen eines von der deutschen Regierung aufgelegten und finanzierten Programmes in Mexiko-Stadt eine einjährige Ausbildung inklusive eines Sprachunterrichtes absolviert hatten. Die Frauen des Programmes arbeiteten bereits als Krankenpflegerinnen mit teilweise mehrjähriger Erfahrung und hatten sich aufgrund einer Ausschreibung beworben. Geringer Verdienst, keine Aufstiegschancen, vor allem aber die Angst vor der grassierenden Kriminalität, die ihre Wege unsicher machten, ließen die Frauen auf einen Arbeitsvertrag für Deutschland hoffen.
In den Gesprächen mit Ximena lernte Harrie, was es bedeutet, Kontakte, also gut vernetzt zu sein, und das war Herr von Hasselstedt, wobei Ximena nur Stichworte lieferte, die Harrie nachrecherchierte.
Nicht nur, dass er Bauen durfte, wo man eigentlich nicht Bauen durfte, Bewilligungen im Eilverfahren erhielt, wo andere monatelang abwarten mussten, er hatte anscheinend auch Kontakte, die ihn von einem Programm profitieren ließen, von denen anderen gar nicht wussten, dass es bestand. Er war nicht in der Politik aktiv, sponsorte aber kulturelle und soziale Projekte oder Veranstaltungen, war in einigen Gremien der Stadt vertreten, denen man nur beitrat, wenn man über ein gewisses Vermögen verfügte. Sein Netzwerk ging weit über die Stadt hinaus, Parteigrenzen waren ihm anscheinend auch fremd, denn anders war es nicht zu erklären, dass er für sein Heim ein großes Kontingent mexikanischer Pflegerinnen erhielt.
Gut, er sorgte dafür, dass sie hier weiterhin Deutschunterricht erhielten, im Umgang mit moderner Altenpflege geschult wurden, und, er ließ die Mexikanerinnen zweimal im Jahr einen mexikanischen Abend für die Heimbewohner gestalten, zu dem Gäste, also die Angehörigen geladen waren. Harrie und Sonja waren bei jeder Veranstaltung anwesend und staunten, was die Damen auf die Beine gestellt hatten. Harrie suchte zwar, fand aber kein Haar in der Suppe des Herrn Hasselstedt, außer den Kosten, die die Unterbringung ihrer Mutter beanspruchte. Kein preiswertes Heim, dafür mit ein paar Extravaganzen, von denen andere Heime nur träumen konnten.
Claudia tätschelt leicht Harries Schulter sagt „Arm Frau“ und zieht mit einem „Hasta luego“ davon. Harrie blickt noch einmal in das Gesicht seiner Mutter, aber diese ist wieder in sich, keine Spur mehr von dem, was sich hier noch vor kurzer Zeit abgespielt hat. Er nimmt ihre rechte Hand und drückt sie so sanft als möglich: „Ich bin Mittwoch wieder da. Tschüss.“
Langsam geht er auf die Tür zu, öffnet sie, dreht sich noch einmal herum, blickt auf den Rücken seiner Mutter. Seltsam, sehr seltsam.
Auf dem Flur keine Bewegung, manche Zimmertür steht offen, lässt ein Stöhnen hier, ein Rufen nach einer Pflegerin nach draußen dringen, Claudia, die in einem Zimmer ein Bett richtet, winkt ihm, wie immer mit einem Lächeln im Gesicht, zu. Desinfektionsmittelgeruch liegt in der Luft, ganz zart auch aus manchem Zimmer Kaffeeduft. Hier im Flur liegen überwiegend Pflegefälle, Demenzpatienten, Patienten mit Schlaganfall, Amputationen, wie Frau Striehmöller, der ihr Diabetes beide Beine gekostet hat. Bedauerliche Menschen, die aber das Glück hätten, hier zu sein, wie Ximena sagt. So in Gedanken laufend, fallen ihm die kahlen Wände auf. Wieso jetzt?
Er hat schon oft genug diesen Flur durchlaufen, aber die Wände, die kahlen Wände nimmt er erst jetzt bewusst wahr. Kein Bild, nur weiße Farbe, kein Blickfang, kein Anreiz, weil die meisten Patienten hier bettlägerig oder dement sind? Im Foyer hängen zwei Gemälde, wahrscheinlich billige Drucke. Hasselstedt gibt sich als Kunstförderer, versteckt wahrscheinlich seine Errungenschaften, die er mit Sicherheit hat, wie Harrie denkt, in seinen persönlichen Räumen und seine Patienten müssen nackte Wände betrachten. Er sollte Frau Detlevsen darauf ansprechen.
Was tun mit dem, was er heute erlebt hat? Astrid und Detlev informieren? Klar, Sonja muss er es erzählen. Die wird staunen, oder auch nicht. Aber Astrid und Detlev? Den Mittwoch noch abwarten und dann erst informieren? Hm, wird er mit Sonja besprechen.
Er verlässt das Pflegeheim, geht den gepflasterten Weg zu seinem geparkten Auto, startet den Motor, und steuert das Auto nach Hause, gedankenversunken.
Der Satz, der Satz geht ihm nicht aus dem Kopf: „Das sagst Du immer…Dann wird alles schlimmer.“ Was, verdammt noch einmal, wird immer schlimmer? Was ist schlimm? Und wer ist dieser Paul, zu dem sie das anscheinend sagt? Nur kurz, wirklich nur kurz, blitzt der Gedanke auf, es könnte sich um einen amourösen Fehltritt seiner Mutter in der Vergangenheit handeln. Ein Fehltritt seiner Mutter? Nein, nein, unmöglich, ganz unmöglich. Nicht dass sie unattraktiv gewesen wäre. Sie war eine hübsche Frau, zumindest früher, etwas zu dünn, aber nein, nein, unmöglich. Na ja, andererseits, sie ist eine Frau und gab es da nicht andere unerwähnte Familiengeschehnisse? Aber, so sehr auch nachdenkt, es scheint ihm außerhalb seiner Vorstellungskraft zu liegen, dass seine puritanische Mutter ein irgendwie geartetes Verhältnis gehabt haben sollte.
Es ist also etwas schlimm und wird schlimmer. Könnten es auch Fantasien zu ihren Kindern sein? Detlev war so etwas wie ihr Sorgenkind, der sich ihrem Erziehungseifer des „Du sollst es einmal besser haben als ich“ entzog und alles tat, nur nicht das, was seine Mutter von ihm erwartete. Aber warum dann Paul?
Vielleicht war das Ganze einfach nur eine Episode im Krankheitsverlauf, der ja nicht bei jedem Patienten gleich verläuft, sondern seine individuellen Eigenheiten hat. Hm, das könnte es sein. Na ja, mal schauen, was Sonja meint.
Er biegt von der Bundesstraße ab, in die Erlenallee, ein Schwenk nach links in den Kastanienweg, drückt den Öffner für das Garagentor, dass sich langsam aufrollt, fährt hinein, stellt den Wagen ab, steigt aus und geht auf direktem Weg seinem Haus entgegen. Das da ein Maulwurf seinen Garten aufmischt, vergessen, Nebensache.
Sonja hantiert in der Küche: „Hallo Schatz, willst du auch einen Tee?“
„Hallo, soll ich oder soll ich nicht. Ich habe im Heim erst einen Kaffee getrunken. Zuviel Koffein ist nicht gut für mich. Nein, keinen Tee.“
„Seit wann trinkst du Kaffee?“
Stimmt, Harrie trinkt eigentlich nie Kaffee, schmeckt ihm nicht, hält ihn für ungesund und sein Herz rast nach einem Kaffee los, zumindest war das so, bevor er aufgehört hat Kaffee zu trinken und auf Tee umgestiegen ist.
„Ja, ich weiß auch nicht wieso. Frau Detlevsen hat mir von Claudia einen Kaffee bringen lassen. Wahrscheinlich war ich so verwirrt, dass ich vergessen habe abzulehnen.“
Sonja betrachtet ihren Mann mit einem fragenden Seitenblick: „Verwirrt? Wieso verwirrt?“
„Mutter hat gesprochen!“
Jetzt sieht sie ihn voll an, auf ihrer Stirn zeichnet sich Ungläubigkeit ab: „Gesprochen?“
„Ja, es war so surreal, so seltsam und was sie sagte, eigentlich unverständlich. Ich habe nur wenig verstanden. Aber sie wiederholte den Namen Paul mehrmals und irgendetwas ist schlimm und wird immer schlimmer. Wenn ich es richtig einordne, verursacht durch diesen Paul.“
Mit leicht zusammengekniffenen Augen folgt Sonja seinen Worten, macht sie immer so, wenn sie nachdenklich ist. Ganz dezent wackelt sie mit ihrem Kopf.
„Paul? Wer soll das sein?“
„Keine Ahnung. Ich habe Frau Detlevsen und Claudia gefragt, aber beide kennen keinen Paul, kein Paul, der im Heim wohnt oder arbeitet und mir fällt beim besten Willen kein Paul ein, der in irgendeiner Verbindung zu Mutter stand.“
„Hm, vielleicht kennst du ja nicht jeden Mann im Leben deiner Mutter.“
„Quatsch. Das ist Quatsch, was du da andeutest. An meine Mutter kam ja noch nicht einmal ein Doktor heran.“
Sie stehen immer noch in der Küche. Sonja greift Harries Arm und zieht ihn damit ins Wohnzimmer. Sie setzen sich.
„So und jetzt das Ganze langsam und von vorn.“
Kurz Luft holen, die Erinnerung zusammenraffen und Sonja das Erlebte bis ins Detail hinein berichten, wobei der Bericht knapp ausfällt, da ihn sein Erstaunt-sein in seiner Aufnahmefähigkeit gelähmt hat und, wie er jetzt feststellt, eigentlich gar nicht so viel von dem mitbekommen hat, was dem Mund seiner Mutter rauschte, was Sonja ungeduldig macht, „…aber wenn sie eine Viertelstunde gesprochen hat, dann muss doch da mehr als Paul und der Schlimmer-Satz herausgekommen sein.“
„Sie war doch schon fast am Ende als ich dazukam, da war nicht mehr viel, was ich aufschnappen konnte.“
„Und der Mann? Wieso bricht sie in Worte aus, wenn sie diesen Mann sieht?“
„Das weiß ich nicht. Ja, es ist sehr seltsam. Sie kennt ihn schon länger. Sie müssen sich im Heim-Restaurant oder auf dem Flur oft begegnet sein, ohne dass eine Reaktion erfolgte. Und jetzt…ganz plötzlich und nur weil Claudia es mitbekommen hat. Vielleicht passierte es ja auch schon vorher, ohne dass jemand darauf geachtet hat.“
Sonja legt ihre Hand auf Harries Oberschenkel, schaut ihn an: „Willst du nicht doch einen Tee?“
„Nein, ich bin auch so aufgeregt genug.“
„Lisa hat gesprochen. Na und? Jetzt schweigt sie wieder. Also, alles beim Alten. Ich denke, du hast recht mit deiner Vermutung, es ist nichts weiter als ein Ausschlag ihrer Krankheit.“
Ja, so kann man es sehen und hätte damit seine Ruhe, aber er empfindet die Aussage, dass alles noch schlimmer wird als sehr real. Nur, war etwas Schlimmes vorgefallen? Im Heim? Oh, er hätte fragen müssen. Aber selbst ohne Fragen, wenn etwas Schlimmes geschehen wäre, hätte sich dies doch sicher herumgesprochen. Ach, alles so vertrackt.
„Frau Detlevsen will die Situation am Mittwoch noch einmal in Beisein von Doktor Striehler herbeiführen. Mal schauen, wie der Mittwoch verläuft. Meinst du, ich sollte Astrid und Detlev Bescheid sagen?“
Sonja wägt ab, zögert mit ihrer Antwort.
„Na ja, eigentlich müsstest du. Allerdings, wenn sich Mittwoch Lisas Sprachanfall nicht wiederholt, hast du nur die Pferde scheu gemacht. Warte ab, ja, warte ab, was am Mittwoch passiert, dann kannst du sie immer noch benachrichtigen.“
Gut, so hatte er es vor, so wird er es machen. Er erhebt sich und sagt, er gehe jetzt in sein Zimmer, um seinen Unterricht vorzubereiten. Wird er nicht, wie Sonja weiß, aber lässt ihn ohne eine ihrer sarkastischen Bemerkung ziehen.
„Und du? Willst du Mittwoch mitkommen?“
„Ich halte es mit den Pferden. Nein, ich kann Mittwoch nicht. Ich habe Termine bis 18:00 Uhr und du übrigens auch. Oder tagt Mittwoch nicht Dein Mumien-Club?“
Mumien-Club, noch so ein Wort, das aber bereits auf seiner Liste der nichtzuvergessenden Dinge steht. Wobei, na ja, Sonja hatte ja nicht unrecht und wenn sie dieses Wort benutzt, muss auch er lächeln, benutzt es mittlerweile sogar selbst, nur heute nicht. Und das Wort von der Liste zu streichen hat er sich zwar vorgenommen, aber noch nicht vollzogen.
Harrie sitzt mit ihm Vorstand des Vereines für Stadt- und Landesgeschichte und in diesem Vorstand ist er mit seinen 61 Jahren das jüngste Mitglied.
Sonja meint mit dem Wort Mumien nicht nur die Tatsache der alten Herrschaften im Vorstand, und die sind nun einmal alt, ziemlich alt, wie gesagt, außer Harrie, der zwar alt ist, sich aber nicht dafür hält, sondern auch das Auftreten der Vorstandsmitglieder in öffentlichen Veranstaltungen. Bei Vorträgen von geladenen Experten, die nicht nur zur Stadt- und Landesgeschichte referierten, sitzen sie steif auf ihren Stühlen in der vordersten Reihe, stets in Kulturkleidung gehüllt, ernst, ja ehrfürchtig blickend, mitunter auch mal einnickend und in der dem Vortrag nachgeschalteten Diskussion alles besser wissend, halt Lehrer aus Schule und Universität sowie Stadtprominenz aus Wirtschaft und Kultur.
Eine Mischung aus altem Bürgertum, na ja fast sogar Patriziertum, Reste einer ruhmreichen Vergangenheit, etwa Frau Mölln-Steigerwald, deren Familie den Weinhandel Norddeutschlands beherrscht, noch beherrscht, muss man sagen, auch hier drängen sich finanzkräftige Konzerne in den Markt, Ruhm, der im Verein für Stadt- und Landesgeschichte ein Ort der liebevollen Pflege hat. Ja, und die Mumien tagen Mittwoch 19:00 Uhr im Ratskeller.
„Na, bis 19:00 Uhr wird sich Mutter ausgesprochen haben.“
Beide müssen schmunzeln und er wird allein ins Pflegeheim fahren.
Harrie ist Gymnasiallehrer am hiesigen Georg-Büchner-Gymnasium für die Jahrgangsstufen 8 und 9 mit den Fächern Politik und Wirtschaft sowie Geschichte und diese Geschichte hatte ihn in den Mumien-Verein geführt, wobei die Tradition den Ausschlag gab, denn das Büchner-Gymnasium hat seit und eh einen seiner Geschichtslehrkräfte in dieses Gremium entsandt, Kollege Stenzel hatte dankend abgelehnt, er fühle sich noch nicht alt genug, diesem Gremium beizusitzen, was Harrie erst nicht verstand, später dann kapierte.
Harrie hat die Berufung angenommen, aus purer Neugier, wie er Sonja erklärte. Tatsächlich aber reizte es ihn, sein Wissen einmal anders als bei seinen Schülern einzusetzen, was nicht so einfach war wie gedacht, denn die vorhandene, aber nicht sichtbare, Rangordnung im Vorstand wies ihm zunächst einen der hinteren Ränge zu, mithin musste sein Wissen sich gedulden, bevor er es einsetzen konnte. So ist das halt, in solchen (alt)ehrwürdigen Zirkeln.
Seine Zeit als Gymnasiallehrer neigt sich dem Ende zu, er muss noch vier Jahre durchhalten, ja, er nennt das Durchhalten, um in Pension gehen zu können und das will er, lieber früher als später. Denn in den letzten Jahren ist ihm die Lust am Unterrichten abhandengekommen.
In seinen frühen Jahren war er noch voller Enthusiasmus, seine Schüler zu bilden, sein Wissen bereitzustellen, die geistige Entwicklung der Schüler zu beobachten, zu fördern, wo er Potenzial sah, und ohne die Lernunlustigen liegen zu lassen. Er wollte seine Schüler mittreißen, sie begeistern für die Themen, die der Lehrplan vorsah, aber auch darüber hinaus, denn Harrie schob gerne mal den Lehrplan zur Seite und griff aktuelle Themen auf. Er wollte den Kids den Grundstock vermitteln, auf dem sie ihre Persönlichkeit aufbauen konnten, nur, Persönlichkeiten waren sie bereits, bevor sie seine Schüler wurden.
Na ja, nicht alle. In den Jahren hat er den Eindruck gewonnen, dass es eine Zweiteilung bei seinen Schülern gibt. Die einen reifen viel früher als die Generationen vor ihnen, die andere Gruppe treibt in einer Art naivem Zustand vor sich hin. Er macht das fest, an denen, die sich für das Thema Klimawandel engagieren, es als ihr Lebensthema verstehen, während die anderen lieber ihr Lebensthema in den Chats und Plattformen der sogenannten sozialen Medien suchen, in Scheinwelten abtauchen.
In den Fächern, die er unterrichtet, ist diese Zweiteilung offensichtlich. Natürlich lässt sich mit den Reifen intensiver arbeiten, sie lernen aus ihrem Protest, nicht nur protestieren, sondern vor allem verstehen und erkennen, Strukturen erkennen, Hintergründe. Deshalb muss er sich öfters ermahnen, die Lernunlustigen nicht zu übergehen, sie einzubinden, ihnen nicht davonzueilen, was ihn viel Zeit kostet. Einzelgespräche, mitunter auch Gespräche mit den Eltern, denen, die seiner Gesprächsbitte nachkamen, was leider nicht alle taten, nahmen ihn in Anspruch. Bei manch einem wirkte das oder die Gespräche, andere waren resistent gegen wohlgemeinte Worte. Auf der einen Seite das Verstehen, auf der anderen das Unverständnis. Ein schwieriger Balanceakt, in dem er immer noch steckt.
Ein Balanceakt wie der mit den elektronischen Handgeräten. Jedem Lehrer ein Dorn im Auge, vor dem einige Kollegen resignierten, andere immer wieder versuchten, die e-Manie einzudämmen. Auch hier gibt es diese Zweiteilung, die Reifen nutzen ihre Smartphones, die Naiven spielen damit. Ihre Aufmerksamkeit ist unter ihre Tische, nicht auf ihn gerichtet.
Um dies zu ändern, hatte er Handys, Smartphones und Tablets im Klassenzimmer verboten, nur erlaubt, wenn die elektronischen Geräte für den Unterricht verwendet werden durften. Aber Verbote sind Reizmittel, entsprechend wurde das Verbot ignoriert.
Eine seiner Ideen, den Klassenraum gerätefrei zu bekommen, war, dass er seine Schüler bat, eine Socke mitzubringen und diese Socke pinnte er auf eine Holztafel an der Wand. Die Socke sollte das Smartphone oder Handy des Sockeninhabers während der Zeit des Unterrichtes aufnehmen. Aber schon am zweiten Tag musste Harrie sich eingestehen, dass er gescheitert war. Viele der Schüler legten ihre Altgeräte in die Socken und tippten auf ihren neuen Geräten munter unter den Tischen weiter, versandten ihr WhatsApp, Mails, schauten was Dustin, oder wie diese Vögel alle hießen, auf Instagram gepostet hat und was man halt sonst noch so Unsinniges mit den Dingern anfangen konnte. Das Socken-System hielt er dennoch bei, akzeptierte aber stillschweigend die Systembrecher.
Die Schulrealität hat sich über die Jahre gewandelt. Vielleicht ist es, dass er sich dieser Entwicklung nicht mehr gewachsen fühlt. Es kam in den vergangenen Jahren einiges zusammen. Er schaltete immer mehr auf Routine und je mehr er sich altersmäßig von seinen Schülern entfernte, desto weniger glaubte er sie zu verstehen, vermeinte deren zunehmendes Desinteresse an den Lerninhalten zu spüren, Inhalte, die einfach nur noch abgearbeitet wurden, leblos, spaßfrei, zumindest von einem Teil der Schüler.
Harrie empfindet Unverständnis für die belanglosen, trivialen Interessen, die die Kids haben. Die einen verehren ihre Stars aus dem singenden oder ballspielenden Bereich, die anderen haben Karrierevorstellungen, die jenseits der Realität liegen, putzen sich aber auf, als gingen sie bereits auf dem Laufsteg. In dem Alter, mit vierzehn Jahren waren sie zu seiner Zeit noch sexuelle Novizen, hörten auf die Eltern und Lehrer, sicher, auch sie brachen mitunter Regeln, musste so sein, die gegenwärtigen Kids sind ihnen aber um mindestens zwei Jahre voraus, mit eigener Kreditkarte, Konto, Smartphone, aber ohne feste Standpunkte, Meinungen, die sich auflösten und abwechselten wie Regenpfützen. Ja, nicht alle, nicht alle. Er weiß, dass er ungerecht urteilt, aber die Frustration, vielleicht auch das Eingeständnis vor dem Scheitern zu stehen, diktiert ihm seine Gedanken.
Harrie war nie eine Autorität, versuchte eine liberale, die Schüler verstehende Person zu sein, aber mit wachsendem Druck auf die Schule und Schüler wurde Autorität notwendig, da er mitunter Schüler hatte, die renitent, aggressiv zueinander waren, den Unterricht störten, widersprachen in beleidigendem Tonfall und Lerninhalte in Frage stellten. Teilweise artete es in ein Katz-und-Maus-Spiel aus, ständig testeten einige Schüler ihre Grenzen aus, schlugen Mahnungen in den Wind, ignorierten seine Ratschläge, provozierten, als wollten sie einen autoritären Lehrer, den sie dann Faschist nennen konnten. Diese Situation, anders sein zu müssen als man sein will, macht ihm schwer zu schaffen. Er hat sich sogar deswegen Auszeiten gegönnt, Krankheit vorgetäuscht.
Und dann kommt da noch etwas hinzu, was an ihm nagt, je älter er selbst wird. Seine Schüler vor ihm werden nicht älter. Sie bleiben immer gleich jung. Jahr für Jahr sitzen da vierzehn, fünfzehn, sechszehnjährige Schüler vor ihm und er wird jeden Tag älter. Er neidet seinen Schüler ihre Jugend, was nicht ohne Auswirkungen auf seine Wahrnehmung der Schüler und seine Unterrichtsgestaltung blieb. Gut, mittlerweile hat er sich eingefangen, im Bewusstsein der verbleibenden vier Jahre und er sich mit der Freude auf das Danach beruhigt, ohne zu wissen, was der Grund der Freude sein könnte.
Aber diese Enttäuschung, die, wie Sonja ihm unterstellt, übertrieben und nicht unbedingt durch seine Schüler verursacht sei, trübt seinen Umgang mit seinen Schülern. Also, nicht zu allen, natürlich gibt es da Schüler, mit denen er sich gut versteht, bei denen er Ehrgeiz, Spaß am Lernen, Interesse an Antworten erkennt und die letztlich den Unterricht tragen.
Wenn Harrie, meist zum Abendessen, seine Schüler schlecht redet, rollt Sonja schon mal mit den Augen, er übertreibe, sehe alles nur noch schwarz, sei schon genauso ein bedenkenswerter Griesgram wie seine Mutter. Bedenkenswert? Griesgram? Wie seine Mutter? Dies kam dann sogleich auf die Streit-Liste. Aber, hatte er vielleicht doch einige dieser dunklen Gene von seiner Mutter vererbt bekommen? Er nimmt sich dann vor, genauer auf sich und seine Aussagen zu achten, denn er ist ja nicht frei von Korrekturen, nur, was er sich vorgenommen hat, ist in der Regel schnell vergessen, so dass sich ihr Zwiegespräch mitunter wiederholt.
Vor seinem Schreibtisch bleibt er stehen, schaut zum Fenster hinaus, würde lieber etwas anderes tun als das, was er eigentlich tun muss. Ja muss er das denn tun? Er hatte seinen Schülern eine Projektwoche angekündigt, ohne zu wissen, mit welchen konkreten Themen sich die Schüler in den Projekten beschäftigen sollen. Bisher hatte er immer die Themen vorgegeben, meist als Replik auf die Themen, die sie im zurückliegenden Schuljahr bearbeitet hatten. Warum eigentlich? Warum sollte er wieder die Themen vorgeben? Sollten die Kids ihre Themen doch selbst bestimmen. Genau, er wird ein Brainstorming durchziehen, Ideen sammeln und die Schüler ihre Themen dann selbst wählen lassen. Na ja, so ganz ist Harrie nicht überzeugt von seiner Idee, weil er ahnt, dass da nicht viel kommt und wenn, dann von denen, die sich immer melden, was von den anderen dann niedergeredet werden wird. Er wird seine Idee trotzdem so umsetzen.
Und dann ist da noch die Sache mit der Teamzusammensetzung. Es ist immer das gleiche Spiel, dass sich die Teams nicht nach Interesse am Thema zusammenfinden, sondern nach nichts anderem als nach Sympathie. Um Thuma werden sich die sammeln, die glauben reif zu sein, Deutschlands nächstes Top-Model zu werden, also die gestylten und arroganten Mädels, die in der Woche alles andere als ihr Projekt erarbeiten und ein dünnes, sehr dünnes Ergebnis vorlegen werden. Joshe, der kaffeebraune hübsche Junge aus Eritrea, wird wie ein Magnet seine Fan-Schar an sich ziehen, Mädels, die kein Model, nur geliebt werden wollten oder lieben wollten, wenn auch unerwidert. Joshe wird die ganze Arbeit allein machen, die Mädels aber an seiner Seite sitzen. Frederike wird das Zentrum der Beleibten sein, letztlich aber werden die Dicken ein gutes Ergebnis abliefern. Die, die sich um Sören sammeln werden sich in irgendeiner Ecke verdrücken, sexistische Reden schwingen, Kippen rauchen und ihre Erkenntnisse auf einem Blatt darlegen. Und Tarek, Salim und Machmet, die die deutsche Geschichte oder Politik nicht im Geringsten interessiert, werden unter sich bleiben, mehr ungewollt als gewollt und nur mit Harries Hilfe etwas zu Papier bringen.
In seinem anderen Kurs sieht es nicht viel anders aus. Er kennt das und lässt es so laufen, wegen der vier verbleibenden Jahre wird er sich nicht mehr verrückt machen. Natürlich könnte er die Teams einteilen, dies würde aber seinem demokratischen Prinzip widersprechen, dass er seinen Schülern predigt und vorlebt, also freie Teamwahl, mit bekanntem, immer gleichem Ergebnis. Gut, wäre das auch erledigt.
Vor dem Bildschirm sitzend, wirbelt der Satz seiner Mutter wieder durch seinen Kopf. Schlimm und wird schlimmer. Er schaltet den Computer an, wartet bis er hochgefahren ist, überlegt einen Moment, tippt bei den Lesezeichen Google an, gibt „Schlimmes passiert, Lübeck“ in die Suchzeile, überblickt die Treffer: keine Toten in Lübeck oder Umgebung, keine rätselhaften Vorgänge, nichts Schlimmes passiert. Also, verdammt, was bedeutet dieses Schlimm?
Ihre Krankheit! Oh, Mann, er klopft sich an den Kopf. Wieso ist er da nicht gleich darauf gekommen. Natürlich, genau so muss es sein. Sie meint damit Doktor Heller, der ihr seine Diagnose unterbreitet hat, die schlimm ist und beim nächsten Treffen ist es schlimmer geworden. Ja, so könnte es, so muss es sein. Irgendwie beruhigt ihn der Gedanke.
Nur, ist das wirklich ein Grund aus dem geistigen Nichts heraus einen ganzen Satz zu artikulieren? Zu einem Ereignis, das nun über zwei Jahre zurückliegt? Und, Doktor Heller müsste Paul heißen. Heller googeln und, der heißt Frederik, nicht Paul. Eine Verwechslung? Ja, bei der Verwirrung seiner Mutter könnte sie den Namen verwechselt haben. Harrie schiebt sich beide Hände über sein Gesicht, schnauft tief durch. Gut, lass es dabei, lass es gut sein, der Mittwoch wird alles erhellen. Oder der Satz bezieht sich auf Doktor Striehler, nur, Frau Detlevsen sprach von den famosen Blutwerten seiner Mutter, also da wurde nichts Schlimmer.
Jetzt auf Touren, meldet sich ein weiterer Gedanke in seinem Gehirn. Sie sagte: „Das sagst Du immer,“ das heißt doch, sie hat verstanden, was jemand gesagt hat, also wahrscheinlich dieser Paul, und zwar mehrmals, darauf bezieht sich das immer. Und auf das Verstehen folgt „Und dann wird es schlimmer.“ Dies bedeutet, sie hat nicht nur verstanden, sondern auch reagiert, also gedacht. Sie hat eine Verbindung hergestellt! Wie ist das möglich, wo doch Doktor Heller sagte, die Krankheit sei irreversibel, das Gehirn zerbrösele, löse sich auf? Und dennoch scheint da noch etwas da zu sein. Nur was? Und wie wurde es ausgelöst? Und…weiß sie davon? Das muss sie doch, wie sonst könnte sie so eine Aussage treffen.
Der Bildschirm flimmert ihn an, aber in seinem Kopf rumort es, wirbeln die Gedanken, Vermutung folgt auf Vermutung, wird wieder verworfen, Neuansätze, aber ohne, dass er auf eine zufriedenstellende Antwort kommt. In die Suchzeile schreibt er: Sprachwiederkehr bei Demenz. Null Ergebnisse. Null! Dieses Mysterium wird auch ein Doktor Striehler nicht aufklären können. Gut, denkt Harrie, es macht keinen Sinn mich im Kreis zu drehen, denn das tut er. Es bleibt nur abzuwarten. Warten darauf, welche Erkenntnisse der Mittwoch bringt.
Er schaltet den Rechner wieder aus, steht auf und geht zu seinem Lesesessel, nimmt das Buch, dass er vor drei Tagen angefangen hatte zu lesen, John Irving, Zirkuskind, wollte er schon länger gelesen haben, aber die fast 1.000 Seiten hatten ihn immer wieder davon abgehalten. Nun ist er bald durch. Irving ist ein Verbal-Erotiker, kein Roman von ihm, Harrie hat fast alle gelesen, im dem nicht wild gevögelt wird, Ehefrauen oder -männer hintergangen werden, und immer wieder Schwänze gelutscht werden, eine Manie der amerikanischen Romanciers, denn nicht nur Irving lässt lutschen, nein, auch alle die anderen, ob Philipp Roth, T.C. Boyle, Jonathan Franzen oder sonst wer von den Gegenwartsautoren…..lassen lutschen, möglich, dass das präsidiale Vorbild den Impuls mit ausgelöst hat.
Im Zirkuskind gibt es sehr viele Tote, sehr viele Ermordete, Rahul der Täter, ist von einem Mann ausgehend zu einer Frau gewandelt mit dem Zwang, Prostituierte zu morden, oder solche Personen, die ihr keinen Respekt entgegenbringen, eigentlich ungewöhnlich für Irving, ein Krimi, na ja, trotz all der Toten, so richtig ist Zirkuskind kein Krimi, sondern wie immer bei Irving, ein Sammelsurium an skurrilen Typen, eigenartigen Handlungen, versteckter Kritik am Gesundheitswesen, an staatlichen Institutionen, der gelebten Unmenschlichkeit, des dumpfen Rassismus, der Kirche und den Irrwegen des Glaubens, halt ein typischer Irving, was den Reiz seiner Romane ausmacht und Harrie ist süchtig nach skurrilen Typen, nach Typen, die nicht normgerecht leben, schräg sind, in kein Schema passen. Solche Typen existieren meist nur in der Literatur und nur gelegentlich regiert so einer auch ein Land.
Er liest sich langsam ein, aber immer wieder schleichen sich Gedanken ein, die nicht dem Roman entspringen, sondern der frühen nachmittäglichen Realität. Rahuls Morde sind schlimm, seine Mutter hat Irving aber nicht gelesen, hätte ihn, auch als sie noch bei Sinnen war, nie gelesen, schon nach der ersten Seite aus der Hand genommen und ihn pikiert in die Tonne versenkt. Und im Moment kann sich Harrie schlimm nur in Verbindung mit dem Tod denken. Und so wechseln seine Gedanken aus dem Buch in Mutters Geschichte und von dort wieder zurück. Hilft nur Musik, legt das Buch beiseite, erhebt sich, um zu seiner Musikanlage zu gehen, drückt auf Start, Prokofjev’s Beitrag zur russischen Oktoberrevolution. Ob das jetzt die richtige Ablenkung ist, wird sich zeigen. Nun, die sanfteren Töne überwiegen, trotz Revolutionsgetümmel überwiegt die Trauer über die gefallenen roten Helden. Selbst Musik wird ideologisch vereinnahmt, na ja, das weiß er seit Wagner.
Irgendwie schafft er es, ein paar Seiten zu lesen, gelegentlich abzusetzen und in die Vorgänge der Musik hineinzuhören, die ihm säbelschwingende Dragoner vorführt, die wahllos auf die Demonstranten einschlagen, die Ängste der Verfolgten werden heraufbeschworen, deren Sieg, sagt die Musik, rechtfertige die Opfer.
Sonja ruft von unten herauf, sie werde jetzt Abendessen, ob er auch komme, wird er, ja, er komme gleich. Blabb, schlägt das Buch zu, er erhebt sich, stellt die Musikanlage aus und geht hinunter in ihr Esszimmer zwischen dem und der Küche Sonja pendelt und die Essensbestandteile aus dem Kühlschrank auf den Esszimmertisch trägt, was sie später in umgekehrter Reihenfolge wiederholen wird.
„Käse, Schinken, Aufschnitt. Ein Tee dabei?“
Normalerweise isst Harrie zu Abend höchstens eine Scheibe Brot, weil, wie er meint, ein gefüllter Magen ihn am Einschlafen hindert, was Sonja als Unsinn hinstellt, er würde ja nie gleich einschlafen, egal was er esse oder nicht esse, und ewig lange wach liege, bevor er einschlafe. Woher sie das wissen wolle, da sie doch kaum, dass sie im Bett liege, einschläft. „Weil du es mir ständig vorjammerst.“ Gut. Punkt für Sonja.
„Ich mache mir ein Käsebrot. Keinen Tee. Ich werde ein Glas Sprudel dabei trinken. Hat sich Timo gemeldet?“ Timo ist ihr jüngster Sohn, der es sich in den Kopf gesetzt hat, Tierpfleger zu werden, warum auch immer. Weil es mir gefällt, war die Begründung von Timo, statt ein Studium zu beginnen, zu Hagenbeck nach Hamburg zu gehen, um den Beruf des Tierpflegers zu erlernen. Lass ihn, hatte Sonja gesagt, um jede weitere Diskussion abzuschneiden, anderer Leute Kinder ziehen nach dem Abitur um die Welt. Aber keiner vier Jahre lang, hatte Harrie gekontert. Na ja, soll er halt, er wird schon wissen, was er tut. In Buxtehude hat er eine Wohnung gefunden, gesponsert von seinen Eltern, die er einmal im Monat besuchen kommt, meist, wenn auch Miro hier ist, der zweite Sohn, der in Göttingen Geowissenschaften studiert.
„Nein, er kommt kommenden Samstag über das Wochenende. Warum soll er dann vorher anrufen?“
„Hätte ja sein können.“
„Also manchmal. Weißt du.“
„Was?“
„Du redest los, als würdest du nicht darüber nachdenken, was du sagst.“
„Stimmt,“ räumt Harrie ein, denn, würde er das jetzt ausdiskutieren, würde die Diskussion in einen Streit eskalieren, bei der er die Liste ziehen und zitieren müsste, was nicht sein muss, kein Streit heute, er ist heute zu dünnhäutig für einen Streit.
Nach dem Abendessen räumt Sonja ab und auf, Harrie begibt sich vor den Fernseher, schaltet ihn ein, wählt die 4, das ZDF, noch Serienzeug, Bergdoktor, triviale Seichtware, kann er nicht ab, also zappt er bis zu den 19:00 Uhr-Nachrichten hin und her, solange Sonja noch nicht neben ihm sitzt, die es nicht ausstehen kann, wenn er durch die Programme zappt. Sie weiß immer, nach Lektüre des Programmheftes, was sie sehen will, und stellt nur dieses Programm ein, ökonomisches Fernsehen nennt sie das.
Die Nachrichten berichten die üblichen mehr oder weniger schlechten Nachrichten, eine Auswahl der übelsten Weltgeschehnisse, nichts Aufbauendes, nur miesmachende Neuigkeiten. Der Strohkopf in Amerika baut vor, stellt schon jetzt, nachdem er anscheinend seine Umfragewerte genau analysiert hat, das Ergebnis der anstehenden Wahlen in Frage, also kann er nur gewinnen. Nur das nicht. Er hat die Dummen auf seiner Seite, er wird gewinnen, meint Sonja. Ja, wahrscheinlich wird sie recht behalten.
Erdogan spielt mit der EU das Wehe-Wenn-Spiel, was Harrie auf den Nerv geht, nicht dass er ein Euro-Skeptiker wäre, nein, wenn es nach ihm ginge, hätte Europa längst eine aus klugen Köpfen bestehende europäische Regierung, die voll handlungsfähig ist und nicht diese zweitklassige Besetzung, die auf die wichtigsten Fragen der Zeit mit einer Reaktionszeit eines frühzeitlichen Computers reagiert. Nein, ihm geht die Untätigkeit auf den Geist, dieses christliche Hinhalten der linken, wenn zuvor eine Backpfeife auf der rechten Backe gelandet ist. Unfähig oder unwillig klare Kante zu zeigen, denn solche Typen verstehen ja nur klare Kante. Gut, die Konsequenzen muss man ertragen, tja, wenn da nicht das Wahlvolk wäre. Die EU verhält sich wie die Schüler auf dem Schulhof vor dem Schulhoframbo, gemeinsam angehen und Rambo hätte keine Chance mehr. Aufregen? Nein. Aber nerven tut es schon.
Später dann noch einen Tatort, den Harrie nur anschaut, um den Abend neben Sonja zu verbringen. Freddy und Max ermitteln. „Wie lange spielen die eigentlich schon in Köln die Kommissare? Müssten die nicht auch langsam ihre Rente einreichen?“
„Hatten die nicht neulich ihr Fünfundzwanzigjähriges?“
„Weiß ich nicht. Wenn dem so wäre, wäre es schrecklich. Verstehst du, da sind 25 Jahre vergangen und wir haben es nicht wirklich bemerkt.“
„Ich habe das schon bemerkt. Ich schaue täglich in den Spiegel.“
War das jetzt wieder eine dieser verklausulierten Anspielungen Sonja‘s, darauf, dass er alt wurde? Sie legt es heute anscheinend auf einen Streit an. Oder ist er mal wieder überempfindlich? Hört etwas, was anders gemeint war? Wahrscheinlich.
Gedanklich geht er auf den frühen Nachmittag zurück, lässt Freddy und Max ihren Job machen, fragt sich, auf was an dem Mann reagiert seine Mutter, einfach nur auf die Person? Auf die Person im Rollstuhl? Die Sprache kann es nicht sein. Und die Farbe des Hemdes, (wie war die eigentlich?) dürfte auch nicht der Auslöser gewesen sein. Aber irgendetwas löste den Sprachanfall aus, den es eigentlich nicht hätte geben dürfen. Oder löste einfach nur die Anwesenheit des Mannes in ihrem Zimmer alles aus? Er kennt die Anfangssituation nicht, da war er ja noch nicht da. Er müsste Claudia fragen, sich den Vorgang detailgenau erklären lassen, aber Mittwochnachmittag hat Ximena die Schicht. Mittwoch wird er genau beobachten, was wie passiert und eine Erklärung erhalten, denkt Harrie, während Freddy in seinem langen Mantel durch die Dunkelheit watschelt.
„Hat der den Mantel eigentlich immer an. Ich meine, seit fünfundzwanzig Jahren? Ich glaube ich kenne den Typ nur in diesem Mantel. Sparen die an den Requisiten?“
Sonja, die den Fall anscheinend interessiert verfolgt, wirft ihm einen verständnislosen Blick zu. Gut, er wird jetzt besser schweigend zusehen, auch wenn er nicht versteht, um was es geht, aber auch egal, letztlich gleichen sich diese sonntäglichen Krimis und enden fast immer damit, dass das Gute nach einer Stunde und dreißig Minuten obsiegt.
„Singt Freddy eigentlich auch? Ich meine, Thiel singt, Börne singt, der Tukor singt und die Dorn singt. Hat Freddy auch so einen Nebenjob?“
„Warum sitzt du hier und gehst mir auf die Nerven? Wenn dich der Krimi nicht interessiert, dann geh nach oben lies oder mach sonst etwas, aber lass mich den Film in Ruhe anschauen.“
Oh, jetzt ist sie genervt, ihr grimmiger Ton ist voller Ungeduld. Gut, verzieht er sich halt oder, ja, das kann, nein das muss er, pinkeln gehen.
Sonja schaut noch einmal Nachrichten, nachdem der Tatort, Tatort war, Harrie nicht, tut er sich nicht an, sich aufregen vor dem Bett gehen ist wie Kaffeetrinken zum Abendessen und führt zu langem wachliegen, gegebenenfalls zu Albträumen, also geht er hoch ins Badezimmer, sich waschen, seine Zähne putzen, in den Schlafanzug umsteigen, holt aus seinem Arbeitszimmer Zirkuskind und wird noch etwas lesen, bis Sonja kommt, oder darüber hinaus.
Im Sommer ist der Wecker arbeitslos. Das frühe Hellwerden lässt Harrie aufwachen, leicht gerädert, aber erstaunlich traumlos ist er durch die Nacht gekommen. Auch Sonja ist bereits wach, lächelt ihn an und wünscht ihm einen guten Morgen. Gut, aufstehen, auf Toilette gehen, unter die Dusche stellen, frühstücken. Sonja fährt, nachdem sie Harrie einen erkenntnisreichen Tag gewünscht und sich mit einem Kuss verabschiedet hat, mit ihrem Auto zu ihrer Arbeitsstätte, der Sparkasse, wo sie als Anlageberaterin ihren Kunden in zinsarmen Zeiten für etwas Zuwachs bei deren Finanzen sorgt, wobei dieses Etwas äußerst schmal ausfällt. Konservativ eingestellte Kunden haben es zunehmend schwerer eine geeignete Anlage zu finden, was Sonjas Aufgabe nicht einfacher macht.
Harrie bepackt seine lederne Umhängetasche mit den heute benötigten Utensilien, der Thermoskanne mit grünem Tee, den täglichen zwei Äpfeln und einer Banane, die reine Nervennahrung ist, und fährt mit seinem Fahrrad, wie an jedem regenfreien Tag zur Schule. Mitunter gesellt sich einer seiner Schüler neben ihn, Smalltalk zu machen, aber auch ernsthaft über politische Ereignisse zu sprechen. Bei manchem Schüler hat Harrie aber den Verdacht, dass er nur nebenherfährt, um mit seinem getunten Mountain-Bike Harrie‘s ehrgeizloses Altherrenrad anzustänkern.
Während dem Fahren hat er sich überlegt, wie er vorgehen wird, um die Projektwoche zum Laufen zu bringen.
So macht er es denn auch, lässt seine Schüler zwanzig Themen nennen, was zunächst zäh verläuft, aber als Harrie auf verschiedene Unterrichtseinheiten der letzten Monate hinweist, sprudeln die Kids, na ja, die Aktiven, also die, die immer aktiv sind, die Themen hervor. Es kommen tatsächlich achtzehn Themen zusammen, das ist mehr als okay, er braucht eh nur sechs, so viel Teams gibt die Kursstärke her. Die Themen lässt er auf breite Metaplankarten schreiben, pinnt sie an auf eine Pinwand, die er aus der schulischen Asservatenkammer hat holen lassen, ebenso wie den Moderationskoffer, dem er Klebepunkte entnimmt, den Schülern jeweils fünf Punkte gibt und sie auffordert, mit diesen beliebig ihre Wunschthemen zu priorisieren. Damit sind sechs Themen, auf demokratische Art, gefunden. Harrie verteilt einen Streifen Tesakrepp an jeden Schüler.
„So jetzt schreibt ihr euren Vornamen auf den Kreppstreifen und klebt ihn hinter das Thema, dass ihr behandelt wollt, bei sechs Teammitgliedern ist Schluss. Ihr habt 15 Sekunden Zeit für eure Entscheidung.“
Augenblicklich entsteht eine verwirrte Unruhe. Wie von Harrie erwartet, reagieren die Kids überhastet, sortieren sich einem Thema zu mit der Folge, dass alle Sympathiezuordnungen plötzlich obsolet sind. Er hat sie ausgetrickst, aber auf demokratische Art.
„Kann ich mich noch umhängen?“
„Nein. Die sechs Gruppen stehen fest.“
Der Blick auf die Pinnwand zeigt ihm ein wunderliches Ergebnis, dass deutlich von der sonstigen Teamzusammensetzung abweicht. Gut so. Er erklärt, wie wissenschaftliches Arbeiten funktioniert, mahnt, jede fremde Textzeile entsprechend zu markieren, die Quellen komplett und richtig zu benennen, mit Seitenangaben. Den Rest der Stunde beantwortet er Fragen der Schüler, wobei der Ansturm an Fragen sehr bescheiden ausfällt. Es ist so, sie fragen lieber Herrn Google als ihren Lehrer. Das kränkt!
Er gibt Tipps, wo wie welche Informationen zu finden sind, als wenn sie das nicht wüssten. Die Teams können sich ihren Arbeitsplatz wählen, im Klassenraum verbleiben, sich in die Bibliothek verziehen, oder die Mensa nutzen, in der Aula, wo immer sie wollen, nur auf dem Schulgelände müssen sie bleiben. Und der Rest muss in Heimarbeit gemacht werden. Gleiches Prozedere führt er auch für den Geschichtskurs und den beiden Kursen der Jahrgangsstufe 8 durch.
Damit hat er den Montag durch und auch den Rest der Woche wird er belastungsarm verbringen, sich im Klassenraum platzieren, falls Redebedarf in einem Team herrscht, hingehen, teachen und zwischendurch kann er sich Gedanken über die Klassenfahrt machen, die ansteht.
Zur Mittagszeit besucht er die Mensa, eine Scheibe Fleisch, überzogen mit dunkler brauner Brühe, Kartoffeln, Buttergemüse ohne Butter, matschig, wie die Kartoffeln, kein Essen für einen Gourmet, der er zu seinem Glück nicht ist. Er hat nur knapp eine Stunde, bevor die nächste Doppelstunde ansteht, also rentiert sich der Gang in eines der umliegenden Lokale nicht. Sonja hat es da einfacher, sie spricht schon gut italienisch, also sie kann fehlerfrei die Speisekarte herunterbeten, da sie fast jeden Tag das „Rossini“ besucht und mehr mit Miquel spricht als mit ihm, ihrem Ehemann.
Diese werktäglichen Besuche des „Rossini“ haben aber empfindliche Begleiterscheinungen auf Harries Essensgelüste. Hat er sonntags Lust auf eine Pizza, ist Sonjas Kommentar „Nicht schon wieder!“ Und nur für sich eine Pizza bestellen, mag er nicht, da er Pizza nur frisch aus dem Ofen isst und dies muss vor Ort sein und allein und wissend, dass Sonja zu Hause sitzt, lässt ihn auf die Pizza verzichten, auch wenn die Gelüste noch so heftig sind. So blieb für die Sonntagsfreude der Chinese als Alternative, der leider keine Pizza anbietet, dafür Fleisch verpackt in Tunke oder versteckt zwischen Gemüse. Ferner blieb der Grieche, den er aber auch nicht sonderlich mag, immer nur Pommes mit nacktem Fleisch. Also, nacktes Fleisch kann Harrie absolut nicht ausstehen, warum auch immer, es muss paniert oder mit Sauce überzogen sein.
Nur an den Wochenenden wird bei den Kohlbergs gekocht, gebacken oder gebraten, gut, wenn er nachmittags keinen Unterricht mehr hat, bereitet er sich selbst etwas zu, Kleinigkeiten, wie Miracoli, das bekommt er hin, ansonsten ist Sonja die Köchin.
Bei dem Essen hier kann er die Schüler gut verstehen, Distanz zur Mensa zu halten, lieber eine Stulle verdrücken oder drüben am Kiosk eine schnelle Wurst reinziehen als dieses lieblos zubereitete Essen zu verschlingen. Nur alle vierzehn Tage, wenn es Currywurst mit Pommes gibt, ist der Raum besser gefüllt, ja manchmal heißt es sogar, stehend auf einen freien Platz zu warten. Noch allerdings macht Harrie einen Bogen um die Currywurst und wenn er sich eine gönnt, dann drüben am Imbiss des Herrn Sedar.
Harrie sitzt mitten unter den Schülern, die wenig angeregt miteinander sprechen. Vor den meisten der Schüler, gleich welcher Altersklasse, liegt ein Smartphone, mit der rechten Hand wird gelöffelt, mit dem Finger der linken Hand, oder auch umgekehrt, getippt, gescrollt, mal wird gelacht, aber nicht miteinander, nur mit dem Taschenflachbildschirm der vor ihnen liegt, mal wird gequasselt, nicht untereinander, mit wem auch immer in der Schalte, mal nur schweigend auf das flache Ding gestiert. Dieses seltsame Gehabe macht ihn nervös. Malte, sein Kollege in Geschichte und Politik, setzt sich zu ihm an den Tisch, lächelt ihn an.
„Ich sehe schon, dein geringschätzender Blick sagt mir, worüber du sinnierst.“
„Geringschätzender Blick, das kann ich gar nicht. Nachdenklich okay, aber doch nicht geringschätzend. Und wen soll ich überhaupt geringschätzen? Das Essen? Gut, das ist miserabel, aber deswegen schätz ich es doch nicht gering. Es macht satt, dass ist die Aufgabe dieser Mahlzeit und die erfüllt sie.“
„Du immer mit deinen Ablenkungen. Ich habe genau gesehen, wie du nach links und rechts schielst und missbilligst, was die Kids da treiben. Das dir das ein Dorn im Auge ist, ist ja allgemein bekannt.“
Harrie lässt die Gabel ruhen, schaut auf Malte. Allgemein bekannt? Malte hat so seine Art von Humor, die einem zweifeln lässt, ob er das, was er sagt, ernst meint oder er ihn nur aufziehen will. Ablenken, hilft nur ablenken, denn die Diskussion haben sie schon öfters geführt.
„Malte, die Kids hier sind nicht meine Schüler. Wir sind nicht im Klassenzimmer. Wir haben Pause. Und ich habe andere Themen im Kopf als diese nerdhaften Kids.“
„Im Ernst? Andere Themen?“
„Hör auf mit dem Quatsch. Ich bin nicht für deine Fopperei aufgelegt.“
Malte schmunzelt ist aber nun doch interessiert, was Harrie bedrückt, fragt ihn freundlich gestimmt, was los sei. Und da Harrie nichts Besseres einfällt, obwohl er darüber gar nicht reden will, berichtet er Malte, was er gestern erlebt hat und wie sehr ihn dies Erlebnis beeinflusst.
„Weißt du, wenn du dir keinen Reim machen kannst, warum und was da geschehen ist, ob du eine Hoffnung haben kannst oder alles nur eine weitere Etappe der Krankheit ist, das nagt an dir, also an mir.“
„Was sagt denn der behandelnde Arzt dazu?“
„Der schaut oder hört sich das erst am Mittwoch an, sofern sich der Vorgang wiederholt. Und daran habe ich mittlerweile meine Zweifel. Es kann nicht sein, was da war.“
„Hm.“ Malte kaut nachdenklich, stochert in dem Essen, das er, wie man ihm ansieht, nur widerwillig in sich hineinschiebt.
„Zu wem hat deine Mutter denn direkten Kontakt, also außer den Pflegerinnen und dem Arzt. Gibt es da einen männlichen Pfleger?“
„Nein, da ist absolut niemand, der Zugang zu meiner Mutter hätte. Und ein Pfleger, das war Bedingung für die Unterbringung im Pflegeheim, darf nicht an sie heran. Und es gibt auch niemand der im Heim arbeitet oder wohnt mit dem Namen Paul.“
„Harrie, wie oft besuchst du deine Mutter?“
Die Frage trifft ihn unvorbereitet. Nein, dass es nur eine Stunde alle drei Wochen ist, das muss er Malte nun wirklich nicht gestehen. Er würde seine Schäbigkeit zum Anlass nehmen, ihn mit zynischen Kommentaren zu attackieren, also flunkert er etwas.
„Na ja, eine, manchmal auch 2 Stunden die Woche. Worauf willst du hinaus?“
„Lassen wir die zwei Stunden mal stehen und ziehen sie von den 168 Wochenstunden ab, bleiben 166 Stunden, in denen Dinge geschehen können, von denen du keine Ahnung hast. Weißt du, was deine Mutter in diesen Stunden macht? Wer zu ihr kommt? Wen sie trifft? Dieser Paul kommt immer, also öfters, eigentlich muss er sehr oft kommen, um deiner Mutter etwas zu suggerieren, dass sie abspeichert und bei einem Anlass rauslässt.
Dieser Paul kann sonst wer sein, damit meine ich, er muss nicht Paul heißen. Das ist dir doch klar? Und er könnte sie theoretisch die 166 Stunden besuchen und auf sie einreden, also rein theoretisch. Verstehst du? Du kannst nicht alles wissen, was um deine Mutter passiert. Und wenn du mich fragst, ja, sie reagiert auf etwas, was ihr dieser Paul einflüstert, etwas, was sie tief bewegt, tief erregt, deshalb ihr erregtes Gerede. Aber wenn ich ehrlich bin und ich kenne ja deine Aussagen über den Zustand deiner Mutter, dann sage ich dir, alles unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich, aber solange du keine andere Erklärung hast musst du mit den Hypothesen zurechtkommen, die sich ergeben.“
Das will durchdacht sein. Harrie hat seine Mahlzeit längst beendet, ohne seinen Teller geleert zu haben, nein, nicht sein Ding, ein solches Essen. Anders Malte, dessen Teller blitzeblank ist. Ja, er weiß, dass er nicht weiß, wie seine Mutter ihre Zeit verbringt, aber da ist Claudia oder Ximena, na ja, aber sonst ist sie allein auf ihrem Zimmer und ja, es könnte jederzeit (immer!) jedermann sie aufsuchen.
„Möglich Malte, möglich. Eine Hypothese von mehreren. Ja, ich kann mir nur nicht vorstellen, dass ein Unbefugter sich in ihre Nähe bringen könnte, dass würde doch sicher bemerkt, würde auffallen. Oder?“
Malte schaut ihn mit ratlosem Ausdruck an, zuckt mit den Schultern. „Ich kenne das Heim nicht und was ich von Heimen weiß, ist, dass es da mitunter Hals über Kopf zugeht.“ Er nimmt sein Tablett auf. Ja, Zeit zurückzugehen.
„Na ja, mal schauen, was der Mittwoch sagt.“
Malte begleitet Harrie zurück zu den Klassenräumen. Auf dem Weg reden sie über die morgige Konferenz, über die Malte spottet, da er sie wie üblich in den wesentlichen Punkten auf der Stelle treten sieht. Harrie hat sich mit noch keinem Gedanken den Inhalten der Konferenz auseinandergesetzt und kann so auch nicht auf Maltes Spotten reagieren. Sie trennen sich, Malte wird seine Schüler mit power-point-Folien beglücken. Er ist ein noch klassischer Frontalunterricht haltender Lehrkörper, allerdings in modernisierter Form, er schmeißt alles was er sagt, bebildert an die Wand, folgt dem Lehrplan und engt den Spielraum der Schüler ein, aber den Schülern gefällt es, sagt Malte „und mir auch“.
Im Klassenzimmer seines Geschichtskurses der Jahrgangsstufe 8 halten sich zwei Teams auf, zu denen Harrie langsam hin schreitet, stellt sich hinter Evi Weinman, die anscheinend die treibende Kraft des Teams ist, hört und sieht zu, erstaunt wie organisiert das Team vorgeht, um die Informationen zusammenzustellen, die später in den Abschlusstext eingehen werden. Ihre Aufgabe ist, die Ursachen der Migration von Bürgern deutscher Lande ab 1848 nach Amerika zu ergründen. Später, wenn das Team seine Ausarbeitung präsentiert haben wird, wird er Parallelen aufzeigen zu der Migrationsbewegung 2015, wahrscheinlich kommen die Kids aber selbst darauf.
Das Thema selbst hatte er breit aufgearbeitet und den Schülern präsentiert, die sehr überrascht waren, wie viele deutsche Bürger nach Amerika, nach Russland, die Russland- und Wolgadeutschen, nach Ungarn und Rumänien, die Donauschwaben, nach Argentinien, nach Brasilien oder sonst wohin ausgewandert sind und genau über dieses Thema hatte er auch seinen ersten Vortrag vor den Mitgliedern des Mumien-Clubs gehalten, gespickt mit ein paar Andeutungen, die einigen Herren, denen er die Nähe zu rechtem Denken unterstellte, nicht gefielen, was sich in der den Vortrag anschließenden Diskussion zeigte.
Ein paar, halt immer die Gleichen, monierten, dass die deutschen Auswanderer keine Flüchtlinge waren, wie die Islamisten, die unser Land fluten, sondern Siedler, die deutsche Agrarkultur in die Welt trugen. Was Harrie damit konterte, dass es sehr wohl Flüchtlinge waren, Menschen die vor der grassierenden Armut, Abhängigkeit und Rechtslosigkeit der deutschen Kleinstaaterei ins Ungewisse zogen und von wegen Agrarkultur. Die Siedler waren arme Schlucker, die sich zwar in der Landwirtschaft verdingten, aber oft nur Leibeigene, Schaf- oder Kuhhirten waren, von Landwirtschaft keinen blassen Schimmer hatten.
Viele Gemeinden leerten ihre Armenhäuser, da sie die Armut nicht mehr finanzieren konnten, zahlten denen die Überfahrt, die sie sich sonst gar nicht hätten leisten können und die von sich aus wahrscheinlich nicht auf den Gedanken gekommen wären, auszuwandern. Und manches Gefängnis leerte sich, wurde auf Schiffe verlagert und nach Südamerika verschifft.
„Also Agrarkultur, ja, die gab es und wie immer schafften es ein paar Profiteure, Güter aufzubauen, die bewirtschaftet wurden mit Hilfe derer, die Sie Siedler nennen.“
Danach versiegten die Anfechtungen der Nörgler, fundiertes Wissen schlägt hohle polemische Sprüche. Man muss nur Geduld haben, sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, das hat Harrie gelernt, in nunmehr fast 35 Jahren an der Schule.
Der Vortrag kam, abgesehen von den paar Nörglern, bei den Mitgliedern gut an und hat zur Folge, dass am Mittwoch der Vorstand über seinen Vorschlag diskutieren, vielleicht sogar entscheiden wird, im städtischen Museum eine Ausstellung zu organisieren, die die Bedeutung Lübecks für die ab 1760 einsetzende Auswanderungswellen nach Russland aufzeigen soll. Katharina die Große hat den verarmten Landlosen und kriegsdienstmüden Auswanderungswilligen eigenes Land, die Befreiung vom Militärdienst, Religionsfreiheit und weitgehende Selbstverwaltung versprochen (fast das Paradies), was Massen an Auswanderern, ja man kann auch Flüchtlinge sagen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Steppen Russlands lockte. Aber wie immer lag halt eine Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Und diese Kluft und ihre Folgen wollte Harrie aufzeigen.
Lübeck war die Stadt, von der aus Schiffe die Auswanderungswilligen nach Kronstadt, einer Festung bei St. Petersburg beförderten. In Oranienbaum, dem heutigen Lomonossow, ruhten die Migranten, wurden registriert, leisteten den Treueeid auf die russische Krone und zogen auf dem Landweg weiter in die südlichen Wolgagebiete, um dort das versprochene Land einzunehmen und zu bewirtschaften. Zeitweise lagerten vor und in Lübeck über 40.000 Menschen, die auf eine Abfahrt warteten. Diese Jahre wollte Harrie dokumentieren, verbunden mit der Dokumentation über die Lebensbedingungen der Ausgewanderten. Und, seine Intention war, diese Ausstellung mit den Schülern seiner beiden Geschichtskurse der Jahrgangsstufe 9 und 8 aufzubauen, quasi als eine Abschlussarbeit. Sollte der Mumien-Vorstand seiner Idee zustimmen wird er seine Schüler in Kenntnis setzen, überzeugt, dass sie begeistert sein werden, sicher nicht alle, aber einige, schließlich bedeutete die Mitwirkung das Opfern von Freizeit.
Hm, der Mittwoch, ja, der Mittwoch kann ereignisreich werden oder in einer großen Enttäuschung enden. Warten wir es ab, denkt Harrie und geht langsam zum Tisch des zweiten Teams, das sich um das Thema „Sind die Vandalen am Vandalismus schuld?“ beschäftigt. Ein Thema, dass Harrie für den Unterricht aufbereitet hatte, nachdem sich an der Schule Zerstörungen und Schmierereien häuften und Direktor Ehlers von Vandalismus sprach. Auf seine Frage an die Schüler, wer sich den Begriff Vandalismus erklären könne, kamen nur unspezifische Antworten, und vom Stamm der Vandalen hatte so gut wie keiner der Schüler gehört, so dass sich Harrie entschloss, vom Lehrplan abzuweichen und das Thema näher zu beleuchten. Die Vandalen hatten ihn in seinem Geschichtsstudium fasziniert, er hatte dazu zwei Studienarbeiten verfasst und es als Prüfungsthema behandelt. Also, ein kleines Steckenpferd seinerseits, dass er seinen Schülern zugutekommen lassen wollte und nur einer kleinen Auffrischung bedurfte. Ökonomisches Nutzen von Erfahrung, wie er das nennt.
In diesem Team fehlt eindeutig eine Evi Weinman, oder nein, sie arbeiten nur anders. Jedes Teammitglied war damit beschäftigt Google-Treffer auszuwerten. Geschickt, sie hatten sich aufgeteilt und jedes Mitglied wertete drei Treffer aus, von 1 bis 3, 4 bis 6 und so weiter. Gut, wird schon etwas herauskommen dabei.
Er geht vor an seinen Tisch und beginnt sich die Tagesordnung der außerordentlichen Lehrerkonferenz für morgen vorzunehmen, bei der es unter anderem um den aktuellen Stand für die Abschlussfahrten gehen wird und um den Bedarf an Qualifikation in der Lehrerschaft für die anstehende Digitalisierung der Schule. Als er dies liest, muss er schmunzeln, anstehen, ja, so ist es, das Thema steht an, kommt aber nicht vorwärts. Mal schauen, was wird.
Mit dem Ende der Stunde ist auch Harries Schulpräsenz zu Ende. Er verstaut seine Sachen in seiner Umhängetasche, verlässt das Schulgebäude, geht zu seinem Fahrrad, löst die Sicherheitskette und radelt seinem zu Hause entgegen, gut fünf Kilometer, die leicht zu bewältigen sind, das Fahrrad würde sich aber über eine Ölung freuen. Vor der Hoftür steigt er vom Rad, öffnet das Tor, schiebt das Fahrrad auf den Fußweg, wird es hinter in den Gartenschuppen drücken, muss aber innehalten, da er sieht, dass der Maulwurf weiter umtriebig ist.
Vier weitere Hügel sind entstanden. So ein Mist! Das muss er jetzt gleich angehen, bevor sein Rasen der Landschaft um Cooper Pedy gleicht. Doch, den Fahrradlenker noch fest in beiden Händen, die Spur des Übeltäters führt in gerader Linie auf Nachbar Thiedes Garten zu. Soll er das riskieren? Abwarten, bis der Maulwurf drüben ist und zum Problem von Thiede wird? Ja, mit einem diabolischen Lächeln stimmt Harrie seinem Vorschlag zu. Abwarten und sollte der blinde Gräber doch noch von der Geraden abweichen, kann er immer noch mit Knoblauch reagieren.
Befriedigt über seinen Entschluss schiebt er das Fahrrad in den Schuppen, geht in das Haus, legt an der Garderobe ab, wechselt in die Küche und stellt sich einen Topf Wasser auf den Herd, für einen Tee, den er mit nach oben nehmen wird, wo er sich weiter um die Konferenz morgen kümmern sowie sich auf die Sitzung im Mumien-Club vorbereiten will.
Aus dem Küchenfenster wirft er einen Blick in den Garten, auf die Hügel, zu denen kein weiterer hinzugekommen ist, geht ins Wohnzimmer, von dem aus er hinüber zu Thiede sehen kann. Dieser liegt in einem Liegestuhl auf seiner Terrasse, lässt sich die Haut von der Sonne verbrennen. Thiede ist in Rente, seine Frau Marielle hat noch sechs Jahre zu arbeiten, das heißt, er faulenzt noch sechs Jahr vor sich hin. Thiede ist kein umtriebiger Mensch, außer wenn es um seinen Garten geht, der, das muss Harrie neidisch zugeben, in einem Topzustand ist, also ökologisch gibt es da nichts zu meckern, bis auf die Böller, mit denen er auf die Maulwürfe losgeht. Im Moment gibt es aber dazu noch keinen Anlass und wenn es losgeht, wird Harrie es hören.
Das Teewasser kocht, er schüttet die Teekanne voll, in der ein Sieb mit English Green hängt, schaut im Kühlschrank nach, irgendetwas mundgerechtes, schnell zu essendes suchend, aber nichts zu Hause, dagegen entdeckt er im Küchenschrank eine Tüte mit Spritzgebäck, der er vier Gebäckstücke entnimmt, sie auf den Untersetzer legt, noch einen Augenblick warten muss, bis der Tee seine drei Minuten gezogen hat. Das ist wichtig, zu kurz, ist der Tee geschmacksarm, zu lang schmeckt er bitter, bei genau drei Minuten ist er aromatisch, so wie er ihn liebt.
Gut, jetzt. Mit Teekanne und Gebäck geht er hoch in sein Zimmer, stellt den Rechner an, schaut erst einmal, was es so Neues gibt in der Welt. Nichts Aufregendes. Hält inne, Maltes Verdacht geht ihm durch den Kopf, sucht die Home-Page des Pflegeheimes, klickt auf Unser Team (die auch?). Liest sich die Namen durch. Nein, kein Paul dabei. Niemand, von dem er annehmen könnte, dass er für die Aufgeregtheit seiner Mutter infrage käme. Er betrachtet sich die Fotos, ein Gruppenbild (das Team) auf dem er niemand erkennen kann, schaut noch einmal genauer hin, nicht einmal Claudia oder Ximena sind abgelichtet, anscheinend ein altes Foto. Von Frau Doktor Detlevsen ist ein Portraitfoto eingestellt, ebenso von einem Nicola Schroh, ihrem Stellvertreter. Dieser wirkt, trotz eines aufgesetzten Lächelns, ernst, ja düster, durch die dunklen glatten Haare, die eine Spitze auf seiner Stirn bilden, die wuchtigen schwarzen Augenbrauen und die trüben Augen, wirken irgendwie slawisch. Das Lächeln ist nicht echt. Wenn Harrie recht erinnert, ist dieser Schroh Pfleger im Trakt, in dem das Zimmer seiner Mutter liegt. Könnte er? Nein, warum sollte er? Gut, weiß er das jetzt auch, mehr aber auch nicht.
Also Wechsel auf die Konferenz morgen. Das mit Thema Digitalisieren interessiert ihn nicht, da wird Malte für alle sprechen, Malte ist mit dem Thema eng vertraut, lebt mit der IT, seine Frau leitet die IT bei einer großen Firma in der Stadt, so dass er gar nicht anders kann, als
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Bernd Engroff
Lektorat: ohne
Korrektorat: Bernd Engroff
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2021
ISBN: 978-3-7554-4361-2
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