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Montag, der 18.

Tocktock. Es klopft. Gustav schaut auf, schlägt das Buch zu, Leonardo Paduras Die Durchlässigkeit der Zeit, dessen neuestes Werk, wie immer ein genialer Mix aus kritischem Gesellschaftsroman, historischen Ereignissen, die in die Gegenwart hineinstrahlen, Ereignisse auslösen, die dem Roman seinen Faden geben. Einer Gegenwart, die Havanna heißt, authentisch beschrieben und in die dunkelsten Winkel der übelsten Viertel Havannas hineinführt, diese spiegelt mit den Vierteln, die Macht und Geld sich errichtet haben, und wie fast immer, mit Mario Conde. El Conde, dem ewigen Schnüffler als Führer, eine zerrissene, typisch kubanische Figur, kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag stehend, diese Tatsache bejammernd. Na, komm Du erst einmal in mein Alter, Alter, denkt Gustav, ist sich aber sicher, dass dieser El Conde nie sein Alter erreichen wird. Gespannt auf den Fortgang der Geschichte und auf den Grund der Unterbrechung seiner Lektüre, mit der er seinen Nachmittag lesend begonnen hatte. Er legt das Buch zur Seite, auf den kleinen Beistelltisch, neben seinem Sessel. Es hat geklopft. Tocktock. Zwei Mal. An seiner Tür. Das kommt nicht oft vor. Interessiert, wer und was da kommen würde, erhebt er sich aus seinem Sessel, sagt „Ja?“ in Richtung Tür und geht auf sie zu. Bevor er sie öffnen kann, geht der Türgriff bereits nach unten und Holger, sein Sohn, schiebt den Kopf durch den Türspalt „Darf ich?“

Mit mürrischem Blick: „Es ist Dein Haus. Als hätte ich Dir darin etwas zu verbieten.“

Holger steht unschlüssig in der Tür, bewegt sich nur zögernd in Gustavs Zimmer „Und es ist Dein Zimmer, Deine Privatsphäre, also ist es normal, höflich zu fragen, ob ich eintreten darf. So hast Du mir das beigebracht.“

„Schon gut. Was verschafft mir das Vergnügen Deiner Anwesenheit?“ Eine Anwesenheit, die der Abwesenheit von Holger deutlich unterlegen ist.

 

Das Haus, 280 qm Wohnfläche, von denen Gustav 34 qm sein Eigen nennen darf, wobei Eigen nicht korrekt ist, auch diese 34 qm gehört Holger und seiner Frau Keethy, er darf sie bewohnen, wobei, auch dürfen ist nicht ganz korrekt, er muss sie bewohnen. Muss, weil, es gab auch Alternativen, die aber gegen das verwaiste Zimmer, der nicht mehr anwesenden Haushälterin keine Chance hatten, überhaupt in Erwägung gezogen zu werden. Nach dem Tod seiner Frau Marie-Luise drängte Holger seinen Vater, das Haus in Nackenheim, mit Blick auf den Rhein, zu verkaufen und zu ihm und seiner Familie nach Lübeck zu ziehen. Er könne das große Haus, dass er und Marie-Luise sich, nach seinem Entscheid, in den Ruhestand zu gehen, gekauft hatten, nicht mehr allein bewohnen, zu teuer im Unterhalt, zu arbeitsintensiv Haus und Garten, was Gustav wusste, seine Knochen hatten, solange der den Garten noch selbst pflegte, ihm dies täglich gesagt. Er sei zu alt, allein für sich und das Haus zu sorgen. Nun, eine Haushaltshilfe könne da Abhilfe schaffen, war ein schwaches Argument, dessen war sich Gustav bewusst. Nein, Widerstand war das nicht, ein nur schwacher Abklatsch davon vielleicht, mehr nicht. Nein, er könne nicht allein bleiben, eine Haushaltshilfe wäre nur der Tropfen auf einen heißen Stein. Ob er in den Armen einer Haushaltshilfe oder einer ambulanten Pflegerin sterben wolle? Gustav war von Altersstarrsinn frei, war vernünftig, wusste, dass er so wie bisher nicht mehr weiterleben konnte. Nachdem Marie-Luise und er das Haus gekauft hatten war alles neu, die Umgebung, die Nachbarn, die Aufgaben. Sie bewältigten das, was anfiel, fuhren zweimal im Jahr in Urlaub, besuchten in Frankfurt, Mainz oder Wiesbaden die Theater, Konzerte, Feste, fuhren zum Einkaufen in die Städte. Doch mit den Jahren ließ dies alles etwas nach, immer weniger Fahrten, nur noch einmal pro Jahr in Urlaub, meist sogar nur kurze Aufenthalte bei Holger und den Enkelkindern und mit Beginn von Marie-Luises Krankheit hörte dann diese Mobilität gänzlich auf, mit Ausnahme der Fahrten zum Krankenhaus oder dem Kurhotel im Spessart. War man jung, wenn man neu in einen Ort oder Stadt kam, boten sich Vereine, wie der Fußballverein, Tennisclub, die freiwillige Feuerwehr oder sonst eine Geselligkeit versprechender Verein an, soziale Kontakte zu knüpfen. Als sie in Nackenheim ankamen, stand die Frage im Raum, wie Kontakte finden, letztlich blieben der Gesangverein und der örtliche Fastnachtsverein (musste er sich erst zum Narren machen, um soziale Kontakte zu knüpfen?) und mit beiden Möglichkeiten wollte Gustav absolut nichts zu tun haben, also blieb er sich selbst sein sozialer Kontakt. Marie-Luise, allerdings, ohne jede Gläubigkeit, trat dem Kirchenchor bei. Für Gustav blieb es bei wenigen Kontakten mit den Nachbarn und damit wenig Gründe, an einer Bindung festzuhalten oder dieser nachzutrauern.

 

Sein Widerstand gegen einen Umzug brauchte also nur wenige Worte der Überzeugung, um ihn zu brechen. Verlockend war auch, dass er bei Holger unter Familienanschluss seinen Lebensabend verbringen würde. Klang verlockend. Familie. Leben. Aber Lübeck? Ganz da oben? Kurz nachdem Holger und seine Frau das Haus in Lübeck gekauft hatten, wobei es Gustav ein Rätsel war, was die beiden bewogen hatte, ausgerechnet Lübeck auszuwählen, waren Gustav und Marie-Luise hoch gereist und hatten dort zwei Wochen verbracht. Eines dieser lichtdurchfluteten neumodischen Häuser, in dem sie sich nicht wohl gefühlt hatten, aber die Stadt, die nahe See, die Orte an der Küste, das hatte ihm und Marie-Luise schon gefallen. Sie waren viel in der Welt herumgekommen, für die Ostsee hatte es bisher noch nicht gereicht und sie freuten sich bereits auf weitere Besuche, was allerdings Marie-Luises Erkrankung verhinderte. Die Kinder waren zu der Zeit noch in einem Alter, wo die Großeltern Großeltern sein konnten, Entertainer für die Kids waren, mit ihnen die Gegend erkundeten, im Ostseewasser badeten, Freizeitparks besuchten, an den Promenaden der Ostseeorte spazierten, die Kinder auf ihren Rollern, Skateboards und sonstigen Untersätzen vorauseilten. So waren Gustavs Erinnerungen, die, wie er dann schnell feststellen musste, nicht mehr zeitgemäß waren. Till studierte bereits in Erlangen Medizintechnik und Eileen stand kurz vor dem Abitur, lernte und wenn sie dies nicht tat, chattete sie auf ihrem Smartphone mit ihren Freundinnen, lag im Bett und surfte im Internet oder war mit Freund oder Freundinnen irgendwo unterwegs, nur nicht zu Hause. Und Opa? Der fand nicht mehr statt. Musste zusehen, wie er den Tag hinter sich brachte, was aber angesichts der Möglichkeiten, die die Stadt ihm bot, nicht allzu schwierig war. Die Situation hier unterschied sich mittlerweile nicht mehr groß von der in seinem vorherigen Domizil, nur das sie um etliche qm geschrumpft ist. Der Gedanke, dass es ein Fehler war, dem Wunsch Holgers zu entsprechen, tauchte zwar in seinem Hinterkopf auf, versank aber schnell wieder. Nein, es war der richtige Entschluss, alles andere wäre Quälerei mit viel Platz gewesen. Gelegentlich durfte Opa Opa sein, wenn er Eileen Spaghetti Bolognese oder Penne arrabiata zubereitete, wofür er Spezialist ist, denn Gustav versorgt sich noch selbst, wenn er nicht sein Mittagessen in einem der Restaurants in der Stadt zu sich nimmt, vornehmlich im Sorrento. Ist Eileen zu Mittag zu Hause ist klar, dass Gustav Pasta zubereitet, was ihm Spaß macht und er sich freut, mit Eileen plaudern zu können, auch wenn er vieles von dem, was ihm Eileen so erzählt, nicht versteht, da ihre Erzählung mit Worten gespickt sind, von denen Gustav noch nie zuvor gehört hatte. Ein Vergnügen, also das Plaudern, das sich mit jedem Tag vom Zwiegespräch auf das Blicken und Tippen auf dem Smartphone verlagerte, Essen, ständig unterbrochen von der aufspringenden ins Smartphone sprechenden Eileen, die mehr und mehr dem Suppenkasper aus Hoffmanns Struwwelpeter glich, das ihr Gustav kopfschüttelnd mehrfach unter die Nase rieb, aber außer einem „Pfff“, das aus ihrem gespitzten Mund kam, reaktionslos blieb, Gustav schließlich vor der Macht dieses Gerätes kapitulierte und die Versuche, von Opa zu Enkeltochter zu kommunizieren, deutlich herunterfuhr, ohne dass dies von ihr bemerkt wurde.

 

Holger hat einen Lehrstuhl für Agrar- und Ernährungswissenschaft an der Universität in Kiel inne, dreimal die Woche ist er dort, kommt spät nach Hause und verzieht sich dann in seine Studierklause, sein Arbeitszimmer, hält hier und da Vorträge, gibt Seminare über gesunde Ernährung, was Gustav immer wieder verwundert, denn Holger ernährt sich alles andere als gesund, meist nur im Vorübergehen und der Mikrowelle, statt dem Herd. Von Kochen hatte Keethy schon gehört, mehr aber auch nicht, hielt es für Zeitverschwendung, mischte sich einen Salat, bei dem immer etwas zu viel beigeben war, mal der Essig zu viel, mal Pfeffer, mal Salz oder sonst ein Gewürz, sie aber aß ihn trotzdem, ansonsten nutzte sie Restaurants, Kantine und die Mikrowelle, mehr auch nicht, wodurch sie als Verpflegerin der Familie ein totaler Ausfall ist. Sie ist Engländerin und die haben bekanntlich eine eigenwillige Vorstellung von guter Küche. Gustav hatte den Besuch bei Keethys Eltern, kurz vor der Hochzeit von Keethy und Holger, in Erinnerung, über zwanzig Jahre her, aber gut verankert in seinem Kopf. Keethys Mutter wollte eine gute Gastgeberin und Köchin sein, aber in ihrer Kochwelt gab es zum Beispiel den Begriff al dente nicht und somit nur weich gekochte, sehr weich gekochte Nudeln und auch sonst legte sie Kombinationen auf, die Marie-Luise und Gustav zwar in sich aufnahmen, wie Kartoffelpüree an Erbsenpüree mit Eisbein, aber doch froh waren, nach sieben Tage wieder in der Obhut der heimischen Küche zu sein. Allerdings war der Tee, den Keethys Mutter brühte, exzellent, ebenso wie der Whisky, den Keethys Vater ihres Besuches zu Ehren öffnete. Erst neulich, zum Jahresende, als alle vereint in der Wohnsuite saßen, hat Gustav, als die Sprache auf das britische Brexitchaos kam, an Holger gerichtet gemeint: „Ein Volk, dass sich von so einfachen Gerichten wie Fish’n‘Chips ernährt ist geistig auch nur zur Lösung einfacher Aufgaben in der Lage und der Brexit ist eine Kategorie zu kompliziert für die Fish’n‘Chips-Esser. Was Du als Ernährungswissenschaftler sicher bestätigen kannst.“ Keethy war gegen den Brexit, ließ aber nichts auf ihr England kommen, reagierte entsprechend pikiert und noch ehe Holger zu einer Antwort ansetzen konnte, giftete sie los: „Das muss einer sagen, dessen Vorfahren das Sauerkraut erfunden haben, was alles über den Zustand der deutschen Küche sagt, die eh nur aus fettgetränktem Food besteht, Hirne verklebt und dazu geführt hat, zwei Kriege loszutreten, die mehr Chaos verursacht haben als der Brexit, der nur ein Klacks dagegen ist.“ Keethy kennt nur britischen Humor und versteht Gustavs trockene Bemerkungen nicht als Scherz oder Humor, sondern nur als Angriff gegen ihre Person. Till hat dies entsprechend kommentiert: „Ihr benehmt Euch wie ein altes Ehepaar.“ Wobei, wirklich ärgern wollte er Keethy mit seinen Einwürfen nicht, er warf es ihr eher scherzhaft hin und der Spaß bestand für ihn darin, dass Keethy in eine verteidigende Aufgeregtheit verfiel. Er fragte sich dann immer, ob sie auch in ihrem Job auf, wie er meinte, kleine Provokationen so regiere, was, wenn dem so ist, sie nicht unbedingt zu einer beliebten Vorgesetzten machen würde, für ein effizienzsteigerndes Betriebsklima eine Bremse wäre.

 

Na ja, Keethy hatte nicht die Zeit, eine gute Köchin zu sein, sie ist ja nicht oft zu Hause und daran gewöhnt, das Hausfrausein an ihre Haushälterin zu delegieren, die aber, seit Gustavs Einzug, für ihn ihr Zimmer und den Job hatte räumen müssen. Sicher, wie Gustav erkannte, ein weiterer Grund für die Animositäten, die zwischen ihnen beiden herrschten. Als Personalmanagerin Europe, für einen englischen Pharma-Konzern mit Hauptsitz in London, pendelt sie zwischen den Produktions- und Forschungsstätten des Konzerns in Europa, gelegentlich auch in Nordamerika oder Asien, wo sich weitere Niederlassungen befinden, immer dann, wenn es darum geht, Führungskräfte für neue, höhere Aufgaben auszuwählen und vorzubereiten. Der Konzern beschäftigt um die 100.000 Mitarbeiter, wobei Keethys Zuständigkeit auf die oberen 1.000 Mitarbeiter beschränkt ist, für die restlichen 99.000 hatte sie ihren Mitarbeiterstab. Ab und an kam der Konzern mit den Aufsichtsbehörden in Konflikt, was Skandale verursachte und zu Gerichtsverfahren führte. So wurden in einem New Yorker Kinderheim an HIV-positiv getesteten Kindern unerprobte Medikamente angewandt. Für Gustav die Spitze eines amoralischen Eisberges, für Keethy ein bedauerliches Fehlverhalten eines einzelnen Managers und Grund diverser Streitgespräche zwischen den beiden. Gustav war in seinem Berufsleben Unternehmensberater, mit eigener Firma, die in ihren besten Zeiten achtzig Mitarbeiter hatte und wusste um die Schwächen vieler Konzernführer, denen er in vielen Fällen, zu denen er gerufen wurde, die Schuld für das entstandene Problem gab, dies in seiner ersten Analyse deutlich machte, mit der Folge, dass ihm die Uneinsichtigkeit des oder der Betroffenen keinen Beratervertrag einbrachte. Er beriet auch nicht, er begleitete, unterstützte Unternehmen dabei, sich selbst zu helfen, war kein Besserwisser, sondern einer, der Wissen teilte. Seine Überzeugung war es, dass nur auf breiter Mitarbeiterbasis getragene Veränderungen erfolgreiche Veränderungen werden können. Entsprechend hatte er für seine Firma moralische und ethische Grundsätze festgeschrieben und jeden im Beratungsgeschäft tätigen Mitarbeiter darauf verpflichtet, ihnen gemäß zu Handeln. Von solchen Grundsätzen sah Gustav den Konzern, für den Keethy arbeitete, weit entfernt, was, logisch, zu Reibungen in der eh spannungsgeladenen Beziehung der beiden führte, wenn Gustav auf eine Meldung stieß, in der der Konzern mit Vorwürfen konfrontiert wurde und er mit dem moralischen Zeigefinger um die Ecke kam. Sie aber liebt ihren Beruf, fühlt sich nicht verantwortlich für die Fehler, die andere machen, wies Gustav darauf hin, dass der Konzern einer der wenigen Pharmahersteller sei, der zum Zwecke der Transparenz die Ergebnisse seiner klinischen Studien mit detaillierten Daten im Internet veröffentlichte. Keethy ist zuständig für die Akquirierung der Top-Führungskräfte, hält Seminare für diese, moderiert, stellt ein und entlässt und ist selten in Lübeck in ihrem Hause, bei ihrer Familie und wenn sie da ist, möchte sie ungestört ihre Privatsphäre pflegen, möchte, ohne den fragenden Blick Gustavs, ihre Yoga-Übungen durchführen, auf der Couch fläzen, meist, zumindest im Sommer, leicht bekleidet, ohne dass der alte Mann plötzlich hinter ihr steht, was vorkam, unabsichtlich. Ja, sie nennt Gustav den alten Mann, vor anderen Leuten und den Familienmitgliedern, nicht Opa, Gustav oder Schwiegerpapa, nein, den alten Mann. Sie spürte seine Abneigung gegen sie und gab diese zurück. Gustav hatte große Sympathie für emanzipierte Frauen, nicht aber für konkurrierende Frauen und so eine ist Keethy, konkurriert mit jedem, vor allem mit den Männern ihres Umfeldes, will stärker, taffer, konsequenter sein als sie. Ihre Sprache ist durchsetzt mit Imperativen, die ein Gespräch mit ihr nie zu einem gegenseitigen Austausch werden lassen. Spaßfreies Reden. Er sah in Keethy sich zunehmend den Typ von Manager entwickeln, den er in seinem Berufsleben verabscheut hatte, gnaden- und rücksichtslos auf Effizienz gepolt, ohne jede Empathie für Betroffene und bar jeden Teamgeistes. Gustav hat sich oft gefragt, wie Holger es mit dieser Frau aushält, was die Essenz dieser Beziehung ist. Es ist der Job der Keethys Verhalten prägt und je höher ihr Einfluss im Konzern wurde, desto mehr dominierte der Job ihr Leben. Sie war schon immer ehrgeizig, dominant, schon als Holger sie Marie-Luise und ihm vorgestellt hatte war da so ein merkwürdiges Gefühl von Distanziertheit, die Herzlichkeit sich als aufgesetzt fühlen ließ. Marie-Luise meinte, sie entschuldigend, es sei der englische Zungenschlag, den Keethy noch nicht überwunden habe, der ihre Reden so nachdrücklich mache. Na ja, Gustav hatte es so stehen lassen, gedacht hatte er aber, mal gespannt, was das wird.

 

Vereint ist die Familie in den letzten Monaten nur selten. Gustav lernte nach seinem Einzug schnell, dass Familie heutzutage anders geht als noch vor ein paar Jahren und vor allem ganz anders als zu seiner Jugendzeit. Er wurde groß in einem Haushalt, der auf drei Etagen vier Generationen von Holms beherbergte auf vielleicht 140 qm. Mit der Bildung, dem Gehalt wuchs über die Zeit die Entfernung, die sich zwischen den Mitgliedern seiner Familie legte. Zunächst die erste eigene Wohnung, noch am Wohnort der Eltern, dann die größere Wohnung, schon weiter entfernt, dann der Beruf, der seine Zeit fraß, die Kontakte auf die Festtage reduzierte. Dann das Eigenheim, verkehrsgünstig gelegen, in anmutiger Landschaft. Die Distanz wuchs, nicht nur der Länge nach. Die Verwandtschaft glitt aus den Augen aus dem Sinn. Vogelwirtschaft nennt Gustav das, wie die Vogelfamilie, Kinder dickgefüttert, sobald sie flügge sind, sich ab in die Welt verstreuen. Je besser es der Familie ging, desto isolierte gestaltete sich ihr Leben und je mehr Raum beanspruchte sie für sich. Das Eigenheim wechselte, meist an Grund- und Wohnfläche zunehmend, zuletzt in Nackenheim. Nein, ein Vorbild war er seinem Sohn mit Sicherheit nicht. Dann die schmerzliche Wende, die Reduzierung auf dieses eine Zimmer mit eigenem Zugang und Durchgang zu dem Wohnraum der Familie Holgers. In diese 34 qm hatte er nur das ihm wirklich am Herzen liegende Mobiliar mitnehmen und platzieren können, der Rest wurde zerlegt, zu Grobmüll, Abfall, einem Trödler überlassen, gemanagt von Holger. Ausnahme waren Gustavs Bücher, die Holger größtenteils unbesehen übernahm, Fachbücher und weniger bekannte Autoren in Einzelausgaben sortierte er aus, natürlich auch die Taschenbücher, der Rest steht als Zierde in Holgers Bücherregalen im Wohnzimmer, wobei Rest sich auf die Gesamtausgaben bezieht, ein Großteil der Bücher ruht noch in Umzugskartons auf dem Speicher. Gustav behielt nur seine Lieblinge für sich, brachte sie allerdings nicht alle unter, zu klein das Zimmer, zu wenig Platz für die notwendigen Regale. Die Bücher als Gäste in Holgers Bücherwand einzustellen, kam für Gustav nicht in Frage, nur die Gustav nahestehenden Autoren konnten mit in sein Zimmer einziehen, fanden ihren Platz in einem kleinen Bücherregal, das eingezwängt zwischen dem Kleiderschrank und seinem Bett, einen seinen Inhalten nicht gemäßen Standort hatte. Und Ausnahme waren die vier Gemälde, die Gustav spontan in einer kleinen Galerie in Halle gekauft hatte, kurz nach der Wende, dabei ein Gerhard Richter, zwei Bilder von Bernhard Kretschmar, eins von Frank Schult, im Glauben ein Schnäppchen gemacht zu haben, was es auch war, die Bilder aber allesamt Marie-Luise missfielen, zu abstrakt, zu bunt, zu düster, keine Erzählung erkennbar und sie so, wie viele ihrer Artgenossen, nicht sichtbar an einer Wand hingen, sondern gut verpackt, als Investment- oder Spekulationsobjekt, zunächst auf dem Speicher in Nackenheim auf lichterer Tage hofften und nun, mit Ausnahme des Richters, den Holger mehr aus Prestige, denn aus Kunstinteresse meinte aufhängen zu müssen, ebenfalls dem Tageslicht und Blickfang entzogen auf dem Speicher in Lübeck auf den Moment ihrer Enthüllung warteten.

 

Mit dem Umzug gab Gustav nicht nur sein bisheriges, selbständiges Leben auf, wobei, bei Holger lebte er auch selbständig, aber diese Selbständigkeit fühlte sich anders an, ganz anders, sondern auch das Autofahren. Sicher, er hätte noch ein, zwei oder drei Jahre Auto fahren können, kurze Strecken, aber er war vernünftig genug, das Ende seines Autofahrerlebens selbständig zu entscheiden. Den Führerschein zerschnitt er in kleine Schnipsel, nichts Großes mehr erwartend. Die Versorgung durch die öffentlichen Verkehrsmittel ist hier in der Stadt gut geregelt, so dass ihn der Verzicht auf den eigenen Untersatz nicht immobil machte.

 

„Papa, wir müssen reden!“ Gustav schwant, dass diesem Ausspruch nichts Gutes folgen würde, diesen kurzen Satz hat er schon einmal, damals kurz nach der Beisetzung von Marie-Luise, gehört, also schaut Gustav seinen Sohn, als der so mit einem traurig schamhaften Blick in seinem Zimmer steht, misstrauisch überrascht an, zieht die Augenbrauen hoch, so dass sich auf seiner mit Alterswarzen gesprenkelten Stirn, kleine Falten bilden.

„So? Müssen wird das?“ Er setzt sich in seinen Sessel und weist Holger den Stuhl an, der aber stehen bleibt, schreitet lieber langsam im Zimmer auf und ab.

„Ja. Es ist durch. Ich habe die Professur in Newcastle für Agriculture und Agronomy zugesprochen bekommen. Vorerst für drei Jahre, aber ich gehe davon aus, dass einer langfristigen Anstellung nichts im Wege steht.“

„Das heißt?“

„Das heißt, mein Leben wird sich entscheidend verändern. Und, notgedrungen leider auch Deines. Ich werde nach Newcastle ziehen. Vorerst eine Wohnung auf dem Universitätsgelände beziehen und von dort aus in Ruhe eine mir genehme Wohnung oder auch ein Haus suchen.“

Überraschend kommt diese Ankündigung nicht, Gustav weiß, dass Holger seit einiger Zeit mit zwei englischen Hochschulen in Kontakt steht, er an einem Karrieresprung arbeitete. Allerdings hat er gedacht, das Brexitchaos würde ihn abhalten, diesen Schritt tatsächlich zu tun. Falsch gedacht und da ist etwas, das aus Holgers Ansage uneindeutig klingt. „Du gehst allein nach England? Habe ich das richtig verstanden?“

Holger lächelt dezent. Sein Vater ist zwar ein Mittachtziger, mit ein paar körperlichen Macken, aber geistig noch voll da.

„Ja. Keethy und ich werden uns trennen. Das Haus hier wollen wir zunächst für drei Jahre vermieten, danach wahrscheinlich verkaufen, wenn wir uns zu einer Scheidung entschließen, was wir uns vorläufig noch offenhalten. Und sage jetzt nicht, es tue Dir leid.“

Ein verschmitztes Lächeln zuckte kurz über Gustavs Mund. „Na ja, Du weißt, mit mir und Keethy lief es nicht immer rund. Nein, leid tut es mir nicht. Aber ich finde, dass es schade für Euch und die Kinder ist. Wie lange habt ihr durchgehalten? Zwanzig Jahre? Zweiundzwanzig Jahre?“

„Dreiundzwanzig Jahre sind es. Keethy war nicht immer so wie sie jetzt ist. Ja, ehrgeizig war sie immer, aber sie hatte Witz, Charme, war warmherzig. Ihr Job hat dies alles sterben lassen. Sie lebt nur noch für ihn. Job und Firma sind ihre Familie geworden und zwei Ehemänner, das ist Bigamie. Geht nicht. Ich hatte gehofft, sie würde meinen Wechsel als Chance begreifen, zurück nach England zu gehen, in der Konzernzentrale eine andere Beschäftigung finden oder gar einen Neuanfang in einer anderen Firma eingehen. Sie sieht mein Wechsel nicht als Chance, sondern als Abstieg für sich. Die Trennung ist eine Vernunftentscheidung. In Freundschaft verbunden, wie man heute so sagt.“ Im letzten Satz schwingt deutlich Resignation mit, Traurigkeit, Trauer um ein Scheitern, das Holger so nicht gewollt hat, ihm aber die Argumente für eine weitere Zweisamkeit ausgegangen sind.

„Das heißt, wir müssen eine Lösung für Dich finden.“

Das Herz Gustavs schlägt heftiger als gewöhnlich, unter seinem Hemd spürt er das Pochen, das sich hoch bis zu seinem Hals zieht, zu gut weiß er, was diese Lösung bedeutet. Er betrachtet seinen unruhig hin und her wandelnden Sohn, dem die Situation spürbar unbehaglich ist.

„Es freut mich für Dich, dass Du zu Deinem Lehrstuhl in England kommst. Es war ja immer Dein Wunsch, an einer englischen Hochschule zu lehren und, wenn ich dies richtig einschätze, ist das Angebot aus Newcastle eine späte, vielleicht letzte Möglichkeit, Deinen Wunsch zu realisieren. Du hast Dir dies sicher gut überlegt, von daher gehe ich davon aus, dass Du auch meine Lösung schon kennst.“

„Ja. Es gibt leider nur eine Lösung, aber sie hat Alternativen, die Du Dir aussuchen kannst.“

„Ein Altersheim also?“

„Nein. Kein Altersheim. Ein Seniorenwohnheim, wo Du selbständig in Deiner eigenen Wohnung leben kannst. Also nicht viel anders als hier.“

Gustav schaut skeptisch zu Holger auf, der gut einen Kopf größer ist als er selbst, lacht kurz auf und meint: „Nicht ganz. Es ist dort sicher etwas mehr Trubel als in Deinem Haus.“

„Umso besser. So kannst Du wieder zu einem sozialen Wesen werden.“ Was soll das jetzt schon wieder? Gustav entschließt sich, die Anspielung zu überhören.

„Und wo ist der Ort meines sozialen Wandels? Etwa in England?“

„England? Nein. Aber jetzt, wo Du es sagst, sicher auch das wäre eine Überlegung wert. Nein, ich dachte eher ein Seniorenwohnheim in Lübeck, oder in Travemünde, wobei ich für Dich ein Seniorenzentrum in Travemünde favorisieren würde.“

Hört sich gut an, Travemünde. Mitunter war Gustav mit der Regionalbahn aus Lübeck heraus und nach Travemünde gefahren, einmal sogar mit dem Schiff, einem Panoramaschiff, das regelmäßig zwischen Lübeck und Travemünde schippert, war die Promenade auf und ab gegangen oder am Brodtener Steilufer entlang bis Niendorf und zurückgelaufen. Ja doch, Travemünde könnte ihm gefallen, zumindest besser als England, dafür ist es zehn Jahre zu spät. Also, dann nochmals eine Veränderung, die er berufslebenslang in die Wege geleitet hat und nun an sich selbst praktizieren würde. „Ich werde mich im Internet schlau machen. Ich regle das selbst. Wie lange habe ich Zeit?“

Holger entspannt sich. Ihm ist die Erleichterung deutlich anzumerken. Hat er erwartet, dass Gustav Widerstand leisten würde, verbal auf ihn losgehen würde?

„Ich trete die Stelle ab September an, bin aber schon ab Anfang August in Newcastle, um meinen Umzug vorzubereiten. Ich denke, so ab dem 01. Oktober werden wir das Haus vermieten…Du bist mir wirklich nicht böse über diese Entscheidung?“

„Also, was bleibt mir anderes über? Andererseits bin ich kein verstockter alter Mann. Wie Bobby Dylan schon sang: The Times they are a changin. Weißt Du, als Deine Großmutter starb, da war ich nicht da, enttäuscht fragte mein Vater mich mit weinerlicher Stimme am Telefon, wo ich gewesen sei als Mutter starb, warum ich ferngeblieben bin. Ich stammelte, Papa, der Beruf, der Beruf hat es verhindert. Mich selbst und meinen Vater belügend…Ich erwarte keine Gnade im Alter, auch nicht von Dir.“

 

Sie fallen in ein kurzes Schweigen, dann schlingt Holger seine Arme um Gustav und drückt ihn an sich. „Ich hatte solche Angst vor diesem Gespräch. Danke.“

„Wissen die Kinder schon Bescheid?“

„Mit Till habe ich gesprochen. Er meinte, wir seien ja erwachsen genug, um zu wissen, was wir tun. Mit anderen Worten, ihm ist es egal. Auch für Eileen wird unser Entschluss keine Überraschung sein. Sie hat Augen, Ohren und Verstand, und wird erkannt haben, dass unsere Ehe nur noch Papierstatus hat. Sie wird mit Keethy nach München gehen, was ohnehin der Ort ihrer Studienwahl ist. Allerdings wird sie nicht mit Keethy zusammenziehen.“

„Die Holms atomisieren sich also.“

„So ist es. Komm, lass uns ein Glas Wein zusammen trinken.“ Legt den Arm um Gustavs Schulter und zieht ihn mit sich, die Tür hinaus, den Flur entlang in die Wohnsuite, früher sagte man Wohnzimmer dazu, aber die Fläche dieses Zimmers umfasste so viel Quadratmeter wie mancher Hausgrundriss nicht hat, bestückt mit Bücherregalen, einer Sitzlandschaft, die sich um einen Couchtisch von zwei Metern Durchmesser gruppiert, Kommoden, Pflanzen, die bis zur drei Meter hohen Decke reichten, alles groß, chaotisch, lichtdurchflutet, großprotzig und doch gemütlich wirkend.

„Ich mache uns einen Tee. Für Wein ist es noch zu früh,“ sagt Gustav und füllt den Schnellkocher mit Wasser, stellt ihn an, öffnet die Schranktür und entnimmt der dort befindlichen Teesammlung eine Dose mit Jasmintee, holt die Teekanne aus dem unteren Schrankteil, gibt zwei Teelöffel des Jasmintees in das Sieb, schaut rüber zu Holger, der sich auf einem der Elemente der Sitzlandschaft niedergelassen hat, vor sich ein Glas, noch leer und eine Flasche Rotwein stehend. Das Wasser kocht, Gustav stellt den Kocher ab, schüttet das Wasser über den im Sieb befindlichen Tee, bis es kurz vor dem Rand der Kanne steht. Vier Minuten ziehen, steckt die Hände in die Hosentaschen und geht von der Küchenzeile Richtung dem sitzenden Holger, spürend, dass nicht alles so glatt zu laufen schien, wie Holger vorgab. „Du bist aber nicht glücklich mit Deiner Entscheidung?“

„Doch, doch. Es ist nur, na ja, es fühlt sich eigenartig, irgendwie schmerzbesetzt an, zu wissen, dass das Auseinandergehen endgültig ist. Ich meine, im Prinzip leben wir schon seit Jahren getrennt, aber das hat sich anders angefühlt wie jetzt, im Wissen, das wir uns wirklich in alle Winde zerstreuen. Jeder für sich. Atomisiert, ja, wie Du gesagt hast, genauso ist es, und es macht mir zu schaffen, auch wenn ich mir einrede, dem wäre nicht so.“

„Ich habe meine eigenen diesbezüglichen Erfahrungswerte, und ich weiß, dass sich Dein Gefühl legen wird. Spätestens dann, wenn Deine neue Aufgabe Dich fordert und Deine Gewohnheiten eine neue Richtung bekommen haben…Ich hatte viel Zeit, mit Deiner Mutter über das zu reden, was auf uns zukommt. Man kann über die Endgültigkeit reden, wenn sie aber dann da ist, ist das etwas ganz anderes. Der Tod Deiner Mutter war etwas Endgültiges. Dies zu akzeptieren, braucht seine Zeit. Wäre ich in Nackenheim geblieben, wäre ich sicher an dieser Endgültigkeit zugrunde gegangen. Sie frisst in Dir, zieht Dich hinab, als wolle sie Dich dem Verlust nachziehen und in einer Umgebung, in der noch viel Anwesenheit ist, wirst Du Deine Gedanken und Gefühle nicht los. Du lebst mit ihnen. Deshalb war es gut, dass Ihr mich hierhergeholt habt. Mich hier neu zu sortieren, mich neu auszurichten hat mir über meinen Verlust hinweggeholfen und mich anderen Gedanken zugeführt. Und glaube mir, Dir wird es ähnlich gehen. Und in Deinem Alter kannst Du noch einmal einen neuen Anfang wagen.“

 

Gustav geht zurück an die Küchenzeile, nimmt das Sieb aus der Teekanne, gibt es in das Spülbecken, schiebt den Kocher zurück an seinen Platz, schaut, reine Gewohnheit, ob er keine Rückstände verursacht hat, die ihm Keethy unter die Nase reiben konnte, denn das tat sie. Da Gustav in seinem Zimmer nicht kochen konnte, musste er die Küche nutzen, was Keethy, wenn sie anwesend war, mit Missmut betrachtete, im Glauben, der alte Mann, würde das edle Kochfeld beschmutzen, die Unordnung, die er verursachte, nicht beseitigen würde, kontrollierte jedes Mal, wenn Gustav fertiggekocht hatte, gespült und aufgeräumt hatte, ob irgendein Rückstand da war, den sie ihm vorwerfen konnte. Ihm war es einmal passiert, dass das Nudelwasser übergelaufen war, im Beisein von Keethy, was sie zum Anlass nahm, auf Holger einzuwirken, dass dieser ihm die Küche verbiete und die Haushälterin wieder für ihren Haushalt zuständig sein solle. Mit der Abwesenheit der Haushälterin offenbarten sich die Schwächen von Keethy, um die zwar jeder in der Familie wusste, nun aber nicht zu verdecken waren und mehr als einmal sprang Gustav ein, um die Peinlichkeit einer zu missglückenden Mahlzeit zu verhindern. Und diese Schwäche vor dem alten Mann addierte sich zu den anderen Reibungspunkten, die die beiden miteinander hatten.

Holger schenkt sich, während Gustav die Teekanne zur Sitzgruppe trägt, ein Glas Wein ein, schaut auf seinen Vater, lächelt ihm zu, hebt das Glas zu Gustav gerichtet „So wird es sein. Ja, Du hast recht. Wie so oft. So und jetzt lass uns über etwas anderes reden.“ Sie begannen über Literatur und Theater zu reden, die Szene in Hamburg, was in Lübeck geboten wurde, kamen kurz auf Padura zu sprechen, dessen neustes Werk Gustav gerade angefangen hat zu lesen, um dann in Newcastle zu landen und Holger von seiner neuen Aufgabe erzählt, von den Herausforderungen, vor denen er stehen würde und den Möglichkeiten, die ihm das dem Lehrstuhl angegliederte Institut für eigene Forschungen bieten wird. Gustav spürt die Erregtheit Holgers vor dem Neuen, dem er mit Spannung entgegensieht. Sorgen macht ihm allerdings der Brexit, denn das Institut finanziert sich zur Hälfte aus Drittmitteln, die aus der EU fließen und mit dem Brexit ist klar, dass diese Mittel nicht weiterfließen würden und wer diese finanziellen Ausfälle ausgleichen würde, dass wussten nicht einmal die Sterne.

Die Haustür lässt sich vernehmen, ihr Gespräch verstummt, ein Klack und die Tür geht wieder zu, begleitet von dem Gequassel Eileens, deren Erscheinung vorbeizieht, nach oben in ihr Zimmer. Gustavs Augen wandern zu Holger, der seine Augen nach oben zieht.

„Früher. War das früher? Da grüßte man, wenn man nach Hause kam, noch mit Guten Tag, Hallo, Hey oder sonst wie. Aber heutzutage? Ist Höflichkeit überflüssig geworden?“, fragt Gustav. Holger zuckt die Schultern „Du hast es vorhin selbst gesagt: Die Zeiten ändern sich.“

„Anscheinend nicht zu Besseren.“

 

Eileen erscheint grußlos, Stöpsel in den Ohren, ihr Smartphone in der Hand, streift durch die Küche, öffnet den Kühlschrank, schließt ihn wieder, schaut im Brotkasten nach, anscheinend nirgendwo ein Happen, der ihr zusagt, blickt zu den beiden Männern und meint zu Gustav gewandt, sie brauche jetzt unbedingt Spaghetti al Opa, was Opa gerne hört, sich nicht zweimal bitten lässt, aufsteht „Zwanzig Minuten. Okay?“ Sie nickt wortlos, auf ihr Smartphone blickend und verschwindet wieder in ihr Zimmer. Zu Holger: „Du auch?“

„Ja klar, ich esse mit.“

In der Küche sucht sich Gustav die Zutaten für die Sauce zusammen, Knoblauch, Zwiebel, eine Zucchini, eine Möhre, Bleichsellerie und Hackfleisch, noch tiefgefroren, beginnt die Zutaten klein zu stückeln, schneidet zwei Tomaten in Würfel, stellt das Wasser für Spaghettini über, sucht sich eine passende Pfanne, gibt Olivenöl hinein, stellt den Herd an, wartet kurz bis das Öl die richtige Temperatur hat, gibt die Zwiebel, den Knoblauch, die Möhren-Schnipsel und den Sellerie in die Pfanne, kurzes Anbraten, dann die Zucchini, Hackfleisch dazu, zerkleinert das Hackfleisch, würzt mit Oregano, Salz, Pfeffer, Paprika und Koriander, gibt die gewürfelten Tomaten hinzu, öffnet eine Büchse stückige Tomaten, gießt sie in die Pfanne, noch etwas Gemüsefond und Sahne dazu und abschließend zwei Esslöffel geriebenen Parmesankäse. Das ganze nun auf kleiner Flamme köcheln, die Spaghettini in das kochende Wasser, hineindrücken, kurz umrühren, damit die Nudeln nicht zusammenkleben. Holger hat den Tisch bereits gedeckt, seinen Wein auf dem Esstisch platziert und auch für Gustav ein Glas vorgesehen, da er weiß, dass dieser Pasta immer mit einem Glas Wein verzehrt. Gustav schmeckt die Sauce ab, prüft die Konsistenz der Spaghettini, gießt sie ab, und ruft Eileen nach oben, dass das Essen fertig sei, füllt die Sauce in eine Schüssel, gibt die Spaghettini dazu, rührt alles gut durch und trägt die Schüssel zum Esszimmertisch, entnimmt mit dem Spaghettilöffel eine Portion für Eileen und stellt den Teller ab. Gustav und Holger drehen bereits die Spaghettini im Löffel mundgerecht und essen als Eileen aus ihrem Zimmer kommt, Smartphone in der Hand, Stöpsel in den Ohren, quasselnd als führe sie ein Selbstgespräch, geht zum Tisch, nimmt Löffel und Gabel in die Hand zum Smartphone dazu, streicht mit der linken über Gustav Haarflaum auf dem Kopf, was wohl Dankeschön heißen sollte, nimmt den Teller mit der linken Hand auf und geht wie eine Nachtwandlerin trittsicher, weiter munter blabbernd, in ihr Zimmer. Gustav sieht ihr nach, schaut auf Holger „Ihr hättet Regeln einführen sollen, aber anscheinend funktioniert Familienleben heute so.“

 

Später, wieder in seinem Zimmer, Holger hat es übernommen, die Küche aufzuräumen, setzt sich Gustav in seinen Sessel, überlegt, weiter den Roman von Padura zu lesen, schwierig, die Sache mit dem Seniorenzentrum kreist in seinem Kopf und, das weiß er, würde seine Lektüre überlagern, also steht er auf, schiebt einen Stuhl vor seinen Schreibtisch und schaltet den Computer an, wartet bis er hochgefahren ist, was dauert, älteres Modell, geht über Firefox auf Google und gibt ein: Seniorenzentrum in Lübeck. In der Übersichtsliste werden zirka 18 Seniorenzentren angezeigt, zwei davon an der Trave liegend, der Rest über die Stadt verteilt. Er lehnt sich zurück, denkt nach, was ist ihm wichtig? Ganz oben auf der nur mental vorhandenen Liste der Wichtigkeiten steht, dass das zu findende Heim gottlos sein muss, also keiner Konfession oder einer der Ableger jedweder Glaubensrichtung angehört, Gustav konnte alles ertragen, nur kein sülziges Mitleid und die Gottgläubigen waren genau darauf abonniert. Was bleibt? Kommunal geführte Häuser, was voraussetzt, wahrscheinlich längere Zeit ortsansässig gewesen zu sein, also schwierig kurzfristig eine Unterbringung zu finden. Blieben die kommerziellen, die privaten Heime, auf Gewinnmaximierung ausgelegte Heime, aber gottlos. Gut, in dieser Kategorie gilt es zu suchen. Da es sein wohl letzter Ausblick auf die ihm sichtbare Welt sein wird, musste Natur oder Wasser vor dem Fenster seiner Unterkunft sein, wobei der Gedanke, auf die schier endlose See bis zum Horizont zu blicken, schnell seine tiefste Sympathie findet und er sich auf die Seniorenzentren konzentriert, die am Wasser liegen, an der Ostsee, in Travemünde, aber nicht allzu weit von der Zivilisation, also Lübeck, entfernt. Hat ihm nicht auch Holger Travemünde vorgeschlagen? Vorhin in ihrem Gespräch? Da ist etwas, aber ihm will nicht einfallen, was und ob dies so war. Aber, ist auch egal.

 

Zwei Seniorenzentren sind es, die auf den ersten Blick seinem Wunsch nahekommen, das Haus Traveblick und das Haus am Stadtpark, nur das Haus Traveblick schien freien Blick auf die Ostsee zu haben. Gustav rief die Homepage des Hauses am Stadtpark auf, sieht sich den Standort auf der Karte an. Das Haus liegt zu weit weg von der See, zwar am Park, also in der Natur gelegen, aber von der See wird nichts zu sehen sein. Klickt die Seite weg und öffnet die des Hauses Traveblick. Das Haus trifft schon eher das, was sich Gustav in der Kürze so vorgestellt hat. Er kopiert, da er es hasst, direkt am Computer zu lesen, die Beschreibung des Hauses, das Apartments unterschiedlicher Größe anbietet, mehrere Hausdamen hat, was immer auch Hausdamen sein mochten, sowie eine Frau, die für Verkauf und Beratung zuständig ist, daneben Geschäftsführung und andere Personen, die aber auf kein Interesse bei Gustav stoßen, auf ein word-Dokument und druckt es aus, schreibt sich die Telefonnummer der Beratungsdame auf einen post-it-Zettel auf, nimmt sich vor, diese gleich morgen zu kontaktieren, klickt auf Google-Earth, gibt Travemünde ein und navigiert sich, nachdem das Bild sich aufgebaut hat, zum Haus Traveblick. Wie ein breit geklopftes U liegt das vierstöckige Gebäude in der Landschaft, direkt an der Trave und der Fähre zum Priwall, aber, wenn er das richtig einschätzt, nur ein Teil der Zimmer lässt einen Blick auf die Ostsee zu, und selbst der nur eingeschränkt, da die Trave einen leichten Bogen schlägt und das Gebäude vor dem Bogen steht, der Rest hat die Trave oder den Wald, der hinter dem Gebäude beginnt und sich über die Halbinsel zieht, im Blickfeld. Na ja, muss er sich aus der Nähe ansehen, schaltet den Computer wieder aus, entnimmt die ausgedruckten Seiten der Druckerablage, geht zu seinem Sessel zurück und beginnt den Inhalt der Seiten zu lesen. Probewohnen ist möglich, drei oder sieben Tage. Gut. Das wird er ausprobieren. Gleich morgen früh den Kontakt suchen, Termin vereinbaren und loswohnen. Den Kopf an die Rückenlehne seines Sessels pressend, die Augen schließend, gibt er sich seinen Gedanken hin, stellt sich vor, wie er in seinem Sessel, denn er könnte seine eigenen Möbel mit in das Apartment nehmen, sitzt, und den Schiffen, die die Trave hoch nach Lübeck oder in anderer Richtung hinaus auf die offene See steuern, oder den dicken Fähren, die täglich ihre Fracht nach Skandinavien schiffen, mitunter gar ein Kreuzfahrtschiff, Hort der menschlichen Hirnlosigkeit, vorbei käme und er der Sonne bei ihrem Untergang hinter den Horizont zuschauen würde. Nein, das geht nicht. Wenn überhaupt könnte er den Sonnenaufgang verfolgen, nicht aber den Untergang, da stehen Gebäude, Wald und sonstige Hindernisse im Wege.

 

Wie dem auch sei, morgen beginnt der erste Tag seines letzten Aufbäumens vor seinen letzten Tagen, dessen ist er sich sicher. Ein schmerzliches Gefühl beschleicht ihn, da ist wieder diese Endgültigkeit, die er mit dem Bezug des Apartments verbindet. Als er hierher zu Holgers Familie zog, da freute er sich auf den Familienanschluss, der Gedanke, dass diese Örtlichkeit sein letztes Domizil sei, ist ihm nicht gekommen, zumindest erinnert sich nicht an derartiges Nachsinnen. Aber jetzt. Nun, er ist im sechsundachtzigsten Lebensjahr, staunt immer wieder über sich selbst, dass er sich so gut gehalten hatte, krankheitsfrei, bis auf ein paar altersbedingte Schwächen. Er ist gerne in der Welt, seiner Welt, die er sich nimmt, so gut wie er noch kann und sich von ihr verabschieden zu müssen tut schon weh, obwohl er weiß, dass das Gehen aus ihr nicht zu vermeiden ist. Er seufzt angesichts dieser Überlegungen, die die Suche nach einer neuen Heimstätte ausgelöst hat und die ihm sicher den gleitenden Übergang in sein Bett erschweren würde. Er muss sich ablenken, also versuchen, noch etwas zu lesen, steht auf, geht in sein Bad und macht sich fertig für die Nacht.

 

Dienstag, der 19.

 

Die Nacht hat er unruhig hinter sich gebracht, schlecht geschlafen, wirres Zeug geträumt, aber was er geträumt hat, will ihm nicht mehr in den Sinn kommen, nur Fetzen, die durch sein noch getrübtes Bewusstsein tanzen, ohne Zusammenhang und wenn doch einmal etwas hängen bleibt, ist es spätestens nach dem Duschen weg, wie weggespült. Auch wenn er es von sich schiebt, das, was da auf ihn zukommt, rührt in ihm, heftig, heftiger als er will. Die Sonne erhellt sein Zimmer, noch früh, sechs Uhr, zu früh, um aufzustehen, aber er ist wach, also nimmt er das Buch von Padura und liest da weiter, wo er gestern Abend aufgehört hatte, überlegt, Eileen ein Frühstück zu bereiten, das ohne ihn ausfallen würde, denn sie kennt nur den Ablauf, aufstehen, duschen, anziehen, losziehen. Selten, dass sie sich noch einen Orangensaft gönnt. Was ihre Alternative zum Frühstück ist? Keine Ahnung. Nur, würde er sich die Mühe machen, ihr ein vernünftiges Frühstück zu bereiten, würde sie sich die Zeit nehmen, es einzunehmen? Wohl eher nicht. Aber da die Überlegung in seinem Kopf ist und zwar ziemlich konkret, gibt er ihr nach, steht auf, geht unter die Dusche, rasiert sich, putzt die ihm noch verbliebenen Zähne, reinigt die Zahnprothesen, setzt sie wieder ein, schmiert Feuchtigkeitscreme in sein Gesicht und auf die Arme, zieht Unterwäsche, die beige Baumwollhose an, streift sein blau-weiß-gestreiftes Businesshemd über, sprüht etwas Parfüm an sich, Herrenduft, den Altersgeruch überdeckend, setzt seine Brille auf und schlurft in die Küche, bereitet ein Müsli zu (isst sie das überhaupt?), schenkt Orangensaft ein, stellt den Schnellkocher an, Teller, Tasse, Butter, Marmelade, Honig, Wurst, Käse, und was der Kühlschrank noch so für ein gutes Frühstück zu bieten hat, auf den Tisch, gießt Wasser über den grünen Tee, von dem Gustav weiß, dass ihn Eileen trinkt, geht nach oben, klopft an die Tür und ruft „Frühstück ist fertig.“ Kein Geräusch, keine Stimme, die antwortet, klopft noch einmal an. Nichts, keine Reaktion. Tür einfach öffnen geht nicht, absolutes Tabu, für ihn, für alle in der Familie. Also nochmals. Etwas heftiger Klopfen „E i l e e e e n. F r ü h s t ü c k.“ „Was machst Du da?“ hört er die verschlafene Stimme von Holger hinter sich, dreht sich um, da steht Holger in Boxershorts und T-Shirt, verwurschtelte Haare, mit müden, noch zusammengekniffenen Augen, die dennoch deutliche Zeichen von Unverständnis aufweisen.

„Ich habe Eileen Frühstück gemacht. So oft kommt sie ja nun nicht mehr in den Genuss, ein Frühstück von ihrem Großvater zubereitet und serviert zu bekommen. Vielleicht sogar heute ihre letzte Chance.“

„Papa! Eileen übernachtet bei ihrem Freund.“ Das klang so selbstverständlich aus Holgers Mund, dass Gustav irritiert ist, denn von dieser Selbstverständlichkeit hatte er keine Ahnung „Ach so.“ Ihm wird bewusst, wie wenig er über die Mitglieder dieser Familie weiß, in deren Mitte er immerhin seit drei Jahre wohnt. Das Eileen einen Freund hat, klar, die Möglichkeit ist offensichtlich, aber dass es ein so intimer Freund ist, bei dem sie übernachtet, mit dem sie Sex hat, wahrscheinlich, das trifft Gustav wie ein Schlag in die Magengrube. Wo war er diese drei Jahre? Versunken in seine Bücher, in seinem Sinnieren, wenn er am Morgen seine Runden durch den Drägerpark, entlang der Wakenitz zog, zurückgezogen in seinen vier Wänden, gewohnt allein im Haus zu sein. Gustav hatte so in seinen alltäglichen Routinen gelebt, in die die Unregelmäßigkeiten einer Eileen nicht passten. Er hatte Eileen nur mit dem kritischen, dem erfahrungsbeladenen Opablick gesehen, den in-meiner-Jugend-war-das-alles-ganz-anders-Blick, logisch, es war alles anders, er wuchs in entbehrungsreichen Jahren auf, musste sich durchboxen, nichts war selbstverständlich, alles musste hart erkämpft werden. Zeiten, die vorbei sind, gewichen der Welt des Überflusses, in der Eileen aufwuchs, heranwuchs und die junge Frau wurde, die sie heute ist, und Gustav jetzt erst bemerkt, dass sie nicht mehr die kleine Eileen ist, seine kleine Eileen, hatte sich nie für ihre Ansichten, ihre Ziele und Wünsche interessiert, hatte, als sie der Familie mitteilte, Schauspielerin werden zu wollen, den Kopf geschüttelt, anstatt ihr beizustehen gegenüber ihren überraschten Eltern, sie zu bestärken in ihrem Berufswunsch, ihr zu sagen, dass er an sie glaube, sie werde es schaffen, gegen alle Widerstände zu dem zu werden, die sie werden wollte. Aber all das hatte er unterlassen, herablassend reagiert, nicht die Stütze gewesen, die er hätte sein sollen, sein müssen. Ist er ein engstirniger, egoistischer in der Vergangenheit lebender alter Mann geworden? Wie fest genagelt steht er im Flur, den Kopf umkreisen seine stummen Worte.

„Was ist los Papa?“

„Nichts, nein, nichts.“

„Ich komme gleich zum Frühstück herunter, mal schauen, was meiner Tochter entgangen ist,“ und lächelt seinem Vater zu, dem nicht zum Lachen zumute ist. Gustav braucht seine Zeit, um in den Morgenstunden in die Gänge zu kommen, dieses Eileen übernachtet bei ihrem Freund lässt seine körperliche und geistige Bewegungsfähigkeit noch zusätzlich erlahmen. Er geht, ohne so recht zu wissen wohin, Schritt um Schritt die Treppe hinab, steht im Flur, wendet sich zur Küche hin, betrachtet den gedeckten Tisch, die mittlerweile kalten Rühreier, auch der Tee dürfte nur noch lauwarm sein, zieht einen Stuhl vor, setzt sich, stützt den linken Arm auf die Tischplatte und legt seinen Kopf gegen die Faust, in Denkermanier, grübelt über sein Verhalten nach, seine Fehler, fühlt sich immer unwohler in seiner alten Haut. Holger erscheint, immer noch verschlafen und in seinem Nachtdress, reißt Gustav aus dessen grübelndem Zustand.

„Was ist los Papa? Ich spüre doch, dass Dich etwas bedrückt? Ist es unser Gespräch von gestern?“

Gustav lässt den Arm sinken, legt ihn flach auf dem Tisch ab: „Findest Du, ich war ungerecht, desinteressiert an Eileen? Habe ich ihr zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt?“

„Wie kommst Du auf diese Gedanken? Eileen lebt ihr Leben und wie Du weißt, haben weder ich noch Keethy da viel hineinzureden und Du sicher auch nicht. Übrigens, wo ist das Brot?“ Gustav ruckt auf, blickt auf den Tisch, hatte doch glatt vergessen, Brot aus dem Gefrierfach zu nehmen und in der Mikrowelle anzutauen. Alles so perfekt aufgetischt und dann vergisst er die Hauptsache.

„Ich mach schon. Bleib sitzen,“ und Holger holt Gustavs Versäumnis nach.

„Was meintest Du eigentlich damit, als Du sagtest, dies sei Eileens letzte Chance, auf ein gemeinsames Frühstück?“

Gustav hebt seinen Blick, überdenkt, was Holger da gesagt hat „Das habe ich gesagt?“

„Ja, hast Du. Und Du scheinst es ernst gemeint zu haben.“

„Stimmt. Ja. Es könnte sein, dass ich bald nicht mehr hier sitzen werde. Ich werde heute einen Termin machen und mir, wenn das möglich ist, noch heute das Seniorenzentrum auf dem Priwall anschauen. Sollte ein Zimmer frei sein, werde ich in den nächsten Tagen für ein Probewohnen dort einziehen. Und dann, na ja, mal schauen, was daraus wird.“

Holger dreht sich vor der Mikrowelle stehend um, schaut überrascht auf seinen Vater. „Du musst doch jetzt nichts überstürzen. Es sind noch über drei Monate Zeit, in der Du alle Möglichkeiten durchspielen kannst. Wozu die Eile jetzt?“

„Holger, was gemacht ist, ist gemacht.“ Und mehr will Gustav zu diesem Thema nicht mehr sagen.

 

Gustav hat grundsätzlich am frühen Morgen noch nicht die geringste Lust zu reden, ist er nicht gewöhnt, denn seit ungezählten Jahren frühstückt er stumm vor sich hin und allein, mit Ausnahme an den Samstagen und Sonntagen, wo er mit Marie Luise gemeinsam den Morgen begann, aber auch da mehr stumm als redend am Frühstückstisch saß, seinen Gedanken nachhing oder auch gedankenlos vor sich hinstarrte. Jetzt, im Alter, kommt hinzu, dass er am Morgen nur langsam Fahrt aufnimmt, seine Zeit braucht, um zu sich zu kommen, aufzustehen, sich zu duschen, zu rasieren, zu einzucremen, bis er dann vorkommt, in die Küche, sind schon alle ausgeflogen, er allein, wie er es eigentlich mag, kann in Ruhe sich zubereiten, was er zu sich nehmen will und an den Wochenenden kommen die nicht aus dem Bett, die sonst die Ersten sind und nun sitzt er da, mit Holger, der auf ihn einredet und er keine Lust hat auf zuhören, sich zu konzentrieren, auf das, was Holger sagt und darauf zu antworten, irgendwie ist ihm das lästig.

„Papa, wir müssen uns abstimmen. Ich möchte schon wissen, wo und wie Du unterkommst. Lass uns das gemeinsam angehen.“

Aber mit Gustav ist nicht zu reden. Er macht Holger klar, dass dieser keine Zeit hätte, mit ihm durch Seniorenzentren zu ziehen, vor allem nicht gleich und das will Gustav, so schnell wie möglich, sich und Holger Klarheit zu verschaffen, die finite Klarheit, wie er zu Holger sagt. Und er sei noch durchaus in Lage, die Angelegenheit allein durchzuziehen, was er gleich, nachdem er das Frühstück abgeräumt und die Küche wieder in Ordnung gebracht hatte, auch tut. Er sucht sich den Ausdruck von gestern Abend, sucht nach der Telefonnummer, die er sich doch gesondert notiert hat, aber nicht mehr weiß, wo er sie abgelegt hat, findet sie auf der Rückseite eines der ausgedruckten Blätter, nimmt sein Smartphone auf und drückt die Nummer der Frau für die Beratung. Eine Frauenstimme meldet sich, sagt ihren Namen, den Gustav aber in einer leichten Aufgeregtheit nicht gleich versteht, erklärt ihr sein Anliegen, sich das Seniorenzentrum anschauen und eventuell gleich ein Probewohnen vereinbaren wolle und ob dies schon heute möglich wäre, also das vorbeikommen, was es sei, er solle sich um 11:00 Uhr am Vormittag an der Rezeption melden und Frau Hörn rufen lassen, die ihm das Haus zeigen würde. Sie bedankt sich für den Anruf, wünscht einen schönen Tag und bis später.

 

Spontanität hat ihren Preis. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit. Er hat den Termin zugesagt, ohne lange nachzudenken. Es ist jetzt kurz vor 10:00 Uhr, muss rasch zum Bus, in das Stadtzentrum fahren, dort umsteigen und mit dem Bus weiter nach Travemünde oder die Bahn nehmen. Alles ungeplant, ungewöhnlich für ihn, sonst plant er seine Ausflüge, schreibt sich Abfahrts- und Ankunftszeiten auf, so dass er weiß, wann er wo sein muss. Gut, dann halt spontan, schlüpft in seine Schuhe, steckt sich seine Geldbörse, vorsichtshalber seinen Ausweis und die beiden Plastikkarten ein, oh, und die Anabox, mit den Tabletten für den Mittag und Nachmittag, durfte er nicht vergessen, schaut nach, wo er sie gestern Abend abgelegt hatte, findet sie neben dem Computer, nimmt sie auf und steckt sie in die leichte blaue Sommerjacke, in die er schlüpft, zieht die Schildmütze auf den Kopf und verlässt das Haus. Die Bushaltestelle ist gut 700 Meter von der Wohnung entfernt, er kann sie sehen und erkennt, dass dort Leute stehen, was heißt, der Bus würde gleich kommen, kommt auch tatsächlich, nur ist Gustav noch nicht einmal die Hälfte der Strecke bis zur Haltestelle vorangekommen und Rennen ist außerhalb von Gustavs Möglichkeiten. Der Bus fährt ohne ihn los, ihm bleibt die Ansicht der Rücklichter und die Aussicht, dass der nächste Bus erst in einer halben Stunde kommen wird. Und jetzt? Warten? Taxi rufen. Nein Taxi finden. Er hat sein Smartphone nicht eingesteckt, rufen geht nicht. Eijeijeijei, vorgehen, zur Arnimstraße, dort dürften Taxis vorbeifahren und hoffentlich eines anhalten. Gut, er hat überstürzt gehandelt, gut, Holger hat recht, er hätte es in Ruhe angehen lassen können, aber da ist ein gewisser Trotz, der ihn angetrieben hat und jetzt zurück gehen und den Termin absagen, nein, das will er auch nicht, auch wenn es ihm schwerfällt, zügig bis zur Arnimstraße zu laufen, er ist nun einmal nicht mehr der Jüngste und seine Beine nicht mehr die eines fünfzigjährigen. Gewohnt, in ruhigem Trott seine Wege zu gehen, setzt ihm die zurückliegende Anstrengung doch zu, so dass er kurz anhält, verschnauft, den Kopf über seine Sturheit schüttelt, um dann ruhig, ohne die Hetze von davor fortzusetzen, langsam, seine Schritte bis zur Arnimstraße zu lenken. Das Rauschen des Verkehrs kündigt an, dass er die Straße gleich erreicht. Es herrscht reger Fahrverkehr, aber noch kein Taxi in Sicht. Weiter unten scheint eine Bushaltstelle zu sein, also nochmals etliche Meter laufen, gelegentlich stehen bleiben und schauen, ob nicht doch ein Taxi sich seiner Erbarmen würde. Und endlich, beim vierten Umdrehen sieht er das beige Auto mit dem markanten Schild auf dem Dach, hebt die Hand zum Zeichen, dass es halten möge, was der Fahrer tut, an die Seite fährt und anhält. Gustav schnauft einmal kräftig durch und setzt sich in Bewegung, zum Taxi, öffnet die Tür und lässt sich in die Sitze fallen.

„Na, junger Mann, wo soll es denn hingehen?“

Immer noch etwas außer Puste, heftig atmend „Nach Travemünde. Zum Seniorenzentrum Traveblick.“

„Gut, kenn ich. Kleinen Ausflug in die Stadt gemacht?“

„Nein, ich mache heute den Einflug in den Ausstieg.“

Der Fahrer, scheint ein Einheimischer zu sein, dreht sich zu Gustav um „Was? Wie meinen Sie das denn?“

„Was gibt es da nicht zu verstehen? Ich weise mich in das Altenheim ein und dann geht es auf das Ende zu.“

„Na ja, Sie sehen nicht aus, als wollten Sie gleich von der Schippe gehen,“ legt den ersten Gang ein und fährt los. „Und Sie entscheiden sich von sich aus, in das Heim zu gehen? Alle Achtung.“

„Na, wenn keiner da ist, der sonst entscheiden könnte, muss ich es wohl tun. Die Alternative wäre wohl allein in der Wohnung zu verwesen.“

Der Fahrer lachte „Sie sind wohl einer von der harten Sorte.“

„Mag wohl sein.“ Trotz, Verbitterung. Nur, Verbitterung über was? Er kann sich wirklich nicht über Holgers Verhalten beklagen. Es ist eine Situation, die zu erwarten war. Verbitterung darüber, diese Situation nicht beeinflussen zu können, er lakonisch so dahin schwafelt, weil es eine Tatsache ist, das nahe Ende. Also in der Stimmung sollte er besser nicht mit dieser Frau Höhn, oder so ähnlich, reden. Er musste herunterkommen, wieder einen klaren Kopf bekommen.

„Sie fahren wohl schon lange Taxi?“

Wieder lacht der Fahrer, der auf die B75 einbiegt, die nun in fast gerader Strecke nach Travemünde führt „Nein, erst seit ich Rentner bin.“

„Wegen der knappen Rente oder aus Langeweile?“

„Der mauen Rente wegen. Nein, stimmt eigentlich so nicht. Aber schon, doch, wegen der geringen Rente. Wir haben den Fehler gemacht, ein gutes Leben zu leben, ohne an die Zukunft zu denken. Immer knapp an der Kante. Dieses Leben zu halten, dafür reicht die Rente nicht, also muss ich dazu verdienen.“

„Verstehe. Und die Lebensumstände zu ändern, geht nicht?“

„Geht schon, wollen es aber nicht…werden es aber irgendwann müssen. Aber bis dahin kann ich noch Taxi fahren,“ und lacht wieder auf, so ein Lachen, das vom Herzen kommt, befreit von allen Sorgen, trotz aller Sorgen. Knapp an der Kante, hat er gesagt, Gustav überlegt, was das bedeutet, und sagt sich, der Mann hat ausgegeben, was er eingenommen hat, sich kein Alterspolster aufgebaut, an das Alter nicht gedacht.

„Ihre Frau ist nicht in Arbeit?“

„Doch, ist sie. Seit die Kinder ihre eigenen Wege gegangen sind ist sie wieder berufstätig. Nichts Besonderes. Ein Aushilfsjob. Ihre Rente wird sehr mickrig ausfallen. Bis dahin sind es aber noch drei Jahre. Was dann ist, weiß nur der liebe Gott.“ Nun, der ist der Letzte, der das weiß, denkt Gustav, aber so langsam entsteht eine Vorstellung in ihm, wie der Mann und die Frau leben und was auf sie zukommen wird. Die Schuldenfalle schnappt schnell zu und auf die, scheinen die beiden zuzusteuern.

„Sie sind noch rüstig. Geht man da schon in ein Altersheim?“

„Ich gehe in kein Altersheim, sondern ein Seniorenzentrum, habe mein eigenes Apartment, versorge mich selbständig, oder lasse mich versorgen und wenn dies nicht mehr geht, beanspruche ich die Pflege, die das Zentrum bietet. Statt allein zu leben, lebe ich zukünftig unter lauter alten Leuten.“

„Hört sich gut und teuer an.“ Was sollte Gustav darauf antworten? Ja, es ist teuer, aber ich habe das Geld? Er verlegt sich auf Schweigen, schaut aus dem Fenster, aber da ist nichts, was den Blick rechtfertigt, schnell vorbeiziehende Wälder, Wiesen, Felder, bestanden mit Weizen, Korn, letzte Reste der Rapsblüte, vereinzelte Bauernhöfe, der Skandinavienkai mit seiner gewaltigen Ansammlung an Lastkraftwagen, darauf wartend, verladen und nach Helsinki, Trelleborg oder sonst wohin verschifft zu werden. „Sie müssen mich nicht vor die Haustür des Seniorenheims fahren. Es genügt, wenn Sie an der Fähre halten.“

„So hatte ich mir das gedacht.“

„Gut.“

Angekommen, zückt Gustav seine Geldbörse, rundet den verlangten Betrag auf, öffnet die Tür, hält aber noch einmal kurz inne. „Wenn ich will, dass Sie mich fahren, kann ich Sie da direkt telefonisch erreichen? Wie Sie sicher bemerkt haben, führe ich kein Gepäck mit mir, bin sozusagen ohne Hut und Koffer. Falls die Zimmer mir gefallen und eines frei ist müsste ich also noch einmal zurück und wieder her.“

„Das geht leider nicht. Sie erhalten immer die Zentrale. Aber wenn Sie der sagen, Sie möchten von Fritz Dengbert chauffiert werden, schicken die mich.“

„Gut, dann brauche ich trotzdem die Rufnummer Ihrer Zentrale,“ die Herr Dengbert aus seiner Geldtasche fischt und Gustav reicht.

„Danke, dann vielleicht bis später.“ Gustav steigt aus, geht vor zur Fähre, löst ein Ticket, betritt die Fähre, setzt sich auf die kleine Bank und wartet bis das Prozedere der Füllung der Fähre beendet und die Überfahrt über die knapp hundert Meter Wasser hinüber zum Priwall startet.

 

Der Geruch des Diesels und der Auspuffgase der Automobile steigt ihm in die Nase, trotzdem er schlecht riecht, diesen markanten Geruch nimmt er doch noch wahr. Ein leichter Wind weht, so dass er seine Schildkappe abzieht, nicht dass diese ihm davongeweht wird, in die Trave und in die Ostsee hinein. Die ist verschmutzt genug. Die Fähre setzt sich in Bewegung, tuckert dem anderen Ufer entgegen. Dort angekommen verlässt Gustav die Fähre, wendet sich nach rechts, wo das Gebäude des Seniorenzentrums steht, schaut, sucht den Eingang, folgt einem geplätteten Fußweg, der zu einer breiten Eingangstür führt, die er öffnet und einen lichten, großen Raum betritt, in dem eine Fülle von Sitzgelegenheiten vorhanden ist, alles hell gehalten, freundlich, warm. Um die Sitzgelegenheiten herum stehen Pflanzen, Hydrokultur, sogar eine Hanfpalme sieht er. Vereinzelt sitzen Leute herum, bewegungslos. Etwas tiefer im Raum ein Tresen, über dem in großen Buchstaben Empfang steht, geht darauf zu, entnimmt der Uhr an der Wand hinter dem Tresen, dass er noch eine viertel Stunde Zeit hat, tritt aber trotzdem an den Tresen, eine junge Dame ist aufgestanden, lächelt ihn an und fragt, was sie fragen muss, ob ihm geholfen werden kann.

„Gerne, ich habe für 11:00 Uhr einen Termin mit einer Frau“ der Name der Frau fällt ihm nicht gleich ein, holt seinen Zettel hervor und liest ab „einer Frau Höhn.“

„Gut, nehmen Sie bitte noch einen Moment Platz, ich werde Frau Hörn informieren.“ Hörn? Sagte er nicht Höhn, schaut erneut auf seinen Zettel, da steht eindeutig Frau Höhn darauf, hat er wohl am Telefon falsch verstanden, geht ein paar Schritte, will sich setzen, überlegt es sich anders und geht etwas herum, beschaut sich die Informationstafel, geht um die Pflanzenkübel, Hydrokultur, herum, nimmt die freundliche, luftige Umgebung wahr, die Sauberkeit auf dem Boden und den gepflegten Zustand der Pflanzen, als er hinter sich Schritte, tacktack, auf dem Marmorboden tackende Tritte hört, sich in die Richtung der Schritte dreht und eine drahtig wirkende schlanke, na ja, nicht ganz, kleiner Bauchansatz, kleine Pölsterchen über den Hüften, Frau, geschätzt um die Fünfzig, kurze gestufte, braune Haare, leicht geschminkt, glatte Haut, in Jeans steckend, weiße Bluse, über den Jeans hängend und eine einfarbige, hellblaue, leichte Strickjacke über der Bluse, blaue Schuhe mit dezent erhöhten Absätzen, ein strahlendes Lächeln um den Mund, auf ihn zukommt. Ihre Hand fährt bereits aus, ihn zu begrüßen „Guten Tag. Sie sind Herr Holm? Mein Name ist Barbara Hörn. Ich bin die Hausdame des 4. Stocks, dem Stock, in dem sich unsere Gäste-Apartments befinden. Sie möchten unser Haus näher kennen lernen?“ Gustav, leicht befangen, im Umgang mit Frauen vollkommen ungeübt, also den Frauen außerhalb von Holgers Haushalt, nickt nur.

„Gut, dann werde ich Sie jetzt durch das Haus führen. Natürlich beantworte ich Ihnen gerne alle Ihre Fragen. Aber die weiteren Gespräche, also die geschäftlichen wird unsere Verkaufsleiterin Frau Böttiger im Anschluss mit Ihnen besprechen. Haben Sie vorab schon einmal eine Frage?“

„Hausdame? Was ist eine Hausdame? So eine Art Schwester?“

Wieder dieses Lachen, das ihre Augen leuchten lässt, ihre Wangenknochen etwas nach oben schiebt „Nein, keine Schwester. Wir sind privat, ohne konfessionelle Zugehörigkeit. Unsere Hausdamen, wir haben vier im Haus, betreuen unsere Kunden und sind zuständig für ein Stockwerk. Wir helfen, sprechen, unterstützen organisieren für unsere Kunden, so gut wir das können und unsere Kunden dies wünschen.“

„Wieso sagen Sie Kunden? Sind wir hier keine Patienten, Pflegebedürftige oder was auch immer für Bewohner?“

„Es ist das Verständnis unserer Einrichtung, von den Bewohnern, die eines der Apartments mieten, von Kunden zu sprechen. Ein Kunde ist jemand dem man höflich gegenübertritt und das tun wir hier.“

„Sie haben Ihre Sprüche gut gelernt,“ was er besser nicht gesagt hätte, denn nun liegt kein Lächeln mehr, sondern eine gewisse Strenge auf ihrem Gesicht.

„Also, beginnen wir hier unten.“ Und sie erklärt ihm, dass das Erdgeschoss die Pflegestation ist. Sowohl von außerhalb, aber auch von den Menschen belegt, die bisher in einem der Apartments wohnten und nach und nach ihre Selbständigkeit eingebüßt haben. Ein Großteil der Bewohner seien Demenzkranke. Im Trakt zwischen den beiden Flügeln des U befindet sich ein großzügiger Speiseraum. Frau Hörn erläutert die Sitzordnung, die auch so ersichtlich ist, hinten an der Fensterfront, die Tischreihen an denen die Bewohner sitzen, die nicht mehr selbständig essen können, also gefüttert werden müssen, gefolgt von Tischen, die in Quadratform oder als runder Tisch, jeweils acht Stühle davor oder drumherum und an denen die Bewohner Platz nehmen, die an einen Rollstuhl gebunden sind, nicht mehr richtig gehen können, noch selbständig essen, aber diese nicht mehr aus der Durchreiche abholen können und schließlich weist sie auf die Vierertische hin „Hier würden Sie dann Platz nehmen. Die Tische sind unterschiedlich besetzt. Die meisten Leute suchen sich ihren Platz selbst aus. Aber da ältere Leute feste Gewohnheiten pflegen hat wohl jeder mittlerweile seinen festen Platz. Ich würde Ihnen dann auch einen Platz zuweisen, den Sie dann aber nach Wunsch wechseln können.“

Es gibt mehrere wählbare mehrgängige Menüs, wie Frau Hörn stolz mitteilt.

„Was heißt mehrgängig? Suppe, Hauptgang, Nachspeise?“

„Äh, ja. Genau. Ist Ihnen das nicht genug?“

„Mehrgängig ist für mich ein Essen, wenn es vier bis fünf Gänge hat. Das, was Sie hier auftischen, ist ein einfaches Menü.“ Wieso muss er hier den Besserwisser rauskehren? Er sagt Dinge, die er eigentlich gar nicht sagen will, nicht sagen sollte (nimm Dich zusammen Gustav!)

„Gut, wenn Ihnen das lieber ist, dann: Hier erhalten Sie ein einfaches Menü, dass Sie sich an der Durchreiche zur Küche abholen. Zum Frühstück bekommen Sie einen Zettel, auf dem Sie bitte ankreuzen, was Sie zu Mittag essen möchten.“

Ihm liegt schon wieder auf der Zunge, dass er auf seinem Zimmer frühstücken werde, wie er dann wohl den Zettel ausfüllen solle, hielt sich aber dieses Mal zurück.

„Noch Fragen?“ Gustav schüttelt den Kopf.

Sie erklärt weiter, dass der Speisesaal auch genutzt wird, um Veranstaltungen durchzuführen. Diese sind öffentlich, also auch Menschen von außerhalb können teilnehmen. Es sind Tanzveranstaltungen, Musikdarbietungen „Wir hatten hier schon das Orchester der Oper Lübeck“, Vorträge zu verschiedenen Themen, Reiseberichte zumeist, mitunter liest ein bekannter Schriftsteller aus seinen Werken vor, und dann gebe es noch die internen Veranstaltungen, also Faschingstreiben, Weihnachtsfeier, Silvesterball. Sie würden auch Ausflüge in die nähere Umgebung anbieten. „Also langweilig wird es Ihnen bei uns nicht werden.“

Wobei, die aufgezählten Festivitäten zelebrierte Gustav schon lange nicht mehr. Seit Holger aus dem Haus ist, ist auch Weihnachten aus dem Haus. Und die Ballerei an Sylvester hält er für ausgemachten Schwachsinn, sinnfrei verpulverts Geld, verknallt für nichts, für stinkenden Qualm und ein paar leuchtende Momente am Himmel. Der Tag Sylvester, mündet in den Tag Neujahr, Tag folgt also auf Tag, wie immer, wozu also diese Aufregung? Und Fasching, meine Güte, zum Wehschauen. Die alemannische oder die schwäbische Fasnacht, traditionelles Brauchtum, gut, die lässt er gelten, das hatte nichts mit der alkoholgetränkten Grölerei zu tun, die entlang des Rheines den Ton setzt. Aber diese persönliche Abscheu vor den genannten Festivitäten musste er der Frau, Höhn, oder wie immer sie heißt, nicht offenbaren.

 

Sie geht durch eine mit Milchglas versehene Flügeltür, von der rechts davon ein kurzer Gang in einen Raum führt, der wie ein Restaurant aussieht. „Dies ist unser Café. Sie können drinnen und im Sommer draußen auf der Terrasse Platz nehmen. Was Sie hier verzehren müssen Sie allerdings bezahlen oder auf Ihr Zimmer schreiben lassen, ansonsten sind Sie bei uns vollverpflegt, was im Zimmerpreis inbegriffen ist.“

„Schön!“

„Gehen wir weiter. Sie können mit mir Schritt halten? Wenn ich zu schnell bin, sagen Sie es bitte.“

Sehr höflich von ihr. Natürlich steckt ihm noch der morgendliche stramme Marsch in den Knochen und die taten noch zusätzlich weh. Das Schienbein schmerzt wieder und auch die Kniescheibe ächzt. Aber er will keine Schwäche zeigen, nicht dieser Frau gegenüber. Will er ihr imponieren? Was ist nur los mit ihm?

„Und hier unser Schwimmbad. Dauerhaft auf gut 30° geheizt.“ Ein schönes, menschenleeres Schwimmbad. Um den Pool ein paar Liegestühle.

„Ist sicher nicht immer so leer?“

Sie hat ihr Lachen wieder. „Nein. Die meisten unserer Kunden, äh, Bewohner...“ Nun lacht Gustav kurz auf: „Hören Sie, reden Sie, wie Sie immer reden und lassen Sie sich von mir altem Miesepeter hier nicht aus dem Konzept bringen.“

Sie schaut sich um: „Na ja, mir gefällt es auch nicht besonders, immer von Kunden zu reden. Also, was hatte ich gerade gesagt?“

„Die meisten Bewohner…“

„Ja, die meisten Bewohner schwimmen vor dem Frühstück, also schon relativ früh. Jeden Tag um 10:00 Uhr findet eine Stunde Wasser-Jogging statt. Leider ist die Trainerin seit zwei Tagen krank. Musste also ausfallen. Wenn Sie in Ruhe Ihre Runden drehen wollen, dann am besten um diese Zeit, kurz vor dem Mittagessen. Schwimmen Sie noch gelegentlich?“

„Nicht gelegentlich. Regelmäßig, zweimal die Woche. Dienstag in Timmendorf in der Ostsee-Therme und Donnerstag im Stadtbad in Lübeck.“

„Wow. Ich habe Sie noch nicht gefragt, wie alt Sie sind. Darf ich das?“

„Kein Problem. Ich bin 86 Jahre alt, wenn ich richtig gezählt habe.“

„Nochmals Wow. Hätte ich jetzt nicht gedacht. Mitte bis Ende siebzig hätte ich geschätzt. Sie haben sich gut gehalten.“

„Mag sein. Das Leben und die Natur hat es anscheinend gut mit mir gemeint.“

„Na, dann wird Ihnen auch sicher unser Fitness-Raum gefallen.“ Und sie führt ihn weiter, aus der Schwimmhalle heraus, wieder den Gang entlang, an den rechts und links sich Türen mit Nummern sowie einem anscheinend gebastelten Schild mit den Namen der Bewohner befinden, hin zu einem von außen vollverglastem Raum, in dem zwei Laufbänder sowie drei Ergometer stehen, Matten für das Bodenturnen auf der Erde liegen, Gymnastikbälle an der Seite ruhen.

„Das kennen Sie sicher auch?“

„Ja, mein Sohn hat sich einen Fitnessraum eingerichtet. Aber anscheinend bin nur ich es, der die Geräte nutzt.“

„Sie wohnen mit Ihrem Sohn zusammen?“

„Ja, er war so nett, mich in seine Familie zu integrieren, nach dem ich zum Witwer geworden bin. Allerdings eine sehr flüchtige Familie, die sich zu allem Überfluss auch noch jetzt auflöst. Weshalb ich hier bin. Also, wenn Sie so wollen, bin ich ein typischer Scheidungsopa, nur anders, als bei Kindern, um die meistens gefeilscht wird, will um mich keiner feilschen.“

Gibt ein dezentes Lachen von sich: „Verstehe, das ist sicher nicht schön für Sie.“

Gustav schnauft tief durch, sieht Frau Hörn an, die wunderschöne ins bläulich gehende Augen hatte, die anscheinend keine Trauer kennen, so klar strahlen sie ihm entgegen.

„Nein, das stimmt. Schön ist das nicht. Aber ich habe akzeptiert und kann nicht beeinflussen, was die jungen Leute tun.“

 

Sie tuschiert leicht seinen linken Arm, zum Zeichen weiter zu marschieren. Erklärt ihm, dass sich auf jeder Etage des Hauses zwei Aufenthaltsräume befinden, einen zeigt sie ihm, versehen mit Stühlen an Tischen, alles in hellem Buchenholz gehalten, zwei Sofas, mehrere Sessel und einen Fernseher. In den Regalen an der Wand stehen Bücher oder liegen diverse Spiele übereinander. Gustav will schon einschwenken, um dem Gang weiter zu folgen, hält aber inne, dreht sich nochmals um, wirft seinen Blick in den Aufenthaltsraum, in dem in Abständen voneinander mehrere Personen sitzen, starr, wie gemeißelt in ihre Sitzgelegenheiten gepresst, ist ihm schon im Speisesaal aufgefallen und jetzt, wo er das Bild vor Augen hat, auch im Eingangsbereich. Die Leute, ob Frau, ob Mann, zeigen alle unfreundlichen Facetten menschlicher Ausdrucksformen auf ihren Gesichtern, starre, ernste, böse, zornige Blicke, nach irgendwo gerichtet, auf einen fixen Punkt an der Wand, wütende Blicke, zumindest bei zwei der Frauen, auf ihn und die ihn begleitende Frau gerichtet, keine neugierigen, interessierte, offene Blicke, als wären sie schuld an ihrem Elend, denn das ist es, was er da sieht. Er schaut auf Frau Hörn, ohne etwas zu sagen, die aber versteht, auch ohne Gustavs Frage, was er fragen will. „Das sind an Demenz erkrankte Bewohner. Sie wissen nichts mehr von sich. Wir setzen sie hier hin, weil wir sie dann besser im Blick haben und gelegentlich Pfleger oder auch andere Bewohner vorbeikommen und sich mit ihnen beschäftigen.“

Gustav nickt nur und weiß, welches Glück er bis hierher hatte. „Möge das Schicksal einem vor so einem Lebensende bewahren.“

„Ja, aber dem Schicksal können Sie nicht ins Handwerk pfuschen. Wen es trifft, den trifft es.“

Nur langsam löst sich Gustav und folgt Frau Hörn, die sich bereits in Bewegung gesetzt hat.

„Neben unseren Serviceangeboten stehen Ihnen in unserem Haus weitere Dienstleistungen zur Verfügung. Zu denen kommen wir jetzt.“ Dem Eingangsbereich im anderen Gebäudeteil gegenüber liegend befinden sich ein kleiner Einkaufsmarkt, Marke Tante Emma, oder nein, erinnert Gustav mehr an die Urlaube mit den Eltern auf dem Campingplatz, mit dem kleinen Verkaufsraum, der das für einen Campingaufenthalt notwendigste anbot und wie hier, alles in Dosen oder in Folie eingeschweißte Singleportionen, sicher zu Apothekerpreisen. Es gibt außerdem einen Kontoauszugsdrucker der örtlichen Sparkasse, praktisch, einen Friseurladen, ein Studio für Fußpflege und eine Arztpraxis für Innere Medizin. „Bequemer geht es nicht, alles im Haus, was man so braucht.“ Findet Frau Hörn sicher gut, es klang ein wenig Stolz aus dem, was sie Gustav erklärt, der dies aber kommentarlos über sich ergehen lässt.

„So damit wären wir mit den wichtigsten Dingen hier im Erdgeschoß durch. Fahren wir jetzt hoch. Dort zeige ich Ihnen die Gäste-Apartments. Eigentlich nur zwei, denn die anderen Apartments sind belegt.“

 

Frau Hörn bittet Gustav in den Aufzug „Nach Ihnen. Ich weiß schon noch, was sich gehört.“

„Danke“, freut sich Frau Hörn, geht in den Aufzug, gefolgt von Gustav. „Was, wenn der Aufzug ausfällt. Muss ich dann in den 4. Stock zu Fuß über die Treppen steigen?“

„Oh nein, Herr Holm. Es sind insgesamt sechs Aufzüge, die im Einsatz sind. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass alle auf einmal ausfallen.“ Und dabei lachend „Und wenn sie einmal ausfallen, rufen Sie mich, dann trage ich Sie die Treppe hoch. Versprochen.“

„Na, dann hoffe ich, dass dies, in den paar Tagen, die ich hier sein werde, mindestens einmal passiert.“ Was zu einem erneuten herzhaften Lachen bei Frau Hörn führt und zu einem Versuch, ihm auf die Schulter zu klopfen, Frau Hörn sich aber anscheinend schnell besinnt und in ihrer Bewegung innehält. Gustav fragt sich, ob er da so eben mit der Frau geflirtet hat. Frau Hörn ist attraktiv, halt 40 Jahre zu jung für ihn, aber das ist ja heutzutage kein Hinderungsgrund mehr, zumindest in Kreisen der Prominenz, in denen selbst ein Greis wie Gustav nochmals Vater werden kann, wobei, Vater nicht das richtige Wort, ist, Großvater oder Urgroßvater wäre angemessener. Nun, er ist weder prominent noch attraktiv genug, um eine Frau, wie die mit der er im Aufzug nach oben fährt, für sich zu interessieren, aber irgendwie ist da aus der Tiefe seines Inneren ein Gefühl hochgekommen, das seit ewigen Tagen sich nicht mehr hatte blicken lassen, nein, keine Schmetterlinge oder Flugzeuge, eher der Hauch einer Gefühlserinnerung. Frau Hörn fand Gustavs Bemerkung zwar lustig, reagiert aber nicht weiter darauf. Sie hat sicher so ihre Erfahrungen mit den alten alleinstehenden Kerlen.

„So, damit sind wir im 4. Stock. Hier oben befinden sich unsere Gästezimmer, also die auf der rechten Seite.“

„Und die auf der linken Seite?“

„Das sind die Apartments für unsere Bewohner, also sozusagen für unsere Dauergäste.“

„Und die schauen auf den Innenhof?“

„Äh, ja. Worauf wollen Sie hinaus?“

„Nun, ich vermute, dass das Zimmer, das Sie mir gleich zeigen werden, eines auf der Schokoladenseite ist. Eigentlich hätte ich gerne ein Zimmer bewohnt, dass ich dann auch tatsächlich für den Rest meines Lebens, mein Nennen könnte.“

Eine kurze Irritation huscht über das Gesicht von Frau Hörn, eine Momentsache „Herr Holm, unsere Gästezimmer sind voll möbliert. Das heißt, Sie sind anders eingerichtet, als die Apartments, die, wenn Sie einziehen, leer sind. Von daher haben wir entschieden, die Apartments, die wir als Gästezimmer nutzen, hier einzurichten. Wir haben auch Gäste, die, während ihre Angehörigen in Urlaub sind, nur kurzfristig bei uns untergebracht sind, und denen wollen wir es so angenehm wie möglich machen. Sicher auch mit dem schöneren Ausblick. Aber Schokoladenseite. Nein. Es hat sich halt so ergeben.“

„Angenommen, ich bleibe. Könnte ich das Zimmer dann behalten?“

„Nein, wie gesagt, dies sind Gästezimmer und Sie haben doch sicher persönliche, liebgewonnene Gegenstände, die Sie in Ihrem Zimmer um sich haben möchten. Aber, schauen Sie sich erst einmal das Gästezimmer an, lernen unser Haus kennen. Danach schauen wir weiter. Oder?“

 

Sie gehen den Flur entlang, nach vorne, dem der Trave zugewandten Teil entgegen, fast an dessen Ende bleibt Frau Hörn stehen „So, da wären wir. Das ist eines unserer Gästezimmer und derzeit noch frei.“ Sie öffnet die Tür mit einem Schlüssel. „Bitte. Aber jetzt vor mir. Ohne Widerrede.“

Gut, Gustav tritt ein, gefolgt von Frau Hörn. „Ihnen stehen hier 42 qm zu Verfügung. Die anderen Apartments haben unterschiedliche Größen. Von 39 bis 112 qm. Das Zimmer ist, wie gesagt möbliert. Sie können trotzdem ein paar private Dinge einbringen, sofern Sie das möchten, was allerdings für die Kürze der Zeit, in der Sie hier Gast sind, sicher nicht nötig sein wird.“ Sie öffnet eine Tür, schwingt den Arm auf das zeigend, was Gustav ohnehin sieht. „Hier haben wir das Bad, Dusche, WC. Die Schnur hier,“ nimmt sie in die Hand und zieht sie zu sich, um sie Gustav zu zeigen, „ist für den Notruf, also nicht damit spielen.“ Dabei sendet sie Gustav ein schalkhaftes Lächeln, dessen Hintergrund Gustav nicht versteht. „Hm, was passiert denn, wenn ich an der Schnur ziehe?“

„Dann kommt ein Pfleger geeilt, um zu sehen, was mit Ihnen ist.“

„Mehr nicht?“

„Was heißt mehr nicht?“

„Na ja, kein Notarzt, keine Feuerwehr. Nichts. Einfach nur ein Pfleger? Nicht einmal Sie, deren Kunde ich doch bin,“ moniert Gustav ganz trocken.

Frau Hörn muss lachen „Sie sind wohl ein kleiner Scherzbold, Herr Holm.“ Und fährt ungerührt in ihrer Vorführung fort. „Dies ist die Garderobe“, öffnet eine weitere Tür, die einen Blick in einen sehr schmalen Raum erlaubt, „und das ist eine kleine Abstellkammer. Wenn Sie dann ihr eigenes Zimmer haben, können Sie hier Vorräte unterstellen oder die Dinge, für die Sie im Wohnbereich keinen Platz finden. Die Kammer ist abschließbar.“

Angesichts der räumlichen Enge fragt Gustav sich, was er wohl, außer einem Abfalleimer unterstellen könne. „Also, mein Klavier passt da mit Sicherheit nicht hinein.“

„Hahaha, ja, da haben Sie recht. Aber Ihr Klavier bekommen sie ganz bestimmt bequem im Wohnbereich unter.“

„Schon, aber ich will es nicht mehr sehen.“

Verdutzt wendet sich Frau Hörn Gustav zu: „Aber warum wollen Sie es dann mitnehmen?“

„Weil es mir gehört!“

„Ja, sind Sie denn Pianist? Hatten Sie nicht angegeben, dass Sie selbständig waren?“

„Wieso waren? Ich bin noch selbständig und nein Pianist war ich nicht, bin ich nicht.“

Frau Hörn, anscheinend an Marotten älterer Herrschaften gewöhnt geht nicht weiter auf das Klavier ein, das Gustav gar nicht hat, sie aber nicht zu wissen braucht.

„Ja, und das hier ist die Küchenzeile.“ Spüle, Herd mit drei Kochplatten, diese schwarzen runden Bullaugen, wie man sie früher hatte. Geschirrschrank. Bieder, sehr bieder. „Der Herd ist auch nicht State of the art. Oder?“

„Wie meinen Sie das?“

„Ein Herd hat heutzutage ein Kochfeld. Induktions- oder Glaskeramik-Kochfelder und nicht mehr diese schwarzen Hügel. Wissen Sie, wen ich für meine Freunde koche, die er nicht hatte, was Frau Hörn aber ebenfalls nicht wissen muss, da brauche ich schon mindestens vier Kochzonen. Bei meinem Sohn, wo ich derzeit noch wohne, steht eine Kochinsel mit sechs Kochzonen, da macht Kochen Spaß, fast so, wie ein Orchester zu dirigieren.“

„Wissen Sie, die meisten unserer Bewohner kommen aus einer Kochwelt, wo die Kochfelder dem entsprechen, wie Sie sie hier sehen. Wir wollen es den Herrschaften leicht, nicht schwer machen. Und die wenigsten unserer Heimbewohner kochen selbst und wenn, dann eher anspruchslose Kleinigkeiten. Unser Restaurant ist nämlich sehr gut. Ich sagte Ihnen ja bereits, Sie haben Vollpension bei uns.“

„Liebe Frau Hörn, so lange meine Finger noch in der Lage sind zu schnippeln, mein Kopf kreative Zusammenstellungen kreieren kann, mein Magen mir noch sagt, was er morgen gerne zu sich nehmen möchte, werde ich sicher keiner ihrer Vollpensionisten.“

„Sie kochen wirklich selbst?“ staunt Frau Hörn.

„Und wie!“

Ein dezentes, Achtung ausdrückendes Lächeln zeigt sich auf ihrem Gesicht „Na, da müssen Sie mich aber einmal zum Essen einladen.“

„Gerne, morgen oder besser Übermorgen zum Mittagessen? Penne a la Opa?“

Ach, es ist zu schön, ihr Lachen zu hören. Meine Güte, wann hatte er zum letzten Mal eine Frau so lachen hören? „Ist das jetzt ernst gemeint?“

„Wenn Ihre Bitte ernst gemeint war, dann ist meine Einladung genauso ernst gemeint.“

„Waren Sie in Ihrem Berufsleben Koch?“

„Kein Pianist. Kein Koch. Nur selbständig.“

 

„Gut, schauen wir weiter.“ Mit einer Bewegung ihres Armes weist Frau Hörn Gustav auf den Wohnbereich hin, mit Teppichboden ausgelegt, spärlich möbliert mit einem Sofa, einem Sessel, mit Holzlehne, sieht auf Distanz schon unbequem aus, einer Kommode, auf der ein Bildschirm steht. Frau Hörn nimmt die Fernbedienung in die Hand, wendet sich, sie zeigend, Gustav zu: „Die Fernbedienung für den..“ Gustav winkt ab „Vergessen Sie die Fernbedienung, brauche ich nicht. Ich lebe fernsehlos.“

„Wie bitte? Wie geht das denn? Und was machen Sie, wenn Ihnen langweilig ist? In diesem Haus und nicht nur in diesem ist die Langeweile Gast, zumindest in den Abendstunden, in denen jeder für sich ist. Wir unternehmen zwar einiges, sie nicht aufkommen zu lassen, aber verscheuchen können auch wir die Langeweile nicht. Wenn die Aufgaben, die einem das Leben stellt, weg sind und die Beweglichkeit eingeschränkt wird, was bleibt da? Also, unsere alten Leute sind froh, ein paar glückliche Stunden vor dem Fernseher verbringen zu können.“

„Also Glück und Fernsehen habe ich noch nie in Zusammenhang gebracht. Das geht gar nicht. Und mein Leben kennt keine Langeweile, ich bin noch geistig und körperlich beweglich und deshalb brauche ich keinen Fernseher, um die Langeweile zu bekämpfen, denn zu etwas anderem hat man dieses Ding nicht erfunden. Mein Fernsehkonsum war aber schon immer sehr eingeschränkt, von daher keine Marotte des Alters. Ich lese viel, vielleicht eine andere Form von Fern sehen,“ lächelt zu der Frau hin, die ihn taxiert, versucht vielleicht hinter seine Fassade zu steigen. Sie hat sicher schon viele alte Leute kennen gelernt, aber Gustav fällt da schon etwas aus dem Rahmen.

„Kein Krimi? Kein Fernsehgarten? Kein Wetten das? Und keine Nachrichten?“

„Vergessen Sie es. Wer sie und wie sich die Welt zugrunde richtet, ist mir mittlerweile piepegal. Das ist nicht mehr meine Sache. Warum soll ich mir den Schwachsinn ansehen, den die, die den Schlamassel angerichtet haben, täglich noch verschlimmern und mich über etwas aufregen, was mich nicht betrifft und ich eh nicht verändern oder verhindern kann? Das ist so sinnlos, so eine Zeitverschwendung, letztlich nur eine Unterhaltungssendung wie alles, was ausgestrahlt wird, nur der Unterhaltung dient. Die Leute sollen in ihrem Wohnzimmer bleiben, nicht auf die Straße gehen, denn dazu hätten sie eigentlich allen Grund. Die Römer nannten das Brot und Spiele. Ich nenne es, Fressen und Vergessen.“

 

Was mag die Frau wohl von ihm denken? Was haut er da an Bemerkungen heraus, die er sonst nur denkt, sie aber niemand gegenüber äußert. Und damit beeindrucken kann er die Frau mit Sicherheit nicht, die ihn etwas verunsichert betrachtet und sicher nun überlegt, ob der Typ vor ihr Ärger machen könnte. Aber wie in den Situationen zuvor, geht sie über Gustavs Auslassung hinweg.

„So, und hier geht es hinaus auf den Balkon. Sie öffnet die Balkontür, tritt hinaus, winkt ihn bei. Gustav schiebt sich auf den schmalen Balkon, ist ihr sehr nah, nimmt ihr Parfüm wahr, ein Geruch nach etwas Blumigem. Veilchen? Maiglöckchen? Sollte er sie danach fragen? Bevor er die Frage stellen kann, nimmt ihn der Ausblick für sich ein: „Oh, welch ein Ausblick. Also doch Schokoladenseite. Wissen Sie, was ich tun werde? Die nächsten sieben Tage werde ich hier auf dem Balkon verbringen, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, nur unterbrochen durch das Zubereiten des Mittagessens für Sie.“ Die Scheußlichkeit der Hotelneubauten und Altsünden auf der anderen Seite blendet er aus.

Frau Hörn, mit ihrem Lachen „Romantiker sind Sie auch noch?“

„Nein bin ich nicht. Nur ein alter Angeber, der sich aufspielt, wie seit Jahrzehnten nicht mehr“ sie ansehend, „nur, um Sie zu beeindrucken.“

„Sie wollen mich beeindrucken? Das haben Sie, Herr Holm. Das haben Sie. Ich würde mich freuen, wenn Sie nach dem Probewohnen hier einziehen würden und Sie mir noch mehr Beeindruckendes von sich erzählen würden.“

„Kein Problem. Schau ‘n wir mal. Wann kann ich das Zimmer beziehen?“

Sie holt aus der Tasche, die sie die ganze Zeit unter dem Arm oder in der Hand hatte, ein Tablet hervor, schwingt mit dem Zeigefinger darüber, scheint etwas zu lesen. „Im Prinzip können Sie heute oder morgen einziehen, allerdings ist das Zimmer in sechs Tagen gebucht, was sich aber noch ändern kann.“

„Eins noch. Sie sprachen vorhin von zwei Zimmern, die Sie mir zeigen wollten. Bisher habe ich aber nur eines gesehen.“

Wieder dieses ihm ein Kribbeln über den Rücken jagende Lachen. „Ja. Oh. Sie passen ja auf wie ein Luchs. Kann ich Ihnen gerne zeigen, aber es liegt nicht auf der Schokoladenseite, von daher habe ich es etwas beiseitegeschoben. Aber, wenn Sie wollen, gerne.“

„Nein. Nein danke. Ich bleibe bei dem Zimmer hier. Also, und das Geschäftliche bespreche ich mit...?“

„Mit Frau Böttiger,“ schaut dabei auf ihre Armbanduhr, „die ist jetzt aber zu Tisch. Wissen Sie was? Kommen Sie mit, dann können Sie schon einmal unser Restaurant testen. Danach ist Frau Böttiger für Sie da.“

Gustav überlegt kurz „Danke, das ist nett von Ihnen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne hier im Zimmer warten, bis die Frau Verkaufsleiterin Zeit für mich hat.“

„Gut, wie Sie wünschen. Ich hole Sie dann ab. Gut?“

„Ja.“

„Dann bis später.“

„Bis später. Und guten Appetit.“

Ein letztes Lachen, bevor sie die Tür hinaushuscht.

 

Nachdem Frau Hörn gegangen ist, schlurft Gustav über den weichen Teppich, bei Holger war er nur Parkettboden gewöhnt, hier und da ein Läufer darüber gelegt, durch das Zimmer, das Vorzeigezimmer, geht vor bis zur Balkontür, öffnet sie, geht nochmals hinaus auf das knappe Stück Balkon, steckt die Hände in die Hosentaschen und blickt jetzt hinüber auf dieses in die Höhe gebaute Monument hirnloser Planung. Ein Hotelbau mit 35 Stockwerken, wie er gegoogelt hatte, protzig in der Landschaft stehend, zur See gewandt, als hätte der Architekt der See sagen wollen, hier steht mein Bau, du kriegst ihn nicht. Schade, dass ich das nicht mehr erleben werde, denkt Gustav, denn, dass es eines Tages so kommen wird, dass sich die See diesen Turm holt, daran glaubt Gustav fest. Seit er in Lübeck wohnt, ist er öfters mit dem Nahverkehrszug aus Lübeck herausgefahren, ist die Promenade bis zur Ludwigshöhe gewandert, der Brodtener Steilküste entlang und hatte das Werk der Wellen wahrgenommen, die sich in jeder Winterzeit mit jeder Sturmflut Stück um Stück der Küste geholt hatten und da der Klimawandel ungebremst weiter voranschreitet, wird der Tag kommen, an dem sich das Wasser unter den Turm gräbt und ihn zu Fall bringt. Zwei weitere Betonklötze sind in den letzten beiden Jahren hinzugekommen, deren Wuchs er verfolgen konnte, nicht in die Höhe geschossen, dafür in die Breite, fensterüberflutete Behausungen betuchter Mieter oder Hotelgäste, die Gustav den Blick auf den Travemünder Strand verstellen, wodurch ihm nur der Ausschnitt der in die Ostsee fließenden Trave bleibt, kein grüner, bunter, blühender Garten mehr, wie die letzten drei Jahre, nur Steinbauten und Wasser, das so trübe dahinfließt, wie die Gedanken, die Gustav durch den Kopf streifen, raus, bis hinter den Horizont, genau den, den Lindenberg zu seinem Song inspiriert hat. Und den nimmt Gustav jetzt in Augenschein, sieht weit in der Ferne, vereinzelt die dreieckigen Spitzen von Segeln, ein dahin dümpelndes Schiff, der Marine, wie er vermutet, wobei, hatten die überhaupt noch schwimmenden Untersatz? So mit halbem Ohr hatte er diesbezüglich so manches mitbekommen, was auf jämmerliche Zustände bei der Bundeswehr und der Marine schießen ließ, aber, na ja, das war das Problem der kleinen blonden Frau, die er für sich Pannen-Uschi nennt, nicht seines. Auf der Trave tummeln sich ein paar Kleinboote, die Fähre, die kleine, der Ausflugsdampfer, aber so richtig viel los ist noch nicht, kommt erst am Wochenende. Wendet sich um, die Füße nur knapp über den Boden ziehend, tappt er zurück in das Zimmer, immer noch die Hände in den Hosentaschen, weiter zu den Hängeschränken, fährt die Hände aus den Hosentaschen, öffnet eine Schranktüre, schaut hinein, vier Tassen, vier Teller, vier Gläser, vier Unterteller, wohnten sonst vier Leute hier? Er entnimmt dem Schrank ein Glas, beim Öffnen der Schranktür hatten die Pillen in seiner Anabox geraschelt, was ihn brennend daran erinnert, seine Tabletten zu nehmen, holt die Box hervor, entnimmt den Cholesterinsenker, den Blutverdünner und die Diabetestablette, schmeißt eine nach der anderen Pille ein, gefolgt von jeweils zwei Schluck Wasser, Leitungswasser.

 

Allein in diesem Zimmer verspürt er plötzlich etwas wie Einsamkeit, ein Gefühl der Leere, die sich über ihn ergießt. Zwar ist er in Holgers Haus sehr oft alleine, aber allein die Aussicht, dass seine Leute hier wohnten, auch wenn sie nicht anwesend waren, eventuell gleich kommen würden, ließ das Gefühl von Leere erst gar nicht aufkommen, aber hier, in diesem Zimmer ist die gewohnte Vertrautheit abhandengekommen, alles ist Fremd und Fremdheit gebiert Einsamkeit. Sein Blick ist melancholisch getrübt, der Enthusiasmus, das Verlockende der Landschaft da draußen, der Impuls hinauszustürmen, durch die Landschaft zu strömen, nicht mehr da. Ist das jetzt das Alter, das lähmende Erlöschen von Tatkraft? Er schüttelt sich, schüttelt ab von sich, was sich da seiner bemächtigen will und untersucht den Küchenschrank weiter ab, schaut in die unteren Fächer, ein großer, ein kleiner Topf, keine vier, eine Pfanne, ein Milchtopf aus Emaille. In den Schubladen, die Vierer-Serie, Messer, Löffel, Gabel, Teelöffel, Frühstücksbrettchen, Eierbecher (nur zwei?). Eigentlich trostlos, öffnet den Kühlschrank, kein Vergleich mit Holgers amerikanischem Kühlschrank mit seinem Fassungsvermögen, das ganze Warenladungen aufnehmen konnte, zu viel, da so manches in Vergessenheit geriet, was da hineingetan wurde und Gustav sich gelegentlich die Arbeit machte, die abgelaufenen Artikel zu entfernen, aber in dem Kühlschrank hier herrscht eine beängstigende Übersichtlichkeit, nun ja, er ist leer, aber gefüllt wahrscheinlich auch leer. Er hebt seine Arme leicht an und lässt die Hände auf seinen Bauch schlagen, meine Güte, denkt Gustav, es wird immer weniger, alles um mich reduziert sich auf das Minimum, welch Fülle um ihn, als er noch mitten im Leben stand.

 

Es klopft, Frau Hörn steckt den Kopf mit einem Lächeln im Gesicht zur Tür herein: „So, Frau Böttiger hat jetzt Zeit. Sie hatte Sie noch vor dem Mittag eingeplant, unseren Rundgang hatte sie kürzer erwartet. Können wir gleich gehen?“

Gustav blickt sich um, hatte er etwas aus den Taschen genommen, irgendwo abgelegt? Nein. „Gehen wir.“

Während sie den Flur entlang zum Aufzug gehen, fragt Frau Hörn Gustav, ob dieser noch Fragen hätte, die sie ihm beantworten könne, die Gustav nicht hat, ist müde, mürrisch und langsam auch hungrig, was seine Denkfähigkeit mindert. „Nein. Sie haben mir alles schön ausführlich gezeigt und erklärt, mir bleibt keine Frage.“

Ach, dieses Lächeln, das Lächeln dieser Frau. Sie fahren hinunter ins Parterre, links vom Aufzug geht es zum Verwaltungsteil, durch eine Glastür, vorbei an den Bürozimmern, am dritten klopft Frau Hörn an, öffnet nach einem herein die Tür und geht hinein, gefolgt von Gustav. Hinter einem Schreibtisch quält sich eine Frau aus ihrem Bürostuhl, mit einem etwas zu groß geratenem Hinterteil und Oberschenkeln, die nicht zum Oberteil der Frau passen, zwei Welten, kurios. Das hatte nichts mit Ernährung zu tun, die Frau ist nicht fettleibig, sondern gestraft von sicher irgendeiner Erkrankung, von der Gustav auch schon gelesen hatte, sich aber nicht mehr an deren Namen erinnert. Sie hat anundfürsich ein hübsches glattes, vielleicht ein wenig streng wirkendes Gesicht, mit einem dezenten Lächeln, kein Vergleich zu dem Lächeln von Frau Hörn, bei der alles im Gesicht glänzt, wenn sie lacht. Bei der Frau bewegen sich nur die Lippen. Sie hält Gustav ihre Hand entgegen: „Guten Tag, Herr Holm. Ich bin Frau Böttiger, die Verkaufsleiterin des Zentrums.“

Zu Frau Hörn „Danke Frau Hörn.“

Die verabschiedet sich von Gustav mit einem Handschlag und ihrem bezaubernden Lächeln. „So, dann wollen wir nun das Geschäftliche besprechen.“

Frau Böttiger hat sich wieder gesetzt, obwohl ihr das Sitzen Qualen bereiten musste, denn links und rechts der Sitzlehne quoll die Fettmasse ihres Hinterns hervor, sieht er davon ab, sitzt da eine typische Verwaltungsperson vor ihm, die Haare mittig gescheitelt, hinten zu einem Dutt streng nach hinten gebunden, einer Hornbrille, braun-gelb gesprenkelt, rote Lippen und, na ja, ein Blick, der die Wichtigkeit ihrer Person betont. Die Frau beherrscht ihr Zimmer, mehr nicht, kommt, wie Gustav vermutet, selten vor die Tür, kennt die Abläufe des Hauses vom Papier, aber nicht, wie sie wirklich laufen. Das Zimmer, in dem sie herrscht, fad, so wie sie selbst, hat den Charme eines Finanzamtszimmers, da hat Gustav mehr erwartet, also etwas fescheres, Frische und Freude ausstrahlend, aber das Zimmer hier, nein, wenn sie sie noch nicht hat, wird sie hier Depressionen bekommen, da ist sich Gustav sicher. Schrank und Schreibtisch wirken wie aus einer Grobmüllsammlung zusammengestellt. Der kleine Tisch, die zwei Sessel drum herum, alles aus der Zeit und nicht vereinbar mit dem, was er bisher von dem Haus kennengelernt hat. Ob sie das selbst kreiert hat? So wie die aussieht: Ja! Den Schreibtisch belagern Laufmappen, Papiere, sicher Kopien von irgendetwas, nichts Privates (ob sie kein privates Leben hat?), ein Bildschirm, die Tastatur, der Rest ist Leere. Die Wände kahl, bis auf zwei Bilder, die so eigenartig sind, dass sie Gustav sofort ins Auge springen, nichts mit dem Raum zu tun haben, wohl aber mit dem Haus. Zwei Zeichnungen, mit wenigen Strichen, aber so genial aufgetragen, dass das wenige deutlich zeigt, was es zeigen wollte: das Heim, von der Trave aus betrachtet, das Heim, von der Seite gezeichnet, schwarze Striche, ein roter Strich, ein blauer Strich, ob mit Pinsel oder Filzstift gezeichnet, kann Gustav nicht erkennen, dass die beiden Zeichnungen gut sind, sehr wohl.

Frau Böttiger unterbricht Gustavs Betrachtungen und fragt ihn, ob der erste Eindruck, den er gewonnen habe, positiv sei und auf das ja von Gustav (er hätte auch sagen können, ja, bis auf Sie und das Zimmer hier, tut es aber nicht), folgt oder sollte folgen, die Philosophie des Hauses, vorgetragen von Frau Böttiger, die Gustav aber unterbindet: „Liebe Frau Böttiger, Sie müssen mir nicht den Hauskatalog aufsagen, den kenne ich, im Internet habe ich ihn mir genau angesehen. Was der taugt, muss die Realität zeigen, deshalb möchte ich zur Probe hier wohnen und danach werde ich mich entscheiden, ob dies hier meine letzte Ruhestätte wird.“

Frau Böttiger lächelt, leicht pikiert: „Ihre letzte Ruhestätte?“

„Ist sie doch? Oder? Sie müssen meine Ansicht nicht teilen. Für mich ist dies die letzte Ruhestätte. Danach ist nichts mehr. Nichts. Verstehen Sie?“

Sie scheint zu versuchen, eine Antwort zu finden, lässt es aber sein, fährt in ihrem Programm fort, sucht Papiere zusammen, ein Merkblatt, eine Checkliste, die er aber erst nach endgültigem Einzug ausfüllen müsse, ein Datenblatt zu Krankheiten, persönlichen Daten, die Hausordnung, legt alles in eine Mappe ein und reicht sie Gustav: „Lesen Sie sich das alles in Ruhe durch. An der Rezeption erhalten Sie einen vorläufigen Ausweis, der unter anderem zur kostenfreien Nutzung der Fähre rüber nach Travemünde dient. Erhalten Sie eine Pflegestufe?“

„Eine Pflegestufe? Sehe ich aus, wie ein Pflegestufe? Nein. Wozu diese Frage?“

„Es geht nur darum, ob wir Sie bei der Ausfüllung eines Antrages unterstützen können.“

„Was hat das mit dem Probewohnen zu tun? Wozu brauche ich da einen Antrag?“ Gustav ärgert das bürokratische Gehabe dieser Frau mit dem fetten Hintern, sie ist ihm unsympathisch und unangenehm. Das hier muss schnell beendet werden.

„Gut. Ich habe alles, weiß alles, was ich wissen muss. Dann stehe ich morgen früh auf der Matte. Ich gehe davon aus, dass ich mich an der Rezeption melde?“

„Ja, genau. Sie erhalten Ihren Schlüssel und den Ersatzausweis für die kommenden sechs Tage.“

„Gut. Eine Frage noch. Angenommen ich entscheide mich dafür, zu bleiben. Wann könnte ich dann einziehen?“

„Tja, das kann ich Ihnen leider nicht genau sagen. Derzeit sind alle Apartments belegt und wir führen eine Warteliste. Ich glaube mit derzeit über 30 Interessenten, allerdings verteilt auf die unterschiedlichsten Wohnwünsche.“

„Ungefähr? Zwei Wochen, vier Wochen? Wissen Sie, ich sehe zwar nicht aus wie eine Pflegestufe, meine Zeit ist dennoch knapp, zumal ich mein derzeitiges zu Hause verlieren werde, also müssen Sie verzeihen, dass ich drängle. Ich weiß nicht, ob ich ein Notfall bin, fühle mich aber so an.“

Ihr Lachen sieht schon etwas besser aus, als dass, was sie bisher gezeigt hatte. „Herr Holm, wohnen Sie Ihre sechs Tage ab. Ich verspreche Ihnen, wir tun unser Bestes, um Sie auch danach im Bedarfsfall gut unterzubringen.“ Was dieses Beste sein soll, will er nicht mehr hinterfragen, nur noch raus hier, steht auf reicht der Frau seine Hand, nimmt die Broschürenmappe auf und verlässt den Raum, die Frage, ob er den Weg allein hinausfinden würde, in seinem Rücken, Daumen hoch als Antwort.

 

Draußen, wieder an der frischen Luft, zieht er kräftig die Seeluft an und ein, wobei Seeluft und Ostsee eigentlich ein Widerspruch ist, keine Jodluft, kein salziger Geschmack auf den Lippen, wie es bei einem Tag Nordsee der Fall ist, wo Seeluft Seeluft ist und kein leeres Wort. Seine Armbanduhr zeigt 13:30 Uhr an, Zeit, sich nach einem Restaurant umzuschauen. Italienisch? Drüben an der Promenade gibt es zwei Italiener, beide schon getestet, erinnert sich aber nicht mehr, wer der Bessere von beiden ist. Er schlendert zur Fähre vor, betritt sie, setzt sich und lässt sich mit all den anderen Gäste auf der Fähre Richtung Travemünde übersetzen, geht gezielt auf die beiden Restaurants zu, die fast direkt nebeneinander liegen, entscheidet sich für den, der die dekorativste Tischbedeckung hat, Arte e Tavola, nimmt Platz, kaum noch Gäste vorhanden, bestellt, als die Bedienung kommt, sogleich eine große Flasche Wasser, da reden alle davon, das alte Leute viel trinken sollen und die Damen im Seniorenzentrum hatten ihm nichts angeboten, keinen Tropfen, was ihm jetzt erst auffällt, schaut sich die Speisekarte an und bestellt sich Saltimbocca mit Rosmarinkartoffeln und mediterranem Gemüse und als Vorspeise eine Minestrone, dazu einen Chardonnay. Nach der Bestellung fühlt er sich schlagartig besser, er ist im wahren Leben zurück, nimmt sich die Broschürenmappe vor, betrachtet die einzelnen Formulare und Broschüren, zieht die Preisliste heraus und überfliegt sie. Er hätte, mangels Vergleichsmöglichkeiten, nicht sagen können, ob die Preise zu hoch oder angemessen sind, überschlägt, was die Übernachtung den Monat im Hotelturm kostet, deutlich teurer und ohne Vollpension. Gut, der Preis stört ihn nicht, etwas anderes stört ihn, weiß aber nicht genau was, wird sich zeigen. Wie wird er zurückfahren? Bus oder diesen Herrn Dingsbumms anrücken lassen. Bus. Dingsbumms müsste aus Lübeck leer anfahren. Verschwendung. Bus! Die Minestrone wird ihm serviert, frisches Pizzabrot als Beilage, leicht in Knoblauchöl geschwenkt, gut so, auch später, das Saltimbocca, ist okay, wobei er sich sicher ist, dass er da kein Kalbfleisch auf dem Teller hat, aber gut, trinkt noch einen doppelten Espresso, zahlt, schlendert, die Broschürenmappe unter seinen Arm geklemmt, vor zur Bushaltestelle, steigt in den wartenden Bus und lässt sich auf einem Sitz im mittleren Bereich nieder. Normalerweise ist jetzt die Zeit seiner Mittagsruhe, die er mal schlafend, mal dösend in seinem Sessel oder auf seiner Couch verbringt, dass es diese Zeit ist, spürt er am ganzen Körper, wozu noch die Anstrengung des bisherigen Tages kommen, verbietet sich allerdings, die Augen zu schließen, denn, das weiß er, er würde schlafend den Ausstiegszeitpunkt verpassen. Die Fahrt zieht sich hin, zwar nicht jede Milchkanne fährt der Bus an, aber über die Ortschaften, Vororte tuckelt er gemächlich seinem Zielpunkt entgegen. Am Busbahnhof steigt Gustav um in die Linie, die ihn in die Nähe seines Domizils bringen wird. Der Bus nun voller, überwiegend aus den Schulen heimströmende Jugendliche, munter, schweigend ins Gespräch vertieft, geht Gustav durch den Kopf beim Anblick der von ihren Smartphones angeleuchteten Gesichtern, aber auch das geht ihn nichts mehr an, nur gut, dass der Generation zukünftig Roboter zur Verfügung stehen würden, ihnen zu helfen, ihr Leben irgendwie zu organisieren, denn ohne die Roboterhilfe, glaubt Gustav, wäre diese Generation hilflos.

 

Um ins Haus zu kommen, nutzt Gustav seinen Nebeneingang, direkt in sein Zimmer, stellt fest, dass er beim Verlassen des Hauses vergessen hatte, seine Zugangstür abzuschließen, oh je, hätte dies Keethy bemerkt, wäre deren Aufregung über Gustav hereingebrochen, der arme Holger wäre mit Vorwürfen überhäuft worden, der alte Mann verflucht, beschimpft, für senil erklärt worden, für den es höchste Zeit sei, unter Aufsicht gestellt zu werden. So konnte Keethy sein, war aber auch in der Lage, zu bereuen, na ja, nicht immer. Unvergessen der letzte Besuch von Keethys Eltern in Lübeck. Ihr Vater, an Demenz erkrankt, was aber niemand für nötig hielt, Gustav zu berichten, hatte als Gastgeschenk eine Flasche feinsten Whisky mitgebracht, den Gustav zur Feier des Abends, als Matthew ihn in seinem Zimmer aufsuchte, öffnete. Das Matthew zügig trank, fiel Gustav zwar auf, er machte sich aber keine weiteren Gedanken, bis Matthew anfing heftig zu schwitzen, zu husten, nach Luft zu röcheln, Gustav um Hilfe rief, der Rest der Familie angestürmt kam, Keethy die Whiskygläser sah, Gustav heftig beschimpfte, ihren Vater dem Tod nahe gebracht zu haben, der doch striktes Alkoholverbot habe, da der Tablettencocktail den Matthew einnehmen musste sich absolut nicht mit Alkohol vertrug. Nur, woher hätte Gustav das wissen sollen? Holger und Eileen nahmen Gustav in Schutz, da Keethy es war, die das Thema tabuisiert hatte, nicht wahrhaben wollte, dass ihr Vater zunehmend in Dunkelheit verfallen würde. Der Notarzt musste kommen, und Matthew eine Nacht in der Uni-Klinik verbringen, zur Beobachtung. Keethy entschuldigte sich zwar bei Gustav, der aber an ihrem Ton merkte, dass sie noch Groll gegen ihn hegte.

 

Auf den Schreck hin setzt er sich erst einmal in seinen Sessel. Er wird vergesslich. Doch. Da fallen ihm die eine oder andere Nachlässigkeit der letzten Tage ein, die nur so zu erklären sind. Na ja, gehört zum Alter und wenn er an die stumpfsinnig vor sich hinblickenden Alten im Seniorenzentrum denkt, dann darf er sich glücklich schätzen, auch wenn die Tür nicht abgesperrt war. Er schnauft aus, es nervt, sich ständig rechtfertigen zu müssen, für Dinge, die das Alter schulden, nicht er, das Alter machte das mit ihm, aber die anderen sehen das anders, verstehen nicht, was das Alter mit einem macht. Gustav lässt seine Augen hinaus in den Garten schweifen, der Flieder steht in voller Pracht, die letzten Tulpen haben ihre Kelche gereckt, der Sonne zu, ihre Blüten geöffnet, locken Bienen und andere noch lebende Insekten an, würde er hinausgehen, könnte er die Bienen bei ihrer summenden Arbeit hören. Der gepflegte Rasen, dank des unermüdlichen Rasenroboters, der den Halmen keine Chance gibt, über eine von Holger definierte Höhe zu sprießen, brilliert jetzt in einem satten Grün, dank der Gartenbewässerung, natürlich auch automatisch geregelt, keine Chance für Gustav, sich für den Garten irgendwie nützlich zu machen. Die ganze Gartenatmosphäre strahlt Zukunft aus, lechzend nach der nächsten Jahreszeit, eine Zukunft, die ich nicht mehr habe, denkt Gustav. Ist er der kommenden Situation nicht gewachsen? Was ist so anders als der Umzug aus Nackenheim nach Lübeck? Ein Sprung, in dem deutlich mehr Entfernung gelegen hat als jetzt der Schritt nach Travemünde. Nein, es hat nichts mit Entfernung zu tun, hat mit der Endgültigkeit, dem Definitivem, dem Abschließenden zu tun, mit der Gewissheit, dieses letzten Schrittes. Er setzt einen Punkt und wartet ab, wartet, bis es soweit sein wird. Welch Gedanke. Doch Blödsinn. Wieso abwarten? Wieso soll er abwarten? Meine Güte, er ist noch rüstig, hat noch Saft in den Knochen, na ja, eher die Reste, aber immerhin, da ist noch etwas, da lässt sich doch etwas daraus machen. Oder? Jawohl, er wird etwas daraus machen und sich nicht einlullen lassen von den Alten und denen, die die Alten umhegen. Guter Gedanke. Festhalten den Gedanken, schließt die Augen, sperrt den Tag, die Welt aus, lässt die Dunkelheit sich seiner bemächtigen, muss ja nicht achtpassen, an der richtigen Stelle auszusteigen, und nickt ein.

 

Ein Geräusch lässt ihn aufschrecken, schaut sich um, heller Tag, sitzt in seinem Sessel, realisiert noch nicht so recht, was mit ihm ist, was ihn da aufschreckt, sein Blick fällt auf den Wecker auf der Kommode, 17:30 Uhr. 17:30 Uhr? Gut, er ist eingeschlafen, so wie seine Beine, die nicht wollen, was er will, nämlich aufstehen, schüttelt den Kopf, dreht ihn links, rechts, links, rechts, Leben in den Kopf bringen, stützt sich auf die Armlehnen des Sessels und drückt sich hoch. Geht doch. Kommt langsam hoch, steht, horcht, da sind Geräusche im Haus. Holger ist bis Donnerstag in Kiel, Keethy irgendwo in der Welt unterwegs, bleibt Eileen. Nachsehen? Ignorieren? Entscheidet auf nachsehen. Öffnet seine Tür, tappst den Flur hinunter und sieht Eileen in der Küche vor dem geöffneten Kühlschrank stehen, suchend und, wie Gustav ahnt, nichts findend, wie immer, müsste die Dinge, die lose im Kühlschrank liegen irgendwie zusammenführen, mixen, arrangieren, anrichten, aber Eileen fehlten die Vorbilder, so etwas zu tun, mehr als eine Scheibe Käse oder Wurst auf eine Scheibe Brot zu legen, will ihr nicht gelingen. Ein Typ, jung, gutaussehend, pickelfreies glattes Gesicht, nach hinten gegelten Haaren, enge Jeans, labbriges T-Shirt über den Jeans hängend, schwarze Hornbrille auf der Nase, steht neben ihr, schaut ihr bei ihrer Suche zu. Der Typ? Der, bei dem sie nächtig?

„Hey Eileen, dachte schon, ich hätte Einbrecher zu Besuch.“

„Hi Opa.“ „Das ist mein Opa,“ mit dem Finger auf ihn zeigend, ein breites erwartungsfrohes Lächeln bildet sich um die Mundwinkel.

„Hey, gut, ich bin der Opa. Okay. Und der?“ mit dem Kopf in Richtung des Typen nickend.

„Nicki.“

Gut, weiß er das jetzt auch.

„Opii, Du bist unsere Rettung. Kannst Du uns eine Kleinigkeit kochen? Ich habe einen Wahnsinnshunger. Irgendetwas mit Nudeln?“

„Soso und worauf hat der Nicki Lust?“

„Na ja, auf Eileen, aber die muss ja unbedingt noch etwas essen.“ Worauf Eileen ihm einen Tritt gegen dessen Schienbein setzt, er aufautscht, überrascht über diesen Tritt, einen zornigen Blick zu Eileen wirft. „Was denn?“

„Ihr könnt mich mal,“ sagt Gustav und trottet in Richtung seines Zimmers.

„Opii. Bitte. Nur eine Kleinigkeit.“

Gustav hebt den Arm und zeigt den Stinkefinger in die Luft, worauf Nicki losprustet.

„Opa bitte entschuldige bitte.“ Aber Opa ist heute nicht mehr, der verschwindet in sein Zimmer, schimpft vor sich hin, über die respektlose Jugend. Das war doch respektlos oder sind die heute so? Sagt, keine Lust auf Nudeln, aber auf seine Enkeltochter, will seine Enkeltochter vögeln, geht zur Stereoanlage drückt auf On und Start und Schumanns Sinfonien 1-4, die noch in der Anlage ruhten, setzen sich in Gang, während er sich zum Schrank hinbewegt, die rechte Flügeltür öffnet und seinen schwarzen Rollkoffer aus dem oberen Fach entnimmt, ihn auf die Couch legt, kurz überlegt, was er in ihn räumen soll. Zunächst ein Satz, nein besser zwei Satz Unterwäsche, drei Paar Socken, sucht sich zwei Hemden aus, nimmt einen leichten Pullover aus einem der Schrankfächer. Es klopft, ganz dezent, ganz vorsichtig, nochmal, tocktock „Opa? Bitte? Darf ich reinkommen?“ Er öffnet die Tür und Eileen schiebt sich herein, will sich setzen, stockt, als sie sieht das Gustav packt, schaut ihn verwirrt an: „Willst Du Urlaub machen? Wieso packst Du?“ Gustav schreitet zur Stereoanlage und dreht den Ton herunter, überlässt Schumann den musikalischen Hintergrund.

„Meine Liebe, ich verlasse, wie Du sicher weißt, dieses Haus. Zumindest für ein paar Tage.“

„Wieso weiß ich, dass Du das Haus verlässt. Von was redest Du?“

Gustav setzt sich neben den offenen Rollkoffer auf die Couch und betrachtet die verwirrt dreinblickende Eileen. Ihm dämmert, dass Eileen noch keine Ahnung davon hat, was der Rest der Familie schon weiß. Ihr es sagen? Er zum Boten der schlechten Nachricht werden?

„Komm setz Dich!“ klopft auf die noch freie Stelle auf der Couch, legt seinen Arm um ihre Schulter. „Du gehst doch nach München. Oder?“

„Ja, und?“

„Deine Mutter geht auch nach München.“

„Mutti? Mutti nach München?“

„Ja. Und Holger geht nach England.“

 

Eileen starrt ungläubig auf Gustav, leicht den Kopf schüttelnd, will, aber sagt nichts, Tränen kullern ihr aus den Augen, rollen über ihre Wangen: „Ich habe es geahnt…Aber…warum haben mir die Eltern nicht gesagt, wie es steht. Die haben es doch bereits entschieden?“

„Ich weiß es seit gestern. Ich hatte ein Gespräch mit Deinem Vater. Vielleicht wollte er das Wochenende noch abwarten, wenn Keethy zurück ist und beide dann mit Dir reden können.“

„Sie wollen sich trennen?“ Nur langsam scheint sich in Eileens Bewusstsein die Konsequenz abzuzeichnen, die die Entscheidung ihrer Eltern bedeutet.

„Aber…aber, warum packst Du?“

„Das Haus wird vermietet, eventuell verkauft. Das heißt, ich muss mir ein neues Zuhause suchen. Und das ist das Altersheim. Eine Lösung, die in meinem Alter durchaus üblich ist.“ Wobei er versucht, mit einem Lächeln Eileen aufzumuntern. Die aber blickt erschüttert Gustav an: „Altersheim? Die schicken Dich in ein Altersheim?“

“Nein, nein Eileen. Es ist meine Entscheidung. Ich habe mir das Seniorenzentrum, das in Travemünde liegt, selbst ausgesucht und werde für sechs Tage zur Probe dort wohnen, um zu entscheiden, ob das Haus das Richtige für mich ist. Ich habe ein eigenes Apartment und kann quasi genauso weiterleben wie bisher…Und wenn es dann nicht mehr geht, habe ich die Pflege vor Ort. Alles halb so wild…Und eine Alternative gibt es nicht.“

Tocktock, es klopft schon wieder an die Tür. Der Typ. „Eileen? Eileen? Alles in Ordnung?“

Eileen schneuzt, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, steht auf, geht zur Tür „Verpiss Dich! Wart in meinem Zimmer auf mich!“ und geht zurück zur Couch, schaut auf Gustav: „Das Haus verkaufen? Aber das ist doch mein zu Hause? Dann…habe ich doch kein zu Hause mehr. Wie stellen die sich das vor? Das geht doch nicht. Opa, das geht doch nicht.“ Nun kullern die Tränen nicht mehr, sie fließen, begleitet von heftigem Schluchzen.

„Hör mir zu. Es stand mir nicht an, Dich in Kenntnis zu setzen, was Deine Eltern da ausgeheckt haben. Ich dachte, Du wüsstest Bescheid. Ich möchte, dass dieses Gespräch unter uns bleibt und Du Deinen Eltern die Chance gibst, Dir in Ruhe ihre Absichten zu erläutern, was sie sicher in Kürze tun werden. Versprichst Du mir das? Das Du still hältst und abwartest? Vielleicht kommt ja auch alles ganz anders. Es ist noch Zeit. Mach Dein Abitur, bewirb Dich um einen Studienplatz und danach beginnt eh ein neuer Lebensabschnitt für Dich.“

„Aber ich kann nicht mehr nach Hause kommen. Ich habe dann kein zu Hause mehr. Verstehst Du nicht? Mein zu Hause ist hier. Wenn ich heimkomme, bist Du da. Ohne zu Hause wo bist Du dann?“

„Eileen, egal wie, mit dem Abschluss Deiner Schulzeit beginnt ein anderes Leben. Eine neue Umgebung, neue Menschen, neue Ziele. Du wirst Dich auf Deine Ausbildung als Schauspielerin konzentrieren, alles, was war, hinter Dir lassen. Und irgendwann wirst Du Dein eigenes zu Hause gründen, in München oder sonst wo, wo Dich das Schicksal, der Zufall oder die Liebe hinführt. Das ist das Leben. Sicher, es ist komplizierter geworden als zu meiner Zeit. Bei Euch hier habe ich gelernt, dass Familie anders geht, als ich das kannte. Du hast alle Voraussetzungen, dass aus Dir zu machen, was Du gerne willst. Aber dazu musst Du raus, musst Du weg von hier. Das hast Du mit München ja bereits für Dich festgelegt…Leben heißt Abschied nehmen, ständig musst Du Abschied nehmen, von den Kitatagen beginnend bis hinein ins hohe Alter. Du kannst nicht alles und jeden mitnehmen, den Du liebgewonnen hast, auf Deiner Lebensreise. Du musst zurücklassen, auch wenn es manchmal schmerzt. Auch mich. Von München aus wirst Du mich sicherlich nicht jedes Wochenende in Travemünde besuchen wollen oder können und wie heißt es so richtig: aus den Augen aus dem Sinn…Wenn Dir meine Worte auch im Moment nicht so viel sagen, wirst Du Dich doch, wenn es an der Zeit ist, daran erinnern. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Und jetzt gehst Du zu Deinem Knilch, der mehr Lust auf Dich hat als auf meine Nudeln.“

Eileen, noch immer im Schmollmodus, aber ohne Tränenfluss schließt ihre Augen, senkt den Kopf, die Hände gefaltet zwischen ihre Knie geklemmt, verharrt, denkt sicher nach: „Okay. Wahrscheinlich hast Du recht. Danke Opa…Ich verspreche Dir, meinen Mund zu halten,“ steht auf, schickt Gustav ein mattes Lächeln und geht aus dem Zimmer, kehrt dann aber nochmals zurück „Darf ich Dich dann morgen früh begleiten?“

Mit einem schwachen Lachen unterlegt: „Nein, Eileen, es sind nur ein paar Tage. Wenn ich dann endgültig gehe, dann gerne. Aber morgen gehst Du zur Schule und büffelst für Dein Abitur.“

Sie scheint nicht zufrieden mit Gustavs Antwort oder hat noch etwas anderes auf dem Herzen „Ist es wegen Mutti? Ich meine, dass Du so eilst.“

„Wegen Keethy? Nein…Bestimmt nicht.“ Na ja, vielleicht doch, aber das muss er Eileen ja nicht auf die Nase binden.

 

Möglich, dass er Eileen beruhigen konnte, in ihm selbst aber, ist die Unruhe zurück, dieses diffuse Unbehagen vor dem Ungewissen, schaut mit traurigem Ausdruck auf seinen Rollkoffer, ganz aus dem Konzept gekommen, was hatte er hineingetan? Was musste noch hinein? Fingert in den bereits eingelegten Gegenständen, registriert, was vorhanden ist, eine zweite Hose sollte er noch einpacken, der Schlafanzug mussten noch hinzu. Bräuchte er seine Badesachen? Ja, den Pool wollte er testen, überlegt, wie war das mit den Handtüchern? Stellt das Seniorenheim. Oder nicht? Ein Badehandtuch mitnehmen wäre trotzdem nicht falsch, so, die Toilettenartikel würde er morgen früh zusammenstellen und das war es dann. Und jetzt? Hunger hatte er keinen, noch gesättigt vom späten Mittagessen, für Bettgehen ist es noch viel zu früh. Und lesen? Kann er bei der inneren Unruhe, die in ihm rumort, lesen? Eher nein. Aber Lesestoff muss er noch einpacken. Padura kommt mit und? Zweig. Ja er hatte schon länger vor, Maria Stuart noch einmal zu lesen. Zum wievielten Mal eigentlich? Keine Ahnung. Er liest gerne Zweig, dessen ruhiger Erzählstil seinen Protagonisten eine Aura überzog, die deren rätselhafte Erscheinung weiter im Schleier des Ungewissen lässt. Joseph Fouché zum Beispiel, eine Persönlichkeit, die er als geschichtlichen Menschen nicht mochte, er aber durch Zweig Zweifel bekam, ob sein Urteil über Fouché gerecht sei, zwischen Sympathie und Antipathie schwankte, ohne bisher zu einem klaren Urteil über die Person gekommen zu sein. Und das ist die Stärke von Zweig, Charakter darzustellen, vorurteilsfrei, sie so wie sie waren darstellt und den Leser vor die Aufgabe stellt, ein Urteil über den Protagonisten zu fällen. Gustav schlurft zum Bücherregal, entnimmt den Zweig und legt ihn in den Koffer, Padura wird ihm morgen früh folgen. Ach, und die Papiere, die ihm die Frau vom Verkauf mitgegeben hatte, muss er einpacken, würde sie dort in seinem Zimmer lesen und die Fragen beantworten, die ihm zwei Fragebögen abverlangen, persönliche Daten und Daten zu seiner Krankengeschichte, was die alles wissen wollen. Warum? Wozu?

 

Von ihm unbemerkt ist Schumann zu Ende gekommen, überlegt. Ja, entnimmt die Schumann-CD und legt Mussorgsky auf, schiebt sich den Sessel zurecht und lässt seinen Blick hinaus durch den Garten schweifen. Mussorgskys Bilder einer Ausstellung im Hintergrund, schließt die Augen, wie er es immer macht, wenn er dieses Musikstück hört und versucht sich eines Museumsbesuchs zu erinnern, was meist in den Räumen des Tate Britain und dort vor die Turner Collection führt, wie jetzt, wo er beschwingt durch Mussorgsky die lichtdurchfluteten Impressionen der Gemälde William Turners Revue passieren lässt, zumindest diejenigen, deren er sich erinnert: Wellen, die sich gegen den Wind brechen; Der Sturm; Flint Castle, das Bild mit der Leuchtkraft eines Halogenscheinwerfers; In der Ferne ein gleißendes Licht. Turner war ein Virtuose des Lichtes, kannte anscheinend nur eine dominante Farbe: Gelb, der er nicht den Hauch einer Chance ließ, Nuancen ihrer Möglichkeiten verborgen zu halten. Er holte sie alle hervor, diese Nuancen, holte sie alle ans Licht. Turners Bilder sind wie in einen Nebel gehüllt, verschleiern ihren Inhalt, setzen ihn ins Unbestimmte. Auf den ersten Blick. Nimmt man sich die Zeit und schaut genauer, mit dem zweiten Blick, schälen sich, unter Turners variantenreichen Gelbtönen, Konturen frei, lassen Details sichtbar werden, mit der die Erzählung des jeweiligen Gemäldes gelesen werden kann. Fantastische, aber auch realistische Erzählungen, die zu lesen viel Zeit beansprucht, dem Betrachter Geduld, und Kenntnisse abverlangt, so dass ein Besuch im Museum nur einen Splitter, ein winziges Detail in Turners Werk ermöglicht. Eine verbale Erzählung gebraucht viele Worte, die visuelle Erzählung basiert auf kompositorischen Einzelheiten, die wiederum auf ergänzende Erzählungen verweisen. Wirklich offenbart sich Turners Werk aber nur dann, wenn der Betrachter nicht nur den zweiten Blick riskiert, sondern auch den zweiten Besuch und davor den Blick in eine Monografie vergräbt, so wie es Gustav getan hatte. Da ist das Bild The Fighting Temeraire tugged to her last Berth to the broken up von 1838, für die Zeitgenossen damals klar zu lesen, für den Heutigen, für Gustav, aber erst durch das Nachschlagen der Geschichte der Temeraire, die historisch beladen, eine gewichtige Rolle in der Schlacht von Trafalgar gespielt hatte, nationalen Ruhm erlangte, und nun, vor einem imposanten Sonnenuntergang, sich auf ihrer letzten Fahrt befand, ohne eigene Kraft, zum Verschrotten in eine Werft geschleppt wird. Turner hielt dadurch einen Moment der Geschichte fest, einen Moment der Zeitenwende: die Großsegler hatten ausgedient, die dampfende, schraubengetriebene Zukunft hatte begonnen, angedeutet an den kleinen dampfenden Schiffen, die er dezent auf dem Gemälde verteilte. Und vom nationalen Ruhm bliebt auch nicht viel, Ruhm ist vergänglich, so vergänglich wie das Leben.

Als er zu Hause in der Monografie die Geschichte der Temeraire las, wussten er und Marie-Luise bereits um Marie-Luises Gesundheitszustand, dem nichts entgegenzusetzen war, als Geduld, Pflege und Zusprache. Turners Gemälde ist seitdem in Gustavs Kopf als Symbol für die Vergänglichkeit alles Existenten verankert.

 

Anstatt sich die Gemälde vor Augen zu projizieren, sollte er sie sich noch einmal direkt vor Ort ansehen. Ein Gedanke, der ihm wie Turners Lichtblitze in den Kopf schießt. Noch einmal nach London fliegen? Warum eigentlich nicht? Nicht abwarten, so hatte er vorhin gedacht, nicht mehr abwarten wollte er, London, jawohl, er wird nach London fliegen. Dort ist er öfters gewesen, noch mit Marie-Luise, kennt sich aus, weiß, wo er hin will. Allerdings ist er noch nie allein in London gewesen. Wie würde sich das anfühlen? Dort zu sein, wo er zuvor in Zweisamkeit gewandelt ist? Na ja, er wird es sehen, es darauf ankommen lassen, die Erfahrung des Alleinseins an einem erinnerungsträchtigen Ort machen. Obwohl, wenn er in Lübeck allein ins Theater geht, ist das anders? Nein, das lässt sich nicht vergleichen. Der Gedanke an London belebt, öffnet die Augen, lässt die Gemälde Turners erlöschen, wäre am liebsten losgezogen, ein Reisebüro aufzusuchen, zu buchen, zu fliegen, aber, es war schon zu spät, die Reisebüros hatten bereits geschlossen und dann ist da ja noch Travemünde, das seiner harrt, danach sehe ich weiter, denkt Gustav, sucht im Bücherregal nach dem Reiseführer London, schnappt ihn sich und beginnt, in seinem Sessel sitzend, sich den Appetit auf London anzuschmökern, Mussorgsky langsam dabei ausklingend.

Mittwoch, der 20.

 

Eine erneut unruhig verbrachte Nacht liegt hinter ihm, nicht nur weil er zweimal zur Toilette musste, die Blase, die schwächelt, ihn immer öfter ärgert, nein, auch weil die Unbestimmtheit seines Einzugs in das Seniorenheim und das Prickeln des bevorstehenden London-Besuches seine Gedanken beherrscht, ihm Bilder durch den Kopf jagen, von den apathisch herumsitzenden Alten, Wege, die Gustav mit Anna-Luise in London gegangen war, Bilder aus Museen, die roten Doppeldeckerbusse, der schrille Verkehr Londons, grimmig blickende Alte, Menschen, unbekannte Menschen, die hektisch an ihm vorüberzogen, ihn anrempelten und alles in einer bizarren Abfolge. Es brodelt in ihm, unmöglich sich auf ein Einschlafen zu konzentrieren. Nur langsam beruhigt er sich, aber den Tiefschlaf will er nicht erreichen. Mit den erwachten, wild durch den Garten wirbelnden, zwitschernden Vögeln da draußen, ist er aufgestanden. Gesunder Schlaf geht anders, andererseits ist er es gewohnt, früh aufzustehen und auch mit wenig Schlaf auszukommen. Mit der Dusche würde er sich die Müdigkeit vom Körper spülen, sich frisch in den Morgen stürzen, einem Morgen, der seine kühle Frische durch das gekläffte Fenster weht.

Langsam, ein Bein nach dem anderen schält er sich aus dem Bett, setzt sich auf und wartet bis der Morgenschwindel sich aus seinem Kopf verzieht, steht auf, Gang zur Toilette, Wasser lassen, unter die Dusche, abtrocknen, rasieren, eincremen, die gewohnten Verrichtungen ausführen, anziehen, frische Unterwäsche, die dunkelrote Baumwollhose, das passende Hemd dazu, rot, grün, blaue, kleine Rechtecke und die mit grünen und weißen Rauten versehenen Strümpfe. Er hört ein fernes „Tschüss Opa“, die Haustür einrasten, Eileen auf dem Weg in die Schule, ohne Frühstück, wie Gustav sich denkt, dass er aber nochmals ausgiebig hier zu sich nehmen wird. Frühstücksbuffet ist nicht seine Sache, nicht wegen dem dargebotenen Angebot, sondern wegen der Menschen, die den Frühstücksraum bevölkern, deren Geschnatter, Geschmatze, Geschlürfe, gut, er schlürft ja selbst, aber fremdes Schlürfen war nichts für seine Ohren, na ja, und dann ist da noch das Elend, das Elend um ihn herum, dass ihm Unbehagen bereitet. Er mittendrin. Elend ist er immer aus dem Weg gegangen, hat es ignoriert, weggeschaut, wenn es ihm begegnet ist, aber jetzt, jetzt sitzt er mittendrin, kann nicht mehr einfach wegsehen, hat Angst, dass ihn das Elend der anderen hinunterzieht, ihm den Lebensnerv zieht. Ja, er weiß, Elend ist nicht ansteckend, aber die Aura, die Atmosphäre fürchtet er. Nein, kein Frühstück im Frühstücksraum und Mittagessen am besten auch nicht, das muss er anders regeln.

 

Er schlüpft in seine Birkenstock und tippelt in die Küche, entnimmt Brot aus dem Gefrierschrank, legt es zum Antauen in die Mikrowelle, stellt Teewasser auf und bereitet alles für sein Frühstück vor. Ob er den Herrn, wie hieß er noch? über seine Taxizentrale anrufen sollte? Hm. Nein. Er hat heute Zeit, alle Zeit der Welt, konnte trödeln, gemütlich zur Bushaltestelle gehen und wenn er den Bus verpassen würde, halt auf den nächsten Bus warten, es genügt, wenn er vor dem Mittagessen im Seniorenheim aufschlägt, gießt seinen Tee auf, schmiert sich zwei Brote, belegt eines mit Schinken, das andere wird er später mit Erdbeermarmelade bestreichen.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Bernd Engroff
Lektorat: ohne
Korrektorat: Bernd Engroff
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2019
ISBN: 978-3-7554-4346-9

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