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Wer sagt, dass das Ende einfach sei?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© Bernd Engroff, Eutin, November 2018


 

 

 

I

Wo ein Anfang ist folgt zwangsläufig auch ein Ende

 

 

Die Morgendämmerung zwängt sich durch den kleinen Spalt zwischen den beiden Übergardinen in sein Schlafzimmer, er nimmt sie wahr, aber ist noch viel zu müde für eine Regung. Wie fast jede Nacht musste er zweimal aufstehen, seine Blase entleeren, deren Druck ihn aus dem Schlaf riss, was Spuren hinterlässt, dicke Ringe hängen unter seinen Augen, aber passend, wie er findet, zur Umhaarung seines Antlitzes. Das Antlitz eines Nichtsesshaften, eines Penners, eines Außenseiters, von einem, der sich aufgegeben hat, der sich den Regeln des Gewohnten nicht mehr verpflichtet fühlt.

Er dreht den Kopf von der sich erhellenden Fensterseite zur Innenseite des Zimmers, hält die Augen weiter geschlossen, will noch etwas dösen, ist aber gedanklich schon dabei, den Ausstieg aus seinem Bett und den Einstieg in den Tag vorzubereiten.

Ein tiefer Seufzer, ein leiser Fluch, noch viel zu früh, aber es soll ein besonderer Tag werden, eine Erwartung, die seinen Herzschlag erhöht, eine innere Unruhe in ihm auslöst, die das weitere Dösen unmöglich macht. Heute wird er seinem Leben ein Ende setzen, etwas Endgültiges vollbringen, etwas Unumkehrbares, konsequent zu Ende führen, was vor fast 84 Jahren begonnen hat.

 

Der Gedanke daran, irgendwie erregend und doch mittlerweile fast normal, so als würde er denken, so jetzt musst du aufstehen, was zu tun, er sich entschließt. Noch ein kräftiger Seufzer, dann schlägt er mit der linken Hand die Decke zurück, ein unangenehmer Geruch aus Schweiß und Ammoniak dampft ihm entgegen, untermischt von einem fauligen Mundgeruch, Spuren der Winde der Nacht, die er hemmungslos ziehen lässt, da er auf niemand mehr Rücksicht nehmen muss. Kein Zusammenpressen des Afters mehr, das Abwarten, auf den Moment, bis er ungehört ablassen, die Winde frei wehen lassen kann.

Aus seiner Rückenlage schiebt er das linke Bein langsam aus dem Bett, sein Fuß sucht nach Stand, ein paar Knochen knacken, irgendwo im Oberschenkel, in seinem Kreuz zwickt ein diffuser Schmerz, das Übliche halt, stemmt sich auf den Boden, stützt sich mit dem rechten Ellenbogen ab und drückt seinen Oberkörper langsam nach oben, erneuter Seufzer, tief ausatmen. Er sitzt. Jetzt noch eine Körperdrehung, das rechte Bein nachziehen, auf den Boden stellen. Jetzt sitzt er so wie sein soll. Er hält die Haltung bei, Kopf gesenkt, dem Schwindel wegen, der sich des Morgens seines Kopfes bemannt, wartet bis die Lebenssäfte seinen Kopf durchfluten und den Schwindel vertreiben, wischt mit den Händen Reste des Schlafes aus den Augen, fischt mit dem rechten Fuß nach seiner Baumwollhose, die achtlos zusammengeknüllt auf dem Boden vor dem Bett liegt. Noch gar nicht so lange her, da hing er vor dem Bett gehen seine Kleidung ordentlich über einen Stuhl, ist nicht in Unterwäsche, noch dazu tagelang getragene, und Socken in sein Bett gestiegen, jetzt aber schon. Was soll’s, wenn’s eh zu Ende geht, worauf dann also noch Rücksicht nehmen?

 

Er zieht die Hose mit dem Fuß bei, bückt sich vor, hebt sie ächzend auf und beginnt das rechte Bein in das Hosenbein einzuführen, dann das linke Bein, hebt den Hintern leicht an und schiebt sich die Hose nach oben. Kurzes Verschnaufen, ein schwaches Stöhnen. Vor ein paar Tagen zog er die Hose noch in aufrechter Stellung an, auf einem Bein stehend, das Gleichgewicht problemlos haltend, das andere Bein in das Hosenbein einfädelnd, hochziehen, das Standbein wechselnd und gleiche Prozedur mit dem linken Bein vollziehend, was aber misslang, er das Gleichgewicht verlor, ins Schwanken geriet und umkippte, eine Hand am Hosenbund, die andere am Ende des Hosenbeines, beide untätig ob des überraschenden Fallens, vergessend sich vor dem Aufprall zu schützen, den Sturz abzufedern, knallte er auf die Fließen im Bad, schlug sich den Kopf auf, kleine Platzwunde, gehörige Beule nachziehend, prellte sich die Schulter, die dann in den Farben eines Regenbogens anlief, ohne allerdings dessen strahlende Leuchtkraft zu haben, eher ein matter Abglanz, der da auf seiner Haut lag.

Einer Haut, die von rosiger Weichheit langsam, aber sicher, in welke, weiche Lederhaftigkeit übergeht, faltig, wie ein leichter Wellengang auf dem See. Er beobachtet diesen Übergang seit geraumer Zeit, roch daran, meinte Alter zu riechen, wieder etwas Unumkehrbares, Endgültiges: es leugnen zwecklos, er wurde alt, nein, er ist alt und das schon seit Längerem. Die folgenden Tage nahm er auf einem Stuhl Platz und zog sich im Sitzen die Hose an, unternahm nach ein paar Tagen einen erneuten Versuch, die alte Anziehtechnik wiederzubeleben, scheiterte wieder, dieses Mal sich abfangend, trotzdem den Armknöchel verstauchend, musste zum Arzt gehen, der ihm eine Handgelenkstütze verordnete und seitdem zog er sich nur sitzend die Hosen an.

Standhaftigkeit, das Wort tauchte plötzlich in seinem Kopf auf, ja, er hat seine Standhaftigkeit verloren, nicht nur beim Anziehen der Hose. Die Frage, wann man alt ist, hatte er immer beantwortet mit: „So lange man jung im Kopf ist, ist man nicht alt.“ Er hält sich für jung im Kopf, ist offen für Neues, zieht sich hell, freundlich an, glaubt sogar modisch zu sein, nicht wie andere Alten mit ihren beigen, braunen, eintönigen Altersklamotten, im Supermarkt, C & A, Karstadt oder sonst wo gekauft, wahrscheinlich zu Rabattaktionen, die die Ehefrau in der Reklamebeilage der Tageszeitung entdeckt hatte.

Er hört Rock-Musik, mit der er aufgewachsen ist, klassische Musik, die er zu schätzen gelernt hatte, Musik, je nach Stimmung. Er kennt keine Vorurteile, keinen Altersstarrsinn, geht aufrecht und viel, ist politisch und sozial interessiert, hält seine Meinung konstant bei, während er bei anderen dieses zunehmende Konservativwerden feststellte. Immer wieder stellt er fest, dass andere in seinem Alter, anders denken, handeln, sich anders bewegen, einfach älter wirken als er selbst. Nun aber, mit seinem Sturz, hat ihm sein Körper eine eindeutige Botschaft gesendet, alt bist du, wenn dein Körper deinem Willen nicht mehr folgen will.

Was wird ihm als nächstes Geschehen?

 

Helens Krankheit hatte ihn schwermütig gemacht, seine Heiterkeit, seine Lebenslust vertrieben. Er blickte auf die Welt, seine Welt, immer öfter mit Resignation, litt am Privaten, litt am Weltgeschehen. Und der Gedanke, der seit langem, latent vorhandene Gedanke, an ein selbstgewolltes vorzeitiges Ableben drängte immer mächtiger in ihm empor. Er ist überzeugt, dass sein Leben seinen Sinn verloren hat, die Orientierung ist ihm abhandengekommen, tagtäglich lebt er den gleichen Ablauf, die gleiche Routine, ohne Aussicht auf eine Abweichung dieser Geradlinigkeit, die auf das Ende zulief. Da gibt es keine Abwechslungen mehr, keine Impulse, nur dieses stumme Blicken auf ein unabänderbares Dahinsiechen, dem er seit über drei Jahren beiwohnt, dem er sich unterworfen hat, ohne sich dagegen zu wehren, sein Leben kam zum Stehen, auch wenn es weiterlief.

Er ist müde, ist es müde, sich zu mühen, ohne die Aussicht auf die geringste Änderung. Er ist es müde zu warten, zu warten auf sein Ende, das jeden Tag eintreffen kann, bisher aber nicht tat, warten, kann nur warten und will es nicht mehr. Er ist es müde, mit Bildern und Worten einer Welt konfrontiert zu werden, die von verantwortungslosen, selbstsüchtigen, engstirnigen, nur an sich selbst denkenden Führern beherrscht wird, den kommenden Generationen nie dagewesene Schäden hinterlassend, jeden Frevel zulassend, mit der Begründung, durch arbeitsplatzschaffendes Wachstum die Gegenwart zu sichern, von Zukunft ist selten die Rede.

Diese Typen streben nicht nach einer besseren Zukunft, von der sie anscheinend keine Vorstellung haben, außer ihrer persönlichen, also brauchen auch die anderen, die Jungen, keine Zukunft. All die verstörenden Nachrichten, von den Minderheiten, die lauthals schreienden ewig Gestrigen, die die Themen im Land bestimmten, der Untätigkeit der Regierenden und des ewigen Handelns mit dem Schielen auf irgendeine kommende Wahl, nie weiter denkend als über eine Wahlperiode hinaus.

Er ist es so leid, Bilder von im Meer Ertrunkenen in sich aufnehmen zu müssen. Es hat ihn aufgewühlt, die Leiche eines kleinen Jungen am Strand der türkischen Küste zu sehen, dessen roter Pullover sich in sein Hirn eingebrannt hatte. Der Kleine ertrunken, für die Hoffnung auf ein vielleicht besseres Leben, ohne den täglichen Tod an seiner Seite, begleitet vom Mitleid der Fern sehenden Menschen, das nur kurz währte, ihr Mitgefühl schnell wieder von anderen Ereignissen überspült wurde, ertrunken in einem Meer auf dem die Luxusschiffe ihre stinkenden Kreise ziehen, gefüllt mit Menschen, deren Wohlstand sich in den Geweben ihres Körpers ablagerte.

 

Er ist es so leid, von vergewaltigten Frauen in Lagern, vom Bomben auf wehrlose Städte, dem Morden unbeteiligter Menschen mit fadenscheinigen Argumenten in den Konfliktgebieten dieser Welt zu hören und die Gleichgültigkeit zu erleben, mit der die mit sich selbst beschäftigte Mehrheit seiner Mitmenschen dies hinnimmt. Er ist es leid, immer nur untätiger Zuschauer zu sein, ob er es will oder nicht, es gibt kein sich Entziehen, nur Resignation vor der Ohnmacht, die er empfindet. Und die fühlt er nun schon lange, zu lange.

Der Gedanke an einen selbstbestimmten Freitod beschäftigte ihn schon lange, immer mal wieder, sporadisch, wenn ihn die Schwermut überkam, spielte er das Wie durch, ohne sich für das Wann zu entscheiden. Der Gedanke wurde konkreter, immer konkreter, bis er sich entschied, ihn in die Tat umzusetzen, so lange er es noch selbst konnte.

Vielleicht hätte Edmund mit dem Gedanken des Freitodes weiter nur gespielt, nicht konkret werden lassen, aber Helens Krankheit veranschaulichte ihm drastisch, was mit einem passiert, wenn einem diese heimtückische Krankheit erfasst, in Besitz nimmt, nicht mehr loslässt. Er sah, wie sich Helen immer weiter von ihm entfernte, bis von ihr nichts mehr da war, außer der Hülle, in der sie steckt.

Nein, so wie sie will er keinesfalls enden, lebendig tot sein. Nein, wenn, dann zum richtigen Zeitpunkt die richtige Entscheidung treffen, was er getan, sein Vorhaben durchdacht, geplant und terminiert hat. Auf eben den heutigen Tag.

 

Seine größte Angst war immer, den richtigen Zeitpunkt des Handelns zu verpassen und in einen Zustand zu verfallen, in dem sich Helen jetzt befand, die Angst, nicht mehr fähig zu sein, selbstbestimmt das eigene Ende vorzunehmen oder die Angst davor, deckenanstarrend niederliegend, an piepsenden, tropfenden, tickenden Gerätschaften hängend, lebenserhaltende Geräte, gegen die er sich zwar durch eine Patientenverfügung wehren konnte, aber gegen Helens Zustand war auch eine Patientenverfügung machtlos.

Er erhebt sich vom Bett, hinterlässt das Schlafzimmer im zur Gewohnheit gewordenen Zustand der Verwüstung, schlürft ins Badezimmer, setzt sich auf die Toilette und lässt sein Wasser laufen, das sich mühsam seinen Weg durch die Harnröhre bahnt, pinkelt sich aus, wartet noch, da erfahrungsgemäß immer etwas unkontrolliert nachkommt, oft in die Unterhose geht, den vorhandenen Ammoniakgeruch neu auffrischend. Er weiß, dass er unangenehm riecht.

Früher, (immer dieses verdammte Früher, konnte er denn nur noch rückwärts denken? Hatte er das Denken nach vorne verlernt? Ist das so? Im Alter?) hätte er sich vor sich selbst geekelt, aber jetzt? Der Impuls, sich zu reinigen, frische Wäsche anzuziehen, die hygienischen Standards beizubehalten, drang anfangs immer wieder durch, doch nach und nach wich er einer Faszination seiner Verwahrlosung, zu der er sich nicht für fähig gehalten hat und die er sich täglich im Spiegel anschaut, mit seiner Nase einsaugt.

Er ist noch fähig, sich zu verändern. Ein Gedanke, der ihm ein Lächeln entlockt. Nur, es ist eine ziellose Veränderung, eine, die zu nichts führt, also passend. Mit der rechten Hand fährt er durch seinen Bart, nun fünfzehn Tage alt, eigentlich mag er sich nicht bärtig, ein Bart ist ein Versteck, ein Gebüsch, hinter dem sich jemand versteckt, um nicht gesehen zu werden. Der Aufwand, die Stoppeln zu entfernen ist ihm lästig geworden, also lässt er es jetzt sprießen. Den, den er im Spiegel sieht, ist ihm fremd, fremd geworden. Mit der Hand streicht er durch seine verbliebenen wenigen Haare, was genügt, sie in die richtige Lage zu bringen, jetzt noch eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht und die Morgentoilette ist erledigt. Das Hemd, das er die letzten Tage anhatte, liegt noch auf dem Schlafzimmerboden, bevor er es sich holt geht er rüber ins Wohnzimmer und nimmt das Tuch von Filous Käfig. Filou ist ein Sonnensittich, der seinem Namen alle Ehre macht, mit kräftigem gelb, rotem und orangenem Gefieder protzt. „Gleich frühstücken wir mein Freund. Musst noch einen Moment ausharren.“

 

Er prüft den Stand des Wassers und des Futters, die Obststückchen muss er erneuern, etwas Kolbenhirse noch hinzufügen, Wasser und Futter muss drei Tage ausreichen, solange würde es sicher dauern, bis Marga wie gewohnt zum Aufräumen kommt.

Den Vogel hat er Marga vermacht, die davon noch nichts weiß, aber sie liebt den Vogel und spricht immer mit ihm, als wären sie alte Freunde. Da Filou es gewohnt ist, frei in der Stube herumzufliegen, setzt er sich gerne auf Margas Schulter und lässt sich von ihr im Nacken graulen. Allerdings ist nicht immer eitel Sonnenschein zwischen den beiden. Da sich Filou frei in der Wohnung bewegen darf, hat er bestimmte Plätze, die er anfliegt, dort verweilt, seine lauten, schrillen Schreie ausstößt oder an dem Möbelstück knappert, auf dem er sich gerade befindet und, natürlich, seine inneren Spuren hinterlässt. Marga müde, ihm ständig hinterher zu wischen, legte die Plätze, auf denen er gerne sitzt, mit einem Stück Küchenrolle aus, das Filou interessant fand, da er das Papier tatkräftig, unter herzhaftem Gekreische, zerkleinern konnte und es ausschauen ließ, als habe es in der Wohnung geschneit, was Marga genauso wenig gefiel, also gab sie es auf, seine Hinterlassenschaft in geordnete Bahnen zu bekommen, schimpfte stattdessen mit dem Vogel, im Glauben er würde es sich zu Herzen nehmen.

Helen mochte den Vogel nicht, schaute Edmund verständnislos an, als er mit dem Vogel nach Hause kam: „Der natürliche Lebensraum des Vogels ist mitnichten in unserem Wohnzimmer, mitnichten in einem Käfig, in dem er sich kaum um die eigene Achse drehen kann!“

Womit sie natürlich recht hatte, er einen größeren Käfig organisierte und Filou Ausflug haben durfte, wenn Helen nicht im Haus war.

 

Er hat überlegt, den Vogel frei zu lassen, ihm die Freiheit zu schenken, aber die hiesige Freiheit wäre sein sicherer Tod gewesen, also zu Marga, mit der er genauso gut auskommen wird wie mit ihm. Filou ist in den letzten Wochen sein Gesprächspartner gewesen, gut etwas einseitig, aber besser als die Wand, mit der er gelegentlich auch spricht, teilt die Einsamkeit und die Stille mit ihm, die über die Wohnung gekommen ist, seit Helen nicht mehr in ihr weilt. Das ist neu für ihn, Einsamkeit hatte er zuvor nicht gekannt. Mit Helen hatte er viel unternommen, Ausflüge, Urlaube, Spaziergänge in der näheren Umgebung, sie waren Essen gegangen, ins Theater, ins Kino, hatten Konzerte besucht, hatten ihre Zweisamkeit intensiv gelebt.

Ihm fehlen die sanften, gehauchten Berührungen, der Wechsel der Worte und selbst nach dem stillen Beisammensein sehnt er sich. Vertraut sein in den Abendstunden, wenn sie in ihren Ohrensesseln vor dem Kamin saßen und dem eifrigen Knistern des frisch aufgelegten Holzes lauschten, neben sich ein Glas schweren beerenaromatischen Rotwein stehend. Spießig? Ja das war spießig, trautes Heim, Glück zu Zweien. Warum nicht? Was ist falsch daran?

Diese Spießigkeit hatte ihm Harald wiederholt vorgeworfen. In ihrem letzten Telefonat, als Edmund seinem Sohn mitteilen wollte, dass er am Ende seiner Kräfte sei und seine Mutter in ein Pflegeheim geben würde, erging Harald in einen wütenden Zornesausbruch, wurde Edmund von seinem Sohn verwünscht, nannte ihn einen konsequenzlosen Allesversteher, einen folgenfreien Gutmenschen, einen selbstsüchtigen Dulder, der hinter der Fassade seiner Libertät ein Spießer sei, nur an sich denke und aus der Angst Falsches zu tun alles Falsch getan hätte, seine Mutter in einen unhaltbaren Zustand gebracht und sie von einer sachgerechten Pflege zurückgehalten habe.

Für den Zustand, in dem sich Helen befand, machte er seinen Vater verantwortlich, was er nun tun wolle, viel zu spät komme.

 

Die Vorwürfe trafen Edmund hart, er verstand die Wut nicht, die ihm Harald da entgegen schleuderte. Gut, er weiß, er ist kein einfach zu nehmender Mensch, aber diese Wut, diese Vorwürfe? Was hat er seinem Sohn getan?

Er fiel in eine Betrübtheit, die tagelang anhielt und, wenn er jetzt zurückdenkt, der Anfang seines sich Gehenlassens ist. Er grübelt über seine Motive nach, Helen nicht früher in pflegende Hände gegeben zu haben, kommt immer wieder zu dem Schluss, dass er es nur für sie getan hatte.

„Folgenfreier Gutmensch“, hatte Harald vielleicht doch recht? Er hatte fest geglaubt, das Richtige zu tun, Helen in ihrer gewohnten Umgebung zu belassen. War es doch Eigensinn? Sturheit? Dummheit? Angst vor der Einsamkeit? Ihre Zweisamkeit war genau das Gift, dass ihr nicht wirklich weiterhalf. Die Ansprache, die Abwechslung, die Anregungen, die sie gerade in der Anfangsphase der Erkrankung gebraucht hätte, konnte er ihr nicht geben, wohl aber eine professionelle Pflege, eine angepasste Therapie. Jetzt, im Nachhinein, macht er sich stumme Vorwürfe, falsch, aus gutem Glauben, gehandelt zu haben. Aber jetzt, jetzt ist es zu spät.

Ja, Helen und er waren so fixiert aufeinander, dass sie die Einsamkeit um sich herum nicht gefühlt hatten. Helens Krankheit kam und spannte ihn ein, er sorgte sich, kümmerte sich, machte, bis er einsehen musste, dass es so nicht mehr ging, er an seine physische und psychische Grenze gestoßen ist. Dem Übergang mit Marga folgte schließlich die schwere Entscheidung, Helen in ein Pflegeheim zu geben. All das hatte Einsamkeit von ihm ferngehalten, viel zu beschäftigt, zu besorgt, um sie zu fühlen, nun aber, wenn er abends, von Helen kommend, allein im Haus, allein in der Wohnung sitzt, durchflutet ihn dieses Gefühl, diese Leere, diese Einsamkeit.

 

Sitzt er in seinem Ohrensessel und versucht in einem Buch zu lesen, geht sein Blick immer auf die leere Stelle, an der zuvor Helens Sessel stand, der jetzt oben im Pflegeheim das ihr letzte verbliebene Möbelstück ist, Tränen überkommen ihn dann bei der Erinnerung an unwiederbringliche Tage gemeinsamem nebeneinander Weilens, unmöglich zu lesen, der Text zerfließt in Erinnerungen, verwischt sich unter den Tränen. Irgendwann rückte er seinen Sessel mittig zum Kamin, so als hätten da nie zwei Sessel nebeneinandergestanden, aber die Rückbesinnung war stärker, ließ ihn jedes Mal die Leere neben sich spüren.

Er gab es auf, im Sessel zu lesen. War es die Angst vor der Stille im Haus? Dem Allein sein? Das er Helen so lange bei sich zu Hause behalten hatte? Hatte er doch mehr an sich als an Helens Wohlergehen gedacht? Immer und immer wieder gehen ihm diese Gedanken durch den Kopf, bemächtigen sich seiner, lähmen ihn, quälen ihn.

Er kann sich den immer wiederkehrenden Gedanken nicht erwehren, selbst wenn er flüchtet, nach draußen geht, spazieren geht, die Gedanken gehen mit ihm, stürzen über ihn, sobald er einem Stück Erinnerung begegnet und die gibt es auf fast jedem Schritt. In seiner Verlassenheit ist er den Gedanken, wenn sie angeflogen kommen, ausgesetzt. Kurz vor dem Sterben soll das ganze Leben in Sekunden, wie in einem Kurzfilm, am Sterbenden vorbeirauschen, anscheinend ist das Leben am Ende wirklich nur so kurz gewesen. Ihm bleibt heute der ganze Tag Zeit, ein Privileg, sich des Gewesenen zu erinnern, da er genau weiß, wann es enden wird. Zeit, in der sein Gedächtnis wie eine Quelle Erinnerungen hochsprudeln lassen wird. Beginnen aber wird der Tag wie jeder Tag, mit dem Frühstück, für das er jetzt sorgen muss.

 

Zu Helens Verlust kam der Verlust all derer, die ihn einen großen Teil seines Lebens begleitet hatten, der eine verschied plötzlich, einfach so, ohne ein Auf Wiedersehen, der andere langsam, schmerzhaft, der Tod als Erlösung. Irgendwann war niemand mehr, mit dem er hätte reden, etwas unternehmen können, nur noch Filou, den er bei dem Gedanken an die Verblichenen betrachtet, der Arme, dem er die Rolle von all diesen Abwesenden aufgebürdet hatte. Sein Kauf, ein Strohhalm gegen die vorausgeahnte Einsamkeit? Die Leute in seinem Wohnumfeld, die er kennt, sind ganz in Ordnung, grüßen freundlich, halten ab und zu einen Schwatz mit ihm, fragen nach seinem Befinden, nach dem seiner Frau, bieten mitunter an, ihm zur Hand zu gehen, wenn nötig, wenn sie sahen, wie er vor seinem Vorgarten stand und sich das wachsende Unkraut ansah.

Er ist sich aber sicher, hätte er gesagt, ja gerne, und dem, der das Angebot gemacht hatte, eine Harke in die Hand gedrückt, dass er eine Ausrede auf später bekommen hätte. Na ja, wie die Leute halt so sind. Selbst die Müllabfuhrleute läuteten ab und an bei ihm, im Glauben, er hätte vergessen, die Tonnen vor die Tür zu schieben. Vergessen?

Nein, er hat einfach keinen Müll mehr, dass, was bei ihm anfällt, braucht Wochen, um seine Tonnen zu füllen. Zeigt sich daran, dass er zu alt ist für dieses Leben? Er freut sich aber immer, wenn ihn die Müllleute nicht vergessen haben. Na ja, man ist hier zwar in der Stadt, einer Kleinstadt, aber auch auf dem Land.

 

Er streckt Filou den Zeigerfinger hin, den der Vogel besteigt, noch verschlafen, nicht munter genug, vom Finger aus, seine Runden im Wohnzimmer zu drehen. Er flüstert ihm zu „Ich gehe jetzt unsere Brötchen holen. Dann gibt es Frühstück.“ Sanft bläst er ins Gefieder des Vogels, so dass dessen Farben sich zu einem bunten Federnspiel kräuseln, was Filou aber nicht gefällt und er dies, in lauten Tönen zu verstehen gibt. Er setzt ihn auf der Vitrine ab, geht rüber zum Radio und stellt es an, Musik für Filou und ihn, die den ganzen Tag gedämpft läuft, die Stille der Wohnung belebend. Er geht rüber ins Schlafzimmer, fischt sein Hemd vom Boden auf, das blau-weiß gestreifte, das er schon wie lange anhat? Zwei Wochen? Drei Wochen? Der dunkle Kragen, der muffige Geruch, der vom Hemd ausgeht, und die strengen Blicke Margas, wenn sie ihn ansah, sagen ihm, dass es schon mehrere Wochen sein müssen. Was würde Helen sagen, wenn sie ihn in seinem derzeitigen Zustand sehen könnte, riechen könnte?

Entsetzt, sie wäre entsetzt, aber wenn er bei ihr ist, ist von Entsetzen keine Spur, keine Nase, die sie rümpft, keine Wahrnehmung seiner Ausdünstungen, keine Notiz nehmend von seiner Existenz. Das Entsetzt sein ist bei ihm. Er zieht das Hemd erneut über. Wozu zum Ende hin noch einmal das Hemd wechseln?

In der Garderobe nimmt er die leichte Jacke vom Haken, schlüpft hinein und verläßt das Haus, um der Bäckerei seinen täglichen Besuch abzustatten. Ein leichter noch kühler Wind frischt auf, der Himmel mit harmlosen Wölkchen durchsetzt, die Sonne strahlt zwischen den Bäumen, könnte ein guter Tag werden, ein guter Tag zum Sterben. Muss nachdenken, den Satz hat er schon einmal gehört, oder gelesen? Egal, es ist wie es ist.

Die Straße noch wenig belebt, die üblichen Gassigeher und im Auto fahrende Eltern, die ihren Kindern den Weg zur Schule vereinfachten, sind unterwegs, mitunter gibt ein Auto ein Tuten von sich, ob ihm das gilt und wer es schickt, keine Ahnung, zumal er zum Bäcker ohne seine Brille geht, den Weg kann er blind gehen, aber das ist er noch nicht. Nicht im, wie Helen immer sagte, Sturmschritt, Sturmschritt? Na ja, flotten Ganges lässt er gelten, nicht gerade, aufrecht, sondern die Schulter eingeknickt, einen leichten Buckel machend, hatte er sich so angewöhnt, warum auch immer, vielleicht weil man im Alter so geht? Vielleicht weil es Teil des Sichhängenlassens ist, in das er sich langsam hat gleiten lassen? So in Gedanken, geht er der Bäckerei entgegen.

 

Der Laden des Bäckers ist gut fünfhundert Meter von seinem Haus entfernt, einer dieser Ketten, beliefert aus der ketteneigenen Brotfabrik, wechselnde Verkäuferinnen, wechselnde Freundlichkeit, wechselnde Qualität, aber: eine Alternative gibt es nicht, denn auch die anderen Bäcker in der Stadt sind nur ein Abklatsch alter Backkunst mit ihren fabrikgefertigten Produkten. In der Bäckerei herrscht der übliche Rummel des Morgens. Er reiht sich ein. Kaum, dass er steht, weitere Kunden sich hinter ihm platzieren, spürt er dieses Nase hochziehen, Witterung aufnehmendes Suchen nach dem fremden Geruch, den der hinter ihm stehende wahrnimmt, ein- und ihm zuordnet. Er muss abscheulich riechen. Aber das ist ihm egal, schiebt sich langsam zur Theke vor.

Hinter der Theke die dicke, nein, die fette Frau Rehbein, der Name ein Hohn dem zarten Tier gegenüber, eine Erscheinung, die er absolut nicht ausstehen kann, geschwätzig, tranig, mit ihren breiten Flossen die Ware betatschend, zwar mit dünnen Plastikhandschuhen, aber er vermutet, dass ihre Körpersäfte diese längst durchtränkt hatten. In der Zeit in der Leni, die zweite Verkäuferin, drei Kunden versorgte, war Frau Rehbein immer noch mit dem ersten Kunden beschäftigt, der, nein die, ob sie wollte oder nicht, von den Schmerzen in den Beinen der Frau Rehbein erfuhr (fünfzig Kilo abnehmen und die Schmerzen sind weg, denkt er, sagt es aber nicht). Was hatte er sich nicht schon alles, geduldig wie er ist, von dieser Frau anhören müssen, von dieser Frau, die vormittags hier ihre anscheinend kümmerliche Rente aufbesserte, und dem einen oder anderen Kunden auf den Keks ging. Er hat sich, wie andere erfahrene Kunden, in Lenis Reihe angestellt, aber die wechselt überraschend die Seite, um einem Kunden die verschiedenen Variationen des Ciabatta zu zeigen und da steht er vor der Rehbein, die ohne zu zögern zwei Kernige eintütet.

„Ich hätte gerne noch ein Croissant dazu.“

„Ein Croissant?“, trällert sie, die Augenbrauen nach oben ziehend „Der Herr Wismut schlägt heut über die Stränge. Was? Übernehmen Sie sich da nicht?“ und lächelt dabei, was ihrem Gesicht noch mehr Fettigkeit verleiht.

Er schaut die Rehbein verdutzt an. Verhöhnt die ihn? Macht die sich lustig über ihn? Diese fette Madrone?

„Behalte Deinen Scheiß, Du dumme Kuh,“ kommt aus seinem Mund, dreht sich um und verlässt den Laden, grinsende Kunden und zwei entgeistert dreinblickende Verkäuferinnen hinter sich lassend.

Zurück auf der Straße überläuft ihn ein Schauer, was zum Teufel ist das jetzt gewesen? Was hat ihn da geritten? Hinter sich hört er die Stimme Lenis „Herr Wismut, Ihre Brötchen!“

Er dreht ein wenig seinen Kopf, so dass er sie gerade noch sieht, wirft den Arm wegwerfend nach oben und geht davon: Die werden mich nie wiedersehen! Was eine Tatsache ist, kein einfach so hingeschmissener Satz. Er muss lächeln, so ein Ausbruch, so eine Emotionalität hat er seit Jahren nicht mehr erlebt, der ruhige, sanftmütige Herr Wismut ist ausgerastet. Aus seinem Lächeln wird ein Lachen, schüttelt den Kopf über sich, den Wunderlichen. Den wunderlichen Alten. Und jetzt? Ausgerechnet heute Filou die kleine Freude verderben, heute, zum letzten Mal?

Innehalten, nachdenken, gut, geht er halt zum Stadtbäcker, der hat auch Kernige, etwas anders obenauf bestückt, Filou wird es nicht merken. Gut tausend Meter Fußmarsch oder den Bus nehmen? Bis er die nächste Haltstelle erreichen würde, wäre er auch schon fast an seinem Ziel, also Fußmarsch.

 

Er überschlägt, wie viele Jahre er jeden Morgen den Weg zum Bäcker genommen hat, keine Ahnung, es waren viele. Anfangs noch Vollkornbrötchen oder Dinkelbrötchen für Helen mitbringend, die Kernigen waren eigentlich für Filou, der die Ummantelung der Brötchen mit Sonnenblumenkernen, Kürbiskernen, Nusssplittern liebte, sie sich mit großem Vergnügen abpickte, Helen dies mit Missfallen sah und jedes Mal schimpfte, es sei unhygienisch und unappetitlich, denn er bestrich sich das untere, von Filou verschmähte, Teil des Brötchens mit Butter und Marmelade und aß es, Filous Reste.

Als Helen nichts mehr dazu sagte, hätte er eigentlich stutzig werden müssen. Ach, es gab so viele Anzeichen, alle hatten sie sie ignoriert, verdrängt. Sie lächelten über einen vergessenen Namen, versuchten ihn gemeinsam mit der ABC-Methode zu finden, witzelten über ein Wort, dass ihr nicht einfallen wollte, über Sätze, die nicht zu Ende gesprochen wurden, weil auf der Strecke blieb, was sie eigentlich sagen wollte. Als sie beim Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel ihre Figur in die falsche Richtung bewegte, lachte er auf, diese Mogelei sei aber zu offensichtlich, reagierte sie zunächst verärgert, sie mogele nicht, erkannte aber anscheinend ihren Fehler, blickte kurz irritiert, um dann vor sich hin zu Kichern „Du merkst aber auch alles!“

Im Nachhinein, klar da weiß er mehr, hätte die Symptome addieren müssen, sie anderen Gründen als nur den Alterserscheinungen zuordnen müssen, aber wie immer, hinterher ist man immer klüger. Dann der Blackout in der Küche, als sie vor einem Topf kochendem Wasser stand, beide Hände ins Gesicht verkrallt, entsetzt auf das starrend, was da vor und unter ihr brodelte, nicht mehr wusste, was da vor sich ging, was sie tun musste, ihn, als er eintrat hilfesuchend anschaute mit fragenden, geweiteten Augen.

 

Er nahm den Topf vom Herd, drehte den Temperaturschalter auf null, ging zum Telefon, wählte Dr. Sönkes Nummer.

„Wen rufst Du an?“

„Den Doktor.“

„Bist Du krank?“

„Nein, Du.“

So direkt wollte er nicht sein, es rutschte ihm einfach heraus. Sie stand neben der Küchentür, sie langsam bei Seite schiebend, schaute ihn an, die Augen voller Tränen, da wusste er, dass sie längst ahnte, ja wusste, was in ihr vorging. Er ging auf sie zu, nahm sie in seine Arme.

„Entschuldige bitte.“

„Es ist so.“

Er macht sich seitdem Vorwürfe, nicht rechtzeitig reagiert zu haben, redet sich ein, dass diese Krankheit kein Rechtzeitig kennt, wen sie sich nimmt, der hat keine Chance zu entkommen.

Jemand ruft ihm ein Moin Moin zu, kann die Stimme aber nicht identifizieren, winkt und ruft dem Unbekannten sein Moin Moin zurück. Wer kann das gewesen sein? So viel Leute kennt er nicht, kennen ihn nicht, vielleicht ein ehemaliger Schüler von ihm, na ja, egal, nähert sich seinem Ziel. Beim Stadtbäcker holt er sich sonst nur sein Brot, Sonnenkruste, gibt es nur bei diesem Bäcker und alle vierzehn Tage holt er sich zwei Laib davon, teilt sie in Portionen auf, friert sie ein, legt immer am Mittag eine Portion aus dem Gefrierschrank und ist so für den Abend mit frischem Brot versorgt, als Alternative für die nicht genommenen Brötchen hätte ihm das auch genügt, aber er hatte gestern Abend dem Gefrierschrank nichts entnommen. Wozu auch? „Zwei Brötchen. Die mit den Kernen oben auf. Und ein Croissant.“

Kommentarlos führt die Verkäuferin die Bestellung aus.

Er nimmt seine gefüllte Tüte entgegen, zahlt und verabschiedet sich von der Verkäuferin, die er nicht kennt. Keine Rehbein. Vor der Tür bleibt er kurz stehen und blickt hinüber zur Bushaltestelle, an der Fahrgäste stehen, Jugendliche, Schüler, ein paar Erwachsene, ältere Herrschaften, was heißt, es wird in Kürze irgendein Bus fahren, von denen die meisten an seinem Haus vorbei kommen und kurz danach anhalten, sofern eine Person den Ausstieg wünscht, was nicht allzu oft vorkommt, es sei denn, er ist derjenige, der den Ausstieg wünscht, und warum umständlich, also den langen Fußweg zurück zu gehen, wenn es auch einfach geht. Also schreitet er mit seiner Brötchentüte in der Hand zur Haltstelle und integriert sich unter die Wartenden.

 

Warten ist noch nie eine spannende Sache gewesen (na ja, ganz früher die Sache mit dem Weihnachtsmann), aber er beobachtet eine zusehende Verstummung des Wartens, selten, dass Wartende miteinander sprechen, außer man kennt sich, Wartende geben sich ihren Gedanken hin, die irgendwo in der Ferne liegen müssen, da ihre Blicke dahin gehen, zumindest bei den älteren Semestern.

Die Schüler und Jugendlichen richten dagegen ihre Blicke nicht in die Ferne, sondern in die Tiefe, in die Griffhaltung ihrer Smartphones, die sie befummeln, darauf starren, etwas konsumieren, das sicher keinen geistigen Mehrwert hat, oder sie sperren die Impulse aus der Umwelt durch Stöpsel in den Ohren aus, die ihnen Sprechgesang, Rap (anscheinend verwandt mit der App) oder auch härtere Sachen ins Gehirn pusten.

Keine kichernden, Heimlichkeiten austauschenden Gespräche, hinter vorgehaltener Hand, keine sehnsüchtigen Blicke nach den Jungs, den Mädels, Tratsch, Getuschel, über diese und jene herziehend, kein juchzendes, schmachtendes Stöhnen über die Angehimmelten aus Soaps, der letzten Musikshow. Nichts von all dem mehr, so etwas wird heute schweigend über WhatsApp oder was auch immer abgewickelt, selbst wenn man nebeneinandersitzt. Die Szene, die er hier vor sich sieht, hat er schon so oft gesehen und die ihn, je öfter er sie sieht, umso mehr befremdet. Nein, das ist nicht mehr seine Welt.

Seine Zeit, als er noch unterrichtete, kommt ihm in den Sinn, er hatte bei seinen Schülern Trends oder Moden kommen und gehen sehen, manche kurzlebig, manche länger weilend, meist waren es Trends der Hervorhebung, des sich Unterscheidens, des Abhebens von den Anderen, vor allem den Alten, den Erwachsenen, den Eltern, deren Teil auch er war, aber sich in seine Schüler einfühlen konnte und nur selten in Konfrontation mit einem von ihnen geriet, alles harmlos, pubertäre Anwandlungen, kleine Rebellionen, aber harmlos, so harmlos, wie es heute scheint, in der Bravo, der Trendsetterin über viele Jahre, ein Dr. Sommer mit seiner Aufregeraufklärung, damals ein Schrecken für die in Erklärungsnot geratene Elternschaft war.

 

Mit dem Smartphone-Trend, der eigentlich kein Trend mehr ist, sondern ein andauernder Zustand, hat er seine Probleme. Der Trend hatte viele Nebenwirkungen, die er immer wieder festzustellen meinte, Sprachverlust durch die Reduktion auf Trivialitäten und gekürzten Wortbildungen, Isolierung, Abhängigkeit von Facebook, Twitter und Co., diese Sucht ständig präsent und erreichbar zu sein, unverzüglich zu reagieren, als Zeichen man ist in jeder Lage online, geistige und körperliche Bewegungsarmut, Empathieverlust, Desinteresse an politischer, gesellschaftlicher Teilhabe, sind nur ein paar der Nebenwirkungen, sicher, nicht bei allen, aber bei vielen.

Ein Trend, der sich selbst genügt, sich gegen nichts und niemand richtet und doch so einiges anrichtet. Vielleicht versteht er das alles auch nicht mehr, ist zu alt zum Verstehen. Er ist in seiner Welt, die in ihrer. Nur, diese Nebenwirkungen sind Symptome, die er auch für Helen feststellen konnte. Nein, hier eine Parallelität zu ziehen, das ist absurd. Er übertreibt!

Ein Bus kommt, den er nehmen kann. Während die Fahrgäste in das Wageninnere vorstoßen muss er den Umweg über den Fahrer nehmen, dem er zwei Euro fünfzig hinlegt, seinen Fahrschein entgegennimmt, entwertet und sich nach einem freien Platz umschaut. Einige der Schüler lehnen sich gegen die Innenwand, das linke Bein angewinkelt auf dem Sitz abgelegt, Blicke auf ihr Smartphone gerichtet, bedeutend: ich will meine Ruhe und allein hier sitzen. Edmund setzt seinen Pädagogenblick auf, bedeutend: ich will hier sitzen.

Schaut auf das Bein des Mädchens, das in einer dieser kaputten Hosen steckt, noch so etwas, was Edmund nicht versteht. eine kaputte Hose zu kaufen, für teures Geld. Früher wurde so etwas gestopft, geflickt, ein Lappen darüber genäht oder die Hose wurde notgedrungen entsorgt. Irgendwie absurd.

Sein einstiger Blick, der strenge Milde seinem Kontrahenten signalisierte, stets seine Wirkung tat, verfehlt sein Ziel, ist wirkungslos geworden, vielleicht sieht er sogar lächerlich damit aus, keine Reaktion, kein Aufblicken des Mädchens, ein Seufzer und er geht resigniert weiter, findet im hinteren Teil des Wagens eine freie Sitzbank und setzt sich, schließt die Augen, den Tränen nahe. Der Bus fährt los, und die Welt fährt weiter, ohne ihn mitzunehmen.

 

 

 

II

Sterben kann gar nicht so schwer sein, bisher hat es noch jeder geschafft

(Norman Mailer)

 

 

Wieder zu Hause zieht er seine Jacke aus, bringt die Brötchen in die Küche „Hallo Filou, tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber die dumme Kuh von Rehbein zwang mich in die Stadt.“ Filou schaut streng von seinem Vitrinenhochsitz auf ihn, anscheinend hat er sich nicht von der Stelle gerührt, abwartend ob weitere Abweichungen im gewohnten Ablauf kommen werden.

Edmund stellt Teewasser auf, legt die Brötchen auf einen Teller, sein Croissant auf einen anderen, holt ein Messer aus der Schublade, aus dem Kühlschrank entnimmt er die Margarine und die Kirschkonfitüre, stellt sie auf den Küchentisch, schaut nach dem Teesieb, füllt es mit grünem Tee und nimmt erstaunt wahr, dass Filou keine Anstalten macht, über die Brötchen herzufallen. Von der Küche aus kann er sehen, dass Filou, den Kopf leicht geneigt, beobachtet, was er da in der Küche hantiert. Edmund weiß, dass Tiere einen sechsten Sinn für ungewöhnliche Naturabweichungen haben, ahnen, wenn Regen, ein Gewitter oder gar Schlimmeres im Anmarsch ist, aber setzt der Sinn auch ein, wenn ein Mensch etwas Abweichendes vorhat? Ahnt Filou, was er vorhat? Na ja, gesagt hat er es dem Vogel und nein, verstehen kann er das natürlich nicht, sicher nur eine Laune des Vogels.

Das Teewasser kocht, er brüht sich den Tee auf, trägt die Tasse mit an den Küchentisch, streicht mit dem Messer etwas Margarine ab, schmiert es sich auf das Croissant, etwas Kirchkonfitüre oben drauf und beißt hinein. Es muss Jahre her sein, seit er das letzte Mal in ein Croissant gebissen hat, es hatte sich über die Jahre eingebürgert, dass sie ihre Brötchen und ihr Nußbrot aßen, mitunter hatte er sich ein Müsli gemacht, einen Äpfel kleingehäckselt und untergerührt, hatte dies aber eingestellt, zu viel Arbeit, ansonsten herrscht die Monotonie des morgendlichen Gleichen. Aber Filou, was ist los mit ihm?

Er erhebt sich, geht hinüber zum Schrank, hält den Finger hoch, damit der Vogel auf ihn steigen soll, was er tut und die beiden gehen zurück in die Küche.

„Was hast Du mein Freund? Kein Hunger? Oder eine böse Vorahnung?“

Der Vogel, vom Finger gelassen, watschelt über den Tisch, betrachtet sich die Brötchen. Oh je, ein anderer Bäcker, ein anderes Brötchen, merkt oder riecht Filou den Unterschied?

„Na, iss schon.“

Nein, dem Vogel behagt etwas nicht, besorgt blickt er auf den Vogel, während er sein Croissant zu Ende isst, schneidet dann die untere Hälfte der Brötchen ab und bestückt sie mit Margarine und der Konfitüre, schlürft an seinem noch heißen Tee, versunken in Gedanken dem Getrippel des Vogels zuhörend.

 

Nach dem Frühstück wird er seine Papiere ordnen und die letzten Unterschriften setzen, anschließend noch einmal Helen besuchen, Abschied nehmen, obwohl er den seit drei Jahren fast täglich nahm. Er steht auf, Filou tippelt immer noch unschlüssig, was er tun solle, über den kleinen Küchentisch, die oberen Brötchenhälften lässt Edmund liegen, sonstige Reste und das Geschirr räumt er weg, das schmutzige Geschirr in die Spüle, konnte Marga dann spülen, aber, würde die noch spülen, in Kenntnis seines Ablebens? Wahrscheinlich nicht, also spült er die paar Teile schnell weg, Filou, im Hintergrund, beginnt mit einem verärgerten Gekreische, er trocknet ab und räumt das Geschirr an seinen Platz zurück, steht in der Küche blickt hinaus in den Garten, gut, tappst hinüber ins Wohnzimmer, setzt sich hinter den großen Esszimmertisch, auf dem alle wichtigen Papiere ruhen, die er in den letzten Tagen aus verschiedenen Ordnern zusammengesucht und fein säuberlich nebeneinander ausgebreitet hat, die Patientenverfügungen, Daten zum Aktiendepot, Versicherungspolicen, die zu kündigen waren, die Kontodaten der beiden Bankkonten, der Vertrag mit der Telekom, die Unterlagen zum Haus, das vom Erben verkauft werden muss, das Testament, den Kaufvertrag für den Baum unter dem Helen und er im Ruheforst beigesetzt werden wollen. Den Baum hat er noch gemeinsam mit Helen ausgewählt, als diese noch nicht ahnte, was da auf sie zukommen wird, ein kurzer Brief an seinen Anwalt, den Doktor Feissner, der den Nachlass regeln soll und die Anweisung, wie mit seinem Leichnam zu verfahren sei, letztere Dokumente muss er noch zu unterschreiben.

 

Er fährt mit den Augen das Papier ab, in dem er anweist, dass er so wie er vorgefunden würde in einen billigen, den billigsten, Sarg zu legen sei, keine Waschung, kein Schwamm, kein Waschlappen, keine nassen, kalten, klitschigen Hände sollten ihn, seine Persönlichkeit, auf einen Gegenstand reduzieren. Selbst tot war er noch er, er der Mensch, der in körperlicher und seelischer Unversehrtheit dem Feuer, der Urne übergeben werden wollte, und, was ihm besonders wichtig ist, keinesfalls die Arme über den Bauch legen, Hände zusammengesteckt, als bete er, nein, alles, nur das nicht, die Arme seien längs des Körpers zu legen.

Das letzte Mal, dass er seine Hände gefaltet hatte lag wohl über siebzig Jahre zurück, kurz bevor ihn der Pfarrer vermöbelte, weil er sich gewagt hatte, während der Konfirmationsstunde nachzufragen, wie das ginge, das Adam und Eva die ersten und einzigen Menschen waren, zwei Söhne bekamen und die Menschheit sich trotzdem vermehrte. Pfarrer Höhl, ein Choleriker, Weltkriegsveteran und Freund der Nazibewegung geriet in Rage, gut, es war nicht die erste diesbezüglich Frage, die Edmund ihm stellte, schlug wild auf ihn ein und damit war für Edmund die Sache mit Gott gestorben.

Er will kein Totenhemd oder ähnlichen Unsinn an seinem Körper, wie etwa ein Kopfkissen unter seinem Kopf. In den Klamotten, die er bei seinem Ableben anhatte, sei er zu verbrennen, seine Asche in eine biologisch abbaubare Urne zu schütten und diese solle unter der Esche im Ruheforst ohne ein Wort von irgendwem eingegraben werden, bald wiedervereint mit Helen, die einen Meter weiter ihr Urnengrab haben würde. Keine Todesanzeige. Nichts! Gar nichts! So still wie er gelebt hat will er gehen.

Er fährt mit der rechten Hand über das Papier, ohne zu wissen, was er erwartet, vielleicht, ob eine Wirkung von dem Papier ausgeht. Ein Gefühl sich in ihm breit macht? Wehmut? Nein. Keine Wirkung.

 

Mit Schwung vollzieht er den Schlusspunkt, die Unterschrift, der damit gesetzt ist. Seine Augen ruhen auf der Seite Papier, angefüllt mit Worten, befehlenden Worten, Worte seines letzten Willens. Zufrieden mit sich und dem, was er formuliert hat, lehnt er sich zurück gegen die Stuhllehne, mürrischer Blick, den er langsam vom Blatt hebt, hin zum Fenster, zur Welt da draußen, so hell, so freundlich, in den Farben des späten Frühlings, eine Welt, die ihm fremd geworden ist, verloren der Sinn, in ihr zu weilen, sich in ihr zu bewegen, zu Dingen, zu Menschen, die nicht mehr existierten, nur in der Erinnerung, er allein ist geblieben, von denen, die ihn auf einem Teil seines Weges durch das Leben begleitet haben.

Beide Arme auf dem Tisch abstützend, den Kopf in die gefalteten Hände legend, blickt er über die Papiere auf dem Tisch. Ist er pietätlos? Pietätlos gegen sich selbst? Nein, sein Verhältnis zum Tod ist emotionslos, abgeklärt und die Rituale des Todes hat er zu verachten gelernt. Edmund hatte einige Beerdigungen besucht, Abschied genommen von nahen Verwandten, von Freunden, Bekannten und Nachbarn und war immer wieder erstaunt, welchen Aufwand die Hinterbliebenen betrieben, um einen eigentlich erwartbaren und normalen Vorgang zu zelebrieren.

Von manchen der Toten hatte er geglaubt, sie gut zu kennen, nach der Rede des Pfarrers oder schlimmer noch, eines Predigers, hatte er jedes Mal das Gefühl, den, den er gekannt hatte, sei ein ganz anderer gewesen. Fremde redeten über einen ihnen Fremden als sei er ihnen nicht fremd, mit Aussagen, die dem Gewesenen in keiner Weise gerecht wurden, flochten in ihre Rede eigenartige, mitunter unsinnige Dinge ein, taten als sei der Herr Gott ein alter Bekannter des Verstorbenen, vor den er nun treten würde. Von Alex wusste er definitiv, dass dieser mit diesem Herrn absolut nichts zu tun haben wollte, und keinesfalls vor ihn treten würde. Nein, keine verklärende Rede an seiner Ruhestätte, keine Falschaussage. Abraham, seinen ältesten Freund, hatte er erst am Tag nach der Beerdigung einen Besuch abgestattet und sich auf seine Art, ganz im Stillen, von ihm verabschiedet.

 

Auch das Testament gilt es noch zu unterschreiben. Er hat Harald dessen Pflichtteil zugeteilt, der Rest geht an einen gemeinnützigen Verein, der weltweit in Krisengebieten seine wichtige ärztliche Arbeit tut. Ist dies Rache an seinem Sohn? Nein, sicher, da ist etwas Groll im Spiel, aber er hätte wahrscheinlich auch so verfahren, wäre ihr Verhältnis ein Besseres als es ist. Aber Harald hat sein eigenes Leben, sein eigenes Geld, wozu es dort hintragen, wo es nicht gebraucht wird, an anderer Stelle aber schon?

Harald, die Erinnerung daran, dass sie einen Sohn hatten, noch haben, schmerzt ihn. Bis heute versteht er nicht, was in ihrer Beziehung so schiefgelaufen ist. Gut, Harald war immer auf Helen fixiert, ihn hatte er immer nur als den gestrengen Hauspädagogen kennen gelernt, warf ihm immer vor, ihn zu behandeln als wäre er einer seiner Schüler, was nicht stimmte. Na ja, manchmal kam da schon der Lehrer hervor, aber eher selten, kein Grund seinen Vater quasi zu vergessen, denn das ist der Fall.

Selten, sporadisch, kommt ein Anruf, eine eMail und seit Helen in der Pflege ist hört er fast nichts mehr von ihm. Dörte, die Leiterin des Pflegeheimes, hatte einmal von einem Besuch Haralds bei Helen berichtet, der ihn fassungslos machte. Harald war in der Stadt, ohne ihm guten Tag zu sagen. Edmund schrieb ihm eine eMail und drückte seine Verwunderung darin aus über diesen Besuch.

Seine Antwort traf ihn sehr „Du hast Dein Leben, ich das meine. Aber ein gemeinsames haben wir nicht mehr.“

Ja, er hat sein Leben und wahrscheinlich fing ihre Entfremdung damit an. Harald ist nach dem Abitur nach Berlin gezogen hat Marketing studiert, dies neun Jahre lang, nebenbei in einer Agentur gearbeitet, großzügig, wie Edmund wusste, von Helen gesponsert, was sie vor ihm geheim zu halten versuchte. In der Agentur ist Harald aufgestiegen, hatte promoviert, schließlich habilitiert und hat heute einen Lehrstuhl für Marketing inne und ist Geschäftsführer einer florierenden Werbeagentur. Viel Geschäft und wenig Zeit und wenige Kontakte mit ihm, mehr dagegen mit Helen. Besuche hatten Seltenheitswert, nie zu Weihnachten oder anderen festlichen Gelegenheiten. Sie wussten, dass er mit einer Freundin zusammenlebte, einer Musikerin und als er eines Tages anrief und seinen Besuch ankündigte, bei dem er seinen Eltern gerne etwas mitteilen wolle, dachten beide an eine Hochzeit, an die Enkelkinder, die dann mit Sicherheit nachkommen würden, an ein heimeliges OmaundOpasein. Harald kam ohne seine Freundin, erstes Erstaunen, teilte ihnen mit, dass er sich schon länger von Emilia getrennt hätte und fortan mit seinem Freund zusammenleben werde. Seinem Freund? Freund?

 

Für Helen und ihn ein doppelter Schock. Der erste Schock die Mitteilung an sich, bürgerliche Träume, die sich mit seinem kurzen Satz in nichts auflösten. Keine Schwiegertochter, keine Enkel, keine Oma, kein Opa. Der zweite Schock, die Erkenntnis, dass ihre liberale Fassade gewaltige Risse bekommen hatte, für weltoffen, tolerant hatten sie sich gehalten, aber in Bezug auf die Geschehnisse, die außerhalb ihres Lebensbereiches lagen und plötzlich stand das Schwul sein direkt vor ihnen, sie waren Betroffene und erstarrten vor dieser Tatsache, nur zu einem faden Lächeln fähig und Helen brachte ein „Ach? So?“ hervor.

Edmund erstarrte in Enttäuschung, unfähig einer geeigneten einfühlsamen Reaktion. Bilder stiegen in ihm auf, Bilder des Ekels, nackte Männer im Bett, erigierte Penisse, fließendes Sperma, Harald die Frau? Bilder, die er nicht sehen wollte, die er wegdrückte, von sich abschüttelte, ab in die Versenkung des Vergessens. Er hatte panische Angst vor homosexuellen Handlungen, warum auch immer, Liebe unter Frauen, bei Lesben, akzeptierte er, verstand sie, Liebe unter Frauen war für ihn etwas Reines, aber unter Männern? Nein, widerlich, geballt dringen die Visionen seiner Abscheu in sein Gehirn ein, stellten es ab, ließen es Erstarren, kein Ton, keine Regung in der Mimik, nur ungläubiges Staunen. Lediglich fünf Wörter hatte es bedurft, um die Verkrampfung zu lösen, einfach „Das freut mich für Dich.“, aber die Worte fielen nicht, fielen ihm erst ein, als Harald bereits wieder in Berlin war.

Sein Gesicht musste zu einer Maske aus Enttäuschung, Ekel und Wut erstarrt sein, die Harald da anglotzte, der seinen Besuch augenblicklich ohne Aussprache beendete, nach Berlin zurückkehrte und seither nur mit Helen kommunizierte, die versuchte zu kitten, was nicht mehr zu kitten war.

„Wusstest Du es?“

„Nein.“

Hast Du es geahnt?“

„Nein.“

Und damit war das Thema zwischen Helen und ihm vergessen und versiegelt.

 

Wenn er ehrlich zu sich ist, muss er sich schon eingestehen, dass er den Verlust von Harald schmerzlich verspürt, aber nicht gleich als Verlust erkannte, da Harald ja eh weit ab ihm lebt. Mit Helens Weggang von zu Hause aber wurde das Gefühl des Verlustes immer stärker, da nun doppelt verlassen, ihm der Mensch, der ihm eigentlich mit am nächsten stand fehlte, der fehlte, mit dem er alle die Ereignisse um seine Mutter, die Gefühle, die Belastungen, die schweren Entscheidungen hätte besprechen können, mit ihm, dem Sohn.

Was hat er nur getan? Was hindert ihn, Harald zu verstehen, ihn, so wie er ist, zu akzeptieren? Hätte er nach Berlin fahren sollen, ja müssen? Sich Harald stellen? Sich mit ihm aussprechen, aussöhnen müssen? Hätte er, ja, aber Edmund fehlte die Kraft, fehlte der Mut, es zu tun. Zu verbittert, es zu tun.

Edmund setzt auch unter das Testament seine Unterschrift, schiebt die Papiere zwischen die jeweils dafür vorgesehenen Aktendeckel, auf denen Post-it kleben, beschriftet mit Angaben über die Art der Papiere, alles säuberlich und ordentlich vorbereitet, um dem Nachlassverwalter unnötige Arbeitszeit zu ersparen.

Filou hat sich mittlerweile vom Esszimmertisch auf den Stuhl vorgearbeitet, auf dem Sitzkissen seine schwarz-weißen Spuren hinterlassend, aber scheißegal, Marga würde dies nicht mehr verdrießen. Die Brötchen hat er immer noch nicht angerührt, der alte Gourmet, „Tja mein Freund, das hat Dir das fette Rehbein eingebracht. Eine Alternative habe ich leider nicht,“ was der Vogel, Köpfchen geneigt sich anhört, schrill los zetert, sich auf der Kante der Rückenlehne des Stuhls um sich selbst dreht, schließlich abhebt und zu seinem Käfig zurückfliegt.

Zwei Tage nachdem Harald sein Schwul sein offenbart hatte, ging Edmund in den Garten und fällte die Holzschaukel, die seit Haralds Kindertagen massiv dastand. Jahr um Jahr hatte er die Schaukel gepflegt, mit Lasur behandelt, die Ketten, die die Sitzfläche trugen, geölt, vom Rost befreit. Mahnmal einer stillen elterlichen Hoffnung, dass irgendwann wieder kindliches Leben in den Garten zurückkommen würde. Sein Tun rechtfertigte er Helen gegenüber mit Verweis auf die Möglichkeit des Enkelvergnügens. Sie hätte den Platz, den die Schaukel einnahm, gern genutzt, ein weiteres Blumenbeet anzulegen. Jetzt, als ihm dies in den Sinn kommt, wird ihm klar, warum Harald, wenn er einmal da war, diese Schaukel so nachdenklich ansah, die Schaukel der Erwartung, eine Erwartung, die ihn wohl sehr belastet hatte.

 

Er wollte aus dem Leben scheiden, stellte sich die Frage des Wie? Keine einfache Frage. Er hatte sich die Todesarten aufgerufen, die ihm bekannt waren und wägte das Für und Wider ab. In die Schweiz fahren, um die Todestropfen bei der Sterbehilfe zu erbitten? Dazu aber, soweit er wusste, war eine schwere Erkrankung Voraussetzung und die hatte er nicht, im Gegenteil. Dr. Sönke betonte nach jeder seiner Untersuchungen, dass er für sein Alter überdurchschnittlich gute Werte habe, also wie sollte er da einen Schweizer Todeshelfer überzeugen, ihm das zu geben, was er wünschte?

Nein, er musste dies schon selbst in die Hand nehmen. Mit dem Auto gegen eine Mauer oder einen Baum rasen? Davon hatte er schon gelesen, dass jemand sein Auto als Waffe gegen sich gerichtet hatte, ja, er erinnert sich, die kleine, stille, strebsame Renate Drewes soll sich auch mit ihrem Auto gegen die Betonwand einer Überführung gelenkt haben, hatte ihm Dieter, einer seiner ehemaligen Schüler, bei einer kurzen Begegnung erzählt. Die kleine Drewes, hieß jetzt anders, hatte zwei Kinder, vollkommen rätselhaft, was sie dazu getrieben hatte, meinte Dieter damals. Mit Vollgas gegen die Mauer? Vollgas?

Wenn Edmund das Auto benutzt, dann fährt er selten schneller als 80 Kilometer. Er weiß gar nicht wie Vollgas geht und was, wenn der Airbag aufgeht, dem Aufprall die Wucht nimmt?

Andererseits, wenn nicht, war es ein brutales Ende, war Selbstmord, kein Freitod, den er begehen wollte.

Ein Messer? Die Pulsadern öffnen? Was bedeuten würde, viel Blut zu verlieren, zu verspritzen, nein, die Sauerei wäre zu groß, dass wollte er demjenigen oder derjenigen, die ihn finden wird, nicht zumuten. Gut, er könnte sich in die Badewanne legen, soll eh den Schmerz beim Schnitt mildern, aber die Vorstellung, er käme in ein Badezimmer, fände eine Leiche in einer Wanne voller Blut, hielt ihn davon ab, diese Version zu Ende zu denken.

Aufhängen? Na ja, wäre eine saubere Art, aber was heißt sauber, hatte er nicht gelesen, dass sich in so einem Fall, oft mit Eintritt des Todes der Darm entleert? Er wollte so wie er war, ohne Waschung und sonstigen pietätischen Leistungen in den Sarg gelegt werden. Aber mit vollen Hosen? Nein, keine optimale Lösung.

Vergiften? Mit was? Tabletten? Schlaftabletten? Derartige Suizidale wurden mitunter noch lebend vorgefunden oder gar wiederbelebt. Das wäre ihm peinlich. Was ist die richtige, sichere Menge an Tabletten? Pilze? Sich mit Pilzen vergiften? Aber welche Pilze und wie findet man die? Da er nie Pilze gesammelt hatte wäre es ein leichtes, die falschen Pilze zu pflügen. Aber würde Gift nicht ein qualvolles Ende bedeuten? Bauchschmerzen? Übelkeit? Nein, wenn schon sterben, dann ohne Qualen.

 

Sich die Kugel geben? Doch woher nehmen? Nach Amerika fliegen? Das Kaufen war dort nicht das Problem, aber das Heimkehren mit dem Schießgerät, denn das musste er, heimkehren. In Amerika wollte er unter keinen Umständen sterben, denn die würden seine Wünsche sicher nicht respektieren, womöglich gar einen dieser evangelikalen Prediger vor seinem Sarg auftreten lassen und überhaupt, sich die Kugel geben hieß, es fließt Blut, Teile von ihm würden durch die Gegend spritzen. Womöglich würde er grässlich aussehen. Er wollte körperlich heil verscheiden.

Von einem Hochhaus springen? Nein, auch dies endete im Unheil, alle Knochen würden zu Bruch gehen. Sich vor einen fahrenden Zug werfen? Auch dies bedeutete körperliche Versehrtheit, Zerstückelung und würde dem Zugführer sein weiteres Leben erschweren, denn dass diese von einem solchen Vorfall einen schweren Schock bekäme, bis hin zur Arbeitsunfähigkeit, davon hatte er schon öfter gelesen und das wollte er keinem Zugführer antun.

Von einem Schiff springen? Ja, das wäre eine saubere Lösung. Er könnte eine Kreuzfahrt buchen, und seine Verachtung gegen diese obskure Art seinen Urlaub zu verbringen, damit ausdrücken, dass er der heilen Weltordnung eines Schiffes einen Makel anheften würde. Was aber, wenn sie ihn aus dem Wasser fischten? Okay, er könnte nachts springen, das erschwert die Suche, andererseits, was, wenn sie ihn nicht mehr finden? Dann wäre das Meer sein Grab und nicht die recyclebare Urne unter dem Baum, weit ab von Helens Urne, oder er gerät in die Schiffsschrauben, nein, nicht vorstellbar, durch sie zerstückelt und zu Futter der Fische zu werden. Was sollte dann in die Urne kommen?

Was blieb noch an Möglichkeiten? Wasser wäre schon nicht schlecht. Ertrinken in der Badewanne? Zu flach! Den laufenden Fön in das Wasser halten und durch Stromschlag versterben. Ja, das könnte gehen, aber die würden ihn bestimmt nicht seinem Wunsch gemäß mit seinen nassen Klamotten in den Sarg legen, würden ihn ausziehen, Hände an seine Nacktheit legen und weiß der Teufel in was für Kleider stecken, wahrscheinlich sogar in ein Totenhemd. Nein, welch gruselige Vorstellung. Wasser? Der See? Hm, er hatte den See fast vor der Haustür. Im Boot rausrudern oder paddeln, Stein ans Bein und die Sache wäre gegessen. Diese Lösung gefiel ihm. Ja, so würde er es machen, zu Knutson runterfahren, einen seiner Kajaks mieten, raus paddeln, eine geeignete Stelle suchen, den Kajak kippen und statt die Eskimorolle zu vollenden, die Lungen voll Wasser ziehen, stillhalten, kopfunter die letzten Sekunden verbringen. Wieder das Problem mit den nassen Klamotten. Könnte er trocknen, wenn sie ihn ans Ufer brachten, in der Sonne? Hm, nach einigem Nachdenken kam er zu dem Entschluss, den Kajaktod durchzuführen und sich die Anweisungen nach seinem Ableben in eine Plastikfolie eingeschweißt, um den Hals zu hängen, damit müsste seinem Wunsch entsprochen werden auch wenn er nass im Sarg landen würde.

 

Die Idee mit dem Einschweißen entsprang einer Erinnerung, die ihn überkam, als er nachdachte, an damals, als sie Hernandez vom Flughafen abholen wollten. Hernandez, noch so ein Trauma, war ihr Patenkind aus Honduras, gekommen waren sie dazu, die einmal etwas Gutes tun wollten, über die Anzeige einer Gesellschaft, die diese Patenschaften vermittelte. Mit zwanzig Euro im Monat das Leben eines heranwachsenden Kindes unterstützen, ihm ein gesichertes Aufwachsen, eine richtige Schulbildung zu ermöglichen, hehre Ziel, für nur zwanzig Euro erfüllbar. Warum also nicht? Sie übernahmen die Patenschaft für Hernandez.

Zur ersten Weihnacht ihrer Patenschaft bekamen sie Post, die Eltern von Hernandez bedankten sich und nach ungefähr einem Jahr kam wieder Post, Hernandez würde gerne seine Pateneltern persönlich kennenlernen, nur halt der Flug, nicht finanzierbar für ihn, könnten sie da eventuell einspringen? Hernandez würde sich so freuen. Warum nicht? Überwiesen das Geld, die Eltern übermittelten die Flugdaten und Helen und Edmund fuhren am angekündigten Termin zum Flughafen nach Hamburg, voller Erwartung, wie ihr Patenkind wohl aussah und dann warteten sie.

Passagiere kamen durch den Ausgang, dabei auch zwei Kinder an den Armen einer Stewardess, mit Schildern um den Hals, auf denen anscheinend Name und Zielort standen. Edmund betrachtete die Schilder ganz genau, vielleicht stünde ja Hernandez darauf, aber nichts da. Aber das Bild, das Bild der beiden Mädels an den Händen der Stewardess prägte sich ihm ein, die suchenden, erwartungsvollen Blicke der Mädels. So Bilder gab es öfter in seinem Leben, wie ein Foto, eine Momentaufnahme, nicht in einem Album vergraben, sondern solche die sich in sein Gedächtnis hefteten. Die Zeit war längst verstrichen, der Flieger längst gelandet, beladen und weitergeflogen, die Leute längst in alle Winde zerstreut, sie beide wurden immer unruhiger, ratloser, mit angespannten Blicken auf die Ankommenden schauend. War da etwas passiert? Etwas schiefgelaufen? Edmund ging zur Information, schilderte verzweifelt sein Anliegen, die Servicekraft machte ein, zwei Telefonate, ein freundlicher Herr kam, führte ihn zum Schalter der Delta Airlines, auf die angeblich der Flug gebucht war. Die Durchsicht der Passagierliste ergab keinen Treffer, ein Hernandez Sanchez, ohne Begleitung, nicht aufgeführt, auch nicht storniert.

Er ging zurück zur weiterhin spähenden Helen, beschlossen ihr Warten einzustellen. Er hatte sie versetzt. Betrogen? Nein, das gestanden sie sich noch nicht ein. Es hatte Nerven gekostet, die Sorgen, die Ängste und der Kerl war gar nicht angereist und gehört hatten sie nie wieder etwas von ihm. Natürlich stellten sie die Unterstützung ein, die Patengesellschaft entschuldigte sich, was an ihrer Entscheidung, nie wieder Paten zu werden, nichts änderte.

 

Mit diesen Gedanken im Kopf, geht er in Helens Zimmer, die ein Schweißgerät hatte, in das sie immer ihre Verstehbilder, ihre Informationen, mitunter Blätter, Blumen, Kräuter bei ihren Spaziergängen mit den Kindern gesammelte Naturprodukte einschweißte. Er hatte es beim Umräumen zuletzt in der Hand, erinnert sich aber nicht mehr, wo er es abgelegt hat, sucht die Regale ab, den Schrank, in und findet auf dem Schrank das Gerät.

Ein einfaches Gerät, zwei Bügel, ein Knopf, da kann er nichts falsch machen. Er und Technik, das verträgt sich nicht. Helen war die Herrin über die Technik, den Computer, den sie angeschafft hatte, er nur gelegentlich an die Kiste heranging, etwas googelte oder sich in Word schreibend versuchte, mit zwei Fingern, die Tasten der Tastatur absuchend nach dem richtigen Buchstaben, um ein Wort zusammenzusetzen, viel zu umständlich, gab es irgendwann auf, hatte ja noch seinen Füllfederhalter, mit dem er schneller eine Seite gefüllt, als auch nur ein Wort via Word erstellte.

Nein, Technik ist nicht die seine, genauso wenig wie die Waschmaschine oder der Geschirrspüler. Zwar brachte er die Kisten alle zum Laufen, seine Strategie war immer, Knöpfe drücken, warten, was passiert, was auch regelmäßig der Fall war, Problem nur, die Kisten erwarteten etwas. Die Waschmaschine hätte gerne Waschpulver, nur welches und wie viel? und im Regal über der Waschmaschine standen noch andere Packungen, was war damit? Auch in die Maschine? Und selbst wenn die Maschine lief, er hatte keine Ahnung, was sie tat, vor allem, ob sie das Richtige tat.

Nun, ohne Helen steht er der Technik hilflos gegenüber, gut, er hätte die Gebrauchsanweisungen lesen können, nur, nach der zweiten Seite schaltet er ab, das ist kein Deutsch, das ist keine Erklärung, das ist unverständliche Verwirrung, also wäscht er das Geschirr nach Gebrauch händisch ab, macht die Wäsche im Handwaschbecken ebenfalls mit der Hand und einem Esslöffel Waschpulver.

Die große Wäsche landet im Wäschekorb, dann auf ihm und später einfach in der Ecke des Hauswirtschaftsraumes bis Marga erschien und mit ihr Reinlichkeit, Sauberkeit und Ordnung in seine Wäsche kam.

Mit dem Schweißgerät in der Hand geht er zurück zu seinen Dokumenten, steckt den Stecker des Gerätes in die Steckdose ein. Folien? Er braucht noch Folien. Wo hatte Helen die abgelegt? Sicher in einer Schublade ihres Schreibtisches, nochmals rüber in Helens Zimmer, Schublade für Schublade herausziehend, nachschauen, Papiere, Schachteln hochhebend. Findet eine Schachtel mit Overhead-Folien, gut, muss gehen, geht wieder hinüber an den Tisch, überlegt, die Anweisung muss er nochmals abschreiben, eine hier auf dem Tisch platzieren, eine um seinen Hals hängen. Also nimmt er den Füller, dreht ihn auf und schreibt seine Anweisungen nochmals ab, fügt dann das Blatt zwischen zwei Folien, legt das Paket auf einen der Bügel, drückt den Knopf, rot, versteht, dass er warten muss, wird nicht grün, dafür geht der Knopf aus, drückt den Bügel herunter, lässt ihn einen Augenblick gepresst, fährt den Bügel hoch, betrachtet das Ergebnis, scheint zu halten und macht die gleiche Prozedur drei weitere Mal.

Er holt einen Locher drückt ein Loch unterhalb des oberen Randes in die Folie, sieht sich um, sucht etwas zum Binden, geht in die Küche, immer unter den fragenden, verwunderten Blicken von Filou, sucht in den Schubladen, findet dort nichts, geht zurück ins Wohnzimmer, zur Vitrine, öffnete eine Tür, nichts, zieht eine Schublade auf, findet einen Wollknäuel, schneidet ein Stück des Wollfadens ab, zieht ihn durch das Loch in der Folie, bindet eine Schleife und hängt sich das Schild um. Würde wohl sehr albern aussehen, wenn er so an der Hand einer Stewardess in den Empfangsbereich des Flughafens käme. Lächelt ein eher verzweifeltes Lächeln. Gut. Wäre das auch erledigt.

 

Mit seiner Entscheidung für den Freitod will er niemandem zur Last fallen, niemandem Unannehmlichkeiten bereiten, nun, da seine Wahl auf Knutsons Kajak gefallen ist, grübelte er über die Folgen seines Tuns für Knutson nach. Knutson ist so etwas wie ein Freund geworden, durfte er ihm sein Ableben mit Hilfe von dessen Eigentum zumuten? Wie er Knutson kennt wird dieser nach seinem verschollenen Boot Ausschau halten, ihn finden, als Wasserleiche. Was bewirkt das in einem? Eine Leiche, die Knutson kennt? Knutson ruht in sich selbst, stoisch, nichts konnte ihn erschüttern, Unangenehmes kommentierte er mit trockenem Witz.

So einem kann Edmund sich als Wasserleiche anvertrauen. Er könnte allerdings diesem Szenario aus dem Weg gehen, in dem er den Kajak woanders mietet, in Plön oder Preetz. Die Vermieter dort kennt er nicht, sie ihn auch nicht, bräuchte also keine Bedenken zu haben, allerdings müsste er sich dann einen neuen Platz im See aussuchen, denn den hatte er sich ja schon im Kellersee auserkoren.

Andererseits, wenn ihn Knutson findet, findet ihn ein Bekannter, einer der ihn kennt, weiß, wer er ist, nein, war, der sorgsam mit seiner Leiche umgehen wird, seine Anweisungen zum Ableben lesen und, wenn auch kopfschüttelnd, dafür sorgen wird, dass man sie respektiert. Und da ist noch die Möglichkeit, dass Knutson sein Kajak findet, er aber auf dem Boden des Sees abgesunken ist, Taucher kommen müssten, ihn zu bergen, dann wäre Knutson aus dem Schneider.

Keine einfache Entscheidung. Edmund entschied sich, einen Euro zu werfen. Zahl, Pech für Knutson, Wappen, er wird in Plön starten. Zahl! Na ja, eigentlich Wappen, aber was soll es, Wappen kann auch mal Zahl sein.

Nein, er wollte in seinem See sein Ende finden, in dem See, den er mochte, an dem er des Öfteren im Sommer auf der beschatteten Terrasse des Fährhauses saß, ein Glas Grauburgunder vor sich, den Blick auf den nur leicht bewellten See, auf die den See umringenden Linden, Eichen, Erlen, Buchen gerichtet, hier und da eine Wildgänsefamilie, ein paar Schwäne oder Blässhühner schwimmend, ein Bild, wie es gemalt zu sein schien, gemalt für ihn. Es ist der See von dem aus er, nachdem er in Pension gegangen war, eine sechstägige Kajaktour gemacht hatte, geführt von Knutson, den er damals näher kennen und schätzen lernte. Vorher hatte sich Edmund sporadisch mal ein Kajak gemietet, war auf dem See gepaddelt, ein paar belanglose Worte mit Knutson gewechselt, nach den sechs Tagen ist daraus eine Freundschaft geworden.

 

Um sein Vorhaben umzusetzen, musste er zunächst seine Seetüchtigkeit feststellen, denn es waren drei oder sogar vier Jahre ins Land gegangen, ohne dass er sich von Knutson ein Boot geliehen hatte, um seine Runden auf dem See zu drehen, eingeschlafen die Aktivität, aber auch der Kontakt zu Knutson, beansprucht von Helens Erkrankung, die ihn und seine Zeit auffraß. Vor der letzten Fahrt nahm er sich vor, mindestens drei weitere Fahrten zu unternehmen, sobald die Saison eröffnet war, Knutson seinen Booten wieder Auslauf gewährte. Er musste erkunden, wo ein geeigneter Platz lag, nicht irgendeiner, nein so einer, der wie eine letzte Ruhestätte anmuten würde. Ob es so etwas gab? Auf dem See? Na ja, würde er sehen. Ende April rief er bei Knutson an, Tilde seine Frau am Apparat, klar er könne kommen, zwar seien die Boote noch in der Kate, aber Henning würde ihm die Isabel schon mal herausholen, gut, dann auf. Er busgierte das Auto aus dem Carport, fuhr rüber zu Knutsons Kate, vor der Knutson saß, so als wäre er nie aufgestanden, Pfeife im Mund, allerdings ohne Inhalt, hatte früher geraucht, es aufgeben und machte nur so als ob, nahm die Pfeife aus dem Mund, um besser Lachen zu können. Ja, er freute sich, Edmund wieder zu sehen.

„Mensch Eddy, so eine Freude, Dich mal wieder hier zu sehen. Lange her. Was?“

Sie drückten sich, was sich seit der Sechs-Tage-Tour so eingebürgert hatte, heute aber mit inniger Herzlichkeit. All die düsteren Gedanken, beklemmenden Gefühle, die Einsamkeit, wie weggeblasen. Die Luft, der Wind, der Geruch des Frühjahrs, des Wassers, Knutson, alles wirkte wie eine Befreiung, als dränge er auseinander. Eigenartig! Wie eigenartig sich das anfühlte.

„Tja, mitunter schlägt das Leben seltsame Wellen.“

„Das stimmt. Ich habe das mit Deiner Frau gehört. Tut mir sehr leid für Dich. Wie geht es ihr?“

„Du weißt das mit meiner Frau? Wie das?“

„Ich habe Dir immer gesagt, gib acht, wo Du deine Brötchen kaufst,“ was er mit einem Lachen über das ganze Gesicht sagte.

„Die Rehbein? Diese geschwätzige, dumme Nuss.“

 

Ja, stimmte, er erinnerte sich, der Rehbein war nicht entgangen, dass Edmund nur noch zwei, anstatt wie bisher vier Brötchen verlangte und zwei weniger hieß für sie, krank, geschieden oder Tod sein. Die Rehbein war nicht die, die lange spekulierte, sondern der Sache schnellstmöglich auf den Grund ging.

„Na, die Frau doch nicht etwa im Krankenhaus?“

Was blieb ihm da anderes übrig, als „Ja“ zu sagen und den Rest holte sie sich sicher aus den Nachbarn heraus. Er setzte Knutson in Kenntnis dessen, wie er und Helen die letzten Jahre verbracht hatten, ging nicht ins Detail, skizzierte nur in Umrissen ihre Erkrankung, den Verlauf, sagte, dass sie nun im Pflegeheim ist und er wieder etwas für sich tun müsse, wieder auf den See, aber erst sehen muss, ob dies noch so ginge wie vor ein paar Jahren.

Es ging. Dank der Hilfe von Knutson, der ihm beim Ein- und Aussteigen in den Kajak half, auch das Paddeln, zwar anfänglich in den Oberarmen ziehend, der Rücken leicht schmerzend, aber für ein paar Dreher auf dem See reichte es, reichte es ihm. Die erste Ausfahrt nutzte er nicht, um Ausschau nach einer geeigneten Grabstätte zu halten, schaute nur grob auf Ecken und Winkel im See, ohne sich festzulegen, wollte einfach nur testen, wie er mit dem Boot und seinen alten Knochen klar kam.

Nach einer Stunde paddelte er zurück, wohl wissend, dass er in Kürze von einem Muskelkater gemartert werden würde, blieb dann noch etwas mit Knutson zusammensitzen, der sich eingehend über sein Befinden informierte. Auf der zweiten Tour grenzte er ein Gebiet ein, die dritte Tour dann brachte die Auswahl des Ortes seines Dahinscheidens, eine kleine Einbuchtung, umringt von Buchen, die bis ans Ufer reichten.

 

Er steht immer noch am Fenster, sein Blick geht nach draußen, in den Garten, über das explodierende Grün. Helen wäre um diese Jahreszeit umtriebig zwischen den keimenden Blumen, Stauden und Büschen umhergewuselt, hätte störendes Unkraut entfernt, hier und da einen Schnitt angebracht, Erde etwas aufgelockert und dem Wachstum zugeschaut.

Verträumten Blickes steigt in ihm die Erinnerung an die Sechs-Tage-Tour auf, eine sich in ihm fest verankerte Erinnerung. Nach seiner Pensionierung stellte sich ihm die Frage, was nun? Was mit dem Rest seines Lebens anfangen? Die Kollegen sprachen von einem großen Loch, einem schwarzen Loch, in das er fallen werde, wenn er kein adäquates Betätigungsfeld für sich finden würde. Im Vergleich zu seinen Kollegen war er eher träge was ehrenamtliche oder Vereinsaktivitäten betraf, so dass er außer dem ruhenden Lesen und Musikhören keine stundenfüllende Hobbyaktivitäten hatte.

Die Kollegen hatten lauter Ratschläge parat, von denen Edmund von vornherein wusste, dass er diese nie umsetzen würde, wie etwa Golf oder Tennis spielen, sinnloses Eindreschen auf eine unschuldige Kugel, was sollte das?, oder Nachhilfestunden geben, Schwachsinn, er wollte einen Schlussstrich ziehen, einen ganz dicken Strich, den Pädagogen sonst wohin hängen, was er auch tat, las viel, wanderte im vor der Haustür liegenden Wald, begann sich mehr für die Natur zu interessieren, fuhr mit dem Fahrrad längere Touren, allein, da Helen noch in Arbeit war und dies noch für mindestens sechs Jahre.

Bestückt mit einem Fernglas, einem Foto fuhr er verschiedene Seen an, von denen es in seiner Wohnumgebung etliche mehr oder weniger große gab, beobachtete Wasservögel, fotografierte sie und schlug zuhause im Lexikon nach, um welchen Vogel es sich handelte, den er da abgelichtet hatte. Bei einer seiner Fahrten kam er an Knutson Kate vorbei und las dessen Hinweisschild „Boote zu vermieten“, fand die Idee von Land auf Wasser zu wechseln interessant, so könnte er den Vögeln auf das Gefieder rücken. Knutson, braungebranntes Gesicht, leicht gefaltet, Stoppeln um sein Gesicht, hellbraune Haare, blaue Augen, über denen buschige Augenbrauen auffielen, leicht vorstehende Backenknochen auf denen eine kleine Falte ein permanentes Lächeln andeutete, saß auf einer Bank neben dem Seiteneingang der Kate, die nur er so nannte, untertrieb wie bei vielem, sein Scheffel immer tiefer hängend als es ihm gebührte.

 

Das Haus ist ein großes zwischen dem Fachwerk weiß getünchtes, reetgedecktes Gebäude, doppelt so groß wie üblicherweise eine Kate ist. Im Untergeschoss hatte Knutson mit seiner Frau Tilde ein Restaurant eingerichtet, den Gästeraum in rot-weiß gehalten, alte schwere Holztische umringt von alten Holzstühlen, mit Liebe zum Detail, dass sie aber seltsamerweise nicht betrieben. Das Warum, erklärte Knutson nur mit einem Schulterzucken. Das Obergeschoss der Giebelraum, früher Lagerplatz für Heu, Stroh, Kartoffel oder sonstige Erzeugnisse der bäuerlichen Arbeit, ist zu einem Sammelsurium des Lebens der Knutsons geworden, aufnehmend, was nicht mehr gebraucht wurde, aber zu schade zum Wegwerfen war, wie er sagte, und das zu schade bezog sich auf alles, was sie aus ihrem Leben sortiert hatten, von den Spielsachen der Kinder, über die ausrangierten Möbel, Matratzen, selbst manche Jacke aus Knutsons Bestand fand nicht den Weg in den Altkleidercontainer, sondern vergammelte abgehängt in einem der alten Schränke.

„Das Museum meines Lebens“ nannte es Knutson, als er Edmund durch das Dachgeschoß schleuste. Das Nebengebäude, auch untypisch für eine Kate, war nicht ganz so groß wie das Hauptgebäude, auch reetgedeckt, diente als Unterkunft der Ruderboote, Kanus und Kajaks im Winter. Beide Gebäude waren umringt von bunten Wiesen, auf denen drei Schafe die Aufgabe des Rasenmähers, beziehungsweise der Sense, die hier notwendig gewesen wäre, übernommen hatten.

Das Gelände führte leicht abschüssig hinunter zum See, wo auf zwei Bootsstegen die Segel- und Ruderboote vertaut waren und die Einsatzstelle der Kajaks lag. Edmund ließ sich von Knutsen in das Kajakfahren einführen und begann erste Erkundungen auf dem Kellersee zu machen. Das Boot, mit dem er seine ersten Erfahrungen auf dem See machte, war die Isabel. Jedes Boot, das Knutson anschaffte, erhielt von ihm und Tilde einen Namen, „unsere Kinder, die wir nicht bekommen konnten.“

„Eure Kinder? Was heißt nicht mehr bekommen konnten?“

„Na ja Eddy, in unserem Alter, da geht so einiges nicht mehr!“

„Ach so.“

 

Und Isabel, der (oder eine die?) Wanderkajak, am Rumpf blau, die Fläche über dem Wasser kirschrot, der weiße Schriftzug, knapp unter der Wasserlinie links und rechts am Bug liegend, wurde fortan seine Begleiterin auf den Seen. Er rief Knutson vorher an, orderte Isabel, war sie nicht frei, fiel der Wasserausflug halt aus, wenn wassern, dann nur mit Isabel. Von der Seefahrt, die es war, zurück wechselte er mit Knutson ein paar Worte oder setzte sich mit ihm auf die Bank vor der Kate, trank ein Bier, ein Wein oder einen Kaffee, je nachdem was Knutsons Frau Tilda anbot, die statt dem Restaurantbetrieb eine Art Hofkaffee unterhielt mit Öffnungszeiten, wie sie ihr passten, das hieß, entweder war zu oder es war offen.

Sie tauschten sich aus über das Wetter, die aktuelle Beschaffenheit des Sees, über Vögel, die er gesehen hatte, aber nicht wusste, was er da gesehen hatte, Knutson wusste, was Edmund gesehen hatte ohne die Vögel gesehen zu haben, redeten über Politik, Ortsgeschehen immer unterbrochen von längeren Pausen, in denen sie ihre Gedanken durch die Gegend schweifen ließen.

„Du bildest die Natur ab? Und dann?“

„Wie und dann?“

„Was Du mit den Bildern machst, meine ich?“

„Ich schaue sie mir an. Suche nach dem Namen des abgebildeten Vogels, sofern ich ihn nicht kenne und lese über ihn, was andere so schreiben.“

„Also nicht für das Fotoalbum.“ Edmund musste lachen „Nein, dann könnte ich die Fotos auch gleich in die Tonne geben.“

„Du magst Natur?“

„Ja, ich bewege mich gerne in ihr und versuche, ein wenig vom dem zu verstehen, was Natur ausmacht.“

„Also, wenn Du Natur hautnah erleben willst hätte ich da einen Tipp für Dich.“

 

Und Knutson machte ihm seine Sechs-Tage-Tour schmackhaft, eine Tour, die er einmal im Monat anbot. Edmund war schnell überzeugt, bis auf die Kleinigkeit des Übernachtens. Knutson sprach von Zelten, sah in Edmunds besorgtes Gesicht und milderte ab „Na ja, es gibt auch Gasthöfe auf dem Weg.“ Damit stand der Teilnahme nichts mehr im Weg. Eine Teilnahme mit sechs wundervollen Tagen, die sich fest in Edmund eingebrannt hatten. Nie war er der Natur so nahe gewesen, hatte, dank Knutson, viel gesehen und gehört.

Die Schwentine, ein eigentlich kleiner Fluss, manche würden ihn einen Bach nennen, was Edmund aber nicht gelten ließ, war so clever, durch viele Seen zu fließen, sich bei denen mit Wasser vollzusaugen und weiterzufließen bis zur Ostsee, in die sie all die aufgenommenen Wasser einspeiste.

Und dieser Schwentine entlang durch die Seen folgte die Tour, beginnend am Kellersee, durch den Dieksee, den Behler See, den Plöner See, den Lanker See, den Rosensee und andere Seen. In einem gemächlichen Tempo paddelten sie dahin, streiften Naturschutzgebiete, vorbei an ihr Brutgeschäft ausführenden Graugänsen, Ringelgänsen, Nonnengänse oder gar Kanadagänse, die mitunter als interessierte Begleiter neben ihnen herschwammen, die Hälse aufrecht gereckt, den Blick stetig wechselnd zwischen den Eindringlingen und dem Wasserweg, der vor ihnen lag.

Edmund hatte Vögel gesehen, die er nur vom Namen her kannte und manche nicht einmal mit diesem. Sah Eisvögel, Rohrdommeln, weiße und graue Reiher, Flussseeschwalben, Trauerseeschwalben sogar einen Seeadler, der aus luftigen Höhen im Sturzflug auf die Seeoberfläche zuraste, sanft abbremste, die Beine ausfuhr und seine Krallen in den Rücken des ahnungslosen Fisches rammte und mit ihm davonflog.

Er sah Flussuferläufer, Zwergmöwen, Rotschenkel, Austernfischer und weitere Limikolenarten, sah Sprosser, Klein- und Buntspechte sowie Schwarzspechte, Gebirgsstelzen, eine Artenvielfalt, griffnah und doch so geschickt im Verborgenen lebend, dass Knutson ihn und die anderen Teilnehmer um Stille bat, die auch so staunend herrschte, um dann auf die Vögel zu verweisen, die ihren ungeübten Augen entgangen waren.

 

Nur selten gelang Edmund ein Schnappschuss, da die scheuen Vögel längst ihren Platz gewechselt hatten bis er dazu kam, seine Kamera schussbereit zu machen. Aber nicht nur die Vogelwelt zeigte sich in ihrer Vielfalt, auch die Fauna war beeindruckend, Buchen, Erlen und Eichen reichten bis an die Seen, unterbrochen von Wiesen, an den Ufern mit Schilf bewachsen, auf den Wiesen mitunter Kühe stehend, neugierig mit ihren Glupschaugen auf die seltsamen Wesen auf dem Wasser schauend, neben der Schwentine Schilfbewuchs, Weiden, Pappeln, mal gerade stehend, mal windgeneigt, mal gekippt und im Wasser liegend, urwüchsig aussehend das Ganze, dann die Inseln in den Seen, von den Wasservögeln beherrscht, dort ungestört von Fuchs und anderen Räubern ihre Eier abzulegen, auszubrüten und den Nachwuchs aufzuziehen, die Insel "Olsborg", die kleine Insel "Hankenburg", die Halbinsel "Prinzeninsel" und all die anderen Inseln, die sie streiften.

Ihnen zu nahe kommen durften sie nicht, Knutson sorgte für den gebührenden Abstand, erklärte wer dort brütete und wie lange, auch Seeadler hätten hier ihre Nester, von denen Edmund aber keines vor die Augen oder gar die Linse bekam. Unter ihnen das Wasser glasklar, kleine und kleinste Fische waren zu sehen, keine Forellen, Barsche, Schleien oder gar Hechte, die sich eher im Uferbereich sicher fühlten, an die sie mit ihren Booten nicht heranfahren durften, aber sich in der Sonne wärmende Schildkröten sahen und einmal kam eine Schlange auf ihn zugeschlängelt, wahrscheinlich eine Ringelnatter, wie Knutson meinte, die aber kurz vor Erreichen des Kajaks abdrehte, anscheinend bemerkt hatte, dass dieses Boot nicht in ihr Beuteschema passte. Wald und Wiesen wurden unterbrochen von Besiedlung, Orte, Häuser, Gutshöfe, die ihren eigenen Seeanteil hatten, aber vom See aus einen ganz anderen Eindruck als vom Land aus betrachtet hinterließen, wie das Gut Wahlstorf mit seinen alten gemauerten Gebäuden, riesigen Reetdachscheunen, schönen Backstein-Nebengebäuden und einem imposanten Herrenhaus. Ein herrliches Etappenstück lag bei Gut Rastorf, wo die Schwentine mit einigen kleinen Nebenarmen durch richtigen Auenwald mit einem steil ansteigenden Gelände im Hintergrund fließt, Revier von Rehen, Bisam, Sumpfschildkröten.

 

Sechs Tage in dieser anregenden Umgebung, frischer Luft, wechselnden Gerüchen, von üblichen landwirtschaftlichen Ausgüssen bis zum morastischen, modrigen Duft der sumpfigen Ufer, der Frische der Blätter der Buchen, Erlen und Sträuchern an den Uferrändern, dem Zwitschern, Schnattern, Piepsen der Vogelwelt, dem die Mitfahrer bemüht still und mit gedämpften Stimmen, so geräuschlos wie möglich über das Wasser glitten. Edmunds Begeisterung dämpfte Knutson, der ihm deutlich machte, dass sie als Störenfriede unterwegs seien und alles zwar idyllisch, aber keine Idylle sei. Überall lauerten den Lebewesen hier Gefahren, jeder war hier jedem seine Mahlzeit. Nein, was für die vorbeifahrenden Kajake Idylle sei, sei für die hier Lebenden Kampfplatz um das Überleben. Aus der Luft, dem Wasser, vom Land aus drohte Ungemach, Knutson erzählte von einem Hecht, der die Küken von Blässhuhn, Zwergtauchern, Enten, Gänsen und anderen Wasservögeln in seinem Revier radikal dezimierte, Angler, die ihn fangen sollten, ihn nicht erwischen konnten, die Wasservögel ihm seine Mahlzeit weiterhin zutrieben.

„Idylle gibt es so wenig wie das Paradies, alles nur Illusion, durch die wir gemach dahingleiten“.

Es klang nach Anglerlatein, aber der Pointe stimmte Edmund stumm zu.

Neben dem Naturerlebnis waren es aber auch die Abende, die Rasten, dem Austausch der Erfahrungen, den Erkenntnissen, den Gefühlen mit den Mitfahrern, die aus verschiedenen Ecken Deutschlands kamen, Edmund der einzige Einheimische, der abends dann mit Knutson zusammensaß, Gedanken austauschte und Knutson in der Achtung von Edmund stetig zunahm, da er nicht nur bewandert war in allem, was die Natur betraf, sondern sich auch politisch und historisch auskannte, immer so tat, als sei er notorischer Provinzler, aber hatte es faustdick im Kopf. Irgendwann kamen sie auf den Nachwuchs zu sprechen, beide konnten von einer Enttäuschung sprechen, Knutson von einer doppelten.

Sein Sohn hatte Koch gelernt, schipperte nun auf den Weltmeeren herum, war überall zuhause, nur nicht zuhause, das Erbe zu übernehmen, wie es Knutson gehofft hatte. Die Knutsons sind eine alte Landwirtsfamilie mit eigener Fischerei, mit Henning ging beides zu Ende. Er hat sich auf den Verleih von Schiffen, aber auch Anhängern und Campern verlegt, die Kate hatten sie ausgebaut und als Lokal vorgesehen, dass der Sohn dann übernehmen und weiter entwickeln sollte, aber, dazu hatte dieser nun gar keine Lust (Ach, deshalb!).

Die Tochter hatte in Hamburg und London studiert, ging dann nach London, arbeitete dort als Unternehmensberaterin, spezialisiert auf die Organisationsberatung von Banken und war viel zu beschäftigt, um daran zu denken, ihre Eltern zu besuchen.

„Was heißt Beraterin von Banken?“

„Sie hilft den Banken, ihre internen Abläufe zu optimieren.“

„Hm, Mitarbeiter durch Automaten ersetzen?“

„So ähnlich!“

„Mit der Frau Gerber oder der Schliemann konnte man noch reden. Ich mag keine Automaten.“

„Ist der Fortschritt Eddy, der ist schneller als wir leben.“

„Hä?“

„Vergiss es Eddy, vergiss es.“

 

Das Leiden über ihre Kinder und die Frage, was sie falsch gemacht hatten, brachte sie einander näher. Es entstand Vertraulichkeit, so etwas wie Freundschaft, die sich hielt bis Helens Krankheit ausbrach und ihn so beanspruchte, dass er die lieb gewordenen Besuche bei Knutson nicht mehr wahrnehmen konnte. Edmund hatte schon so viele Abschiede nehmen müssen, von seinen Schülern, immer dann, wenn er sie gerade so gut kennen gelernt hatte, um die Stärken und Schwächen der Einzelnen zu erkennen, Ansatzpunkte zur Förderung fand, musste er sie gehen lassen, loslassen. Nein, Loslassen hatte er noch nie gekonnt und nach den nur sechs Tagen fiel es ihm schwer, von den anderen Teilnehmern Abschied zu nehmen, man hatte einiges zusammen erlebt, viel geredet und nun sollte sich wieder alles in Luft auflösen, natürlich, man sagte sich zu, in Kontakt zu bleiben, sich zu melden, aber wie das so ist, aus dem Auge aus dem Sinn. Aber ihm blieb ja noch Knutson und zu diesem waren es nur 20 Minuten mit dem Fahrrad.

Er erhebt sich aus dem Stuhl, auf den er sich gedankenversunken niedergelassen hatte, steckt beide Hände in die Hosentaschen, wippt mit dem Körper, vor dem Fenster stehend, leicht vor und zurück, schaut wieder in den Garten hinaus, der Garten, der die pflegende Hände Helens vermisst, alles wild wuchernd, käme nicht ab und an der Gärtner, um dieses wilde Streben einzudämmen, der Garten wäre längst zu einem dschungelartigem Dickicht degeneriert, zur Freude der Insekten und anderem Getiers, zum Jammern aber für Helen, könnte sie denn Jammern. Und kein Gartenzwerg darin. Von wegen Spießer. Wieso nannte ihn Harald Spießer? Verdammt. Er versteht das nicht, versteht Harald nicht. Spießer? Ich? Und wie war das andere? „Konsequenzloser Allesversteher“. Gut, das verstand er.

Aber was gibt es daran auszusetzen? Ja, er versucht immer beide Seiten zu verstehen, jedem sein Motiv zu ergründen, nur so kann man gegen ein Motiv argumentieren. Verstehen heißt auch entschärfen, einen Konflikt nicht eskalieren zu lassen. Als Pädagoge hatte er immer so gehandelt, in der Schule, als auch zu Hause. Es musste nicht immer eine Konsequenz erfolgen, denn mitunter war eine Konsequenz schmerzhaft und Schmerzen galt es zu vermeiden. So hatte er immer gehandelt, anscheinend hatte er dabei Fehler gemacht. Aber welche?

Sein Vater hatte immer gesagt, wer der Herde hinterherläuft, sieht immer nur Ärsche. Vater wusste wovon er redete, zwei Mal war er der Herde gefolgt, dass erste Mal hatte er auf seinen Kaiser gehört und war ihm, nein nicht ihm, der wusste sich zu drücken, aber den anderen gefolgt, in einen Schlamassel, den er nur knapp überlebte und das zweite Mal, weil er falsche Hoffnungen hegte und erst spät merkte, dass er mal wieder Ärschen folgte. Vaters Satz hatte sich bei Edmund eingeprägt, genauso wie der zweite ihn prägende Satz, der aber nicht von seinem Vater kam, sondern er hatte ihn nach dessen Erscheinen in Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras" gelesen.

 

Das war sein Roman, seine Zeit, sein Leben, dass Koeppen da beschrieb. Im Nachkrieg, im Brauhaus in München, die Kapelle spielte den Badenweiler Marsch, Lieblingsmarsch des verblichenen Führers, die Menge klatschte begeistert im Stehen mit und der Protagonist meinte: „Es waren nicht Nazis, die sich da erhoben. Es waren Biertrinker.“

Ja, die die hinter oder in der Herde mitliefen, die mitmachten und es nicht mehr wussten und das, was sie angerichtet hatten nicht wahrhaben wollten. Normalbürger, bürgerlicher Durchschnitt, mit kleinsten Ködern zum Nachlaufen animiert. So war es, so ist es. Edmund hatte mit angesehen, wie die alte Frau Goldschmidt aus der Nachbarschaft aus ihrem Haus gezerrt wurde und was die sonst so zurückhaltende Frau Keller, eine andere Nachbarin, hasserfüllten Blickes der Goldschmidt nachrief und all die anderen, die dem Schauspiel grölend folgten, sein Vater ihn wegzog „Was machen die mit Frau Goldschmidt? Papa?“ „Frau Goldschmidt muss umziehen. Komm, schnell weg hier!“

Diese Biertrinker gibt es immer noch, wird es immer geben und derzeit kommen sie wieder in Mode, haben ein Sprachrohr, eine Partei, aber zum Glück noch keinen Führer. Edmund misstraute den Menschen, da er sie in einer Zeit erlebt hatte, in der Misstrauen in menschliche Beziehungen einzog, Unsicherheit einschlich, sich in die Familie einnistete, vor allem, weil der Onkel, Philipp, als SA-Obersturmbannführer die Ortsgewalt inne hatte, mit Ohren in die Verwandtschaft und einem Mundwerk, das Edmunds Vater drangsalierte, ihn, Edmund, Hitlers Jugend einzuverleiben, „Blond, blauäugig, gerade gewachsen, so etwas darfst Du dem Führer nicht vorenthalten!“

Der Vater hatte sich von Ausrede zu Ausrede gehangelt, es nicht zu tun, die Mutter dagegen hätte ihren Edmund gerne in der schmucken braun-schwarzen Uniform gesehen und er musste lernen zwischen den Ansprüchen der Staatsorgane und der seiner Eltern zu lavieren. Allem Übel, von dem es einiges gab, aus dem Weg zu gehen, war die Voraussetzung, um unbeschadet durch raue Zeiten zu kommen. Es waren Jahre, Jahre des Heranwachsens, die ihn prägten. Nur wenige Menschen ließ er an sich heran, hielt Abstand. Und die, denen er sich geöffnet hatte, waren ihm entglitten, einfach abhandengekommen. Zu spät hatte er erkannt, welche Auswirkungen seine Lebenseinstellung auf andere hatte. Auf Helen. Auf Harald.

Er lebte auf Distanz zur Masse, zur Herde, hegte Sympathien mit all denen, die keine Herdenläufer waren, den 68iger, den Langhaarigen, den Hippies, den Stones, den Antikriegsgegnern, Atomkraftgegner, Startbahn-West-Gegnern, nur bei den Schwulen hielten sich seine Sympathien in Grenzen, zwar auch alles andere als Herdenfolger, aber irgendwie war da eine Bremse, eine Sympathiebremse, nein, er musste ehrlich sein, es war eine Abneigung und es fehlte das Gegenetwas sein. Oder war es etwas anderes? War das die Wut von Harald, dass Edmund alle verstand, nur seinen Sohn nicht, den Schwulen?

 

Sein Kopf ist voller Gedanken, voller Erinnerung, da strömt alles auf ihn ein, anscheinend ist es so, dass je näher der Zeitraum bis zum Ende kommt, desto gehäufter kommen die Erinnerungen, selbst die, an die er sich eigentlich gar nicht erinnern möchte. Es wird langsam Zeit aufzubrechen, hoch auf den Wilhelmsberg zu fahren, zu Helen, Abschied nehmen, endgültig Abschied zu nehmen von einem langen Abschied, der, je länger er dauerte, immer einseitiger wurde. Helens Seele ist schon davon gegangen, nur ihr Körper ist noch da, ein seelenloser Körper.

Zwar hat er ihr gestern schon seine Absichten mitgeteilt, auf die sie, wie hätte es auch anders sein sollen, keine Reaktion gezeigt hatte. Er weiß nicht, was er sich von einer weiteren Verabschiedung erhofft, eher eine hilflose Geste, unfähig loszulassen. Er schaut auf die Uhr über der Vitrine. Der Bus würde in zwanzig Minuten kommen, hat also noch etwas Zeit. Von Helen wollte er dann mit dem Bus runter in die Stadt zu Dimitri fahren, seine Mittagsmahlzeit einnehmen, Henkersmahlzeit kommt ihm in den Sinn.

Ist es eine Henkersmahlzeit? Nein, er ist ja kein verurteilter Straftäter, nein, niemand der ihn richtet. Eine letzte Mahlzeit einnehmen, zwar überflüssig, ist mehr dazu gedacht, um sich auch von Dimitri zu verabschieden, also nicht wörtlich und mit Handschlag, nein, es würde ein stiller Abschied werden, bei einem letzten gemeinsamem Glas Uzo, einem letzten Blick in sein freundliches Gesicht, mit den blauen Augen und den grauen Stoppeln rund um.

 

Seit Helen im Heim ist hat Edmund sich angewöhnt, Mittagstisch abwechselnd bei Dimitri, dem Chinesen, bei Toni oder dem Brauhaus einzunehmen. Mit Helens Erkrankung hatte er ihrer beide Versorgung selbst in die Hand genommen. Kochen war ihm nicht unbekannt, da Helen tagsüber arbeitete und wenn er mittags aus der Schule kam, sich selbst etwas zubereitete, anfangs einfache Gerichte, fand Gefallen daran, besuchte Kochkurse bei der Volkhochschule und verfeinerte seine Kochfähigkeiten.

Während er für sich und Helen kochte, hatte er ständig ein Auge auf sie, die sich im Wohnzimmer bewegte, mit der rechten Hand über Regale, Bücher, Nippes, den Tisch, selbst die Pflanzen auf der Fensterbank, strich, verträumten Blickes, mitunter glaubte er ein Summen zu hören, als würde sie Erinnerung schwelgen, wo und wann sie die Gegenstände ausgesucht, gekauft und angeordnet hatte. Dr. Sönke hatte angemerkt, dass die Krankheit mitunter die Motorik spontan ankurbeln könnte, Hyperaktivität bis zu aggressiven Handlungen möglich wären „Ja, ja, die Krankheit hält viele Überraschungen bereit!“

Und um diesen vorzubeugen, blickte er so oft er konnte ängstlich nach Helen, was das Kochen etwas anstrengend gestaltete. Mitunter war sie plötzlich verschwunden, fand sie aber immer im Garten, darin wandelnd oder auf der Bank sitzend, während drinnen das Nudelwasser überlief. Eine Alternative wäre gewesen, sich das Essen bringen zu lassen, aber für das fade Folienessen war er noch nicht bereit, vielleicht, wenn seine Geschmacksnerven ihren Geist aufgaben, Geruchssinn sich verzog aus seinem Leben, wäre er fällig, diese industrielle und lieblos zusammengekochte Pampe zu sich zu nehmen.

 

 

 

III

Der Mensch weiß, dass er sterben muss, kann aber nicht wissen, dass er tot ist

(Samuel Butler)

 

 

So, jetzt muss er aber los, geht leider nicht direkt zum Pflegeheim hinauf, er muss noch eine kleine Stadtrundfahrt im Bus mitmachen, bevor er oben anlangen wird, verabschiedet sich von Filou, geht vor zur Garderobe, zieht wieder seine dünne Sommerjacke an, schließt die Haustüre hinter sich ab. Nach dem Mittagessen bei Dimitri will er noch einmal kurz heimkehren, sich für den letzten Gang, beziehungsweise die letzte Fahrt entsprechend umkleiden. An der Bushaltestelle steht niemand, wie fast immer, der Himmel ist noch immer klar, die Luft hat sich erwärmt, angenehm mild, nur ein leichter Wind.

Der Bus kommt, hinter dem Steuer sitzt Vitali, ein Russlanddeutscher, ein Spätaussiedler, von denen sich etliche in der Stadt angesiedelt haben, aus der Gegend um Saratow an der Wolga kommend, einer über 200 Jahre fast rein deutschen Kolonie, in der auch unter den Kommunisten die deutsche Kultur und Sprache nicht gänzlich unterdrückt werden konnte, Vitali genügend Deutsch sprach, um schnell hier heimisch zu werden. Edmund setzt sich, wie meist, wenn Vitali den Bus lenkt, direkt hinter Vitali, um ein wenig mit ihm zu plaudern. Im Bus ist nur noch ein weiterer Fahrgast. Vitali lächelt beim Einstieg Edmund zu.

„Na Eddi, gehts wieder zur Frau? Die wird sich schon freuen.“

„Sicher, wenn sie das könnte, würde sie das tun. Und wie geht es Dir?“

„Wie soll das schon sein? Ist wie immer.“

„Was macht der Garten? Jetzt geht die Arbeit wieder los.“

Vitali ist Busfahrer und leidenschaftlicher Hobbygärtner. Draußen, am Rande der Stadt, bewirtschaftet er in einer Kleingartenkolonie ein Stück Land, jeder Zentimeter genutzt für Gemüse, von der Kartoffel bis zum Grünkohl, den Erdbeeren bis zu den Äpfeln, die er erntet, seine Frau sie zu Gelee verarbeitet, zu Kuchen und auf der Parzelle kein Gartenzwerg weit und breit.

Bei einem Spaziergang traf er zufällig Vitali, der dabei war die Kleingartenanlage zu betreten und ihn einlud, sich sein Pachtstück anzuschauen. Edmund vermutete hinter der hohen Ecke das Eldorado der Spießbürgerlichkeit, das er aber nicht vorfand. Die, die Parzellen gepachtet hatten, waren Russlanddeutsche, Polen, ein paar türkische und auch ein paar deutsche Familien, wobei eigentlich alle Deutsche sind, nur unterschiedliche Wurzeln haben, und etliche Parzellen gammelten vor sich hin. Vitali und seine Frau wussten, was Mangel ist, sie kannten, bevor sie ausreisen durften, nichts anderes und gegen Mangel half nur Selbstversorgung, ein Verhalten verankert in den Familiengenen.

 

Der Überfluss, auf den sie trafen, war verwirrend, aber sie misstrauten ihm und pflegten ihre Tradition fort. Die Anlage war ein Verein, dem nach und nach die Mitglieder wegstarben und damit gingen auch die Kulturtechniken verloren, ein Verlust, von dem die Supermärkte profitieren. Wenn Edmund einkauft hält er mitunter inne und betrachtet sich das, was da in Büchsen oder Gläsern steckt und fragt sich, was die Leute wohl tun würden, wenn Notzeiten ausbrächen, die Regale in den Supermärkten nicht mehr aufgefüllt würden. Wie würden die Leute überleben, deren Fähigkeiten sich auf das Öffnen von Verpackungen reduziert hatte?

Seine Mutter, erinnert er sich, hat noch alles, was so im Garten gepflanzt wurde, verarbeitet, eingeweckt, eingekocht, haltbar gemacht. Gut, das war notwendig, damals, es gab noch kein Aldi, Real, Netto und wie diese Versorgungscentren sonst noch heißen. Aber schon die Generation danach verlernte, was bei all den Generationen vor ihnen Bestandteil des Lebenszyklus war. Vitali hatte eine Gartenhütte und drum herum wuchs und gediehen seine Anpflanzungen, überwiegend Gemüse, nur am Rande hatte seine Frau Blumenbeete angelegt. Ein Ort der Idylle, ein Ort der Ruhe, einer Gemeinschaft gemeinsamen Interesses. Edmund achtet dieses Engagement, diese Kulturpflege.

„Ja, alles wächst. Auch Unkraut. Musst Du kleinhalten.“

Der Bus hält an. Der Fahrgast steigt aus, drei neue steigen ein. Alles betagte Herrschaften, denen der Bus ein hilfreiches Bewegungsmittel ist.

„Hast Du auch Maulwürfe da draußen? Bei mir taucht immer wieder mal einer im Garten auf, den gieß ich mit Waser ab.“

Vitali lacht: „Lebt Dein Garten, lebt da auch ein Maulwurf. Macht die Erde locker, schadet nicht.“

Na ja, da konnte man geteilter Meinung sein, aber das will er jetzt nicht weiter vertiefen, wollte ja nur höflich sein. Wenn er fährt, spricht Vitali nicht, darf er nicht, ein Schild „Während der Fahrt ist das Sprechen mit dem Fahrer verboten!“ macht dies nachdrücklich und Vitali hält sich an die Anweisung, na ja, nicht immer. Edmunds Blick geht nach draußen, sieht auf die Gebäude, an denen sie vorbeifahren, schon unzählige Mal gesehen, aber heute zum letzten Mal.

Irgendwie komisch, das etwas in seiner Bedeutung wächst, wenn man die Gewissheit hat, es ein letztes Mal zu sehen. Der Bus stoppt kurz an der Ampel, quert dann die Straße und beginnt die Auffahrt den Hügel hoch, auf dem das Pflegeheim steht.

 

Nach dem Anruf beim Arzt, dem Edmund Helens Zustand beschrieb, bekamen sie kurzfristig einen Termin. Dr. Sönke diagnostizierte nach eingehenden Untersuchungen eine mittelschwere Demenz, wobei nicht alle Symptome typisch dafür seien, manche würden gar nicht passen, er eine gewisse Ratlosigkeit über Helens Zustand äußerte und empfahl, dass sie dringend einen spezialisierten Neurologen aufsuchen sollten.

„Spezialisiert?“

„Ja, einer, der einschlägige Erfahrungen mit Demenzpatienten hat.“

„Und wie findet man so jemand?“

Natürlich wusste Dr. Sönke so jemand, griff zum Telefon, wählte den Kollegen an schaute zu Edmund.

„Würde Ihnen der kommende Mittwoch passen? 16:30 Uhr?“

Edmund nickte ab und Dr. Sönke besprach sich noch kurz mit seinem Kollegen, wobei nicht unbedingt verständlich war, was sie besprachen, aber es ging anscheinend um die Medikation. Er verschrieb einen Cholinesterase-Hemmer, erklärte den Wirkstoff Donepezil und riet Edmund dafür Sorge zu tragen, dass Helen einen guten Pflegeplatz erhielt, nicht sofort, aber bald. Helen folgte den Ausführungen von Dr. Sönke aufmerksam, schwer zu sagen, ob sie alles verstand, zumindest die Worte Pflege und Heim ließen ihre Augen weiten, Falten auf ihre Stirn ziehen. Er sah zu ihr hin, nahm ihre Hand, tätschelte sie leicht „Keine Angst, mein Schatz, Du bleibst bei mir, zu Hause. Ich sorge für Dich.“

„Es ist Ihre Entscheidung. Ehrlich gesagt, keine besonders gute.“

Stand auf, ging zu einem Regal, seinem Schreibtisch gegenüber, entnahm diesem eine Broschüre.

„Die ist herausgegeben von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Lesen Sie sich die Broschüre gut durch. Sie können dort nachlesen, was sie erwartet, wobei, der Verlauf der Krankheit kann sehr unterschiedlich sein. Aber der Kern der Krankheit wird Ihnen nicht erspart bleiben,“ und drückte Edmund die Broschüre in die Hand.

 

Den Heimweg erinnert er, als wäre er gestern gewesen, die ständige Frage Helens, was nun aus ihr werde und sein mantraartiges, hoffnungslose „Wird schon werden.“ Als ob da noch irgendetwas werden könnte. Was er dann las, bestätigte seinen Pessimismus, Demenz war ja in aller Munde, war Volkskrankheit, von daher war ihm das Thema nicht unbekannt, aber die Lektüre der Broschüre erzeugte eine angstbesetzte Beklemmung, vor den Folgen der Erkrankung, mit der er sich nun auseinandersetzen musste. Was aber außer Frage stand war, Helen in ein Pflegeheim zugeben.

Dies allerdings war das Erste, was Dr. Kirsten, der Neurologe ihm empfahl. Er führte verschiedene Tests mit Helen durch, welche mit Zahlen, welche mit geometrischen Figuren und solche mit Bildern, zu denen er Fragen stellte. Grundsätzlich bestätigte Dr. Kirsten Edmund gegenüber, während Helen noch im Testraum saß, Dr. Sönkes Diagnose.

“Aber“, begann er vorsichtig, „Ihre Frau zeigt Symptome, die sie noch gar nicht zeigen dürfte.“

„Das heißt?“

„Also, vorsichtig ausgedrückt, die Erkrankung Ihrer Frau weicht vom üblichen Verlauf ab. Sie eilt dem Verlauf voraus.“

„Und was bedeutet das?“

„Nun ja, sie wird bald alle Fähigkeiten verlieren, ihren Alltag selbst zu bestreiten. Sie wird vermutlich in eine Apathie verfallen, in der sie für Sie nicht mehr erreichbar ist.“

Er bemerkte den Schock, den er Edmund versetzt hatte.

„Ich weiß, Herr Wismut, das ist jetzt eine sehr harte Wahrheit für Sie, aber ich möchte nichts beschönigen. Sie wissen, es gibt bei dieser Krankheit keine Hoffnung, nur ein Verzögern, bei sachgerechter Pflege. Dieser Zustand wäre auch so gekommen, halt erst Monate später. Warum es bei Ihrer Frau so schnell geht, kann ich Ihnen nicht erklären. Dr. Sönke hat ihrer Frau Donepzil verordnet. Gut, dabei belassen wir es vorläufig. Ihre Frau neigt nicht zu aggressivem Verhalten?“

Edmund schüttelte leicht den Kopf.

„Innere, äußere Unruhe?“

Wieder schüttelt Edmund stumm den Kopf.

„Äußert sie mitunter Ereignisse, die Ihnen absurd oder einfach nur realitätsfern erscheinen?“

Resignatives Kopfschütteln und so richtig hörte er dem Doktor auch nicht zu, ihm irrte im Kopf herum, dass Helens Krankheit ungewöhnlich schnell voranschritt, bedeutet das, dass sie auch schneller sterben würde?

„Gut, dann ersparen wir uns Neuroleptikas, die den Zustand ihrer Frau eher negativ beeinflussen könnten.“

„Ähm, Herr Dr. Kirsten, ähm, das Tempo der Erkrankung, also, bedeutet das, dass meine Frau schneller sterben wird als andere Patienten?“

 

Der Arzt schien kurz nachzudenken, wie er auf Edmunds Frage antworten sollte.

„Nein, das muss es nicht heißen. Ehrlich gesagt, meine Möglichkeiten sind bei der Frage begrenzt. Mir ist zuvor kein ähnlicher Fall untergekommen. Ich könnte Ihre Frau an Prof. Strecker von der Uni-Klinik überweisen, obwohl ich befürchte, auch er wird Ihnen nichts anderes sagen können als das, was ich Ihnen unterbreitet habe. Was Sie aber unbedingt tun sollten ist, Ihre Frau in ein auf Demenzkranke spezialisiertes Pflegeheim zu geben. Ihre Frau braucht nicht-medikamentöse Behandlungsverfahren. Sie muss aktiv bleiben und benötigt viel Anregung, was Sie, als Einzelperson nicht leisten können. Glauben Sie mir dies.“

Edmund hatte keine Fragen mehr an den Doktor, nur eine Unmenge Fragen an sich selbst und der Blick des Arztes, mit dem er Helen und ihn verabschiedete, war so niederschmetternd, dass er aus einem ausgetrockneten Mund kein Wort des Abschieds hervorbrachte. Edmund war einfach nur fertig und Helen hatte noch so viel Gespür, dass sie dies erkannte, ihn nur anschaute und darauf wartete, dass er das sagte, worauf sie gerne eine Antwort hätte.

 

Zurück im Haus erklärte er Helen die Situation, vor der sie standen. Sie saßen um den Küchentisch, er hielt sie bei den Händen, schaute sie an, sprach langsam, fragte nach, bemerkte, dass sie nicht alles verstand.

„Schatz, Du musst in kein Heim. Ich sorge für Dich. Verstehst Du mich?“

Sie lächelte ihn freundlich an und nickte. Je mehr Gedanken er sich darum machte, wie es nun weitergehen würde, umso deutlicher wurde ihm, was da auf ihn zukam. Die Liste, die er anfertigte, war schnell mit den Punkten gefüllt, von denen er glaubte, sie seien akut. Er priorisierte die Punkte und fing von oben an, sie abzuarbeiten.

Als erstes fuhr er hoch zu Dörte, sie leitete das Pflegeheim auf dem Wilhelmsberg und ist eine Schülerin von ihm gewesen. Dörtes Eltern betrieben einen landwirtschaftlichen Hof, Dörte war die älteste von drei Töchtern. Einen Stammhalter brachten sie nicht hin, so dass Dörtes Vater den Plan fasste, sie früh mit einem Landwirt zu verheiraten, um den Hof zumindest teilweise in der Familie zu halten, schließlich war er das bereits über mehr als hundert Jahre, Dörte gefiel dieser Plan ganz und gar nicht, zudem war sie sehr begabt, was Edmund erkannt hatte und sie in ihrer Entwicklung unterstützte so gut er konnte.

Dörte vertraute sich Edmund an und dieser führte mehrere Gespräche mit Jens Hermann, um ihn zu überzeugen, Dörte nach dem Abitur studieren zu lassen, was in Jens Hermanns Denken verschenkte Zeit und Geld bedeutete, biss zunächst bei ihm auf Granit, konnte aber nach und nach Dörtes Mutter von den Fähigkeiten Dörtes überzeugen und gemeinsam brachen sie dann den Granit.

Dörte studierte, leider nicht Medizin, wie Edmund gehofft hatte, sondern Pflegemanagement, was ihn überraschte, aber es war Dörtes Wunsch. Nach verschiedenen beruflichen Stationen hatte sie vor 16 Jahren das Pflegeheim auf dem Wilhelmsberg übernommen. Mit ihr nun besprach er sich, erklärte Dörte, dass er Helen bei sich in ihrer gewohnten Umgebung behalten wollte, sie aber gerne an Therapien teilnehmen lassen wollte, was Dörte äußerst skeptisch sah, schließlich aber nach langem Gespräch, Edmunds Beharren nachgab. Sie vereinbarten, Helen zunächst an drei Tagen in der Woche an Musiktherapie, Erinnerungstraining, Hirnleistungstraining und Logopädie teilnehmen zu lassen.

 

Alles Weitere wollten sie entscheiden, wenn Dörte Helen näher kennengelernt hatte und wie deren Reaktion auf die Therapie ausfallen würde.

„Du weißt schon, auf was Du Dich da einlässt?“

„Glaub mir, ich habe lange überlegt und Du bist nicht die Erste, die mir meine Entscheidung ausreden will. Ich kann Helen nicht einfach so weggeben. Aber schauen wir erst einmal, ob ihr die Therapie hilft.“

Als nächstes begann Edmund sein Zimmer, das an das Wohnzimmer angrenzte und den Ausblick auf den Garten hatte, auszuräumen, um es Helen und deren Zustand gemäß einzurichten. Trug die Möbel von ihrem alten in ihr nun neues Zimmer. Schnitt in seinem Werkstattschuppen vier Holzklötzer zurecht, die er unter Helens Sessel befestigte, damit sie aus erhöhter Warte in den Garten schauen konnte, baute eine kleine Sitzbank, damit sie bequem in den erhöhten Sessel steigen konnte, um ihren geliebten Garten im Blick zu haben.

Baute ihr die Stereoanlage auf damit er ihr die Lieder auflegen konnte, die sie mochte, stellte einen Fernseher auf die Kommode, weil er auch hier glaubte, Helens Lieblingssendungen würde den Prozess des stetigen Vergessens aufhalten, keine gute Idee, wie er im Nachhinein feststellen musste. Wenn er es recht im Gedächtnis hatte, war es das einzige Mal, da Helen ein auffälliges Verhalten zeigte, als er beim Vorbereiten des Abendessens war, sie plötzlich wimmern und schluchzen hörte, zu ihr eilte, sie in einer Ecke in ihrem Zimmer gedrückt vorfand, mit verängstigtem Gesichtsausdruck, beide Hände vor den Mund haltend und auf den Bildschirm starrend. Sie war in einen Krimi geraten und er hatte nicht aufgepasst, als das Programm wechselte, von der bergbauernden Neubauer zu irgendeiner Soko-Serie, die in ihr etwas ausgelöst hatte, was sie panisch machte.

Edmund drückte mit der Taste der Fernbedienung den Fernseher aus, nahm Helen in seine Arme, sprach ihr tröstende Worte zu, streichelte ihr über den Kopf, versuchte sie aus der Ecke zu lotsen, sie aber hatte den ausgeschalteten Fernseher noch fest im Visier, als könne sie durch ihn hindurchsehen oder erwarte, dass jeden Augenblick einer dieser Figuren aus dem Apparat steigen würde.

 

Es brauchte viel Geduld und sanften Zuspruch sie zu beruhigen, in ihren Sessel zu führen, ihre Hand zu halten, bis sich auch die letzte Angstfalte verzogen hatte, Helen den gewohnten Blick wieder in den Garten richtete. Von da ab gab es nur kontrolliertes Fernsehen, er neben ihr sitzend, den Drücker in der Hand, bei dem geringsten Anzeichen von Unruhe dem laufenden Programm ein Ende bereitend. Und er hängte Bilder auf. Aus den gesammelten Fotoalpen suchte er Bilder heraus, mit ihr, mit ihm, sie zwei zusammen, Kinderbilder von Harald, ihren und seinen Eltern, Bildern aus Urlauben, die sie zusammen verbracht hatten, Bilder von Orten, von denen Edmund wusste, dass sie Helen gefielen, kaufte Rahmen, in die er die Bilder einpasste und hing eine Wand damit voll. Helen sah der wachsenden Wand staunend zu.

„Was machst Du da?“

„Wir trainieren Erinnerung!“

Fragenden Blick auf ihn, auf das Bild vor ihr, „Erinnerung? Hm.“

Er führte Helen an die Bilder heran, zeigte auf eines der Fotos, dass sie beide in Barcelona vor der Basilika Sagrada Familia zeigte.

„Weißt Du noch, wo wir damals waren?“

Helen überlegte angestrengt „Wir waren in Spanien.“

„Ja genau, und weißt Du noch wo das war?“

Hilfloser Blick, verzweifelt schaute sie Edmund an, nein, da war nichts mehr, blinder Fleck „Das war in Barcelona“ und er begann ihr von ihrem damaligen Urlaub zu erzählen. „Weißt Du noch?“ eine Frage, die er nun so häufig stellte, dass sie wie eine der Nippesfiguren auf den Regalen des Wohnzimmerschrankes steif im Raum stand.

Da er nie, oder nur ganz selten, eine Antwort bekam schloss sich sogleich die Erzählung an, und je mehr er erzählte, um so mehr kam die Erinnerung, kamen Geschehnisse zu Bewusstsein, von denen er gar nicht mehr wusste, dass er sie wusste. Besuche in der eigenen Vergangenheit und ihm wurde immer bewusster, welch schönes Leben sie geführt hatten. Sie zwei. Bild für Bild ging er mit ihr in den nächsten Tagen und Wochen durch, erklärte, erzählte und sah, wie trotz aller Bemühungen immer mehr von dem verschwand, was sie einst gemeinsam erlebt hatte. Mitunter sah er sie vor den Bildern stehen, sah, wie sie mit dem Finger über die Bilder strich und auf ihrem Gesicht erschien ein zartes Strahlen.

Sie schien in den Erinnerungen zu versinken, redete sich Edmund ein. Besonders gerne stand sie vor den Bildern, die Harald als Baby und kleinen Jungen zeigten. Fast alle Bilder hatte Edmund dann auch in ihrem Zimmer im Pflegeheim angebracht, aber er hatte nie gesehen, dass Helen die Bilder dort betrachtet hätte. Ihr Platz dort ist ihr Ohrensessel, mit Blick auf den See, den sie so gut wie nicht mehr verlässt, in dem sitzend er sie auch heute vorfinden wird.

 

Vitali bremst den Bus am Heim ab, verabschiedet Edmund mit Grüßen an seine Frau, über deren Gesundheitszustand Vitali nichts weiß, sein Gruß aber, mit einem freundlichen Lächeln verbindet, ehrlich gemeint ist. Bis zum Haupteingang sind es noch gut zweihundert Meter leicht ansteigenden Weges, die er in Angriff nimmt, eintritt, an der Loge vorbei, hinter der Frau Killmann sitzt, die ihn mit missbilligendem Blick ansieht (hat er vergessen zu grüßen?), geht vorbei zum Aufzug, drückt den Knopf, die Tür öffnet sich und er fährt hoch in den vierten Stock, schwenkt aus dem Fahrstuhl kommend nach rechts vor zu Helens Zimmer, eines der schönsten im Haus, dank Dörte, klopft an, wohlwissend, dass sie ihn nicht hereinbitten wird, öffnet die Tür.

Der gewohnte Anblick, Helen aus dem Fenster blickend, irgendwohin, vielleicht dorthin, wo sie ist. Wie immer ist sie adrett gekleidet, dunkelblaue Jeans, blau-weiß gestreifte Bluse, blaue Strickjacke, die Kette mit den kleinen Perlen um den Hals, die Haare sauber frisiert, die Haut noch straff, kaum Falten im Gesicht, leicht geschminkt, hatte sogar etwas Lippenstift aufgetragen bekommen. Sie ist immer noch eine schöne Frau, deren man das Übel, in dem sie steckt, nicht ansieht.

Er nimmt ihre Hände in die seinen, was sie geschehen lässt, ohne den Blick zu ändern, sieht ihr in die Augen, die ersten Tränen kullern ihm die Wangen herunter. Es hatte viel Zeit gebraucht, bis er endlich einsah, dass er zu der Welt, in der sich Helen befand, keinen Einlass mehr fand. Er war außen vor, konnte nur hilflos vor der Tür stehen, wartend, hoffend, dass sie sich irgendwann einen Spalt breit öffnen würde, ein Lächeln, eine Träne, ein Seufzer, was auch immer von ihr kommen möge als Zeichen, dass da noch eine Verbindung ist.

Nein, wie eingefroren sitzt sie in ihrem Sessel, nach irgendwo blickend. Der Gedanke, sie allein zurück zu lassen, fällt ihm schwer, er muss etwas abtrennen, was ein Teil von ihm ist. Ihm ist klar, dass er nicht ewig auf Einlass warten kann, nicht ewig auf sie einreden kann, glaubend, dass das eine oder andere Wort sie erreicht.

Nachdem er endlich eingesehen hatte, dass er Helen nicht mehr erreicht, begann er schrittweise zunächst die Besuchsstunden zu reduzieren, zum Bedauern des Pflegepersonals, dem Edmund eine Hilfe war, aber um die ging es nun einmal nicht. Anstatt am Morgen zwei, am Nachmittag drei Stunden bei Helen zu verweilen, verlegte er sein Kommen auf den Nachmittag, nach dem Essen. Schließlich verringerte er die Tage, anstatt täglich kam er nur noch jeden zweiten Tag, von der Regel abweichend, wenn sein Gewissen rumorte und er spontan auf den Hügel eilte, was allerdings noch sehr oft der Fall war.

 

Edmund nimmt sich den Stuhl, der vor einem kleinen runden Tisch steht, schiebt ihn neben den Sessel von Helen, nimmt ihre rechte Hand in die seine und verharrt schweigend, ihr in ihr Angesicht schauend. Noch weiß er nicht, was er zu ihr sagen soll, zwar hat er hin und her überlegt, aber etwas Brauchbares hat er nicht zustande gebracht, zu viele Gedanken passierten sein Gehirn, zu viele, um sie in der kurzen Zeit herauszulassen. So sitzen sie eine Zeit lang nebeneinander, in den Händen vereint, mental aber weit voneinander entfernt. Sein Blick gleitet über die Bilderwand, die voller Erlebnisse ist, gemeinsam Erfahrenem, aber aus dem Gedächtnis Helens getilgt sind.

Schwermut bemächtigt sich seiner, der Speichel hat sich aus seinem Mund verzogen, verflüchtigt, trocken der Mund, bekommt kein Wort heraus, spielt verschiedene Versionen gedanklich durch, was er Helen sagen will, schließlich: „Helen, Schatz, ich hatte Dir ja gestern schon gesagt, dass ich gehen werde…Nun, heute ist soweit. Ich weiß, ich kann Dich allein lassen. Dörte wird auf Dich achten…Du bist hier in guten Händen und ich, ich kann nichts mehr für Dich tun. Ich bin überflüssig…unnütz, mich braucht niemand mehr…Auch Du nicht…Weißt Du, wenn ich jetzt gehe, wirst Du mich nicht vermissen…der Gedanke tut weh. Ich möchte vermisst werden, wenigstens von einem Menschen. Weißt Du, so richtig vermisst, so wie ich Dich vermisse,“ er klopft auf seine Brust, „sodass es schmerzt, hier drin,“ mit dem Finger auf die Stelle drückend, wo er sein Herz vermutete.

Helen verzieht keine Miene, nicht die geringsten Anzeichen einer Wahrnehmung von ihm, von dem was er zu ihr sagt: „Ich habe Angst…ja, Angst…verbrannt, zu Asche geworden, verscharrt…da ist nichts mehr. Was soll da auch noch sein?, und trotzdem…ist wirklich alles aus und vorbei? Nichts, was bleibt…ich kann mir das nicht vorstellen, dieses Ende.“

 

Seine Augen wandern zur Bilderwand, sein Körper folgt, steht nun vor den Bildern, festgehaltene Zeit, die trotzdem weiterlief, eingefrorene Momente, Momente der Aufnahme. Wie Helen fährt er mit einem Finger über die Bilderrahmen, die Glasplatten, die er sich genau betrachtet, den Moment in seinem Inneren belebt, sich des Momentes von damals erinnernd, lächelt beim Anblick von Helen, umgeben von zwei buddhistischen Mönchen, das war in Thailand, irgendwo an der Grenze zu Myanmar, als würde sie von denen abgeführt, was ja in gewissem Sinn auch der Fall war. Sie hatte Blattgoldblättchen gekauft, die sie auf eine Buddhafigur zu kleben gedachte, die aber dummerweise in einem Nebenraum stand, dessen betreten Frauen verboten war. Das Schild, das dezent darauf hinwies, dass der Raum nur Männern vorbehalten war, hatte sie in ihrer Begeisterung übersehen, worauf die beiden Mönche auftauchten und sie freundlich, aber bestimmt aus dem Raum bugsierten, ihr erklärten, dass sie Verbotenes getan hatte, Helen es nicht recht verstand, später hatte die Reisleiterin erklärt, auch für Thais sei dies ungewöhnlich, aber die Mönche hier waren Mönche aus Myanmar, geflohen vor einer Militärjunta, die jeden Protest, der von vielen Mönchen getragen wurde, mit brachialer Gewalt unterbanden und in Myanmar sei eine solche Abtrennung durchaus üblich.

Edmund hatte den Auslöser gedrückt, ohne dass Helen oder die Mönche es bemerkt hatten. Immer wenn sie später dies Foto betrachteten war dies Grund heftigen Gelächters. Nirwana, das Wort kam ihm unvermittelt in den Sinn, die Buddhisten spendeten gern und viel an ihre Klöster und Tempel, glaubten an ein Leben nach dem Tod, Köhlerglaube, ohne nachzurechnen, das Land wäre total überbevölkert, gäbe es so etwas wie Nachdemleben.

 

Die Christen glauben an den Aufstieg in den Himmel „Lieber Gott macht mich fromm, dass ich in den Himmel komm!“ hatte er jeden Abend unter Anleitung seiner Mutter gebetet, Gedichte konnte er sich nicht merken, aber dieses Gebet, an das kann er sich noch heute erinnern wie damals.

Der Himmel aber hatte kein Platz für Verstorbene, war besetzt von Elektroschrott, Spionagesatelliten, Kommunikationssatelliten, Forschungssatelliten und sonstigem Zeug. Auch das Paradies der Muslime, wo sollte dies sein? Wenn es das Paradies gäbe, hätten dies sämtliche Pauschalreiseanbieter längst in ihrem Angebot. All dieses Glauben an ein Später, seit Jahrtausenden in den Köpfen der Menschen, scheinbar unverwüstlich, immer wieder angeheizt durch die Prediger der Religionen, die Trostspender vor einem abrupten Ende, den einen Angst machend, den anderen selbstverständlich war, das redete er sich zumindest ein, aber ist es wirklich selbstverständlich?

Er wandert mit den Augen ein paar Bilder weiter: Helen vor den Pyramiden auf einem Dromedar, auf das sie überhaupt nicht wollte, der Kameltreiber hatte aber so lange auf sie eingeredet, ihr verbal zugesetzt, bis sie es aufgab und eine Runde auf dem Rücken des Tieres um die Pyramiden trabte. Ach, was waren das doch für schöne Zeiten, seufzt er, spürt plötzlich einen leichten Druck auf seinem rechten Unterarm, wendet erstaunt den Blick von dem Bild ab, auf Helen, die neben ihm steht, einfach so, stumm, starr auf die Wand sehend. Helen hat sich bewegt. Bewegt? „Helen?“ Er droht zu Bersten vor Freude. „Helen?“ Keine Regung. Ernüchtert, verwirrt sieht er auf Helen, die traumwandlerisch sich von ihm fortbewegt, die Wand entlang, die sie nicht beachtet, stehen bleibt, als würde sie nachdenken, sich wendet, zum Fenster wandelt, hinaus zu blicken scheint. Edmund sieht ihre Rückansicht, die schlapp an ihr hängende Hose, kein Hintern auszumachen, die Weste hängt schlaff an ihren Schultern, sie ist abgemagert, was ihm jetzt erst auffällt. Wieso ist ihm dies die ganze Zeit nicht aufgefallen? So mager wird man nicht von heute auf morgen. Wo hatte er hingeschaut, wenn er bei ihr war?

 

Helen steuert den Sessel an und lässt sich nieder in ihm, verfällt in die Haltung, so wie er sie beim Eintreten in ihr Zimmer vorgefunden hatte, so wie er sie immer antrifft. Fast atemlos hat er diesen Auftritt verfolgt, nicht verstehend, was da gerade geschehen ist. Es klopft an der Tür, Edmund schreckt auf, urplötzlich dringt dieses Klopfen in seine Befangenheit „Herein.“ Dörte öffnet vorsichtig die Tür, steckt den Kopf herein.

„Darf ich?“

„Natürlich…Komm herein.“

Dörte schiebt sich, ohne sie weit zu öffnen, durch die Tür in das Zimmer, betrachtet Edmund, der sich immer noch im Modus des Erstaunens befand.

„Schwester Heike sagte mir, dass Du so verändert aussehen würdest, irgendwie anders und beängstigend. Na ja, das irgendwie sehe ich jetzt. Ist alles in Ordnung mit Dir? Muss ich mir nun auch noch Sorgen um Dich machen?“

„Lieb von Dir, dass Du nachfragst. Aber Du musst Dir keine Sorgen machen. Ich weiß, ich vernachlässige mich, das ist nur vorübergehend. Versprochen.“

Da will wieder eine Träne heraus, sie soll sie nicht sehen, aber Dörte braucht sie nicht zu sehen, um zu verstehen.

„Wenn alle Patienten so eine treue Pflege hätten wie Du sie Helen gibst, wäre unsere Aufgabe wesentlich leichter. Leider sieht der Alltag aber anders aus. Aber Du musst auch an Dich selbst denken. Du hast auch ein Leben. Deiner Frau kannst Du nicht mehr helfen, nur noch Dir selbst. Leb wieder.“

„Ach Dörte, das sagt sich so leicht. Aber ich nehme es mir zu Herzen…Sag mal, Helen ging eben durch den Raum, so schwerelos, so als würde sie als Geist durch das Zimmer gleiten. Ich habe das, ich weiß nicht, wie lange, nicht mehr gesehen…Meinst Du, da wäre noch etwas?“

„Du meinst, ob sie Dich wahrgenommen hat? Nein Edmund, wir hatten noch nie eine Patientin hier, die dermaßen lethargisch ist wie Helen. Aber mitunter kommt es zu spontanen Regungen. Was diese Regungen auslöst kann ich Dir nicht sagen. Es ist wie ein kurzes Auftauchen. Dann taucht sie wieder in ihre Welt ab.“

Edmund blickt verwundert zu Dörte. Tauchen?, wie kommt sie jetzt auf Tauchen?

„Sie kam sogar einmal aus ihrem Zimmer und ging im Flur entlang. Schwester Petra hat sie in ihr Zimmer zurückgeführt. Andere Patienten wehren sich dann, werden teilweise sogar aggressiv. Nicht Helen. Ihren Zustand würde ich als teilnahmslose Sanftmut bezeichnen.“ Edmund lächelt verlegen, ja, teilnahmslose Sanftmut, das trifft Helens Zustand ziemlich genau.

 

Doch, bei Dörte ist Helen in guten Händen. Dörte tätschelte ihm mit ihrer Hand auf die Schulter „Nein, da ist nichts mehr. Ich kann Dir keine Hoffnung machen, aber das sage ich Dir ja nicht zum ersten Mal. Gut. Ich lasse Euch beide Turteltauben dann mal wieder allein.“

Helens Wandelgang, Dörtes Hereinplatzen, und Turteltauben (?), hat ihn aus dem Konzept gebracht, ein Konzept, dass er gar nicht mit sich führt, aber zumindest grob im Kopf vorsortiert hat, was er Helen noch sagen wollte, aber jetzt, jetzt ist er stumm, schaut auf Helen und weiß, er kann erzählen was er will, er würde nur den Raum mit Worten füllen und ihn nicht zufriedenstellen, und für das, was er gerne erzählen würde, fehlte ihm die Zeit.

Es mit einer Kurzfassung versuchen? Nein. Keine Geschichte, keine Erinnerung. Was aber kann er noch sagen? Nein, er will keinesfalls larmoyant werden, das hat er sich fest vorgenommen, aber was ihm aus dem Mund kommt, erzeugt genau dies.

„Helen, wir waren immer glücklich. Wir haben uns geliebt. Ich habe Dich geliebt…Diese Liebe nehme ich mit, mit in den Tod,“ sagt er unter Tränen, auf Knien vor Helen, drückt sein Gesicht in ihren Schoss. Scheiße, diese Abschiede. Er hasst Abschiede. Endgültige Abschiede, stößt sich ab, stemmt sich hoch, trocknet seine Augen ab, schaut auf die teilnahmslose Helen, wirft einen Blick aus dem Fenster, auf den See. Ob sie ihn sehen kann, wenn er draußen auf dem See sein Ende vollzieht? Schaut genauer, nein, die Stelle, die er ausgewählt hat, liegt nicht in ihrem Blickfeld. Er streichelt ihr mit seiner rechten Hand über die linke Wange, schaut sich kurz im Zimmer um, überfliegt die Bilder der Vergangenheit. „Leb wohl Helen“ und geht entschlossen los.

 

Die Beklemmung dieses Abschieds liegt ihm auf der Brust, das Atmen fällt ihm schwer und erst die frische Luft, die er beim Verlassen des Pflegeheimes in sich aufnimmt, befreit ihn etwas von dem Druck. Darf er sie wirklich allein zurücklassen? Ist das, was er vorhat eine Flucht? Stiehlt er sich aus seiner Verantwortung? Seiner Verantwortung gegenüber Helen? Nein!

Sein Entschluss ist nicht in Eisen gegossen, das ist ihm schon bewusst. Es sind diese Zweifel, diese emotionalen Würgegriffe, die mit jeder Erinnerung, an das was war, an ihm rütteln, aber das wird sich legen, wenn er den Besuch von eben abgelegt hat, spätestens, wenn er bei Dimitri sitzt, den Uzo riecht und mit Dimitri die Weltlage bespricht. Er hat schon in Betracht gezogen, nicht zu Dimitri zu fahren, Hunger hatte er eh keinen und den Magen mit Gyros und Pommes zu füllen ist seiner Mission auch nicht gerade zuträglich, aber es ist die Ablenkung, andere Gedanken aufzunehmen, Dimitri noch einmal Lachen zu hören, der das kann, was Edmund schon lange verlernt hat.

Er tippelt hinüber zur Bushaltestelle, steht sonst niemand dort, wird also etwas dauern, bis der Bus kommt, aber Zeit ist nicht sein Problem, die hat er. Die Sonne steht am Zenit, Dimitri wird vor der Tür seines Restaurants sitzen, auf Kundschaft warten, sie begrüßen, nach drinnen gehen, deren Wünsche aufnehmen und die Küche ans Laufen bringen, in der seine Frau und zwei Helfer, einer aus Eritrea, der andere aus Syrien, was sein letzter Wissensstand ist, allerdings ist der Wechsel der Helfer Programm.

Hier oben herrscht Ruhe, es fahren kaum Autos, nur wenige, nur die Rüstigen der Alten gehen spazieren, aber selbst deren Dahinschlürfen kann die Ruhe nicht erschüttern. Na ja, so ganz ruhig ist es, wenn er ehrlich ist, nun auch wieder nicht, die Vögel, obwohl schon im späten Frühjahr, jagen sich immer noch zwitschernd durch die Büsche, als wollten sie die kurze Zeit intensiv nutzen, um ihre Triebe auszuleben. Tja, in seinem Alter ist auch das vorbei. Vorbei! Immer nur vorbei. Alt werden ist vorbei sein, nichts kommt mehr, na ja, ein paar Falten und ein paar Schmerzen, mehr nicht, der Rest ist das Vorbei, das Abhaken. Wie wohl die Ruhe unter der Erde ist? Und unter Wasser? Vollkommen? Er stellt sich diese Ruhe als vollkommen vor. Aber was bedeutet dieses Vollkommen?

 

Der Bus kommt, kein Vitali hinter dem Steuer, ein teilnahmsloser unfreundlicher Typ, der einfach nur seinen Job macht, das Fahrgeld kassiert. Edmund sucht sich einen Platz im fast leeren Bus aus, der nun losfährt. Warum auch immer, plötzlich kommt ihm in den Sinn, dass er gar keinen Abschiedsbrief geschrieben hatte. Hätte er sollen? Für wen? Helen konnte ihn nicht lesen und sonst war da niemand gegenüber dem er sich hätte erklären oder rechtfertigen müssen. Harald?

Er versucht sich zu erinnern, ob Harald jemals den Satz ihm gegenüber geäußert hatte „Wie geht es Dir?“ Nichts. Ihm fällt kein Gesprächsbeginn oder Gespräch ein, indem dieser Satz gefallen wäre, also ist Harald sein Befinden egal, wozu also ihm erklären, was ihn veranlasst, aus dem Leben zu scheiden? Ja, ist schon richtig, brieflos von dannen zu gehen. Ein letzter schmerzhafter Blick auf das Pflegeheim, schließt kurz die Augen, seufzt schwer. Nachdem Helens Zustand ihn immer stärker beanspruchte, die Fahrerei dreimal die Woche hoch ins Pflegeheim, er sie wusch, für sie kochte, sie fütterte, aufräumte, mit ihr spazieren ging, ihr Erinnerung erzählte, ihr schließlich Windeln anlegen musste, stieß er an seine Grenzen, wollte Helen aber immer noch nicht ganz in das Pflegeheim geben, trotz des Drängens von Dr. Sönke und Dörte, suchte deshalb per Anzeige nach einer Pflegekraft.

Den fahrenden Dienst in Anspruch zu nehmen, kam für ihn nicht in Frage, ständig wechselnde Zehnminutenfrauen, gestresst und ohne Bezug zu Helen, nein, das wollte er nicht, deshalb die Suche per Anzeige, ganz auf die altmodische Art, per Zeitungsinserat, auf das sich drei Damen meldeten.

 

Die erste Bewerberin war eine sehr korpulente Frau, sicher kompetent, aber mit einer eher unfreundlichen Ausstrahlung, trotz aufgesetztem Lächeln. Die zweite Frau, Marga, deren Eltern mit ihr nach der Niederschlagung des Prager Frühlings nach Deutschland kamen, sie hier die Schule besuchte, Krankenpflegerin lernte, viele Jahre in diesem Beruf arbeitete, sich dann selbständig machte, aber nur vier Pflegefälle übernahm. Dies alles hatte Marga bei mehreren Tassen Kaffee erzählt, Helen hatte gespannt und aufmerksam zugehört, als würde sie Marga verstehen, Marga sich ihr immer wieder zuwandte und Edmund erkannte, das passte zusammen und er engagierte Marga, die nun täglich morgens zwei und am Nachmittag zwei Stunden Edmund bei der Pflege entlastete. Nach nur vier oder fünf Wochen ihres Dienstes kam dann Marga auf Edmund zu.

„Herr Wismut, ich denke, so kann es nicht weitergehen. Waschen und Füttern, alles schön und gut, aber ihre Frau braucht mehr. Sie ist hier eingesperrt und isoliert. Sie braucht Ablenkung, Abwechslung. Sie braucht professionelle Hilfe und vor allem kein Memorie spielen. Drei Mal die Woche die zwei Stunden ist nicht genug und sie ist fremd dort, sie kann sich gar nicht in die Umgebung eingewöhnen. Ich weiß, wie sehr Sie sich bemühen, aber Sie können nicht leisten, was Ihre Frau braucht.“

Edmund musste sich setzen, tief durchatmen. Natürlich hatte Marga recht, hatte Dörte recht, hatten alle recht. Er musste eine endgültige Entscheidung treffen. Er beriet sich mit Dörte, ein Zimmer war kein Problem, noch dazu ein sehr schönes, so dass der Umzug schon kurze Zeit später erfolgen konnte. Von all dem Drumherum blieb ihm im Gedächtnis als Helen ihr Zimmer betrat, ihren Ohrensessel am Fenster mit Blick auf See sah, auf ihn zuging, sich in ihn hineinsetzte, den Blick auf den See richtete, ein leichtes Lächeln zeigte, ein Lächeln, dass er da zum letzten Mal bei ihr sah, glaubte in dem Moment, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Er bat Marga, ihm zu helfen, ihm den Haushalt in Ordnung zu halten.

„Herr Wismut, ich bin weder eine Haushälterin noch eine Putzfrau.“

„Ich weiß, Marga, ich bezahle Sie auch nicht wie eine Putzfrau,“ womit alles geregelt war.

 

Der Bus hat bereits die Innenstadt erreicht, noch eine Haltstelle und er kann aussteigen. Draußen laufen die Leute, irgendein Ziel anstrebend, von belebt kann allerdings keine Rede sein, ein paar Touristen, ein paar Einheimische, ist ja keine Großstadt, das hier ist Provinz, schöne Provinz. Die im Anzug und den roten Krawatten sind die aus der Bank, die mit den blauen Krawatten und den Anzügen, die von der anderen Bank, der Rest kommt aus den Behörden. Zumindest die, denen die Ehefrau nicht das Pausenbrot geschmiert hat, streben einem Lokal zu, um dort den Mittagstisch einzunehmen.

Hm, blöd, hat er nicht bedacht, Dimitri wird in der rush hour wahrscheinlich gar keine Zeit für einen kurzen Plausch haben und warten, bis der Markt verlaufen ist, wollte Edmund nicht, da er noch einmal nach Hause wollte, bevor er zu Knutsons Kate aufbrechen würde. Der Bus hält an, Edmund hat noch gut dreihundert Meter Fußweg vor sich, bevor er die Schwelle des Samos überschreiten würde, dessen Geruch aber schon nach hundert Meter ihm in die Nase sticht. Wie befürchtet ist das Restaurant gut gefüllt und Dimitri hat seine Last, den Bestellungen nachzukommen, eine Last, die man ihm aber nicht ansieht. Er lächelt immer, hatte immer einen flotten Spruch für seine Kundschaft drauf.

„Moin Edde, setz Dich an Tesas Tisch,“ das ist der Tisch, an dem seine Frau oder die Helfer ihre Verschnaufpausen verbringen, neben dem Tresen und etwas abgeschirmt von der eigentlichen Gaststube.

„Ich kom gleich!“

Edmund setzt sich, zieht seine Jacke aus, hängt sie über den Stuhl und schaut auf die Speisekarte, die er sich beim Hereingehen wie üblich von Tresen genommen hat, was er hätte lassen können, er weiß bereits, was er essen wird. Er verspürt immer noch keinen Hunger, keine Lust auf irgendetwas, mit leerem Blick betrachtet er die Speisekarte, ohne zu lesen, was drinsteht, kennt sie ja auch schon auswendig, nur der Mittagstisch wechselt wöchentlich, letztlich eine Kurzfassung der eigentlichen Speisekarte, nur günstiger. Dimitri kommt, stellt den gewohnten Uzo vor Edmund ab und schaut ihn erwartungsvoll an. „Kannst Du mir einfach einen Seniorenteller Gyros machen? Ich habe heute keinen Hunger. Einfach eine kleine Portion.“

Dimitri sieht mit verwundertem Blick auf Edmund.

„So wie Du aussehen tust, brauchst Du mehr wie ein Seniorenteller.“

 

Oh Mann, was haben die heute nur alle mit meinem Aussehen?

„Dimitri! Kleine Portion, sonst kriegst Du alles zurück. Und ein Demestica rot, bitte.“

Aus der Gaststube dringt lautes Reden, anscheinend hat einer der Bankleute etwas zu feiern, deren übliche Kneipe, in der sie sich sonst versammelten, ist das Brauhaus. Warum sie ausgerechnet heute Dimitris Taverne aufsuchen mussten, keine Ahnung.

Vielleicht hat der, der etwas zu feiern hat, eine Vorliebe für griechisches Essen oder hatte durchgerechnet, was ihm die Bewirtung der Kolleginnen und Kollegen kostet und errechnet, dass es hier am Günstigsten ist, für einen Banker durchaus möglich, ja, so wird es sein. Mit Dimitri ein paar Worte zu wechseln kann er sich abschminken, sieht aber, dass dessen Schwiegertochter ihn beim Bedienen unterstützt, na ja, vielleicht geht doch etwas. Edmund steht auf, holt sich den Anzeiger vom Tresen, geht zurück zum Tisch und beginnt sich die Seiten zu betrachten, nichts, was ihn interessiert und das, was der Strohkopf in Amerika wieder lostrat, ließ ihn ebenfalls unberührt. Wozu noch aufregen? Der Typ hatte ihm schon genug Aufreger besorgt. Münchhausen war ein Waisenknabe gegen den Typ. Und schon ist er gedanklich wieder dabei, sich über den Typ aufzuregen. Er kippt den Uzo weg, schüttelt sich kurz, spürt die Wärme, die die Speiseröhre runterzieht. Dimitri bringt ihm seinen Seniorenteller, wie immer, viel zu viel auf dem Teller, füllt den Wein in ein Glas und stellt es ab „Wie geht’s der Frau?“ Dimitri setzt sich.

„Das Übliche Dimitri, unverändert.“

Dieser macht ein betrübtes Gesicht „Fährst immer noch jeden Tag hoch?“

„Ja.“

„Wie lang willst Du das noch machen?“

„Wie lange würdest Du es machen?“

Dimitri denkt kurz nach „So lange wie es geht“ und lächelt Edmund an.

„Dann weißt Du es ja.“

„Papa“, Dimitri verdreht die Augen seufzt, schlägt eine Hand leicht auf den Tisch „Muss weiter mache.“

Dimitri stammt aus Saloniki, war mittlerweile über 40 Jahre in der Stadt, Edmund hat ihn irgendwann gefragt „Wieso Holstein?“

„Ich brauche die Nähe zum Meer.“

„Was redest Du da? Wann warst Du denn das letzte Mal draußen an der See?“

„Ich hab nicht gesagt, ich brauche das Meer. Ich hab gesagt, ich brauche die Nähe zum Meer und die Stadt ist doch in der Nähe des Meeres. Oder?“

„Der Ostsee schon. Aber die ist kein Meer.“

„Korinthenkacker.“

 

Der Zufall, der ihn hergeführt hat, kennt keine Begründung. Tatsächlich musste Dimitri wegen des Militärputsches Ende der 60iger Jahre seine Heimat aus politischen Gründen verlassen, mit einer Überzeugung, die er bis heute nicht abgelegt hat, so eine Art freidenkender Sozialist, mittlerweile fest verwurzelt hier, dass eine Rückkehr in die alte Heimat nicht mehr zur Diskussion steht.

In Hamburg, erste Station seiner Migration, fand er einen Job als Hilfsarbeiter, setzte dann seinen Wunsch, ein Restaurant einzurichten um, hier in der Stadt, nach einiger Zeit der Standortsuche. Wie Dimitri war auch Edmund kein Holsteiner, sondern wegen Helen, die von hier stammte, in Frankfurt studierte, er sich in sie verliebte, ihr folgte und so hier landete. Beide Neubürger. Bis heute. Lustlos stochert er in sein Essen, bestreicht das Fleisch mit Zaziki, das wie immer Knoblauch verseucht ist, schiebt es ein, eine Pommes hinterher, nimmt einen Schluck Rotwein.

Dimitri hatte das Haus, in dem sein Lokal ist, vor Jahren von den Erben des alten Hannichen gekauft, denen Tradition nichts bedeutete, nur das Geld, das sie für das Haus aus dem Jahre 1786 erhielten, das Haus innen seinen Vorstellungen entsprechend umgebaut, und es vor vier Jahren in Lesbos, umbenannt, sein Beitrag zur Willkommenskultur, was aber schnell umschlug, als er erkannte, das auf Lesbos Touristen, aber keine Flüchtlinge willkommen waren. Lesbos war für ihn fortan Symbol menschlichem, nationalem Egoismus, Verlust der Menschlichkeit, Missachtung jeder Würde vor dem Anderen. In seinem Lokal hat Dimitri nicht den üblichen Griechenkitsch an die Wand gehängt, kein Orakel von Delphi, keine Akropolis, sondern Fotos, geordnet nach Jahrzehnten, beginnend mit den 70iger Jahren. Jeweils im Zentrum war ein Portrait von ihm und eines von seiner Frau, ein Bild mit Außenansicht des Lokals und ein Bild der ganzen Familie, immer in schwarz-weiß. In den 70igern Dimitri mit wallendem, welligem, schwarzem Haar, ein wenig Theodorakis, mit jedem Jahrzehnt dünnte sich das Haar aus bis heute, sich auf seinem Kopf nur noch Stoppeln befinden, genauso wie rund um das Gesicht.

 

Um die persönlichen Bilder hingen Aufnahmen von Menschen, Landschaften, Gebäuden aus Griechenland, die meisten gesandt von dort lebenden Verwandten, manche selbst aufgenommen bei Besuchen in der Heimat, meist zur Winterzeit, aber auch von Verwandten aus der Türkei, griechischen Türken, die ebenfalls zu Dimitris großer Familie zählen, deren Zusammenhalt weitaus ausgeprägter ist, als hierzulande üblich. Die Bilder ab 2010 waren anderen Inhaltes. Dimitri hatte sie aus dem Internet gezogen, zeigend das ganze Elend der Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern, Szenen aus den Kriegen, den Aufständen, der Hoffnung und deren Zerschlagung, den Wegen der Flüchtenden über Land und Wasser, ihr Vegetieren auf Lesbos. Die Tische, über denen die Fotos hingen, waren die, die, wenn überhaupt, als letztes belegt wurden. War nicht so ein Trubel wie heute, saß Edmund an einem der Tische, über sich das Bild eines Mannes, eines Griechen wahrscheinlich, der ein Tuch über die gestrandete Leiche einer jungen Frau hievte.

Ein deprimierender Anblick, der all das Elend der Flüchtlinge als auch der von der eigenen Regierung und denen, die sich europäische Gemeinschaft nannten, im Stich gelassenen Menschen vor Ort, zeigt. Die Wut hinter dem Lächeln für seine Kunden, konnte Dimitri im Gespräch mit Edmund herauslassen, denn dies waren ihre Themen, die Missstände, die Scheinheiligkeit in der Migrationsdebatte, die Ohnmacht, mit der sie die Ereignisse verfolgen und nichts tun konnten, außer eine Wand zu behängen. Helens Bilderwand war inspiriert von Dimitris Wänden.

 

Dreißig Jahre, ging ihm durch den Kopf, dreißig Jahre sind ins Land gegangen, dreißig Jahre vergangen, so schnell, so lange. Jahre, in denen er sich Dimitri genähert hatte, Helen immer dabei, bis die Krankheit kam, zweimal im Monat, mitunter durch längere Phasen unterbrochen, in denen sie bei Dimitri einkehrten. Wann und aus welchem Anlass Dimitri ihn an die Wand geführt hatte, weiß er nicht mehr, erinnert sich aber noch genau, was ihm Dimitri sagte.

„Sieh Dir diese Bilder an. Was siehst Du?“

„Hm, wie die Zeit vergeht?“

„Ja, die Wände zeigen Bewegung, zeigen den Menschen, wie er kommt, wie er ist, wie er geht, wie er vergeht. Siehst Du?“ und er zeigte auf eines der Bilder aus den 70igern, auf einen bestimmten Menschen, „dass ist Leandros, der Bruder meines Vaters, mein Onkel, er lacht in die Kamera.“

Er geht zu den Bildern der 90iger Jahre, zeigt auf ein weiteres Bild.

„Siehst Du den Hügel? Da ist ein Kreuz, darunter ruht mein Onkel Leandros. Verstehst Du? Wir bewegen uns, aber nur für eine kurze Zeit. Einer Zeit, in der wir Gast sind, Gast auf dieser Erde. Und weißt Du was? Wir sind sehr schlechte Gäste. Wir zerstören das, was die Natur über unendliche Jahre mit viel Intelligenz in einer unvergleichlichen Logik zusammengefügt hat, so dass eins ins andere greift, alles seinen Sinn und Platz hat. Statt uns in diese Natur zu integrieren verweigern wir die Integration und meinen, wir müssten uns unseren Gastgeber unterwerfen. Es gibt Menschen, die glauben, ihnen gehöre die Erde. Falsch Edde, die Welt gehört allen. Wir alle sind Gäste dieser Welt. Wir sind Weltbürger. Und nur wenige wehren sich leider dagegen, dass ihnen ihre Welt genommen wird, noch weniger merken es überhaupt.“

Edmund konnte sich gut in Dimitri hineinversetzen, er dachte genauso. Damals begann ihre Freundschaft und zog viele anregende Gespräche nach sich, nur leider heute nicht. Nein, das hat er sich anders vorgestellt, hatte auf ein Gespräch gehofft, ein anregendes, dass er mit auf den See, mit unter Wasser nehmen konnte, schaut ihm zu, wie er auftischt, abräumt, Bestellungen auf seinen Zettel kritzelt, hin und her rennt, ein Lächeln auf den Lippen, seine Stirn aber die Anstrengung verrät, unter der er steht, auch er ist schließlich nicht mehr der Jüngste. So wird er ihn in Erinnerung behalten. Erinnerung? Edmund kennt das Vokabular des Todes nicht, hat der Tod überhaupt eines? Wohl kaum. Wie soll er es nennen? Mit in die Endlichkeit nehmen? Quatsch! Aus ist Aus und dann ist nichts mehr, außer Asche und die kann unmöglich Denken. Er trinkt sein Glas leer, steht auf, zieht seine Jacke über, Dimitri kommt auf ihn zu.

„Du gehst schon?“

„Tut mir leid mein Freund, aber ich habe heute noch einiges vor. Mach es gut,“ und er schaut verträumt auf Dimitri, ein letzter Blick, sich dieses markante Griechengesicht einprägend, Dimitri scheint etwas verwirrt, Edmund drückte ihm 15 Euro in die Hand, klopft ihm im Gehen mit der rechten Hand auf die linke Schulter, geht hinaus, einen verdutzten Dimitri hinter sich lassend.

Wieder vor zur Bushaltestelle, auf einen Bus warten, der kommt, Albert hinterm Steuer, dick, glatzköpfig und spricht nicht gern, gut so, grüßt ihn, setzt sich entfernt von Albert auf einen Sitz, schaut zum Fenster hinaus, letzter Blick auf die Stadt, die Kleinstadt.

 

 

 

IV

Viele Menschen würden eher sterben als denken. Und in der Tat: Sie tun es.

(Bertrand Rusell)

 

 

Zu Hause angekommen schließt er die Eingangstür auf, tritt ein, drückt die Tür wieder zu, zieht seine Jacke aus, hängt sie in der Gaderobe ab, steht im Flur, ohne dass er weiß, was er jetzt tun wird. Warum ist er überhaupt noch einmal nach Hause gekommen? Gibt sich einen Ruck und schlürft in Richtung Wohnzimmer, tritt ein, grüßt Filou freudig, der auf seinem Käfig obenauf sitzt und neugierig den Kopf neigt „Na, Kleiner?“ geht auf ihn zu, kräuselt ihn hinter den Ohren mit Gedanken und Blick aber ganz wo anders ist. Soll er sich umziehen? Sportlich in den Tod gehen?

Zum Paddeln hatte er meist seine Shorts und ein Sweatshirt an, schaut an sich herab, Hose bleibt an, aber Sweatshirt konnte er anziehen, also Hemd aus, wirft es achtlos auf den Boden, geht ins Schlafzimmer und nimmt das Sweatshirt vom Bügel, zieht es über. Gut, der Rest kann so bleiben. „Far away 1971“ steht auf dem Sweatshirt, der Schriftzug verläuft um eine Art Medaille, die weiß auf dem bordeaux roten Sweatshirt aufgestickt ist, was auch immer dies bedeutet, es scheint ihm passend. Er geht zurück ins Wohnzimmer, hin zum Fenster mit Blick in den Garten, schaut hinaus, dieser Garten, aus irgendeinem Grund zieht ihn dieser Anblick an. Hofft er, Helen dort zu sehen? Eine freudige Erinnerung? Er dreht sich um, Blick zum Bücherschrank, in dem die Stereoanlage eingebaut ist, ja, da gibt es noch etwas, was er unbedingt tun will, noch einmal Willy hören, zieht aus seiner CD-Sammlung Pistola heraus, holt die Scheibe aus der Hülle und führt sie in den CD-Player ein, drückt auf Start und spielt sie vor auf drei und Willys Stimme erklang When I get home:

 

Oh it's been so long

since i held you in my arms

nights go on like they'll never end

so i hope you read every word i send

i could say how i want you to keep me

warm through the long lonely nights

i could say it's so easy if you would only see me

honey when i get home

 

Ja, Helen, wenn ich nach Hause komme.

Rauchig, sanft die Stimme Willys, zwischen den Zähnen durchgedrückt, melancholisch stimmend die Melodie. Der Text eine einzige Erinnerung. Zwar die Willys, aber auch seine, all das, was er verloren hat, was er sich wünscht, noch einmal zu tun, liegt in Willys Worten. Der Knoblauch stößt ihm auf, stört die intime Rückbesinnung nur kurz, wie üblich summt er mit, er hätte die Worte auch Singen können, aber Singen ist nicht sein Ding, noch nie gewesen. Schon zu Schulzeiten hatte er sich geweigert, seine Stimme nach draußen dringen zu lassen, wollte nicht Teil einer Gemeinschaft sein, die ihn zwang, schwachsinnigen Texten laut Gehör zu verschaffen, also summt er verträumt mit, anstatt zu singen. Willy de Ville wusste zu dem Zeitpunkt, als er das Lied aufnahm, dass der Krebs ihm keine Chance lassen würde, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb und jeder Ton drückte dies aus. Aber Willy nahm nichts vorweg, er wartete ab. Weil er die Hoffnung nicht aufgeben wollte?

 

Über dem Klavier, das sie für Harald angeschafft hatten, voreilig, wie sich zeigte, da Harald nach nur wenigen Klavierstunden entnervt dem Spielgerät seine Feindschaft erklärte, Helen ab und an, mehr schlecht als recht, darauf herumklimperte, es aber nie als das ihre verstand, hängt ein Bild, ein schwarz-weiß Portrait aus frühen Tagen, auf das sich Edmund nun zubewegt, es betrachtet. Ihre Wangen glatt, rein die Haut, die kleine Nase, der Mund, leicht angespitzt, kaum merkbar die Lippen geöffnet, als wolle sie ihm einen Hauch Luft zu pusten, das Haar voll, wellig bis auf die Schultern reichend, etwas wirr, fast ungekämmt wirkend. Die Augen Freude ausstrahlend und ihn ansehend, da kullert wieder eine Träne und dieses Druckgefühl in seinem Brustkorb ist wieder spürbar.

Er kann seinen Blick nicht einfach abwenden, das geht nicht, führt seine rechte Hand an seinen Mund, küsst die Spitze seines Zeigefingers und führt diesen zu Helens Mund „Leb wohl, mein Schatz!“, wendet sich ab. Zur Toilette? Gut, nochmals erleichtern. Für das Mittagessen ist es noch zu früh, das ist noch nicht durch. Gut. Er geht zur Toilette, lässt die Hosen herunter, setzt sich ab und wartet. Nichts. Gut, entwässern geht immer, mehr aber nicht, erhebt sich wieder, sich dabei an der Wand abstützend, zieht die Hose hoch, schnürt den Gürtel zu, drückt den Spülknopf und lauscht dem Rauschen des reinigenden Wassers, der Gedanke stand ihm plötzlich im Sinn, wie es wohl unter Wasser sein wird, welche Geräusche wird er hören?

Nun ja, er ist früher getaucht, die Luft unter Wasser angehalten, ausgeblasen, es blubberte, dumpfes Blubbern erinnert er, aber dies geschah immer im Bewusstsein, gleich wieder an die Oberfläche zu kommen, nach oben. Nachher, wie wird das nachher sein? Er betrachtet immer noch die Toilettenschüssel, als könnte sie ihm eine Antwort geben. Unschlüssig steht er da, When I get home surrt noch in seinem Kopf, der Impuls, endlich loszuziehen, im Moment nicht drängend, wie gelähmt kommt er sich vor. Als wenn da etwas in ihm ist, das sagt, lass es. Ist da etwa Zweifel, wieder Zweifel am Werk?

Nach all den Wochen, die er wohlüberlegt sein Vorhaben durchdacht hatte? Mahnt da sein Gewissen? Hebt da jemand den moralischen Zeigefinger? An Selbstmord haftete etwas Verruchtes. Etwas, was man nicht tun durfte. Verbotenes hatte Edmund nie getan, zumindest nicht bewusst. Aber, ist er denn ein Selbstmörder? Ein Mörder? Ein Verbrecher? War es ein Verbrechen, sich selbst zu töten? Ein Verbrechen? Er will doch nur selbstbestimmt aus dem Leben scheiden, nein, das ist kein Selbstmord. Das ist ein Freitod, ein selbstgewähltes Ende als Antwort auf die Sinnlosigkeit seines Daseins, dass eh in Kürze sich erledigt hätte, allerdings, ohne dass er weiß, wie dieses Ende aussieht. Er greift nur vor und kennt dafür das Ende.

 

Aus dem Badezimmer geht er nochmals in das Wohnzimmer, schaut sich um, betrachtet nochmals einige der dort versammelten Gegenstände, fragt sich, was mit denen geschehen wird, vieles ist noch nicht in einem Alter, es zu entsorgen. Hätte er das auch schriftlich regeln können? Egal, lächelt Filou zu, der immer noch auf seinem Käfig sitzt, aufmerksam verfolgt, was Edmund tut. Die Anweisung! Ja, geht rüber zum Esszimmertisch und holt die in Folie eingeschweißte Anweisung. Einfach nur umhängen? Ja, aber unter das Sweatshirt. Gut. Die Jacke anziehen? Eigentlich fand er es schon angenehm mild, vorhin, bei seinem Stadtbesuch, also ohne Jacke. Ach, die Mütze! Damit ihm die Sonne nicht die Kopfhaut verbrennt, trägt er zum Paddeln immer eine Baseball-Schildkappe. Auch heute? Nein, die ist nicht nötig, ist egal, er wird ja eh verbrannt werden, ist der Kopf halt schon etwas vorgeglüht, setzt schon an zu lachen, lässt es aber sein, da gibt es nichts zu lachen.

So, wie nun losziehen? Mit dem Auto? Dem Fahrrad? Mit den Füßen? Zu Fuß gehen bedeutet, nichts zu hinterlassen, was jemand Fremdes entfernen müsste. Aber bis zu Knutsons Kate waren es gute fünf Kilometer und von denen hatte er heute schon einige zurückgelegt, zudem noch unfreiwillig, wegen der blöden Kuh, also Auto, nein, das würde bei Knutson herum stehen, jemand müsste sich kümmern, es zurückzubringen, war ja Erbmasse, nein, auch dies nein, blieb das Fahrrad, na ja, ein Hügel auf dem Weg zu Knutson war zu überwinden, notfalls muss er halt schieben.

 

Gut, also Fahrrad, ist dies auch geklärt. Es ist eine längere Strecke zu fahren, denkt Edmund, besser, wenn er seine Brille aufsetzt und besser doch mit Jacke, auf dem Fahrrad ist es immer etwas kühler als beim Laufen, geht zur Garderobe, zieht die Jacke über, kann er ja dann beim Fahrrad lassen, öffnet die Haustür, geht hinaus, schließt hinter sich ab, geht um das Haus herum, in den Garten, zum Schuppen, in dem sein Fahrrad steht. Das Fahrrad war länger nicht von ihm benutzt worden, der hintere Reifen schrie nach Luft und der Rest nach einem Putzlappen, den Staub abzustreifen.

Hätte er besser vorbereiten sollen, sei es drum, nimmt die Luftpumpe aus dem Regal, pumpt die Reifen mit Luft voll, wischt über den Sattel, der Rest kann verdreckt bleiben wie er ist. Er drückt das Fahrrad aus dem Schuppen, nach draußen, auf den Gehsteig, legt es leicht schräg, damit er bequem über die Querstange steigen kann, hätte auch Helens Damenrad nehmen können, aber an deren Fahrrad wäre der Arbeitsaufwand, es instand zu setzen, deutlich höher als an seinem Fahrrad gewesen, bringt das Fahrrad wieder in die Gerade, schiebt es an, hievt sich auf den Sattel und los geht es.

Er nutzt den Radweg parallel zur Umgehungsstraße, die Stadt meidend, radelt nach Fissau ab, quert die Straße, nähert sich der Kate von Knutson, lässt sich die Böschung runter zur Kate rollen.

 

Knutson beobachtet den ankommenden Mann von seiner Sitzbank aus, erkennt Edmund erst als dieser vom Fahrrad abgestiegen ist, es in den Fahrradständer schiebt, seine Jacke auszieht und die Brille absetzt (?) und auf ihn zukommt.

„Moin Eddy? Was ist denn mit Dir passiert?“

Edmund schaut an sich herab, um sich herum „Was meinst Du?“

„Ich weiß nicht. Aber Du siehst einem Penner nicht unähnlich. Siehst so gar nicht nach Eddy aus.“

„Du hast mich doch erkannt. Oder? Also kann mein Aussehen nicht so schlimm sein,“ geht zu Knutsons Bank und nimmt neben ihm Platz. „Ist Isabel noch frei?“

„Klar,“ betrachtet Edmund mit leicht geneigtem Kopf, rätselt, was da falsch war „Keine Mütze heute? Keine Brille? Bist Du hellsichtig geworden?“

„Vergessen.“

„Die Brille hast Du doch gerade abgesetzt?“

„Ich meine die Mütze und wozu brauche ich zum Paddeln eine Brille. Ich sehe noch gut genug, um zu wissen wo ich hinsteuere.“

„Gut, gut, ich wundere mich halt. Ne Menge Veränderung für einen Tag. Aber anscheinend ist heute Tag der Wunderlichkeiten.“

„Ja, heute ist ein wunderlich schöner Tag,“ schaut auf den See hinaus „mit tollem Wetter zum Paddeln.“

In Knutsons Blick liegt fragendes Misstrauen. Er scheint zu überlegen, was es mit Edmunds verwandeltem Äußeren auf sich hat, schüttelt mit dem Kopf „Eddy, das steht Dir nicht.“

„Was?“

„Der Bart, das fettige Haar und irgendwie geht Geruch von Dir aus. Ist das Knoblauch?“

Edmund schnauft kurz durch, sieht zu Knutson „Ich bin 84 Jahre alt, was schert einem da noch das Aussehen…und Alter stinkt nun mal, nicht immer nach Knoblauch, halt nach Alter,“ und beide lachen. Edmund erhebt sich.

„Willst Du gleich los? Oder hast Du noch Zeit zum Plaudern?“

„Quatschen können wir hinterher. Jetzt will ich auf den See!“

„Gut.“ Knutson klopft sich auf die Knie, erhebt sich „Komm Eddy, Isabel ist schon an der Leine.“

 

Knutson bleibt kurz stehen, dreht sich um, geht zur Hütte zurück, verschwindet kurz darin, kommt wieder heraus und schwingt eine Schwimmweste durch die Luft „Hätte ich fast vergessen.“ Schwimmweste? Hätte Edmund nicht wirklich gebraucht, aber das kann er Knutson ja nicht sagen, also nimmt er sie entgegen, legt sie sich an und trottelt Knutson hinterher, der flugs zum Steg geht, Isabel beizieht, die Spritzdecke abzieht, das Boot beidreht und an der Spitze festhält, so dass Edmund sicher einsteigen kann. Dieser hält sich an einem der Pfosten am Steg fest, erst den einen Fuß, schwankt etwas, dann den anderen Fuß nachziehend, vorsichtig in die Hocke gehend, gestützt auf Knutsons Hand, die Beine austreckend, die Oberschenkel anwinkelnd, leicht schwankend das Gleichgewicht prüft.

„Na, geht doch,“ kommentiert Knutson den Vorgang.

Edmund blickt zu Knutson auf.

„Bis später.“

„Bis später,“ und paddelt langsam los, das Doppelpaddel sanft in die Oberfläche stechend, sich abstoßend und durch das Wasser gleitend.

Er hatte sich fest vorgenommen nicht über das nachzudenken, was er vorhatte, sondern locker zu seinem Ziel paddelnd, an sonst etwas denkend, dann die Rolle. Die halbe Rolle! Und aus! Aber so einfach ist das nicht. Jemand, erinnert er sich, hat einmal gesagt, das Ende sei einfach. Wer sagt so etwas? Wer sagt, dass das Ende einfach sei? Hatte der, der das sagte, das Ende erlebt? Und überlebt? Blödsinn. Er ist auf dem Weg zum Ende und der Weg dahin war und ist nicht einfach, aber das Ende selbst? Nein, die Beschaffenheit des Endes kann er nicht, das kann auch der Typ nicht wissen, wenn er nicht selbst dort war und wenn er das war, konnte er niemand mehr von seinen Erfahrungen berichten. Er kann einiges kontrollieren aber nicht die Gedanken, die sich seiner bemächtigen, nicht die Zerfahrenheit, die sich seiner bemächtigt, nicht die innere Unruhe, die ihn umfasst, je näher er dem Ziel kommt.

 

Ihm erinnert ein Traum, den er in seiner Jugendzeit öfters geträumt hatte. Er schwamm in einem See mit glasklarem, sanftem Wasser, dass ihn umschlang, als er plötzlich festhing, eine Wasserpflanze hatte sich um seinen rechten Fuß geschlungen und zog ihn nach unten, wogegen er sich heftig zu wehren begann. Vom Seegrund hochgewachsene Wasserpflanzen lächelten ihn an, schienen ihm mit ihren großen grünbraunen Blättern zuzuwinken, so als begrüßten sie den Sinkenden in ihren Reihen. Heftig atmend wachte er auf, bevor die Pflanzen ihn gänzlich einwickelten. Eigenartig, hatte der Traum prophetische Kraft? Nahm er voraus, was kommen würde? Konnte es einen solchen Zusammenhang geben? Eine im Unterbewusstsein lebenslang mitschleichende sich selbsterfüllende Prophezeiung?

Seine Paddelschläge sind nicht die, mit denen er sonst sein Boot vorantreibt, sie sind zögerlich, ohne Elan, ohne Kraft, vielleicht auch gehemmt, was ihm schon klar ist und je näher er seinem Ziel kommt, desto mehr steigt in ihm ein beklemmendes Gefühl hoch, begleitet von einem heftig klopfenden Herzen. Ist dies Angst? Angst vor dem Tod? Er redet sich ein Nein, sagt sich, seit er geboren wurde stirbt er, eine Absurdität und Tatsache, die den einen früher den anderen später einholt. Wovor also Angst haben? Er hat Angst. Da ist etwas Unbekanntes, das, was niemand weiß, das, was danach kommt. Was ist da? Ist da überhaupt etwas? Und was, wenn er plötzlich doch nach Luft schnappen würde, Panik bekomme, nicht durchhielt?

 

Ruhig bleiben Alter, ruhig bleiben, Paddel ins Wasser setzen, links, rechts, links, rechts, blickt auf, die Stelle, die er sich ausgesucht hatte kommt näher, leicht eingebuchtet, umringt von Buchen, die ihre Wurzeln, gierig nach Wasser, diesem zugetrieben hatten, gierig die Quelle des Wachstums aufsaugend, das Ufer von Schilf bewachsen, der Seegrund sichtbar, aber tief genug für seine Absicht. Gewissermaßen paddelte er auf seinen Abgrund zu, wird dort verweilen, keine Ahnung wie lange, aber in Filmen hatte er öfters gesehen, wie die, die von einer Höhe aus in den Tod springen wollten, nicht direkt auf den Abgrund zugingen und sofort sprangen, sondern sich platzierten, verharrten und sicher etwas dachten, was, das konnte er nicht wissen, nur der der springen wollte. Aber eine Vorstellung davon wird er gleich bekommen, wenn auch er über seinem Abgrund innehielt. Ruhig, ganz ruhig, er hatte keine Eile, aber eine Menge Gedanken, die durch seinen Kopf eilen, zu viele, um Ordnung in sie zu bringen, drei Schläge noch dann ist sein Abgrund erreicht.

Er hört mit dem Paddeln auf und lässt sich die letzten Meter treiben, schließt die Augen und hört in die Landschaft, leichtes Windsäuseln, raschelnde Blätter, ein krächzendes, melodisches krök, krök, eines weiblichen Blässhuhns ist zu hören, hat er von Knutson gelernt, muss lächeln, Knutson, der ihm so viel beigebracht hat, vom Leben hier draußen. Wie er wohl reagieren wird?

Die Beklemmung in der Brust nimmt zu, das Herzklopfen ebenfalls. Unter den Achseln spürte er, wie sich Schweiß ausbreitet, auch auf der Stirn bildet sich Feuchte, nicht die Anstrengung, er paddelte ohne großen Energieaufwand, es ist der bevorstehende Moment seines Ausscheidens, der Angst, der Erregung, das alles in ihm Pulsieren lies. Nein, so schwer hat er sich das nicht vorgestellt. Er öffnet seine Augen, sieht in die von der Sonne beleuchteten Bäume, das satte Grün der Blätter, beruhigt sich etwas, steht jetzt über der ausgewählten Stelle.

Es braucht nur einen Ruck, einen kleinen Ruck. Edmund verharrt, hat die Paddel quer über das Boot gelegt, wird sie gleich neben dem Boot ins Wasser ablegen. Die Schwimmweste! Schnürt sie sich ab, legt sie in den Hohlraum zu seinen Füßen. Oder sollte er sie ebenfalls auf das Wasser legen? Hätte er auch seinen Tod trainieren sollen? So wie das Paddeln auf dem See? Einmal die Rolle machen, um zu sehen, zu spüren, wie das ist? Er hat keine Vorstellung davon, wie das jetzt gleich werden wird. Gut, gleich, nur eine leichte Bewegung, dann…er nimmt den Geruch des Wassers auf, der Geruch von frischer Kühle, leicht modriger Nässe, dass Einblick in den See bietet, ein getrübter Blick, ihm stehen Tränen in den Augen. Nur ein leichter Schwenk. Ach, Helen. Helen. Helen?

 

Ein Schauer überläuft plötzlich seinen Rücken, das flaue Gefühl im Magen verstärkt sich, sein Herz beginnt noch heftiger zu klopfen. Helen würde Witwe, Helen wäre Witwe, lebt also noch. Er ist Helens Vormund. Jemand würde seine Rolle als Vormund übernehmen. Harald? Gar ein Fremder? Meine Güte, wieso hatte er dies nicht bedacht? Was würde aus seinen Anweisungen werden? Seine Anweisung, sein Testament, alles wird hinfällig werden.

Oder doch nicht? Harald wird sicher genau das Gegenteil von dem ausführen, was er verfügt hat. Oder? Nein, so boshaft ist Harald dann doch nicht. Oder?

Seine Finger greifen nach der Paddel, umklammern sie krampfhaft. Was tun? Trotzdem den leichten Schwung vollführen? Zurück paddeln? Das Ende vertagen? Er muss unbedingt mit seinem Anwalt reden! Aber was heißt reden? Er kann ihm ja schlecht die Situation erklären, so wie sie ist. Er kann den Konjunktiv anwenden, einfach so tun als ob.

Nein, so blöd ist der Anwalt nicht, um nicht den Braten zu riechen, den Edmund da im Ofen hatte. Natürlich, Edmund kann es egal sein, was danach geschieht, er wird es ja nicht mehr mitbekommen, aber in dem er geordnet aus dem Leben geht, zeigt er, dass er bewusst gehandelt hat. Nein, er hat eine klare Vorstellung von seinem Ableben und diese Vorstellungen, diese Wünsche sind einzuhalten.

 

Das muss er sicherstellen! Keiner soll sagen können, der hat sich umgebracht. Nein, er hatte klar entschieden, vorzeitig zu gehen. Was wäre die Alternative? Warten? Abwarten, bis ihn der Schlag trifft? Er hilflos über Tage hinweg krepieren würde? Herzschlag? Sanft entschlafen würde, ohne es mitzubekommen? Einfach so? Einen dieser Krebsabarten bekommen, jämmerlich über Wochen zugrunde gehen? Das war Mord, heimtückisch, hinterhältig. Abwarten bis er stürzen würde? Oberschenkelhalsbruch mit begleitender Lungenentzündung, ersaufen an einer wassergefüllten Lunge? Oder in die Vergessenheit sinken wie Helen? Nein, das sind keine Alternativen, das ist die Kehrseite scheinbar moralischem Verhalten.

Dann lieber unmoralisch, aber selbstbestimmt, dem Tod das erste Wort nehmen. Aber geordnet, also zurück, klären, was zu klären ist und alles wieder auf Anfang. Ein Seufzer entfährt ihm, gut, dann wird der Abgang auf einen anderen Tag verschoben, eilt ja nicht, erst einmal zurück und den ganzen Vorgang neu denken. Es soll anscheinend heute nicht sein Tag sein, der fing schon wegen der blöden Kuh anders an als gedacht und die Abweichungen halten an.

Er setzt die Paddel ins Wasser, da hört er hinter sich ein leichtes Plätschern, stemmt sich gegen die Paddel, so dass er sich drehen kann und schaut verdutzt in Knutson Gesicht.

„Du willst eine Dummheit begehen. Stimmts? Du verhältst Dich sehr seltsam. Stehst seit fast einer Stunde auf der Stelle. Ich weiß, was Du vorhast und ich sage Dir, tue es nicht.“

Noch ein Schock, verflucht, was ist denn heute los? Und Knutson ahnt etwas. Rausreden, er muss sich irgendwie rausreden.

„Knutson? Verdammt aber auch, hast Du mich erschreckt. Ich hätte sterben können.“

„Du hast Deine Schwimmweste ausgezogen?“, ihn mit intensivem Blick anschauend.

„Schwimmweste?...Mir war warm.“

 

Noch während er eine plausible Antwort überlegt, kommt ihm Knutson zuvor.

„Eddy, ich kenne Dich lange genug, um zu wissen, was in Dir vorgeht. Lass es. Es hilft niemand, vor allem Deiner Frau nicht.“

„Was redest Du da?“

Edmund schaut zornerfüllt auf Knutson, der nichts dafür kann, dass sein Vorhaben so jämmerlich gescheitert ist, aber sonst ist niemand da, dem er seinen Zorn auf sich selbst entgegenhalten kann.

„Ja, klar, mir geht es nicht gut. Hier auf dem See zu sein, ist wie eine Therapie. Verstehst Du? Still zu verharren, dem See und dem drumherum zu lauschen, dass ist mit der Natur eins sein. Sonst nichts.“

Der aber lässt nicht locker.

„Und dazu musst Du die Schwimmweste ausziehen?“

Verdutzt sieht Edmund zu Knutson.

„Ja, genau! Und übrigens, wo ist Deine Schwimmweste?“

„Ich bin der Boss, der braucht keine und schwimmen kann ich sowieso.“

„Und ich stehen!“

Dabei deutet Edmund auf den Grund des Sees, der an der Stelle sichtbar ist, der Stelle, die er für sein Vorhaben ausgesucht hatte, tief genug den Kopfstand zu machen, ohne den Grund zu berühren und nicht tief genug, damit die Taucher nicht lange suchen müssten. Knutson paddelt weiter misstrauisch neben Edmund her, hat aber anscheinend keine Argumente mehr, ihm etwas zu unterstellen, was Edmund zufrieden mit sich registriert. Schweigend paddelten sie Richtung Bootssteg.

„Eddy, Du kannst mit mir reden, dass weißt Du.“

Doch nicht. Ach, reden? Reden hilft jetzt auch nicht mehr. Worüber reden? Darüber, dass alles schiefgelaufen ist? Geht nicht. Reden würde auf ein Ausreden hinauslaufen, was sollte Knutson sonst tun, außer ihm sein Vorhaben auszureden? Warum sonst ist er zu ihm herausgepaddelt? Lebensretter!

„Es gibt nichts zu reden.“

„Hm.“

 

Sie nähern sich dem Bootssteg, Knutson voraus, legt sein Boot, die Irene, an, steigt aus, wartet bis Edmund sein Boot ebenfalls beidreht, geht in die Hocke, um Edmund die Hand zu reichen, ohne deren Hilfe er nicht, oder nur mit großen Mühen, aus dem Boot kommt, greift nach der Hand, zieht sich langsam hoch, steht auf wackligem Grund im Boot, schiebt ein Knie auf den Steg, das andere Bein nach, sitzt auf den Knien und kommt mit Knutsons Unterstützung wieder auf die Beine.

Seufzt: „Langsam bin ich doch zu alt für den Scheiß.“

Lachend entgegnet Knutson:„Du kannst es ja mal mit rudern probieren oder Tretboot fahren.“

Kreuz und Knie tun Edmund weh, sein Gang zur Bank ist schwerfällig, steif, die Bank fast eine Erlösung, er braucht sie, obwohl er eigentlich so schnell wie möglich von dannen will, um den Fragen Knutsons aus dem Weg zu gehen. Der hat die Boote vertaut und kommt nun ebenfalls zur Bank.

„Kaffee? Bier? Sonst etwas?“

„Hast Du auch etwas Härteres als Kaffee?“

„Ich schau mal,“ und geht lachend Richtung Kate.

Edmund massiert sich die Beine, betrachtet sie, schüttelt den Kopf, sitzt da, obwohl er eigentlich ganz woanders sein müsste. Wer spielt hier mit wem? Knutson kommt mit einer Flasche, deren Inhalt aussieht wie Wasser, aber Birnenbrand ist, zwei Gläsern, die er füllt. Sie prosten sich zu und schlucken den Brand hinunter.

„Tut gut.“

„Ja.“

„Nichts zu reden?“

„Knutson hör auf. Es ist gut jetzt. Egal, was ich vorhabe, es ist mein Ding. Verstehst Du?“

„Verstehe ich….Ich werde übrigens im Herbst, also nach der Saison, ganz nach Sao Miquel ziehen.“

Edmund versteht nicht so recht, was Knutson da sagt. Sao Miquel? Hinziehen?

„Wie meinst Du das?“

„Du weißt doch, dass wir über den Winter schon seit Jahren nach Sao Miquel fliegen. Wir haben uns dort ein Haus gekauft. Das hier“ und er streckt den Arm aus und beschreibt damit einen Halbkreis, den er um die einsehbare Fläche seines Grundstückes kreisen lässt „haben wir verkauft und ab Juli gehört es einem anderen Besitzer.“

Ungläubig schaut Edmund auf Knutson. Der geht weg? Verkauft sein Grundstück? Trennt sich von seinen Booten? Seinem See?

„Nein, nicht Dein Ernst. Du trennst Dich von all dem hier? Und Dein Dachboden? Dein Museum? Nimmst Du das mit?“

 

Knutson zieht die Augenbrauen hoch, macht er immer, wenn er etwas Bedeutungsvolles zu sagen hat. „Der Käufer will investieren. Baut ein kleines Hotel auf die Wiese. Das Restaurant wird er betreiben. Den Bootsverleih will er ausbauen, mehr Segelboote hinzunehmen und den Dachboden nimmt er wie er ist, meint, er könne manches von dem Krimskram als Dekoration im Restaurant oder dem Hotel verwenden. Also ausräumen muss ich nichts.“

„Und ich dachte, die Sammelstücke seien Dir heilig?“

„Na ja, waren sie auch, aber stimmt schon, ich kann sie halt nicht mitnehmen. Und manchmal muss man seine Prioritäten neu setzen.“

Es liegt etwas Bewunderung, Anerkennung in dem Blick mit dem Edmund Knutson anschaut.

„Also risikoscheu bist Du wirklich nicht und das in Deinem Alter, Wow!“

„Eddy, ich bin gerade mal 72 Jahre alt, der dritte oder vierte Frühling hat gerade bei mir begonnen, wahrscheinlich der Letzte und den will ich einfach nur leben. Und das hier“ blickt sich um „hätte ich irgendwann eh loslassen müssen. Im Grab ist nicht so viel Platz, um das alles unterzubringen. Die Kinder wollen es nicht, also bekommen sie es auch nicht.“ Er sieht Edmund direkt an: „Leicht fiel es mir natürlich nicht, die Endgültigkeit zu beschließen. Aber die Azoren sind wunderschön, haben ein gleichmäßiges Klima, milde Winter, die Sommer sind nicht so heiß wie hier. Es ist alles grün, noch grüner als hier, Wiesen voller Blumen, Hortensien soweit die Augen reichen und der See dort ist viel größer als der hier. Von unserer Terrasse aus kann ich dem Sonnenuntergang hinter dem Meer zuschauen, unglaublich schön.“ Mit diesen Worten geht sein Blick raus auf den See und Edmund meint etwas Wehmut in den Worten und dem Blick von Knutson zu bemerken. Nein, leicht scheint ihm der Entschluss nicht gefallen zu sein und je näher der Abschied kommen würde, desto stärker würden die Zweifel werden, denkt Edmund.

„Das Paradies gibt es nicht, aber die Azoren sind ganz nah dran. Weißt Du, später, also wenn alles vorbei ist, habe ich dann nicht mehr weit zu laufen. Ich bin ja schon da.“

„Wie bist Du auf die Azoren gekommen?“

„Durch die Wettermeldungen. Azoren-Hoch, Azoren-Tief, schon mal gehört? Mich hat es neugierig gemacht, also habe ich zu Tilde gesagt, lass uns da mal hinfahren. Du fliegst sechs Stunden, aber bist Jahre entfernt von all dem hier.“

„Und willst dann wirklich nicht mehr zurückkommen?“

„Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Man soll bekanntlich nie nie sagen. Du weißt nicht, was so alles passiert. Aber vorgenommen haben wir uns schon, bis zum Ende dort zu bleiben.“

In Edmund Kopf arbeitete es. Was hat Knutsons Geschichte mit seiner zu tun? Knutson hatte aufgehört ihn mit Fragen zu löchern. „Warum erzählst Du mir das?“

„Damit Du etwas zum Nachdenken hast.“

„Zum Nachdenken?“

„Na ja, Alter kann beschwerlich sein. Klar. Aber man kann auch etwas aus dem Alter machen, außer es schlecht zu reden, sein Leben für andere zu leben oder es gar aus der Hand zu geben. Eddy, ich glaube, Du hast zu wenig an Dich selbst gedacht und vergessen, dass Du auch ein Leben hast, aus dem Du noch etwas machen kannst. Erinnerst Du Dich an Deine Kindheit, an die Träume, die Du damals hattest? Träume, wie Deine Zukunft aussehen könnte? Diese Zukunft ist nicht vergangen, sie ist immer noch da. Sicher, sie ist kürzer geworden, aber immer noch da. Also, was sind Deine Träume? Oder, was ist den Traum? Etwas, was Du schon immer machen wolltest, aber nie dazugekommen bist. Diesen Traum musst Du leben, er ist Ziel und füllt Dein Leben wieder an.

Denk einmal darüber nach. Deiner Frau kannst Du nicht mehr helfen, nur noch Dir selbst. Und selbst wenn es nur für kurze Zeit ist. Es lohnt sich. Glaube mir.“

 

Nachdenken? Nun ja, Edmund ist ja nicht auf den Kopf gefallen, er sieht schon, dass da zwei Lebensendentwürfe zu unterschiedlichen Entscheidungen gelangt sind, aber wirklich entscheidend ist letztendlich, dass er zwölf Jahre älter ist als Knutson und zwölf Jahre im Alter wiegen doppelt so viel als zwölf Jahre in der Jugend.

Also Nachdenken? Nein! Wenn auch, na ja, ganz unrecht ist ja nicht, was Knutson da gesagt hat, sein Leben betreffend. Und ja, einen Traum hat er noch. Nur, nicht der Traum, den Knutson meinte. Den Traum, Helen in seinen Armen zu halten, geheilt und alles sei wie früher. Nein, von dem Traum muss Knutson nichts wissen.

Knutson will nachschenken, aber Edmund lehnt ab „Nein. Danke. Ich habe noch eine Runde mit dem Fahrrad vor mir,“ Knutson genehmigt sich noch einen, stellt die Flasche neben sich ab.

„Gut, dann will ich mal.“

Edmund steht auf, geht hinüber zu seinem Fahrrad, den fragenden Blick Knutsons im Rücken. Schon komisch, da kommen zwei zusammen, der eine entscheidet sich für einen Wechsel, nein, eine nicht unerhebliche Veränderung für sein Leben, der andere für eine selbstgesetzte Verkürzung eines Lebens. Und beide sind sich ihrer Entscheidung nicht ganz sicher, ist es das, was Knutson ihm sagen wollte? Das auch er unsicher ist, die richtige Entscheidung getroffen zu haben? Es aber dennoch wagt, seine Entscheidung zu leben?

Das Alter ist eine gern genutzte Ausrede. Er weiß, dass er mehr könnte als das, was er die letzten Jahre getan hat. Da gab es so viele Ausreden. Vielleicht hat Knutson recht, und er sollte aufhören, Ausreden zu setzen.

 

Er überlegt, die Jacke überzuziehen, nein, es ist noch angenehm warm, nicht nötig, lässt sie im Gepäckträger geklemmt, schiebt sein Fahrrad an, schaut zu Knutson rüber, hebt die Hand „Wir sehen uns.“

„Aber möglichst bald,“ ruft ihm Knutson zu.

Edmund drückt das Fahrrad die Böschung hoch, in ihm kreisen die Gedanken. Was soll er tun? Was will Knutson auf den Azoren? Hat er ein Programm für die tage auf den Azoren? Nur rumhängen? Was macht man als Rentner auf den Azoren? Warum jetzt und nicht schon früher? Soll er direkt beim Anwalt vorbeifahren? Anrufen? Sein Kühlschrank ist leer. Muss er einkaufen? Ein Haus gekauft? Knutson hatte ein Haus gekauft? Edmund ist durch den Wind.

Oben auf dem Radweg angekommen stellt er das Fahrrad in seine Fahrtrichtung, hebt das Bein an, legt das Fahrrad nicht schräg, wie sonst üblich, nur schnell weg von hier und den verwirrenden Gedanken. Er will das Bein über den Sattel ziehen, bleibt mit dem Hosenbein hängen, kommt ins Stolpern, der Fuß mit dem Hosenbein in der Sattelfeder verhakt, stolpert er weiter, versucht mit dem linken Fuß das Rollen abzustoppen, tippelt weiter, schwankt, bemüht sich, das Gleichgewicht zu halten, schiebt sich und das Fahrrad aber immer weiter nach vorne. Sein Oberkörper wird auf den Lenker gedrückt, was zusätzlichen Druck erzeugt, den sein linkes Bein nicht auffangen kann, das Fahrrad unfreiwillig Richtung Straße drückend, gerät er auf die Straße, kurz davor hinzufallen, in dem Moment, da ein Auto kommt, prallt seitlich gegen das Auto, spürt einen höllischen Schmerz in der Schulter, am Kopf, schlimmer als ein Fausthieb, schleudert vom Auto weg, den Lenker des Fahrrades immer noch in beiden Händen, das Fahrrad hebt sich über ihn, er knallt mit dem Kopf gegen den Laternenpfahl, der dort steht, weit und breit der einzige noch dazu aus Beton, vernimmt noch ein eigenartiges Knacken und dann nichts mehr. Dunkelheit.

 

Von einem der Nachbarn erfuhr die Polizei, das Marga einen Schlüssel zu Edmunds Haus habe. Sie fuhren zu ihr und baten sie mitzukommen und die Haustüre zu öffnen, gingen mit ihr in das Haus hinein. Sie suchten nach Kontaktadressen zu Angehörigen, die zu informieren waren, fanden die Papiere auf dem Küchentisch und Marga stellte erstaunt fest „Er hat das da hingelegt, als hätte er geahnt, dass er sterben würde.“

 

Impressum

Texte: Bernd Engroff
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2018

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