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Tarzan ganz allein im Dschungel oder doch nicht?

 

 

 

 

Jede Freude ist auf Erden

Trügerischer Zauber,

Das menschlich Herz ist

die Quelle unendlicher Klage.

 

Fiesco in Simon Boccanegra, 3. Akt, Oper von Giuseppe Verdi

 

 

 

 

Mit einem dumpfen, dezenten Schnapp rastet die Haustür ein, die er mit zweimaligem Drehen seines Schlüssels verriegelt. Mit einem dritten Dreh aktiviert er den Sicherheitscode. Ilse, Frau von Schreier, die unter ihm wohnende Nachbarin, wünscht dies so. Nach dem zweiten Einbruch in ihre Erdgeschosswohnung wurde ihr doch etwas unwohl und sie ließ die Haus- und Wohnungszugänge mit zeitgemäßer Sicherheitstechnik ausstatten. Weshalb er nun das Eingangsprozedere an der Haustür zu erfüllen hat. Der Schaden, den die Einbrecher verursachten, war größer als das, was sie entwendeten. Denn Frau von Schreier hat ihre Reichtümer, und die sind immens, sicher bei Banken deponiert, lebt sehr spartanisch, allerdings nur hier. Sie umgibts sich in ihrer Wohnung nur mit dem Notwendigsten. Allerdings entgingen zwei Bilder von Gerhard Richter, angewöhnte Überbleibsel ihrer Vergangenheit, die im Eingangsbereich zu ihrer Wohnung hingen, den anscheinend der Malerei unkundigen Eindringlingen und damit eine lukrative Beute.

Die ermittelnden Polizisten meinten, es wären hastige Beschaffungskriminelle gewesen, die glaubten, in dem renommierten Wohngebiet am Westhafen reibungslos schnelle, einträgliche Beute machen zu können.

 

Ilse vermutet dagegen ihren Sohn Niklas als Drahtzieher der Einbrüche, was sie Tom gegenüber mit der Verpflichtung auf diskretes Stillschweigen äußerte. Dass dies bedeuten würde, dass dann kein Richter mehr an der Wand vorhanden wäre, wie er ihr entgegnete, war für sie kein Argument, von ihrer Überzeugung abzuweichen.

Die Einstiege wurden durch Nachlässigkeiten von Ilse erst ermöglicht, weil sie ein Fenster während einer vierwöchigen Abwesenheit gekläfft gelassen hatte und beim zweiten Mal vergaß, Tom Bescheid zu geben, als sie verreiste. Wahrscheinlich ihr durch Werbezettel aufgeblähter Briefkasten verriet ihre Abwesenheit und die Einbrecher einlud, durch das Terrassenfenster, das sie mit Gewalt aufstemmten, einzusteigen, wie einer der Polizeibeamten mutmaßte.

Damals war Toms Verhältnis zu Ilse noch distanziert, da sie es ihm sehr übelgenommen hatte, wie er sich seiner Frau Ann-Kathrin, mit der sie sich blendend verstand, gegenüber benommen hatte. Nach der endgültigen Trennung von seiner Frau, bei der Ilse Ann-Kathrin ratschlagend zur Seite gestanden hatte, lag ihr nachbarschaftliches Verhältnis lange brach, wurde aber nach zwangsläufigen Begegnungen im Treppenhaus mit kurzen Flüchtigkeitsaustäuschen über Alltäglichkeiten besser. Vor allem aber dadurch, dass Ilse Toms Ratschläge zu ihren finanziellen Angelegenheiten sehr zu schätzen wusste. Tom ist schließlich Banker. Und er, zwar zögerlich, reuig und demütig über die vergangenen Jahre sprach, ihr die Beweggründe seines auch ihm im Nachhinein unentschuldbaren Verhaltens erklärte, sie Vertrauen und Verständnis gewann und es nach und nach zu einem guten persönlichen Verhältnis der beiden kam. Erst von da an durfte er in ihrer sehr häufigen Abwesenheit nach dem Rechten sehen.

 

Er mag Ilse, die mit ihren 71 Jahren, die man ihr nicht ansieht, mit ihrem faltenlosen, weichen Gesicht, den schulterlangen schwarzen Haaren und einer Figur, die auf jedem Laufsteg Beifall ausgelöst hätte, ein angefülltes Leben führt.

Er zollt ihr großen Respekt, da sie etwas geschafft hat, wozu er trotz fast fünfwöchigen Grübelns und Abwägens noch nicht in der Lage ist. Sie hatte es in zwei Tagen geschafft, sich von ihrer bisherigen Lebensweise zu befreien und sich aufgemacht, ihrem Leben eine vollkommen neue Richtung zu geben, nachdem ihr Ehemann, Dr. Dr.eh. Felix von Schreier, plötzlich verstorben war.

Mit ihm hatte sie über 40 Jahre ihres Lebens verbracht. Kennengelernt hatten sie sich über die gesellschaftlich eng miteinander verbundenen Eltern, bei all den Festen, Feiern, Ausflügen der Familien, sich dabei über Schülergespräche, später Gespräche zu den Studien, die sie betrieben, sie Medizin, er Chemie, einander genähert und gingen schließlich, mehr aus Vernunft als aus Leidenschaft, nach den ersten Arbeitstätigkeiten, den Bund der Ehe ein, was die Eltern der beiden höchst glücklich machte.

Felix von Schreier, das von hatte er in die Ehe eingebracht, ein Überbleibsel aus pommerschen Landjunkerzeiten. Seine Familie hatte sich zum Teil aus Pommern ins Hessisch-Nassauische abgesetzt und neue Wege außerhalb des landwirtschaftlich geprägten Junkertums beschritten. Zwar war er mit Ilse, mehr aber noch mit seiner ererbten Firma verheiratet. Großvater von Schreier, ein Apotheker, der gerne tüftelte mit chemischen und pharmazeutischen Ingredienzien wie Acetylsalicylsäure, Chinin, Lithiumcitrat, Paracetamol, hatte aus diesen Wirkstoffen ein in Wasser aufzulösendes Pulver zur Linderung von Schmerzen entwickelt. Dieses Mittel verkaufte er seinen Kunden über den Ladentisch. Der Vater von Felix machte aus dem Pulver eine gepresste Tablette, richtete ein kleines Labor ein und begann den Vertrieb über den Ladentisch hinaus auszuweiten. Damit schuf er die Grundlage, des Großvaters Tüftelei unendlich zu vermehren, was er mit der Gründung einer kleinen Fabrik in Kronberg in den 30iger Jahren des 20. Jahrhunderts so richtig in Schwung brachte, Er stimmte das Schmerzmittel speziell auf Kopfschmerzen ab und darauf aufbauend hat er die Firma langsam auf- und ausgebaut.

Nachdem Felix sein Studium Ende der 60iger Jahre beendete, stieg er in das Familienunternehmen ein und hat es nach dem frühen Tod seines Vaters übernommen und den weiteren Ausbau und Erhalt des groß- und väterlichen Erbes zu seinem Lebensinhalt gemacht.

Die Fabrik produzierte weiterhin ausschließlich Pillen gegen Kopfschmerzen nur unterschieden in der Dosierung des Wirkstoffes sowie den länderspezifischen Verpackungsvorschriften, zunächst mit Großvater, dann dem Vater, gegen die lokalen und nationalen Kopfschmerzen, dann mit ihm die internationalen, schließlich die globalen Kopfschmerzen, nachdem sich die Chinesen entschlossen hatten, dem westlichen Kapitalismus ideell nachzueifern, was offensichtlich die Anzahl beschwerdehabender Menschen drastisch erhöhte.

Er trieb daher seine Produktionsausbringung sukzessive in die Höhe, erstellte ein neues Gebäude, investierte in neue, immer effizientere Maschinen, in ein global vernetztes Vertriebswesen, ein kreatives Marketing, einer Logistikabteilung, entledigte sich seiner Forschungsabteilung, deren Leistung er bei Bedarf zukaufte. Das, was und wie er es tat, war seiner Zeit weit voraus. Jahre bevor die industrielle Welt schlanke Prinzipien in die Fabriken einziehen ließ, produzierte er in schlanken, ballastarmen Strukturen.

 

Felix von Schreier wurde durch jede Pille, die seine Maschinen erzeugten und in Blisterstreifen hüllten, fast sekündlich reicher. In früheren guten Zeiten gab er ein wenig seiner Gewinne in Form eines Jahresbonus an seine Mitarbeiter weiter: Jedoch, je mehr die klassische Belegschaft, also die Leute, die noch unter seinem Vater dienten und die er noch per Namen kannte, verschwand und je älter und verbitterter er, ob seiner familiären Situation wurde, desto lieber sah er seinen Reichtum in seiner Masse wachsen und gedeihen. Dies bremste sein innovatives Engagement und damit die Dynamik der Fabrikentwicklung deutlich.

Je höher er seinen Geldberg anwachsen sah, desto sparsamer wurde er. Geizig wurde er. Auch seiner Frau gegenüber begann er zu knausern. Er billigte ihr ein monatliches Hauswirtschaftsgeld zu, mit dem sie für den gesamten Haushalt und ihre persönlichen Bedürfnisse auszukommen hatte. Sie musste gar ein Haushaltsbuch führen und manche Ausgabe vor ihm rechtfertigen.

Sie sah ihn nur selten, da er viel auf Geschäftsreisen war und für ihn 10 bis 14 Stunden Anwesenheit in der Firma vollkommen normal waren. Wenn sie ihn sah, dann musste sie ihn meist als Staffage zu repräsentativen Veranstaltungen mit örtlichen oder überörtlichen Honoratioren begleiten und die perfekte Ehefrau in der perfekten Ehe eines erfolgreichen Geschäftsmannes spielen.

Peu à peu begann sie ihre Zurückgezogenheit in dieser einseitigen Beziehung für sich neu auszugestalten, umgeben von einem bedrückenden Luxus aus versunkenen Zeiten, den sie immer mehr verabscheute, da der Luxus, wie sie, seit Jahrzehnten auf der Stelle verharrte und herzlich wenig mit Ihrer angestrebten Lebensausrichtung zu tun hatte. Die lag, zumindest in den letzten Jahren ihrer Ehe, in einer träumerischen Ferne, in exotischen Ländern in idyllischen Gefilden, in die sie gedanklich abtauchte, wenn sie sich die Bilder der großformatigen Reisebände betrachtete, die sie sich nach und nach angeschafft hatte. Sie ließ ihrer Fantasie freien Lauf, untermalt von der Musik Schuberts oder anderer Komponisten aus Zeiten, in denen romantische Stimmungen den Zeitgeist bestimmten. Sie vergrub sich in ihren persönlichen Räumlichkeiten, die sie, nach heftiger Auseinandersetzung mit ihrem Mann, vom alten Erbe derer von Schreier befreite und durch modernere, ihr gefälligere Möblierung ersetzte. So schuf sie sich eine Wohlfühlatmosphäre, die ihr half, ihre triste Gegenwart zu verdrängen.

Mehr aber durfte sie am Interieur des Hauses nicht verändern, einer dreistöckigen Villa im Wilhelminischen Baustil, angehaucht von der Bäderarchitektur der pommerschen Heimat, die der Großvater hatte in bester Lage am Taunusrand er- und einrichten lassen, auf fünftausend Quadratmetern baumreichen Grundes.

 

Die Villa mit ihren Balkonen an den Fassaden, den Veranden im hinteren Hausteil, den Risaliten in der Mitte und an den Ecken des Gebäudes, das nicht wie an der Küste in Weiß, sondern Grau gehalten ist, vielleicht auch über die Jahre ergraut ist. Das imposante Gebäude hat große Rundbogenfenster, hinter denen dicke Gardinen bei Bedarf Sonne und Licht fernhalten, kleine Türmchen an den Ecken des oberen Dachgeschosses, Spielereien eines sich seines Wohlstandes bewussten Bauherrn.

Ein breiter Aufgang führt zu einer mächtigen, mehr abweisend als einladenden Eichenholztür, öffnet man diese, steht man vor dem ausladenden Vestibül. Schwere Holztreppen winden sich links und rechts vom Eingang in die oberen Räumlichkeiten. Die Treppenaufgänge sind angefüllt mit Ölgemälden, die Familie in Portraits zeigend, pommersche Landschaften oder aus der Geschichte der Chemie erzählend. Die mit den Erinnerungen an vergangene Zeiten behängten Wände, die dunklen Möbel, die regelmäßig von der Putzfrau mit Politur bearbeitet wurden und den Geruch der Politur zum nicht wegzubekommenden ständigen Bewohner der Villa machend sowie die in trüben Farben gehaltenen Wände, erzeugten eine bedrückende Atmosphäre. Lediglich die hohen stuckverzierten weißen Decken, an denen Kronleuchter hingen, sorgen für etwas Freundlichkeit.

Die Auffahrt zur Villa führt entlang eines von Rhododendron eingerahmten Weges hinauf zur Villa, die umringt ist von alten Tannen, Buchen, Eschen, Eichen, die über die Jahre zu stattlichen Bäumen gewachsen sind, und dafür sorgten, dass die düstere Präsenz der Villa sich über die Jahrzehnte im Inneren wie im Äußeren nicht nur erhalten, sondern noch drückender geworden ist. Die Nachkommen des Ahnherrn behandelten das Erbe als Heiligtum der familiären Tradition, mit dem sich die jeweils neuen Mitglieder der Familie zu arrangieren hatten. Wie dies deren Seelen- und Gemütsverfassungen beeinflusste, interessierte den jeweiligen Hausherren herzlich wenig.

Die Villa hat einundzwanzig Zimmer, das sind, wie Ilse sagt, einundzwanzig Zimmer Einsamkeit.

 

Jetzt, als er sich langsamen Schrittes von der Haustür in die Nacht entfernt, erinnert er sich an den Abend, erst wenige Wochen her, an dem Ilse ihn mit der Bitte um Rat bei einer Geldanlage aufsuchte. Sie saßen in seiner Wohnung auf der Sitzgruppe nebeneinander und er führt sich die Papiere zu Gemüte, die Ilse ihm vorgelegt hatte, damit er für sie eine neue Anlagemöglichkeit finde. Wobei es Ilse nicht darum ging, ein Maximum aus der Anlage zu ziehen, sondern, sie sicher anzulegen. Tom hatte ihr dies in vorhergehenden Gesprächen nahegelegt. Zudem riet er ihr, ihr Vermögen bei verschiedenen Banken mit gestreuten Anlagen zu deponieren, denn ihr Vertrauen galt bisher nur einer Bank, was, wie Tom ihr erklärte nicht ohne Risiko sei. Sie folgte Toms Rat, einem Rat, der von dem des Bankers abwich, der er sonst war.

Urplötzlich kam Ilse von dem mehr geschäftlichen Gespräch ab und begann, was sie nie zuvor getan hatte, auch Ann-Kathrin gegenüber nicht, über sich und ihr früheres Leben zu berichten. Tom sah dies als weiteren Vertrauensbeweis an, vielleicht aber auch, wie er vermutete, als Erklärung darüber, wie sie zu ihrem Vermögen gekommen war. Toms Erstaunen, ob der Summen, über die sie sprachen, war ihr nicht entgangen.

Sie brachte in kurzer Folge zwei Söhne zur Welt, Niklas, der Jüngere und Walfried, der Ältere, womit Ilses Pflicht erfüllt war. Walfried war ausersehen, Nachfolger von Dr. von Schreier zu werden, entsprechend drakonisch fiel die Erziehung aus, die er seinem Sohn zukommen und die er sich nicht nehmen ließ, sie selbst zu überwachen. Mütterliche Zuneigung, gar deren Liebe waren ihm ein Dorn im Auge, da die Söhne dadurch verzärtelt und womöglich gar zu homoerotischen Neigungen führen würden. Eine fast neurotische Angst ihres Gatten, die sie lange nicht verstand, bis sich in ihr der Verdacht erhärtete, dass ihr Mann genau mit diesen Gefühlen in sich kämpfte, wie sie Tom fast verschämt anvertraute.

Mit 12 Jahren wurde Walfried nach privatem Kindergarten und Grundschule zur Vervollkommnung seiner Erziehung auf ein Eliteinternat in England gesandt, dass er entsprechend dem väterlichen Willen durchlief und erfolgreich abschloss. Dann aber, was sich schleichend angebahnt hatte, sich dem Vater total verweigerte, in Oxford Jura statt der gewünschten Chemie studierte und, trotz Aufforderung und des persönlichen Auftrittes des Vaters in Oxford, sich einer Rückkehr und des Einnehmens seines vorgesehenen Platzes verweigerte. Walfried verbat sich jeden weiteren Kontakt und ist nie wieder nach Hause zurückkehrt. Er stieg nach dem Studium in eine renommierte Kanzlei ein, wurde ein erfolgreicher Anwalt, heiratete, wurde Vater zweier Kinder, von denen die Großeltern, nur durch eine unbeabsichtigte Indiskretion von Niklas, der als einziger noch gelegentlichen Kontakt zu Walfried hatte, erfuhren, als Benjamin, der Älteste, bereits 3 Jahre alt war.

Aus Unverständnis auf den Sohn wurde Schmerz, aus Schmerz wurde Wut, aus Wut die Enterbung Walfrieds und dem Totschweigen seiner Existenz in der verbliebenen Familie und eine sich immer tiefer fressende Bitterkeit bei Felix von Schreier.

 

Dem Oberhaupt der Familie blieb Niklas. Dieser hatte ebenfalls ein Internat, allerdings in Süddeutschland, besucht, in Göttingen Chemie und Betriebswirtschaft studiert, leider, sehr zum Verdruss des Vaters, ohne einen Abschluss hinzubekommen. Trotz der offen zutage tretenden Schwächen, aber ohne Alternative, die ja in England verharrte, begann Niklas unter Vaters Aufsicht in die väterliche Firma einzusteigen.

Er durchlief verschiedene Abteilungen, um den Betrieb von Grund auf kennenzulernen. Schnell aber wurde ersichtlich, dass Niklas weder den Anforderungen des Vaters noch denen des Geschäftes genügte. Ihm fehlte jedes Feingefühl im Umgang mit zu führenden Menschen, die er, sicher Konsequenz seiner autoritären Erziehung, dominieren wollte, statt deren Erfahrungen und Wissen anzunehmen. Auch wollte ihm das fachliche Wissen für die geschäftliche Materie nicht in den Kopf. Herr von Schreier fragte sich immer wieder, wo im Kopf von Niklas die neun Jahre Chemiestudium lagerten. Niklas sorgte für viel Unstimmigkeit im Getriebe des Betriebes, die der Vater bereinigen musste, was zu weiterem Ärger führte.

Die Stärken von Niklas lagen zweifelsohne in Sphären, in denen mit dem väterlichen Geld sinnvollere Dinge vollbracht werden konnten als in den hygienisch reinen Räumlichkeiten der Fabrik, in der er als Assistent der Geschäftsführung ohne eigentliches Aufgabenfeld und mehr auf dem Papier als durch tatsächliche Anwesenheit geführt wurde.

So war Vater von Schreier doppelt enttäuscht und irgendwann an dem Punkt, wo er erkannte, dass die Familientradition in einer Sackgasse gelandet war. Er begann, sich ernstliche Gedanken über den Verkauf seiner Fabrik zu machen. Interessenten gab es in der Tat einige, insbesondere ein amerikanischer Großkonzern machte ihm des Öfteren eindringliche und gut dotierte Avancen. Es wollte ihm aber nicht gelingen tatsächlich loszulassen, die Familientradition war ein viel zu festes Band, so dass er zögerte und zauderte mit sich und den Amerikanern, die schließlich die Geduld mit dem Wankelmütigen verloren und die Verhandlungen einstellten. Sein plötzlicher Tod, den er hinter seinem Schreibtisch sitzend erlitt, befreite ihn von diesen ihn so quälenden Überlegungen.

 

Nachdem die Hauswirtschaftlerin die Leiche von Felix von Schreier fand, ihn zunächst für schlafend hielt, beim zweiten Nachsehen, es musste ja der Teppich gesaugt werden, ihn sanft an der Schulter rüttelte, er keine Regung von sich gab, mit einem heftigem, langandauerndem Aufschrei Unruhe ins Haus trug, ahnte Ilse, was der Aufschrei bedeuten würde. Gemächlich stieg sie die Treppe hinauf, nicht etwa eilig, entsetzt, von Ängsten getrieben, nein, wohlwissend, was sie erwarten würde und hoffte, was sie Tom gegenüber beschämt zugab, inständig, dass es endgültig und keine zu kurierende Schwäche sei, die sie gleich erleben würde.

„Sie hofften, dass ihr Mann wirklich tot ist? Haben Sie ihn so sehr gehasst?“

Ilse hielt in ihrer Erzählung kurz inne, dachte über seine Frage nach, sich den Moment von damals zurückholend: „Nein, Hass war das nicht. Ich würde es eine große Gleichgültigkeit nennen. Er war mittlerweile so weit weg von mir, dass mich kein beklemmendes Gefühl vereinnahmen konnte, in dem Moment konnte ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dass Felix einen Schlaganfall erlitten hätte und er zu einem, meinem, Pflegefall geworden wäre. Das hätte ich nicht durchgestanden.“

„Wäre da eine Scheidung nicht eine konsequente Lösung gewesen?“

„Nein, ich hätte mit Nichts dagestanden. Felix hätte mir nicht die Butter auf dem Brot zugestanden. Dann schon lieber in dem goldenen Käfig ausharren und auf eine andere Lösung hoffen, die ja dann eingetreten war.“

Sie habe kurz innegehalten, sich kurze Zeit zurückgezogen und danach begonnen, alle notwendigen Schritte, die die nahe Zukunft verlangte, zielgerichtet einzuleiten, vor allem die Leiche schnellstmöglich aus dem Haus zu schaffen. Als nächstes nahm sie sich das häusliche Arbeitszimmer ihres Mannes vor und begann dessen Ordner durchzugehen. Zwei Tage lang vertiefte sie sich in die Bank- und Geschäftsvorgänge, zog danach zur Überraschung aller Mitarbeiter in die Firma ein, verwies Niklas nicht nur aus dem Büro ihres Mannes, sondern gänzlich aus der Firma und verkündete, die Geschäfte vorerst allein, aber mit der Unterstützung von Herrn Selters, dem Produktionsleiter, weiterzuführen.

Ihr Ziel war, die Firma schnellstmöglich zu verkaufen, wobei sie auf das Angebot aus Amerika zurückkam, den Kontakt wiederaufnahm und in zügigen Verhandlungen einen Vertrag vereinbarte, der ihr eine beträchtliche Geldsumme und den Mitarbeitern eine Beschäftigungsgarantie einbrachte. Sie beauftragte ein Immobilienunternehmen ihr Anwesen zu veräußern, das, nach mehreren Anläufen diverser Interessenten, an einen Hersteller von Brillengestellen ging, der aus der Villa ein Tagungszentrum für seine Führungskräfte machen wollte. Ilse stellte sich genüsslich vor, wie ihr Felix über diese Nutzung der Villa verärgert dort oben auf seiner Wolke toben würde.

Sie ließ von einem Antiquitätenhändler das Haus von seinen, für ihren dahingeschiedenen Mann Schätze, kostbares Erbgut, für sie einfach nur altes, unnützes Gerümpel war, räumen und kaufte sich die Wohnungen am Westhafen. Über Toms Wohnung gab es zwei weitere Wohnungen, die sie ebenfalls kaufte, die aber leer blieben und von Ilse gedacht waren, zu Messezeiten an betuchte Gäste oder Firmen zu vermieten. Warum auch immer, umgesetzt hatte sie dies bis heute nicht. Sie hätte eine Vermietung auch gar nicht nötig. Tom erklärte sich den Zweck des Kaufes als Kapitalanlage, was allerdings nicht unbedingt zu Ilses Gedankenwelt passte. Hätte Tom nicht durch Sebastian den Vorzug der Option des Kaufes noch in der Planungsphase gehabt, hätte Ilse wahrscheinlich das gesamte Haus übernommen. Fast 1000 Quadratmeter Leerstand.

 

Mit dem Umzug in die Stadt und dem Einzug in die mondäne Wohnung am Mainufer tauschte Ilse ihre Garderobe aus, die über all die Jahre von dunklen Tönen und biederen Schnitten geprägt war. Sie begann das Leben in der Stadt für ausgiebige Streifzüge durch exklusive Boutiquen zu nutzen, erweiterte ihre Garderobe mit bunten, hellfarbigen Kleidern und Blusen, wobei enge Jeans, die ihr Felix an ihr so gehasst hatte, und seidige Blusen ihr liebstes Outfit waren. Rot stand ihr besonders gut, dass im Duett mit ihrem schwarzen, auf die Schulter fallenden Haar einen Hauch von ungewollter Erotik ausstrahlte, bevor sie sich dann endgültig ihrer Obsession hingab, der Kreuzfahrt.

Was sie nicht einfach so von sich streifen konnte, sind die Jahre mit Felix und der düsteren Villa. Bitterkeit hatte sich tief in sie hineingearbeitet und wenn diese an manchen Tagen oder bei einer falsch gestellten Frage hochkam, reagierte sie sarkastisch, ironisch oder gar böswillig.

Ilse ist sich ihr eigener Kosmos, die Welt um sie herum interessiert sie scheinbar nicht sonderlich, Politik, all die Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten in der Welt sind keine Themen, die sie anschlägt. Wenn Tom es trotzdem tut, reagiert sie gelangweilt, wechselt das Thema oder, was auch schon vorgekommen ist, lässt ihn einfach stehen oder sitzen und geht. In seinem früheren Kundenkreis waren einige betuchte Damen emsig sozial engagiert, in Vereinen oder Stiftungen, wussten um ihre Privilegiertheit und versuchten, Not im Rahmen ihrer Möglichkeit zu lindern. Derartiges Engagement liegt Ilse fern, es ist nicht so, dass sie auf ihrem Geld sitzt, aber davon etwas zu spenden, kommt für sie nicht in Frage. Es ist für sie sinnlos ausgegebenes Geld, das Arbeitsplätze in den Organisationen sichere, aber den zu Helfenden nicht wirklich hilft. Tom hält dies für ein fadenscheiniges Argument, um ihr Nichtengagement zu rechtfertigen. Er hat etwas Zeit gebraucht, um zu verstehen, dass sie ihr Geld lieber sinnvoll sinnlos ausgibt, sinnvoll für sie, sinnlos für ihren toten Mann, den sie anscheinend noch ins Grab hinein mit ihrer Verachtung bedenkt.

Walfried, von Niklas alarmiert, zeigte Verständnis, ja sogar Respekt vor den Entscheidungen und dem neuen Leben seiner Mutter, während Niklas um seinen Anteil an seinem Erbe kämpfte. Ilse zahlte beiden Söhne das ihnen zustehende Erbteil aus, was Walfried erst zögernd, es ging um Millionen, da konnte man Prinzipien schon mal Prinzipien sein lassen, dann aber dankend annahm. Niklas unzufrieden mit sich und der Welt strengte einen langwierigen Prozess an, der ihn aber letztlich als Verlierer sah, da Ilse sich die Anwälte leisten konnte, die Niklas fehlten und für die er trotzdem viel Geld hinlegen musste.

 

Ilse beginnt ihre Träume zu leben, verreist ihr Geld, das trotzdem nicht weniger wird, auf Kreuzfahrten, deren Luxussuiten ihr Zuhause werden. Sie kennt mittlerweile fast jeden zur See fahrenden Kreuzfahrtschiffskapitän persönlich mit Namen, hat ihren Platz beim Kapitänsdinner, dem schlemmenden Abschluss einer Kreuzfahrt, fest, neben dem Kapitän. Sie kennt jedes zur See fahrende Kreuzfahrtschiff, ob der Lirica-, Musica-, Seaside-, Meraviglia oder Fantasia-Klasse der Reederei ihres Vertrauens, letzteres gestärkt durch ein dickes Aktienpaket.

In einem der Zimmer der Frankfurter Wohnung hängt eine Weltkarte, in der Ilse jede von ihr befahrene Routen einzeichnet. Mittlerweile eine kaum mehr zu durchschauende Anzahl von miteinander verbundenen, sich überlagernden Linien, einem Strickmuster nicht unähnlich. Neben den Routen stehen Zahlen, fortlaufende Notierungen ihrer Obsession, 69 ist die höchste Zahl, die er hat identifizieren können. Daneben hat sie Blätter aus Schifffahrtskatalogen oder solche von Reiseveranstaltern angepinnt, bei denen sie mit dickem Marker Haken aufträgt, welche Schiffstour sie bereits abgewickelt hat, die ohne Haken, welche noch vor ihr liegen.

Ihm hat öfter eine spöttische Bemerkung zu diesen Wandbehängen auf der Zunge gelegen, hütete sich aber, diese zu äußern. Ilse kann Spott verteilen, aber keinen ertragen, also schweigt er, weil er gelernt hat, sich in bestimmten Situationen zurückzuhalten. Auf den Luxuslinern taucht sie ein, in die Masse der Passagiere, hat aber mittlerweile ihre nähere, ihr dienenden Umgebung, dank ihrer Zuwendungen, fest im Griff. Sie investiert, wie sie sagt, in die Freundlichkeit des sie umgebenden Bordpersonals kleine Summen und kauft sich so Annehmlichkeiten, Beachtung und Bestätigung ein, die von Fahrt zu Fahrt mit ihrem Bekanntheitsgrad beim Personal auf jedem Schiff wächst.

Wenn sie von ihren Reisen erzählt, ist für sie Höhepunkt, wenn sie im Liegestuhl auf dem Sonnendeck nächtigt, über sich die Sterne in greifbarer Nähe und der Blick auf eine unendliche, leicht rauschende Dunkelheit. In Mondnächten, so schwärmt sie, tanzt dessen Licht auf den von dem Schiff erzeugten Wellen. Mondscheinballett, sagt Ilse. Für Tom überraschend sind es nicht die tropischen, palmenbewachsenen Gefilde der Karibik, die gewaltigen weißglühenden Gletscher- und Eismassen der Arktis, die einzigartige Tierwelt der Galapagos-Insel, die stummen Rätsel der Osterinseln oder all die anderen für viele Menschen traumhaften Sehnsuchtsorte, die Ilse faszinieren, nein, die endlose Dunkelheit des Meeres und des Sternenhimmels sind ihr die Höhepunkte.

Entschleunigtes Sinnieren nennt sie es, auf dem Deck zu liegen, fahrende Langsamkeit spürend, und die Gedanken auf das zu richten, was augenscheinlich ist. Sie schwärmt von den Sonnenauf- und untergängen, deren kurzzeitige glühende Intensität ein überwältigendes Erlebnis, ein Naturschauspiel vor dem Horizont aufgewühltem Wasser sei. Tom kann ihre eigenwilligen Empfindungen kaum fassen, aber so war Ilse, mehr als unorthodox und ein stückweit Egozentrisch. Die Frankfurter Wohnung dient zunehmend nur noch als Depot für den Wäschetausch und das Umrüsten der Koffer zur nächsten Kreuzfahrt, weswegen sich eine möbiliare Aufrüstung der Wohnung erübrigt und die Einbrecher mit enttäuschender Beute ziehen mussten.

Den abrupten Wechsel ihres Lebens kann Ilse Tom nicht so recht erklären, außer dass sie sich von einer schweren Last befreit sah und dass in ihr gestaute Willenskräfte plötzlich die Möglichkeiten sahen, die vor ihr lagen und über die sie nun selbst entscheiden kann und will. Sie versucht ihre Situation mit der eines Vogels zu verdeutlichen, dessen Halter plötzlich nach jahrelangem eingesperrt sein in einem engen Käfig, die Türe dieses öffnet und er blitzschnell sich entscheiden muss, für den Flug in die Freiheit oder des Verbleibens. Sie bewegt sich, wenn sie auf diese Jahre zu sprechen kommt, immer an der Oberfläche. Die vielen Jahre mit Felix und was diese in ihrem Innenleben ausgelöst hatten, bleiben unerwähnt, bleiben tief in ihr vergraben.

Einmal hat er sie gefragt, warum sie aufgehört habe zu praktizieren, unwirsch hatte sie mit „wegen der Familie“ geantwortet und mehr gab es dazu nicht zu sagen, was sie ihm mimisch deutlich zu verstehen gab. Er sieht die Parallelen der Selbstaufgabe bei Ilse und sich, sie durch das Einfügen in die Erfüllung einer Tradition, er in das Eintauchen in den Job und erkennt, was dies anrichtet bei ihr wie bei ihm. Ilse spricht nicht gerne über diese Jahre, die Atmosphäre muss stimmen (nach zwei, drei Gläsern Sherry, kurz vor der nächsten Abreise, wenn sie eine ihrer Reisegeschichten erzählt hat) und sie in seliger Stimmung ist, kann sie über diese Zeit reden, was sie dann ausgiebig tut.

Sie trägt ihr Haupt hoch, immer aufrecht, keine Spur einer Beugung, meist die Stirn aufmerksam, angriffslustig gespannt, zumindest wenn sie jemandem gegenübersteht. Wie sie mit sich in ihren eignen vier Wänden umgeht? Schwer zu sagen, aber Tom vermutet eine andere Ilse, die in der Einsamkeit die belastenden Jahre verarbeitet, bevor die Einsamkeit sie wieder hinaus auf das Meer treibt.

 

Er wandelt weiter durch die Nacht, überrascht mittlerweile auf der Friedens-Brücke angelangt zu sein, nicht so recht weiß, wo er eigentlich hinwill, schlägt dann aber kurzentschlossen den Weg in Richtung Sachsenhauser Ufer ein. Die Nacht ist kalt und feucht, der sich gemächlich zu Boden senkende Nebel benetzt seine Haare und läßt ihn langsam die Kälte spüren, die sich mit der Feuchtigkeit bis zur Schädeldecke vorarbeitet. Kleine Tauperlen sammeln sich auf seinen Augenbrauen, in der Vereinigung werden aus Perlen kleine Rinnsale, die wie Tränen sich ihren Weg durch sein Gesicht suchen.

Nur spärlich und spröde dringt das Licht der Stadt durch den Vorhang dahinziehender Nebelschwaden über den Fluss. Der strömt so sanft dahin, dass die Spiegelungen der Lichter aus den Hochhäusern, nicht wie üblich, verzerrt auf dem Wasser tanzen, sondern in fast geraden, des Nebels wegen, gerade noch so wahrnehmbaren Strichen auf dem Wasser ruhen. Hochaufragend, im Nachtnebelhimmel fast verschwindend, die Silhouette der Türme, ihre dunklen Umrisse andeutend. Die Türme der Macht und des Geldes, Symbole des Glaubens an ein stetiges Wachstum, marketingmäßig als Mainhattan verkauft. Er hat dies immer als lächerlich empfunden, angesichts der Städte, die er gesehen hat in China, Malaysia oder Amerika, die erst ab dem zehnten Stock beginnen, während die Stadt hier nichts als Erdgeschoß ist. Lächerlich, ja, lächerlich dieses aufplustern. Um im Globalisierungswettbewerb mitzuhalten?

 

Der Lärm des Tages hat sich verzogen und nur vereinzelt vorbeikommende Fahrzeuge hinterlassen durch den Nebel gedämpft ihre Geräusche, die viel friedlicher daherkommen als das großkotzige Brausen am Tag. Die Nacht riecht anders als der Tag, keine Gerüche fahrender, abbremsender Fahrzeuge, vom Himmel herab kein düsendes Dröhnen überfliegender Flugzeuge, keine süßlichen Industriegerüche aus den nahen petrochemischen oder pharmazeutischen Werkstätten, stattdessen ein erdiger Geruch nach modernden Blättern, feuchten platt liegenden Gräsern, nassem Straßenpflaster. Selbst dem Fluss gelingt es, seinen Geruch nach geklärten Abwässern bis hoch zum Kai zu tragen. Seine Geruchs- und Gehörempfindungen überraschen ihn, er hat, soweit er sich erinnert, die Stadt noch nie so wie jetzt wahrgenommen, obwohl er nicht das erste Mal um diese Uhrzeit unterwegs ist.

Bei den sonstigen Gängen durch die Stadt trübt ihm allerdings der Alkoholpegel jede Form von Empfindung, die Stadt ist sein Arbeitsplatz, sein Wohnort und kein Ort über ihn zu sinnieren. Mag er die Stadt eigentlich? Ein Gedanke, mit dem er sich zuvor nie beschäftigt hat, er ist nun einmal hier, schon immer, einfach zur Gewohnheit gewordenes Hiersein, Heimat? Ist ihm die Stadt Heimat? Seine Heimat? Nein, das Wort ist ihm fremd, es ist kontaminiert, missbraucht, ausgeschlossen aus seinem Wortspeicher, Ilse hätte es ein naziverseuchtes Wort genannt, hat einmal gesagt, „die Nazizeit trägt man in seinen Klamotten mit sich durchs Leben, man kann diese Zeit nicht herauswaschen.“ Eine der wenigen Übereinstimmung in der Sicht auf die geschehenen Dinge, die sie beide teilen.

Tom weiß nicht, woher Ilses vehemente Abneigung gegen alles Braune stammt, sie hat es ihm gegenüber nie erklärt, möglich dass es in ihrer oder der Familie von Felix begründet liegt. Heimat ist ein Wort, ist wie ein Felsen, hinter dem sich die scharen, die das Neue, das Fremde, die Veränderung nicht sehen wollen, die bewahren wollen, die verklären, was längst unrühmliche Geschichte ist. Das Wort wird nie wieder seine Bedeutung erhalten, dass es möglicherweise einmal hatte, nein die Stadt ist der Ort, wo er wohnt, mehr nicht. Punkt!

Findet, als er in London war, die Stadt unwiderstehlich, tosend, bunt, und vor allem, herrlich schräg, Singapur, ja auch dieser Stadt kann er einiges abgewinnen, blöd nur, dass es immer permanent warm ist und immer grün, kein Herbst, kein Frühling. Das Jahr durchgehend herrscht eine hohe Luftfeuchtigkeit, die irgendwann auf die Nerven drückt, aber sexy ist sie, ja die Stadt versteht es, Lust auf das Leben zu machen, aber Frankfurt? Ist da etwas sexy? Schräg? Liebenswert?

Gut, er mag die Museen, vor allem das Städel, aber die Museen der Stadt kann London locker schlagen mit seinem British Museum, der National Gallery oder der Tate Gallery of Modern Art. Lauschige Orte? Flair? Vielleicht bietet dies die Stadt, entweder er hat daran vorbeigelebt oder ihm ist dergleichen noch nicht aufgefallen, er sollte die Stadt mit neuem Blick für sich auch neu entdecken, bewusst darauf achten, die Dinge und Orte zu finden, die sie liebenswert machen. Nein, wenn es die gäbe, hätte er sie sicher längst gefunden. Warum ist er nie weggegangen von hier? Wäre das eine Option für seine Zukunft? Was hält ihn hier fest? Nichts, jetzt absolut nichts mehr. Er muss neu anfangen, warum nicht an einem neuen Ort, einem Sehnsuchtsort. Sydney? Paris? Barcelona? San Francisco? Er muss über die Stadt hinausdenken, aber auch daran, was er, falls er bliebe, in der Stadt tun will. Auf den wenig Luxus in seinem Leben will er nicht ganz verzichten. Um diesen Status zu halten, muss er weiterhin für Einnahmen sorgen, nur, womit?

 

Er umfasst das Geländer der Balustrade mit beiden Händen, blickt auf die Stadt am anderen Ufer, überrascht noch so viele Lichter, zwar nur schemenhaft, aus zu ahnenden Fenstern zu erkennen. Blickt hinunter auf den Main, der lautlos dahinfließt, als wolle er nicht gesehen werden. Seine Anwesenheit aber wird allein durch den Geruch hunderter in ihm vereinter Kläranlagen verraten. Seine Hände beginnen kalt zu werden, der eiskalten Rohre wegen, auf denen sich der Raureif in kristalline, winzige Eiskrümel wandelt. Er vergräbt seine Hände in den Hosentaschen und marschiert weiter über den gepflasterten Gehweg unter blattlosen Platanen, die ihre winterlich geschnittenen Äste gespenstisch in den Himmel ragen. Die Astknollen muten wie geballte Fäuste an, als wären sie Kulisse für die Hexenszene in der Verfilmung von Macbeth, die Stelle, an der die Weiber im Sumpf Macbeth mit falschen Begehrlichkeiten in Sicherheit wiegen.

Er muss lächeln als dieses Bild vor ihm entsteht, aber die kahlen Äste bieten Anlass, um die Fantasie spielen zu lassen. Er erinnert sich an den Film und die Tage, wo er mit Begeisterung im Programmkino die Klassiker der Filmgeschichte genoss, wo er, ja genau, hier entlangging, an den Ständen des Flohmarktes vorbei flanierte. Mit dem Blick suchte er etwas, was er nicht brauchte, aber irgendwie in der kleinen Einzimmerwohnung, die er damals, nach seinem Auszug von zuhause, angemietet hatte, unterbringen konnte. Hier stöberte er nach Büchern von Autoren, die er liebte zu lesen, Stefan Zweig, Hesse, Kesten, Feuchtwanger, Werfel oder den unterschätzten Peter Härtling. Bücher, die er einreihte in muffige Regale und beim Umzug in die Wohnung am Westhafen in der Tonne entsorgte.

Die Verluste ersetzte er durch elektronisch bestellte am aktuellen Geschmack orientierten, vor allem nicht muffig riechenden Büchern, von denen viele noch heute ungelesen in seinem Bücherregal stehen.

Es ist so vieles schiefgelaufen. Zu sagen, er sei nicht mehr über den Flohmarkt gegangen, weil er immer mehr zum Basar verkam, der von Türken, Pakistani und andere sich auf den Verkauf von textiler oder technischer Billig- und Plagiatware aus asiatischen Ländern spezialisierten Verkäufern dominiert wurde, wäre zu vordergründig. Tatsächlich ist es sein Leben, so wie er lebt und wohnt, der Grund, diesen Ort, der nichts mehr mit seinem Leben zu tun hat, zu meiden. Er hat sich treiben lassen, von Dingen, die er so gar nicht wollte, sich zudecken lassen von den Annehmlichkeiten, die ihm sein Einkommen erlaubten. All das glaubt er, hinter sich gelassen zu haben, will es nicht mehr, was aber will er?

 

Mittlerweile ist er vor den Stufen der Brücke angelangt, dem Eisernen Steg, denkwürdiges Überbleibsel eines selbstbewussten Frankfurter Bürgertums, Verbindungssteg zwischen der Bier- und Apfelweinerzeugung und -vereinnahmung auf der einen und den Banken- und Shoppingwelten auf der anderen Seite. Stufe um Stufe steigt er die klitschige Treppe hinauf, betritt die Brücke, die mit ihrer gusseisernen, geschwungenen Bogenkonstruktion so recht in das nebelverhangene, diffuse Licht der Nacht passt, ihr etwas Bedrohliches, Undurchsichtiges verleiht.

Auch hier stellen sich ihm Erinnerungen ein, an Zeiten, als er die Brücke nutzte, um von Ufer zu Ufer zu kommen, die Museen besuchte, insbesondere das Städel, indem er Stunden des Staunens und mit phantasierenden Gedanken verbracht hatte. Oder wie er, in Sommernächten, die Sachsenhäuser Kneipenwelt durchlaufen hatte. Wo sind nur all die Jahre hin? Wo ist er die letzten Jahre gewesen? Er lebt in der Stadt und anscheinend doch nicht.

Erstaunt nimmt er die unglaubliche Anzahl von Schlössern wahr, die am Geländer links und rechts der Brücke hängen, Liebesschlösser. Er hatte davon gehört, aber bisher noch nicht gesehen, oder doch? Und ist an ihnen ignorant vorbeigerauscht? All die bunten, rosa, mal golden, mal grün, mal blau schimmernden Schlösser, mit Gravuren, die ewige Treue suggerierten, dem Datum ihres Aufhängens versehen, den Initialen der Verliebten oder mit Sinnsprüchen, professionell, teilweise auch sehr amateurhaft aufgebracht. Keine mogelnden Zahlenschlösser, nein, nur Schlösser, die mit dem Schlüssel zu schließen sind, den man, wie er gehört hat, nach dem Schließen in den Fluss wirft, um die Verbindung ewig, unwiederbringlich zu machen.

Er hat sich gebückt, hält ein Schloss nach dem anderen in seinen Händen, umfasst das kalte Eisen und ist verwundert, dass Jugendliche der iPod-Generation diesem Köhlerglauben frönen. Was währt schon ewig? Er versucht sich, langsam weitergehend, zu erinnern, wann er das letzte Mal hier war, findet aber keine Antwort in seiner Erinnerung. Kurz hält er inne, stützt sich mit den Ellenbogen auf dem Brückengeländer ab, legt seinen Kopf in die gefalteten Hände und starrt sinnierend hinunter in das dahin wabernde Gewässer.

Er ist seine Arbeit los, los auch die Abhängigkeiten und Zwänge, die aus dem Erfüllen der Arbeit resultieren, aber auch den Sinn los, ohne die Inhalte, die seinem Leben Routine und Richtung gegeben hatten. War dieses Los sein seine Freiheit? Will er diese Freiheit, von der er nicht weiß, sie zu nutzen? Er ist Banker, verflucht, er kann nur Banken und will doch nie wieder Banker sein.

„Sie können ruhig springen. Aber glauben Sie nicht, dass ich Ihnen nachspringe und versuche, Sie aus dem Wasser zu fischen! Ich werde nichts für Sie unternehmen! Noch nicht einmal einen Notruf absetzen!“

 

Er zuckt, ganz in Gedanken versunken, zusammen als diese überraschend raue Stimme hinter ihm erklingt, löst sich abrupt vom Brückengeländer, dreht sich um und sieht einen grauen Thermomantel aus dem unten Hosen (Jeans?) und ein Paar Stiefel ragen. Aus dem Mantel ragt ein Gesicht, dessen Beschaffenheit er im Dämmerlicht nicht erkennen kann. Das Gesicht eingerahmt von einer Strickmütze, ihre Hände tief in die Manteltaschen vergraben, auf ihn blickend.

Um diese Zeit einen Menschen auf der Brücke zu treffen, verwirrt ihn, zumal diese Gestalt nicht zu seinen Gedanken und seinem Hiersein passt.

„Keine Angst, ich habe nicht die Absicht zu springen. Sie müssen sich also nicht bemühen…obwohl, den Notruf hätten Sie schon tätigen können.“

„Nein, hätte ich nicht, ich habe kein Handy dabei“, sagt sie lachend, „Sonst alles in Ordnung bei Ihnen? Zuviel getrunken? Ein zu schlechtes Gewissen, um nach Hause zu gehen oder womöglich noch größere, so richtige Probleme?“

Vorsichtig, langsam kommt sie auf ihn zu. Sie hat seine Größe, scheint schlank zu sein, der Mantel täuscht mehr vor als da ist. Ihr Gesicht wird sichtbar, glatt mit nur leicht abgehobenen Backenknochen, dunkler Teint, schmalem Mund, die Lippen leicht mit einem dunkelrot scheinenden Lippenstift betont. Spöttisch blickende dunkle (braune?) Augen, die ihn da fragend anschauen. Unterhalb der Augen sitzt eine leicht nach oben gebogene Stupsnase, und unter der Mütze lugt dunkelbraunes Haar hervor. Eine insgesamt hübsche Erscheinung, aber um drei Uhr auf der Brücke?

„Ich bin in Ordnung, auch wenn ich in Unordnung bin…Ich war einfach nur unruhig und die Gedanken rumorten in mir, keine guten Voraussetzungen, um schlafen zu können, also dachte ich, frische kalte Luft würde mir und meinem Kopf guttun. Und Sie? Etwas ungewöhnlich für eine junge Frau, um um diese Uhrzeit hier auf der Brücke zu flanieren.“

 

Sie lacht erneut kurz auf, dabei sichtbar werdender Atem ausstoßend und kommt auf ihn zu.

„Na ja, dann ging es mir ähnlich wie Ihnen, allerdings ohne Ruhelosigkeit und düstere Gedanken. Ich bin erst vor ein paar Stunden aus Thailand zurückgekommen und habe die Zeitumstellung noch nicht drin, Jetlag, wie man sagt, vielleicht auch den Fehler gemacht, spät noch Kaffee zu trinken, vielleicht auch der abrupte Wechsel der Umgebung. Es ist schon eine gewaltige Umstellung mich vom grünen, bunten, vor allem sonnenintensiven Thailand wieder auf die Kälte, Feuchte und Dunkelheit hier einzustellen. Jedenfalls: ich bin nicht müde! Ich wohne dort drüben, da, wo auf dem Balkon die Geranien hängen, na ja, zumindest im Sommer.“

Sie zeigt auf einen vierstöckigen Häuserblock hinter der Uferstraße, gegenüber dem historischen Museum, von Geranien und dem Balkon ist allerdings wenig zu sehen.

„Wenn Sie so wollen, bin ich auf der Brücke fast zu Hause. Der Steg ist quasi mein Vorgarten.“

Dabei lächelt sie kurz auf, helle gepflegte Zähne kurz sichtbar werden lassend.

„Ich bin gerne hier, zu jeder Jahreszeit, natürlich lieber im Frühjahr oder Sommer und eher bei Tag als bei Nacht! Na ja, auch die Nacht hat ihre schönen Seiten.“

Sie dreht sich leicht und lehnt sich mit dem Rücken, wie er, an das Brückengeländer, den Blick flussabwärts gerichtet.

„Stimmt! Die Nacht hat etwas. Es ist heute das erste Mal, dass ich die Nacht und die Stadt wieder bewusst wahrnehme. Ich lebe schon immer hier in der Stadt…mit Ausnahme von sechs Jahren, und habe mich heute Abend an Dinge erinnert, die ich in der Umgebung hier erlebt habe und die Stadt... ja…ein Teil von mir war. Irgendwie habe ich die Stadt die letzten Jahre aus den Augen verloren, genauso wie mich selbst…schon eine seltsame Nacht.“

Sie spitzt ihren Mund, je ein Grüppchen links und rechts bildet sich.

„Oh je, hört sich doch nach Mainspringen an!“ und lacht ihr fast lautloses ahahah.

„Irgendwie…na ja…es hört sich verdreht an. Die letzten Jahre habe ich mit Arbeit verbracht, in einem dieser Türme dort hinten. Normal waren 12 Stunden und mehr. Und sonst habe ich einige Golfplätze im Umfeld, gute Restaurants, Cocktailbars nach der Arbeit oder zur Feier eines guten Abschlusses, oder das eine oder andere Fitnessstudio gesehen. Dazwischen hat sich meine Ehe aufgelöst und den Job bin ich jetzt auch los…das ging alles so rasant vor sich…keine Ahnung wo diese Jahre hin sind. Ich versuche gerade das alles auf die Reihe zu bekommen und für mich…Verstehen Sie, ich will nicht aufhören, ich will neu anfangen…weiß aber noch nicht wie.“

Seiner Stimme ist anzumerken, dass er fröstelt, mittlerweile geht die feuchte Kälte durch ihn durch. Sie scheint das bemerkt zu haben.

„Kommen Sie, gehen wir rüber zu mir. Ich mache uns Tee, der wird Sie aufwärmen und wir können drinnen weiterreden. Es hört sich an, als würde Ihnen das Reden guttun. Ich bin zwar keine Therapeutin, aber davon, dass Reden guttut, habe ich schon gehört!“

Er schaut Sie erstaunt ob dieses Angebotes an. „Aber…?“

„Nicht aber…ich bin harmlos und Sie sehen auch nicht aus wie Jack the Ripper, also kommen Sie, keine Scheu. Ich bin Lene“, dabei zog sie ihre rechte Hand aus der Manteltasche und reichte sie ihm, der mit seiner kalten Rechten, die ihre umfasste und die Wärme wohltuend empfing, die von Ihrer Hand ausging. „Ich heiße Thomas, Freunde, ach, eigentlich fast alle Leute, nennen mich aber Tom.“

„Okay Tom, dann lass uns gehen!“ Sie gehen auf die Brückentreppe zu, steigen die Stufen abwärts, überschreiten die Straße und gehen auf das Gebäude, indem sie wohnt, zu, vorbei an einem kleinen Anwohnerparkplatz, der mit Autos zugestellt ist. In einem meint Tom Leute sitzen zu sehen, sich nicht trennen wollende Verliebte (?). Sie schreiten durch ein breites Portal, das den Blick in einen Innenhof öffnet. Auf der Innenseite des Portals befindet sich der Eingang zu ihrer Wohnung. Sie fragt ihn, wie lange er schon durch die Nacht läuft, was er nicht beantworten kann, meint aber, bestimmt eine Stunde.

 

An der Haustür angelangt schließt sie auf und öffnet die Tür, die den Blick frei gibt in eine langgestreckte Wohnung. Sie zieht ihren Mantel aus, darunter kommt ein gelber Pullover zum Vorschein und braune, halblange Haare, als sie die Mütze herunternimmt.

„Hänge Deine Jacke hier auf“, wobei sie auf die Garderobe zeigt, direkt hinter der Tür, „und ziehe bitte Deine Schuhe aus!“, was er tut.

Sie geht voraus, er folgt ihr in eine Wohnung, deren überhöhte Temperatur ihn wohlig umfängt. Hinter der Haustür ist die Garderobe, begrenzt von einer Wand, hinter der sich die Küche anschließt, die direkt in ein Wohnzimmer übergeht, lediglich getrennt durch eine offene Wand, die als Durchreiche und Essplatz dient. Wohnzimmerseitig stehen vier hohe Hocker. Das Wohnzimmer selbst wird dominiert von einer in Gelb gehaltenen Sitzlandschaft, die auf einem braun melierten Teppich steht. Eine Regalwand ist bestückt mit Büchern, in der Mitte der Regalwand eine eingepasste Vitrine mit Gläsern und mehreren Flaschen mit hochprozentigem Inhalt. Hinter dem Wohnzimmer wieder eine Wand, in der sich eine geschlossene Tür befindet, wahrscheinlich das Schlafzimmer verbergend. Bad und Toilette kann er nicht erkennen, sicher hinter der Tür verborgen. An dieser Wand steht eine Kommode, auf der ein kleiner Fernseher platziert ist.

Der Flur, der sich quasi durch den ganzen Raum bis zur Schlafzimmertür zieht, ist mit Parkett ausgelegt, ohne Läufer. Zwei Fenster gehen zum Innenhof hinaus, allerdings verdeckt durch eine orangegemusterte Übergardine. Zwischen den Fenstern und über der Kommode hängen Drucke, an mit mattgelber Raufaser tapezierten Wänden, die er unverkennbar als von Edward Hopper stammend identifiziert. Hopper? Bilder, die von der Einsamkeit des Menschen in einem entleerten Umfeld erzählen, eigentlich triste und durchaus herunterziehende Bilder? Entsprachen sie ihrer Haltung zum Leben? Eigentlich wirkt sie, so auf den ersten Blick, lebensbejahend, aber, wie er meint, zu erkennen, ein typisches Singleleben führt, vielleicht auch eine gewollte Zurückgezogenheit.

„Du scheinst Hoppers Kunst zu mögen?“

„Hopper? Ach so, Du meinst die Drucke, na ja, eigentlich hängen sie da, weil der Kalender, Ende Februar, preisgünstig war.“ Dabei lacht sie wieder ihr leises Lachen: „Na ja, schon, seine Bilder sind so herrlich melancholisch…ich stehe allerdings selten davor und starre sie bis zur Depression an.“

 

Sie wechselt ihre Sitzhaltung, in dem sie ihre Beine angewinkelt vor ihren Oberkörper zieht. Die Wohnung verrät, außer Hopper, keinen Mann in ihrem Leben, verstohlen hat er Ausschau nach einem Ring an einem ihrer Finger gehalten, aber da ist nichts, noch nicht einmal als ihre Persönlichkeit ausschmückendes Teil. Kein gerahmtes Bild eines strahlenden jungen Mannes steht herum, kein Geruch, der die Anwesenheit eines Mannes in den letzten Tagen verraten hätte. Ach so, sie ist ja erst seit kurzem aus Thailand zurück. Allein? Allein in Thailand? Auch sonst ist dies eine stilvolle im Detail abgestimmte Wohnung mit weiblicher Ausstrahlung.

Die Kerzen auf dem Tisch, der Anrichte, im Regal Gegenstände, die die Liebe bis in die Nuance hinein erkennen lassen. Ihre Wohnung wirkt weitaus heimischer als das, eher steril bestückte Interieur seiner Wohnung. Die Zimmer sind ausgefüllt von ihrem Duft, der, wie er vermutet, von einem nach Aprikosen duftenden Parfüm stammt, dass sie sehr sparsam nutzt. Aufgrund ihrer tiefen Stimme hat er eher mit einer mit Zigarettengeruch angefüllten Wohnung gerechnet, aber davon ist kein Hauch wahrzunehmen.

Während er sich umschaut, ist sie aufgestanden, beginnt, den Wasserkocher anzustellen, Tassen auf dem Couchtisch zu stellen und fragt ihn: „Bestimmte Sorte Tee?“ „Nein. Mach nur“ und Tee in ein Teesieb gefüllt.

 

Er schaut sich die Buchtitel an, kennt viele der Titel, Autorinnen und Autoren nicht, stellt fest, dass sie einiges an pädagogischer Fachliteratur in dem Regal stehen hat und schließt daraus, dass sie Pädagogin sei. Mit Blick auf sie und die Küche setzt er sich auf dem Sofa ab. Sie füllt, nachdem das Wasser gekocht hat dieses in die Kanne ein, trägt sie zu dem kleinen Tisch vor dem Sofa und setzt sich längsseits mit Blick auf das Bücherregal, die Beine angewinkelt, auf die Couch.

„Du bist Lehrerin?“

„Lehrerin? Ah, wegen der Bücher! Nein, ich studiere Medienwissenschaft, Pädagogik habe ich nur im Nebenfach. Ich hoffe, nächstes Jahr meinen Abschluss hinzubekommen und dann in einer Rundfunk- oder Fernsehredaktion zu landen.“

„Wieso hoffen?“ Sie lacht auf. „Wenn Du nebenbei arbeiten gehst, zwar keine acht Stunden, dann musst Du zwei Welten zusammenbringen und das fällt mir schwer. Während der Diplomarbeit werde ich wahrscheinlich eine Auszeit nehmen müssen.“

Sie greift nach der Teekanne und gießt in ihre Tassen ein, fast geruchlose Wärme steigt aus der Tasse auf, tippt auf grünen Tee.

Das sie Studentin ist überrascht ihn. Ebenso, dass sie sich diese Wohnung, die sicher nicht gerade zu den preisgünstigsten gehört, leisten kann, aber okay, dann scheint sie einen gut dotierten Job zu haben oder wohlhabende Eltern, die ihr diesen studentischen Luxus finanzieren. So richtig wohl fühlt er sich nicht in dieser ihm fremden Umgebung, mit dieser ihm fremden Person, die er unruhig mit den Augen abtastet.

„Ja…diese Belastung kenne ich, unter einer parallelen Belastung lässt sich kaum ein zufriedenstellendes Ergebnis erzielen, es dauert länger und je länger es dauert, desto unzufriedener wirst du. Die Auszeit solltest Du Dir unbedingt ermöglichen.“

 

Er führt seine Tasse zum Mund, nippt daran, der Tee, grüner Tee, ist noch nicht auf Trinktemperatur abgekühlt.

„Du hast auch studiert?“

„Ja, Betriebswirtschaft und ein wenig an Germanistik geschnuppert.“

„Und jetzt ohne Arbeit?“

„Ja, ohne Arbeit und…ohne Perspektive.“

Sie schaut ihn fragend an: „Du siehst nicht aus, als wärst Du in einem Alter, in dem Du keinen Job mehr finden oder bekommen würdest. Und ohne Perspektive? Die Welt ist voller Möglichkeiten, Du musst nur Deinen Verstand nutzen, den doch sicher hast? Oder?“

„Wenn es so einfach wäre…mein Problem ist, ich will das nicht mehr tun, was ich die zurückliegenden Jahre getan habe, weiß aber nicht, was ich anderes kann, ich habe nichts anderes gelernt.“

„Als was?“

Er atmet tief ein und aus, fragt sich, was er dieser Frau, die er doch gar nicht kennt, von sich berichten soll, was ihr anvertrauen? Nach Wochen innerer, sich wiederholender, sich festfahrender Monologe, um sich selbst kreisender Zwiegespräche, wird er ein Ventil öffnen, dessen ist er sich sicher, dass er so leicht nicht wieder schließen kann. Nun, er kann das Gespräch steuern, ja, er will es, will reden, endlich mit jemand reden, schließt kurz die Augen und sucht nach den richtigen Worten.

„Ich bin…nein, ich war Banker. Banker, ich mag die Bezeichnung eigentlich nicht, ich war Bankangestellter in gehobener Position, Banker bezeichnet verächtlich die Menschen in der Bank, die mit dem Geld ihrer Kunden spielten. Dabei gab es einige Kollegen, die skrupellos und eigensinnig vorgingen. Letztlich trifft der Begriff aber jede und jeden, der in einer Bank arbeitet, wobei die meisten Bankangestellten nichts dazu konnten, dass einige Kollegen die Branche so in Verruf gebracht haben.

Viele meiner direkten Kollegen erfüllte die Bezeichnung aber mit Stolz, weil sie ihre Kunden hintergingen, gegen deren Ahnungslosigkeit in Finanz- und Anlagenfragen sie ihr Marktwissen und ihre technischen Möglichkeiten setzten und sie schamlos ausnutzten für ihren eigenen Vorteil. Banker, das war für sie der Kampfbegriff zur Bonusoffensive…der Begriff adelte ihr Tun…Und zu denen gehörte ich auch die letzten Jahre, eine Zeit, die mich mit Scham erfüllt, wenn ich über sie nachdenke…Ich habe das Bankgeschäft gelernt, wenn man so will, von klein auf, dafür hat meine Mutter gesorgt, die anscheinend schon vor meiner Geburt wusste, wie mein Werdegang auszufallen hatte und ihre Möglichkeiten eingesetzt, um Einfluss auf meinen Werdegang nehmen zu können. Sie gab mich nicht einfach in einen Kindergarten, nein, es musste schon etwas Besonderes sein, da sie großen Wert auf eine vorschulische Ausbildung legte, für die sie nach langem Suchen und einigen insistierenden Gesprächen eine private, exklusive Kindertagesstätte auswählte, die nicht nur ein frühpädagogisches Programm verfolgte, sondern in der an den Elternabenden die medizinische Stadtelite ebenso versammelt war, wie die der Hochfinanz und der Gerichtsbarkeit, was ihr vielleicht als Grund ihrer Wahl sogar noch wichtiger war…unterstelle ich ihr jetzt einfach.“

Lene sieht ihn leicht amüsiert an, er ahnt, dass ihr etwas auf der Zunge liegt, wartet, ob es sich von dieser löst, nichts, so fährt er fort.

„Einige der aus dieser Zeit gewonnenen Kontakte pflegt sie noch heute…wenn meine Mutter investierte, dann nur ihres eigenen Vorteils willen.“

Er schaut Lene an, als sei ihm plötzlich ein erhellender Gedanke in den Sinn gekommen.

„Mit meiner Mutter werde ich wohl nicht wieder ins Reine kommen, jetzt, wo ich mit Dir rede, kommen die Erinnerungsfetzen, tief versenkt in mir, wieder hoch...nein, Mutter sein geht anders.“

„Vielleicht bis zu streng mit ihr? Sie hatte bestimmt auch ihre guten Seiten, hat Dir Möglichkeiten eröffnet, die nicht jedem offenstehen und die Gute-Nacht-Küsse, die sie Dir gab, hast Du sicher auch nur verdrängt.“

 

Eine traurige Nachdenklichkeit bemächtigt sich seiner, die Erinnerung wallt in ihm auf, Jahre angereichert mit den Schnipseln der Vergangenheit schießen in Sekunden durch seinen Kopf.

„Nein, da war, da ist nichts. Was sie mir bot, waren materielle Möglichkeiten, keine emotionalen Zuwendungen, da ist nichts, was mir erinnert…eigentlich wollte ich Dir mich erklären, nicht meine Mutter, ohne sie geht es aber nicht, die Prägung dieser Jahre hängt an meiner Haut, fließt durch meine Venen und sie hat über Jahre meine Handlungen beeinflusst…ich weiß nicht, ob ich dies je abschütteln werde…Banker werden, davon wollte ich erzählen.“

Tom sucht Anschluss an den Faden von vorhin zu finden, richtig, die Tagesstätte, mit der er fortfährt: „In der Tagesstätte lernte ich früh spielerisch mit Zahlen umzugehen, das Alphabet zu buchstabieren und erste Worte zu schreiben. Bei jeder Familienfeier oder sonstigem feierlichen Anlass musste ich meine Lernfortschritte präsentieren, fein gescheitelt und im Anzug. Der Applaus machte mich, vor allem aber meine Mutter, stolz auf ihr Werk. Dass sie mich dann eine Grundschule besuchen ließ, habe ich meinem Vater zu verdanken, der den Erziehungszielen meiner Mutter entgegentrat und verhinderte, dass sie mich auf ein Internat schickte. Allerdings nicht ohne Hintergedanken, denn er hätte es lieber gesehen, wenn meine Mutter ihre Karrierepläne gegen die Widmung meiner Erziehung und der heimischen Befindlichkeiten getauscht, vielleicht auch noch die Familie erweitert hätte.

Dummerweise hat sich mein Vater ein Jahr darauf entschieden, das Angebot des Automobilisten anzunehmen, für den er aktuell arbeitete, eine Autofabrik in Südafrika hochzuziehen und sie danach zu leiten. Eine Entscheidung zum Leidwesen meiner Mutter, denn, dass sie ihre Karriere aufgab und in ein Land verzog, in der die Kultur tief unter der Erde ruhte, wie sie ihm entgegenschleuderte, war für sie vollkommen ausgeschlossen, kam für sie nicht in Frage, stand nicht zur Debatte. So begann sich, aufgrund der räumlichen Distanz, ihre Ehe sukzessive aufzulösen.

Mein Vater kehrte danach einmal im Monat für ein verlängertes Wochenende nach Hause, was aber immer Tage in gereizter Atmosphäre und heftigen verbalen Auseinandersetzungen waren, in dem die gegenseitigen Vorwürfe wie Hagelkörner durch das Haus schossen, bevor er sich dann endgültig aus unserem Leben verabschiedete. Ein Nebeneffekt, für mich aber ein wichtiger Effekt, ergab sich aus Trennung meiner Eltern, denn sie bedeutete auch die Trennung von meinen Großeltern väterlicherseits, die ich zwar selten zu sehen bekam, von da an aber überhaupt nicht mehr, was damit zusammenhing, dass meine Mutter, all das verkörperte, was das Gegenteil von dem war, was meine Großeltern von einer Schwiegertochter erwarteten.

In ihrer Gedankenwelt war eine Ehefrau, diejenige, die sich um Haushalt und Kinder kümmerte. Dass sie spät und nur ein Kind, also mich, zur Welt brachte, zudem ihren Mann kaum sah, schneller aufwärtsstieg als ihr Sohn, war, wenn die Familie zusammenkam, Anlass zu bösartigen Sticheleien, die sehr schnell in Streitereien ausarteten. Mein Vater schlug sich nach anfänglicher Neutralität immer auf die Seite seiner Eltern, was für zusätzlichen Zündstoff in ihrer Beziehung sorgte. Sie pflegten ihre Abneigung meiner Mutter gegenüber durch Ignoranz, Abwesenheit und kleinen Bosheiten.

 

Meine Großeltern lebten in Bayern, in einer Villa oberhalb und mit Blick auf den Chiemsee. Eine Villa, die mich, wenn ich zu meinen Besuchen dort weilte, einmal, als ich die erste Klasse absolvierte, die gesamten Ferien über, tief beeindruckte, aber auch ängstigte. Außerhalb war die Villa hell und freundlich, in einer lieblichen Umgebung stehend, das Innere aber war in dunklen Tönen gehalten, lichtarm. An den Wänden hängten düstere Gemälde, Marke: Hirsch in der Brunft, ausgestopften Tieren und Geweihen in unterschiedlichen Größen. Alles Trophäen einer langwierigen Schießleidenschaft meines Großvaters. Dazu kamen die seltsam gemusterten finsteren Tapeten, die in Eiche gehaltenen Möbel, die schweren Vorhänge vor den Fenstern, als wolle man verhindern, dass die Landschaft vor den Fenstern ihre Lieblichkeit in die Villa tragen könnte.

Das alles erzeugte eine Atmosphäre, die eine tiefe Beklemmung in mir auslöste und ich mich in dem Haus nie so richtig wohl fühlte. Hinzu kam das ablehnende Verhalten der Großmutter, die keine Gelegenheit ausließ, irgendeine Spitze gegen mich, letztlich aber gegen meine Mutter, auszuteilen. Ich verstand nicht alles sinngemäß, was sie von sich gab, spürte aber sehr deutlich die Missbilligung mir und meiner Mutter gegenüber.

Oma Magda, eine verbitterte Frau, nahm sich das Leben, kurze Zeit nachdem ich ins Internat kam…bis heute weiß ich nicht, warum sie es getan hat, kann es nur ahnen. Opa Herrmann zog sich nach ihrem Tod ganz in seine häusliche Düsternis zurück, er überlebte seine Frau nur um vier Jahre.

Meine Mutter hatte da schon abgeschlossen mit der Familie meines Vaters und blieb konsequent seiner Beerdigung fern. Dass meine Großmutter Selbstmord begangen hatte, erfuhr ich erst später, viel später, ebenso davon, dass Opa Hermann auf zweifelhaftem Weg zu seinem Wohlstand gekommen war.

Er war eine führende Nazigröße in München gewesen, was er anscheinend einträglich genutzt hatte, dies erfuhr ich von meiner Mutter, die das Thema jahrelang überging, um mich, wie sie sagte, nicht damit zu belasten…Wenn ich recht erinnere, war es ein Streit zwischen mir und meiner Mutter um einen Ferienaufenthalt bei meinem Vater, der diese alte Geschichte offenbarte, unfreiwillig. Ich habe es als Kind sehr verletzend empfunden, wie die Großeltern sich mir gegenüber verhielten, zumal ich den Vergleich hatte zu Salvos Familie, in der zwar auch gestritten wurde, aber sonst Harmonie, Zusammenhalt, Respekt und vor allem warme Herzlichkeit herrschte, in der geneckt, geherzt und gelacht wurde, anstelle der Kälte, die meine Großeltern ausstrahlten.

Heute verstehe ich natürlich ihr Verhalten besser, kann es einordnen und mir ihr Verhalten und ihre Einstellung zum Leben erklären, jetzt sehe ich das Verhältnis zu meinen Großeltern mit den Augen der zeitlichen Distanz, aber damals war es schmerzhaftes Unverständnis. Nach Großvaters Tod glaubte ich, diese Episode meines Lebens in meinem Inneren vergraben zu haben, aber mitunter beschlich mich das Gefühl, dass da nicht alles vergraben war, etwas blieb und mitunter kam etwas hoch, was die Erinnerung gleich wieder aktivierte. Großvater nannte mich zum Beispiel, wenn ich mich schlecht benommen oder eine Dummheit begangen hatte, verdammter Itzig. Das ließ mich in meiner Naivität lächeln über diesen seltsamen Namen, dessen Bedeutung mir damals nichts sagte, der mir während des Studiums plötzlich wieder begegnete in Gustav Freytags Soll und Haben und mir schlagartig bewusst machte, welche Gesinnung trotz allem noch in Großvaters Kopf gewesen sein musste.

 

Ich kann mich dunkel an Traumbilder erinnern, in der die düstere Atmosphäre der großelterlichen Villa mich drohend umschwirrte, etwas, von dem ich nicht sagen konnte, was es war, aber etwas, das es Einfluss auf mich nahm. Während meines Studiums hatte ich eine Zeit lang mit mir gerungen, die Vergangenheit meines Großvaters näher zu untersuchen, aber da lag viel Zeit und viel Entfremdung dazwischen, die dem Wollen nicht den nötigen Schub gab und ehrlich gesagt, meine Neugier hielt sich auch in Grenzen, Vergangenheit lässt sich nicht ändern…Es war nur eine Episode, hat aber Spuren hinterlassen, weil es auf ein Kind traf, dass eh schon sehr labil und durch die häusliche, lieblose Atmosphäre geprägt war…Aber jetzt bin ich etwas abgeschweift…Schon seltsam, wenn man innehält, Dinge aus sich hervorholt, was da alles so hoch kommt, fast wie ein Gang auf den Speicher und das kramen in der Kiste, die einem unwillkürlich die Vergangenheit vor Augen ruft. Kennst Du das auch?“

Lene hat ein leichtes, er versteht es als melancholisch, Lächeln im Gesicht: „Ich denke, dass kennt jeder Mensch…natürlich habe ich auch prägende Erinnerungen, die nur bei seltenen Gelegenheiten an die Oberfläche gelangen, also die bösen, die guten Erinnerungen hole ich mir gerne zurück, in bestimmten Momenten, ja, dafür ist der Gang auf den Speicher ein gutes Initial, auch der Speicher im Kopf.“

Dabei sieht sie ihn an und schmunzelt verträumt vor sich hin, gedanklich wahrscheinlich bei einer dieser verborgenen Geschichten weilend.

„Hattest Du auch so komplizierte Familienverhältnisse?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“ Sie spitzte die Lippen leicht. „Nein, bei mir lief alles normal, was man so normal nennt. Papa arbeitete bis vor zwei Jahren in einer Fabrik, die Autoteile für verschiedene Marken produzierte. Meine Mutter besorgte den Haushalt und mein Bruder arbeitet in der gleichen Fabrik wie Papa. Meine Großeltern waren liebe, uns Kinder umhegende Menschen. Nur ich bin anscheinend etwas aus der Art geschlagen. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern einmal ernsthaften Streit gehabt hätten, selbst die Weihnachtstage waren Familien- und keine Streitfeste.“

 

Auf ihrem Gesicht liegt ein erinnerndes Leuchten während Tom bedrückt ist: „Normalität ist etwas Kostbares, ich denke, sie kommt nicht so oft vor. Ich hätte gerne etwas mehr Normalität in meinem Leben gehabt, aber für mich war eher das Anormale das Normale. Es ist nicht normal mit sieben Jahren vaterlos zu werden und eine Mutter zu haben, die ihre Mutterrolle ersatzlos für ihre Rolle im Getriebe der Bank strich…Ich habe oft darüber nachgedacht, warum ich gezeugt wurde, vor allem, was ich bin, ein bedauerlicher Unfall oder ein fauler Kompromiss. Ich weiß nur eines, geplant war ich nicht, wirklich gewollt war ich nicht, ich platzte in die Pläne meiner Mutter, in denen ich noch nicht vorgesehen war. Warum sie nicht abtrieb, kann ich nur damit erklären, dass sie Angst hatte, es könne bekannt werden, vielleicht hat ihr mein Vater damit gedroht. Das Gefühl ungewollt, unnötig, ungeliebt zu sein, hat mich nie verlassen, das sind Prägungen, die, selbst wenn du um sie weißt, nicht mehr loswirst.“

 

Konsequent wäre es jetzt, ihr zu erklären, wie sich diese Prägung auch auf seine Beziehung zu Ann-Kathrin ausgewirkt hat, aber das ist ihm denn doch zu intim, um es dieser Frau, die er nicht kennt, mitzuteilen.

„Meine Mutter kannte nur den Weg nach oben, sie hatte es geschafft, gegen viele Widerstände zur Personalchefin Der Bank aufzusteigen. Nach dem Jura-Studium hatte sie als Personalreferentin bei der Volksbankzentrale angefangen, vier Jahre später hatte sie die Personalführung inne. In dieser Position wechselte sie zur Bank, in der sie ebenfalls das Personalresort verantwortlich leitete.

Ihr Gipfel war der Personalvorstand, den sie Anfang 2000 erklomm. Es waren für sie Jahre des ständigen Kampfes gegen vor allem männliche Neider, die auf einen Fehltritt ihrerseits warteten, um sich auf sie zu stürzen. In ihren Personalentscheidungen war sie nicht zimperlich, die in eine Zeit fielen, als die Bank sich von ihrem alten deutschen Image zu verabschieden begann und immer mehr sich englischen bzw. amerikanischen Gepflogenheiten anpasste, was mit einigen gravierenden Personalbewegungen einherging. Sie machte die Schmutzarbeit für den Vorstand und das, wie ich annehme, gerne. Über die Jahre hatte sie sich einen Namen in der Branche gemacht.

Sie hielt Vorträge auf Fachkongressen, leitete Seminare, moderierte Workshops der Führungskräfte, tauschte sich aus mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Banken. Sie galt als Innovatorin in Personalangelegenheiten, ließ für interne Trainings Trainer aus Amerika einfliegen, deren Methoden und Inhalte sie für den Maßstab des Human Managements hielt. So knüpfte sie sich ein Beziehungsnetz über der Branche, die sie genau im Blick hatte, genau wie meine Entwicklung. Meine Erziehung lag in den Händen der Erzieher im Kindergarten, den Pädagogen der Grundschule und dann in denen des Internates am Bodensee, in das sie mich, nachdem der Schutz meines Vaters mich verlassen hatte, doch noch schickte. Mütterliche Zuneigung bekam ich von ihr nicht, mal ein Kuss auf die Stirn, an mehr kann ich mich nicht erinnern.

Für Zuneigung war Tante Hertha, Hertha Schwieder, unsere Haushälterin, zuständig. Sie holte und brachte mich in den Kindergarten, in die Grundschule, sie kochte für mich, brachte mich ins Bett und erzählte mich in den Schlaf. Bei ihr weinte ich mich aus und bekam alles, was meine Mutter mir nicht gab. Sie log für mich, für sich, verschaffte mir den einen oder anderen freien Tag vom Kindergarten, später von der Schule und ging mit mir, mitunter war auch Salvo mit dabei, in den Zoo, den Palmengarten, manches Mal auch in ein Kino, den Main entlang oder auf irgendeinen Spielplatz.“

 

Dabei kommt ihm eine Erinnerung wieder hoch, über die er lächeln muss, was Lene mit fragendem Augenaufschlag registriert.

„Mir fällt gerade eine typische Hertha Geschichte ein. Einmal ging sie mit mir ins Fußballstadion. Es war mein erster Besuch im Stadion. Ein Eintracht-Fan war ich nicht, Fußball interessierte mich nicht, wohl aber Hertha. Dummerweise hatte sie Tickets organisiert, mit denen wir mitten im Gästeblock landeten. Das bedeutete, dass wir neunzig Minuten still das Spiel verfolgten, während um uns die Fans tobten, schrien, ihre Elf anfeuerten. Bei einem Fehlpass verfluchten sie den Spieler mit Worten, wie ich sie zu Hause noch nie gehört hatte und von denen Hertha anscheinend überhaupt nichts mitbekam, sonst hätte sie mir sicher die Ohren zugehalten.

Bei keinem Tor der Eintracht jubelte sie, um sich nicht zu verraten. Wenn ich recht erinnere, waren es zwei. Und bei den Gästetoren, deren es vier waren, konnte sie nicht fluchen, was sie gut konnte. Hertha, eine korpulente Frau verfolgte das Spiel wie eine vom Frost versteifte Vogelscheuche, ihr Gesicht war noch nach dem Spiel gezeichnet von dem Ärger mit sich ob dieses total mißratenen Ausflugs. Meine Hochachtung gegenüber Hertha minderte dies aber nicht im Geringsten. Meine Mutter, die in Singapur weilte, hätte, bei dem Gedanken ich in der tobenden Masse stehend, einen Nervenanfall bekommen, deshalb war es Ehrensache zwischen Hertha und mir, diesen Besuch als gemeinsames Geheimnis in unserem Inneren aufzubewahren, kein Wort gegenüber niemandem zu verlieren…Hertha war eine liebenswerte Person, die immer ein Lächeln im Gesicht hatte, bis zu dem Tag, an dem meine Mutter sie nach neun Jahren treuer Dienste wegen der Sache mit Salvo entließ.“

 

Er nippt an seinem Tee und überlegt, wie er Lene die Sache mit Salvo erklären kann, ohne weiter abzuschweifen. Er entscheidet sich, darüber hinwegzugehen: „Jetzt müsste ich Dir eigentlich erklären, wer Salvo ist und über Tante Hertha könnte ich auch noch stundenlang erzählen, aber das sind andere Geschichten …Ich muss aufpassen, mich nicht in der Erinnerung zu verirren.“

Der Sache mit Salvo hakt sie nicht nach, vielleicht merkt sie sich auch ihre Fragen dazu für einen späteren Zeitpunkt vor. Ihre Aufmerksamkeit aber scheint ungebrochen, obwohl er langsam eine leichte Müdigkeit spürt und sie sicher auch langsam Opfer der Wärme in der Wohnung wird.

„Die Trennung von Tante Hertha war sehr schmerzlich für mich, meine Mutter hatte keine Ahnung, wie tief meine Bindung zu Hertha, meiner Quasimutter, war. Für die nachfolgende Verbannung, wie ich den Gang ins Internat empfand, verstärkte sich der schon vorhandene Hass auf meine Mutter weiter, der bis heute nachwirkt und das Verhältnis zu meiner Mutter sehr stark belastet. So weit belastet, dass ich sie aus meinem Leben weitgehend ausgeklammert habe.“

„Könnte es sein, dass Du da etwas ungerecht gegenüber Deiner Mutter bist. Sie wollte Dir vielleicht nur eine gute Erziehung als Grundlage Deiner Zukunft zugutekommen lassen, war denn die Zeit im Internat so bedrückend für Dich?“

„Es geht nicht darum, wie es war, sondern wie es kam. Sie nahm mir meine Bezugsperson, hat sie einfach entfernt und die, die es hätte sein sollen, meine Mutter, war schon immer fern, jetzt noch ferner. Mir gingen die Arme verloren, weißt Du, die Arme, die mich drückten, hielten, die Wärme spendeten, Geborgenheit, Liebe, einfach weg. Das wirkt in dir nach, das prägt und so einfach lässt sich das nicht abschütteln…Es brauchte sehr lange bis ich meine Wut, meine Trauer überwand, was vor allem meinen Zimmer- und Leidensgenossen sowie Dominik zu verdanken war.

Dominik war uns als Pate aus dem höheren Jahrgang zugeteilt, um uns durch die ersten schweren Monate im Internat zu führen. Er tröstete die Untröstlichen, dass es ihm genauso ergangen sei, dass sich Wut und Ohnmacht aber rasch verflüchtigen würden, wenn wir den Geist des Institutes erst spüren würden, was genauso geschah. Den Zimmerkollegen ging es ähnlich wie mir, sie hatten aber Eltern, die ihre Anwesenheit zeigten durch Briefe, Telefonate, Besuche, gerahmte Fotos, ab und an ein Paket, mir waren Hertha und Salvo näher als meine Mutter und mein Vater war nicht nur räumlich meilenweit von mir entfernt. Ihn gab es eigentlich gar nicht mehr. Meine Zimmergenossen hatten Eltern, deren Zuneigung sie sich sicher sein konnten.“

 

Während Tom dies sagt, kommen ihm die Bilder aus der Internatszeit in den Kopf und die Freunde von damals. Das ist schon lange nicht mehr passiert, aber nun sprudelt plötzlich etwas an die Oberfläche, was ihm ein Schmunzeln abringt, Lene in fragend anschaut.

„Ich musste gerade an die Jungs von damals denken, an Theodore, aus dem Senegal, sein Vater war Botschafter seines Landes in Bonn, stand vor dem Wechsel zum UN-Botschafter, die Familie aber wollte in Deutschland bleiben, so dass zur Entlastung der Mutter Theodore und sein jüngerer Bruder auf das Internat gehen mussten, er war am Anfang sehr zurückhaltend, sprach auch nur ein gebrochenes Deutsch, auf wenige Worte reduziert und fiel von einer Verwunderung in die nächste, für ihn unfassbar, dass in dieser Einrichtung nicht geprügelt wurde, was in Afrika, im Senegal in Schule und Familie gang und gäbe war.

Prügelpädagogik nannte er es später, war verwundert, dass eine Frau unterrichtete, noch dazu mit einer Liebe zu ihrem Stoff und ihren Schülern. Sie sah aus, wie das Klischee einer Chemielehrerin, klein, Prinz-Eisenherz-Frisur, Brille, unscheinbar und doch präsent, aber wie sie den Unterricht gestaltete, wie sie ihre Schüler mitnahm und sie für Chemie begeistern konnte war fernab jedem Klischee. Theodore wollte später Agrarwirtschaft und Betriebswirtschaft studieren, um seinem Heimatland beizustehen, die Zukunft zu gestalten. Na ja, heute lebt er in New York, managt einen Hedgefonds und war seit ewigen Zeiten nicht mehr im Senegal

Und da war Serge, Sohn eines russischen Geschäftsmannes, der in Berlin eine Importfirma betrieb. Serge konnte nicht erklären, was sein Vater da importierte. Er verachtete seinen Vater, nannte ihn Ausbeuter des russischen Volkes auf dessen Kosten er lebe und wollte sich später musisch betätigen, vielleicht Malerei studieren. Er führt heute die Geschäfte seines Vaters, der im Gefängnis sitzt wegen Menschenhandels.

Ernst war der Enkelsohn des Inhabers einer Lebensmitteldiscountkette. Er war der Einzige, der von Anfang an wusste, was er wollte, die Nachfolge seines Großvaters antreten. Das traf dann exakt so ein. Meine Frage „Wie kann es sein, dass man vom Verkauf preisgünstiger Lebensmittel zum Milliardär werden kann?“ konnte oder wollte er nicht beantworten. Er verwies, wann immer ich ihm die Frage stellte, auf die preußischen Tugenden Fleiß, Strebsamkeit, Sparsamkeit, kaufmännisches Geschick.

Bis auf Ernst hatten wir Träume, die wir später verrieten. Serge nannte sie pubertäre Anwandlungen, aber ich denke, es war Verrat. Aber wir wurden ein gutes Team, dieses Aufgehen in der Gemeinschaft, füreinander einstehen, das habe ich damals gelernt und das war mir sehr hilfreich für die Arbeit in der Bank…Na ja, stimmt schon, es war nicht alles schlecht, dass wollte ich damit auch gar nicht sagen, nur dieser Schnitt, dieser schmerzhafte Schnitt, das will ich sagen, ist geblieben und wirkt bis heute.

Trotz allem habe ich mich in dem Internat aber gut zurecht gefunden, das Lehrpersonal war in seinem Auftreten und der Art den Unterricht zu gestalten fast familiär und der Lehrstoff so vielseitig und abwechslungsreich, dass ich geweckte Interessen auch nach dem Unterricht oft weiterverfolgte, so dass sich immer wenn die Ferien nahten, ein unbehaglich machendes Gefühl in meiner Brust einstellte, den Ort zu verlassen, an dem ich mich geborgen fühlte, nach Hause zu kommen, in eine Leere, zu einer Hauswirtschafterin, die ich mir auf Distanz hielt und einer Mutter, die im Haus wie in ihrer Bank herrschte. Mit dem Abitur trennte ich mich nur ungern von dem Internat und den Menschen, die mir Freunde geworden waren.“

„Hast Du noch Kontakt zu Deinen Freunden von damals?“

„Nur zu Theodore, wir skypen gelegentlich, aber auch er ist mir fremd geworden, das Gemeinsame von damals fehlt und er ist, wie alle anderen auch, nicht mehr der von damals. Da ist zu viel Trennendes zwischen uns gekommen. Ernst unterbindet jeden Kontakt, Serge ist ein Verbrecher und überhaupt hat uns das reale Leben auseinandergebracht. Ein Jahrgangstreffen vor drei Jahren war ungemein ernüchternd, da ich sah, was aus den Worten geworden ist, die die Kameraden damals über sich und ihre Zukunft gesprochen haben.“

„Das ist schade, aber auch normal, oder? In der Jugend sieht die Welt noch rosig aus und außer dich im Unterricht zu behaupten, verlangt man nicht viel von dir, das, was verlangt wird, folgt erst später und dann beginnt die langsame Anpassung und das Verlassen der Jugendträume.“

 

Sie scheint nachdenklich, in Gedanken zurückzugehen, in eine Zeit, wo die Dinge noch vermeintlich einfacher waren, blickt ruckartig auf Tom „Wie ging es dann weiter?“

„Na ja, der Arm meiner Mutter schwebte weiter über mir. Sie wollte, dass ich eine Banklehre antrat und ihren Fußstapfen folgte, gab aber nach heftigen Streitereien meinem Wunsch, ein Studium zu beginnen, nach.

Mein Mentor in der Abschlussklasse hatte mir Betriebs- oder Volkswirtschaft empfohlen mit Verweis auf bestimmte Fähigkeiten meinerseits, die für das Studium und einen entsprechenden Beruf grundlegend seien. Dies deckte sich nicht ganz mit meinen Interessen, aber diese Studienrichtung schien mir eine gute Basis für verschiedene berufliche Ausrichtungen zu sein. Das meine Mutter das Insistieren des Mentors befeuert hätte, auf den Gedanken kam ich dabei nicht, hatte sie aber, wie mir Helmut, der Mentor, bei dem Jahrgangstreffen anvertraute.

Von daher war ihre Freude groß, als ich tatsächlich und widerstandslos das Studium der Volkswirtschaft aufnahm. Nach dem Diplom habe ich dann noch eine dreijährige Promotionszeit angehängt. Noch stand die Disputation zu meiner Dissertation aus, da sorgte meine Mutter schon vor, dass ich auch die richtige Stellenauswahl traf. Sie riet, mich bei der oder jener Bank zu bewerben, wohlwissend, dass ich mich Der Bank verweigern würde, zumindest nicht ohne Widerstand dort eintreten würde.

Streit mit mir wollte sie vermeiden, den hatten wir schon genug, es gab auch andere Wege, wie sie zum Ziel kommen konnte, was ich erst später begriff. Sie machte mir schließlich die Privatbank Berenbach & Cie. schmackhaft, da diese nur Privatkunden betreute, die mindestens eine Million Euro zu verwalten hatten. Dort würde ich Investmentbanking und Vermögensverwaltung und den seriösen Umgang mit den Kunden von der Pike auf lernen.

Also bewarb ich mich, wurde kurz darauf eingeladen. Dr. Berenbach persönlich interviewte mich, was ungewöhnlich war. Er sprach eine gute Stunde mit mir und sagte mir zum Abschluss, dass er sich freuen würde, mich nach erfolgreicher Promotion, an der er nicht zweifelte, als Mitarbeiter in seiner Bank begrüßen zu dürfen. Mit einem „Grüßen Sie mir Ihre Mutter“ verabschiedete er mich.

Eigentlich hätte ich jetzt reagieren müssen, denn mir war sofort klar, dass mein Verdacht, meine Mutter hätte mal wieder an den Strippen gezogen, bestätigt wurde. Ich wollte mich selbst durchsetzen und nicht von meiner Mutter protegiert werden, dass hatte ich mir fest vorgenommen. Aber…ich schwieg und verabschiedete mich, mit Dank, von meinem zukünftigen Chef.

 

Mit einem Traineeprogramm wurden mir bereichsspezifische Kenntnisse, Anlagestrategien, Investmentbanking und natürlich die vielfältigen Produkte des Finanzbusiness, die damals noch ungiftig waren, der Unternehmenskultur, Werte und Überzeugungen der Bank und weiteres notwendiges und auch überflüssiges Wissen vermittelt. Als Teil eines Teams, das in ruhiger, ja fast gediegener Atmosphäre Menschen mit großen, also wirklich großen, Vermögen die Betreuung dieses Vermögens abnahm, lernte ich das Anlagengeschäft und den Umgang mit den unterschiedlichsten Kundentypen kennen. Anfangs noch mit kleinen Summen operierend, tastete ich mich langsam an die großen Vermögen und die eigenständige Verwaltung eben dieser heran. Die Ehrfurcht vor den großen Geldsummen, die ich bewegte, blieb lange Zeit erhalten, wurde aber so normal wie eine Shoppingtour durch die City. Auch die Frage zu stellen, wie solche, teilweise riesigen Vermögen zustande kamen, musste ich mir schnell abgewöhnen, um für die Bank und die Kunden reibungslos agieren zu können.

Bei dem Tempo im Finanzgeschäft ist jeder Zweifel bei einer Entscheidung gefährlich. Es war nicht immer leicht, da Ann-Kathrin, meine damalige Frau, mit ihrer sozialen Empathie, sie war Sozialarbeiterin, mir immer wieder bohrende, mich quälende Fragen stellten. Aus ihrer Sicht richtige Fragen, aus meiner Sicht irritierende, störende Fragen. Im Nachhinein denke ich, dass der Job mir viel Selbstverleugnung abverlangte. In diese Verleugnung platzten Ann-Kathrins Einwürfe wie Blitze hinein, beleuchteten kurz mein altes Ego, bevor es wieder in der Dunkelheit verschwand.“

 

Sie folgt seinen Worten aufmerksam, schenkt ihm Tee nach.

Er hält inne und fragt sie: „Kennst Du Dich aus mit Vermögenverwaltung?“

Sie erheitert sich: „Das ist nicht mein Thema. Mein Vermögen ist so übersichtlich, dass mir ein wöchentlicher Klick den Zustand meines Kontos offenbart. Und mit diesem Zustand würde mich keine Bank der Welt in die Vermögensverwaltung aufnehmen. Aber ich halte die Vermögensverwaltung auch nicht für unverständliches Hexenwerk. Oder?“

„Stimmt, Vermögen zu verwalten ist kein Hexenwerk, aber die Zusammensetzung, Ausbalancierung und Optimierung des jeweiligen Depot-Mixes schon. Ich rede nicht vom institutionellen, sondern von der privaten, der individuellen Vermögensverwaltung, bei der du es mit sehr unterschiedlichen Kunden zutun hast.

Die einen wählen das kleinstmögliche Risiko, werden aber nach und nach risikofreudiger, wenn sie erkennen, dass ein wenig mehr Risiko Einfluss auf die Rendite und damit auf das Wachstum ihres Vermögens hat. Die musste ich dann bremsen, bevor sie zu gierig wurden, was sie nicht unbedingt einsahen.

Andere wählen ein begrenztes Risiko wollen aber bei der Umgestaltung ihres Depots gefragt werden, was bedeutet, viel Überzeugungsarbeit zu leisten, weil ich ihnen ihre Vorstellungen auf eine realistische Basis zurückführen, andererseits auch die Chancen im Risiko verkaufen musste.

Wieder andere Kunden lassen dir vollkommen freie Hand, was von Vorteil ist, wenn du einen Fehler machst und den machst du, weil dich keiner kontrolliert und du auch mal etwas ausprobierst, was durchaus danebengehen kann. Und das musste ich, da ein Run auf Finanzprodukte stattfand, die versprachen überdurchschnittliche Renditen zu erzielen und deren Vielfalt genauso wuchs wie die Gewinnerwartungen der Kunden. Diese wurden geschürt durch die Anzeigen von Investmentgesellschaften auf ihren Homepages, die mit ihren Eyecatchern die Leute verblendeten und Margen versprachen, die ein vernünftiges Hirn zur Vorsicht rieten. Aber da waren so viele, die ihr Hirn und dann ihr Geld verloren.

Einer meiner Kunden kam nach der Maueröffnung in den Westen, mit einem Vermögen, dass er unmöglich auf legalem Weg im Arbeiter- und Bauernstaat oder nach dem einen Jahr im Westen hatte erwerben können. Herr Ossowski hatte von einer Bank aus Luxemburg 2,8 Millionen Euro zu Berenbach transferiert, mit Sicherheit lagen weitere Beträge bei anderen Banken. Berenbach hatte, nachdem ich ihn auf diesen Kunden aufmerksam gemacht hatte, keine Bedenken sein Geld zu verwalten, also hatte ich auch keine zu haben.

Die Summe legte er zu 70% in Festgeld an und zu 30% in Anlagen mit Risiko und dieses Risiko wollte er mitbestimmen. Er sprach regelmäßig bei mir vor, in schwarzem Anzug mit grauen, dezenten Nadelstreifen, bunter vollkommen unpassendem Selbstbinder und beigen Schuhen, er sah einem Schausteller ähnlicher als einem Millionär. Er wusste immer genau, was er wollte und ließ sich, trotz meiner Warnungen vor den hochriskanten Papieren, die er sich teilweise ausgewählt hatte, eines Tages wollte er in Junk Bonds investieren, nicht von seiner Anlageabsicht abbringen.“

Sie hebt ihre Hand, als wolle sie Einspruch erheben, schaut ihn fragend an: „Was zum Teufel sind Junk Bonds?“

„Sorry, klar…weißt Du, in der Finanzwelt werden fast stündlich neue Produkte in Begrifflichkeiten verpackt. Oft verstehen nur Insider, was sich hinter der Verpackung verbergen könnte. Viele Begriffe vergisst Du wieder, mit einigen, die sich kurzzeitig durchsetzen, musst du aber leben und dann hast du sie in deinem Sprachschatz drin und gehst mit ihnen um, als sei der Begriff das normalste der Welt. Ich vergesse manchmal, dass es da Menschen gibt, die nicht zu diesem Dunstkreis kreativer Wert- und Wortschöpfungskünstler gehören. Sorry also, und richtig, frage mich, wenn Du etwas nicht verstehst.“

Sie greift mit ihrer Hand nach seinem Arm und tätschelt ihn leicht, lächelt dabei und sagt: “Du musst Dich nicht entschuldigen, wenn ich aus meinem Medienjargon zitieren würde, würde es mir sicher genauso ergehen.“

„Also, Junk Bonds sind Schrottanleihen von Unternehmen, die kurz vor dem Konkurs stehen und nochmals Anleihen aufnehmen, in der Hoffnung, an dem Konkurs vorbeizuschrammen. Es sind sehr spekulative Papiere, da die Wahrscheinlichkeit des Absturzes groß ist. Dementsprechend muss der Anleiher für das höhere Risiko höhere Zinsen zahlen. In der Regel sind dies zwischen 10 und 12%. Gegenüber Standardanleihen macht dies teilweise nur 2 bis 3% aus, aber vielen Kunden ging es darum, das Maximum herauszuholen.

Bei manchen ging es gut, aber bei vielen eben nicht und die beginnende Finanzkrise, die allerdings in der Wahrnehmung vieler meiner Kunden noch nicht vorhanden war, beschleunigte die nun rasant ansteigenden Verlustraten bei den Anlegern.

Von Ossowski erzähle ich Dir deshalb, weil er so typisch war. Er hatte, wenn er zu mir kam, immer einen kleinen Zettel in der Hand, von dem er ablas. Ein unverfängliches Nachfragen zeigte mir, dass er überhaupt nicht wusste, in was er da investierte, woher er seine Informationen bezog, hielt er zurück. Von einer anderen Kundin wusste ich, dass diese zu öffentlichen Vorträgen von Investmentgesellschaften ging, genau zuhörte, fragte, kräftig mitschrieb, dem Berater gegenüber tat, als ob sie investieren wollte. Sie verabschiedete sich, erklärte, sie müsse sich dies doch noch einmal genau überlegen, nicht ohne das Buffet zu frequentieren und ein Gläschen Champagner zu schlappern. Zu Hause verarbeitete sie die Informationen, kam zu mir und sagte mir, was ich für sie tun sollte.

Und so machte es sicher auch Ossowski oder er gehörte zu denen, die sich ihre Informationen über einschlägige Internetseiten zusammensuchten. Die Frau konnte ich überzeugen, weniger mehr sein zu lassen, Ossowski nicht, dementsprechend hoch waren seine Verluste, die er hinnehmen musste, trotz meines Abratens. Und das tut weh, da du weißt, dass der Sturkopf mit dem Kopf an die Wand rennt. Die Aussicht auf einen vermeintlich hohen Zinsertrag machte viele Anleger blind gegenüber den Risiken und den Warnungen. Solche wie Ossowski hatte ich zuhauf in der Betreuung. Wenn Du reich bist, willst du nur noch eins, noch reicher werden!“

 

Sie hebt ihren Arm und bewegt leicht den Zeigefinger: „Ich bin neugierig. Hast Du herausgefunden, was es mit dem Geld von diesem Herrn auf sich hatte, wo es herkam?“

Mit einem Schmunzeln sagt er: „Ja. Als wir seine Verluste gemeinsam besprachen erzählte er mir…übrigens jetzt einsichtig und auf mich hörend…von seiner Tätigkeit als derjenige dem in der DDR die Intershops unterstanden. Er verhandelte die Preise und die Produkte, die in den Intershops eingestellt werden durften, verbunden mit vielen Westreisen, in denen er heimlich die Sparbüchse anlegte. In diese floss über viele Jahre Geld hinein, und sie wuchs mit jeder Preisverhandlung und Neuaufnahme ins Sortiment an. Aber, und dass machte mir Ossowski sympathisch, er behielt das Geld nicht für sich allein, sondern unterstützte Familien ehemaliger Mitarbeiter, die die Wende überrannt und in die Ecke gedrängt hatte, mit Beträgen, die denen halfen, wieder auf die Beine zu kommen.“

„Die Story hast Du dem abgenommen?“

„Na ja, sie war ja nachprüfbar, die Überweisungen wurden über unsere Bank abgewickelt.“ „Wahnsinn!“

„Ja, mitunter deckt Geld doch nicht jedes Gewissen zu. Man sagt, Geld verdirbt den Charakter, da ist viel daran, aber zum Glück nicht bei jedem. Geld ist Ernst…“

„Hm…und böse? Ich meine, dieser Typ hat doch Geld unterschlagen, oder für seine Manipulationen angenommen, das ist doch schmutziges, böses Geld?“

Tom muss Grinsen: „Du siehst Geld nicht an, ob es gut oder böse ist, mitunter nicht einmal den Personen, die dir gegenübersitzen. Einer im Pelzmantel und Tätowierungen bis zum Handrücken kannst du einigermaßen sicher ins Rotlichtmilieu einordnen und weißt, wie er zu seinem Geld kam. Dem, der im Armani-Anzug vor dir sitzt, siehst du nicht an, dass er eine große Nummer im Drogengeschäft oder irgendeinem anderen dubiosen, kriminellen Geschäft ist. Von daher fragt eine Bank nicht, woher das Geld stammt, dass man ihr anvertraut. In der Bank sind alle Gelder gleich.

Allerdings nicht die Personen, die hinter diesem Geld stehen, da gibt es schon ein Ranking und unterschiedliche Betreuungsarten. Zu Berenbachs Gartenfesten wurde nicht jeder Kunde eingeladen.“

 

Sie nickt leicht mit dem Kopf, scheint nachzudenken. „Wie tief schaut man denn in Deinem Job in den reichen (ein Wort zu dem Lene mit Zeige- und Mittelfinger beider Hände Ausrufezeichen in der Luft andeutet) Menschen, der einem da gegenübersitzt, hinein?“

Tja, wie tief blickt man, da muss er selbst erst einmal kurz nachdenken: „Schwierige Frage, weißt Du, man sieht ja immer nur einen Aspekt dieses Menschen, den geschäftlichen und auch nur für den Moment, in dem das geschäftliche Gespräch stattfindet. Sie reagieren auf das Gespräch in irgendeiner Weise, du kannst dabei alle Facetten menschlicher Emotionen erleben, daraus auf den Menschen zu schließen, nein, das geht nicht…Was Du kannst, sind allgemeine Beobachtungen machen, du lernst zum Beispiel, dass die Menschen mit großen Vermögen nicht einfach die Reichen sind, sondern eigentlich eine sehr heterogene Gruppe. Eine Gruppe, die mit ihrem Reichtum, ihrem Geld, sehr unterschiedlich umgeht.

Da gibt es das alte Geld, vor langer Zeit erworben, überwiegend in der Industrie, stetig vermehrt, dass die Begründer des Vermögens schützen, in dem sie den Erben Rahmenbedingungen auferlegen, aber auch im Geiste des Erworbenen ihre Kinder erziehen. Menschen dieses Schlages, auch deren Erben, schätzen ihren Reichtum wert und gehen sorgsam damit um. Den Leuten begegnest du aber selten persönlich, sie schicken dir in der Regel ihre Notare oder Anwälte vorbei, die als deren Vermögensverwalter fungieren. Menschen alten Reichtums verstecken sich und ihren Reichtum, bauen hohe Mauer um ihre großzügigen Anwesen in bester Lage, videoüberwacht, mitunter der Sicherheitsdienst am Eingangstor. Zwar noch nicht Verhältnisse wie sie in Amerika herrschen, aber wir nähern uns diesen Verhältnissen an.“

„Wie meinst Du das? Ich versteh nicht. Was meinst Du mit Verhältnissen?“

„Hm, nehmen wir Las Vegas. Dort gibt es idyllische Wohnviertel, in denen der Reichtum lebt, von einer hohen Mauer umgeben, auf der scharfer Nato-Draht verankert ist. Es gibt Eingangskontrollen, Sicherheitskräfte patrouillieren in und außerhalb, Videoüberwachung an diversen Stellen. Begrünte Flächen, wenig Baumbestand, um die Sicht nicht einzuschränken. Draußen, vor der Idylle ist die Wüste, in der die weniger Begünstigten leben. Nebenbei, es ist eine Ironie, dass das einfache Volk versucht, das schnelle Geld an diesem Ort zu machen. Eine hermetisch abgeschlossene Welt für sich, für die, die sie sich leisten können. Und solch abgegrenzte Lebenswelten findest du vielerorts in Amerika, aber nicht nur dort…Mitunter beschleicht mich das Gefühl, dass sich Reichtum vom Rest der Gesellschaft distanziert, sich von den Anderen abschottet, was du in Deutschland auch beobachten kannst. Schau Dir Sylt, Küstenstriche oder bayrische Seeufer an, oder vor unserer Haustür, oben am Taunusrand. Verschanzen sich, die Reichen, und kommen nur hervor, wenn sie sich selbst zelebrieren auf ihren eigenen Events. Aber die alten Reichen sind in Fragen von Geldanlagen Menschen, mit denen man gut reden kann, kantig, aber kooperativ, auf die sichere nicht spekulative Anlage aus.

 

Dann gibt es die Nachkriegsvermögen, schnell erworbene Vermögen, die jetzt in die zweite oder dritte Generation übergehen, denen fehlt oft die schützende Hülle, so dass die Erben mitunter in heftige Fehden um ihre Anteile geraten. Der Erbengeneration fehlt oft der Respekt vor dem erworbenen Reichtum, sie kennen nur das Vorwärts, keine Krisen, schlechte Zeiten, nur stetiges Wachstum und die Wonnen des Wohlstands. Sie haben Ansprüche, die ohne eigene Anstrengung befriedigt werden, dementsprechend forsch kommen sie daher, setzen Geld ein, zocken, spielen damit, wollen ihren Wohlstand vermehren. Sie sind Verlusten gegenüber gleichgültig. Dies sind schwierige Gesprächspartner, ungeduldig, arrogant. Sie zeigen ihren Wohlstand, präsentieren und leben ihren Status mit entsprechenden Symbolen.

Dann gibt es die Vermögen der jüngsten Zeit, viele entstanden aus dem Beginn des IT-Aufbruchs, bei denen habe ich das Gefühl, dass ein gewisses Unbehagen an dem schnellen Reichtum vorhanden ist. Das gesellschaftliche Engagement in dieser Gruppe ist höher als bei den anderen, wobei die gesellschaftliche Relevanz, einen Marktfleckenfußballverein in die Fußball-Bundesliga hochzusponsern, sich mir allerdings nicht erschließt. Natürlich sind auch wirkliche gesellschaftlich wertvolle Stiftungen dabei.

Es sind geschwätzige Stiftungen, alter Reichtum hat auch Stiftungen eingerichtet, die fungieren aber im Stillen, ohne großes Aufheben. Die Menschen dieser Gruppe legen großen Wert auf seriöse Geldanlage, wobei die Steuereinsparung im Vordergrund steht. Und dann gibt es noch, die Schnellreichen, damit meine ich die Manager aus Banken und Industrie, die mit hohen Gehältern, Boni, Abfindungen zu Wohlstand, nicht unbedingt Reichtum gekommen sind, teilweise herrische, sehr unangenehme Menschen…weißt Du, wenn Du zu einem Metzger gehst und ein Pfund Gulasch vom Metzger wünschst, nimmst Du es entgegen, zahlst und gehst. Diese Herrschaften fragen den Metzger wie alt das Schwein war, woher das Schwein kam, wie es ernährt wurde, wer es großzog, wann die Schlachtung war, wie viel Prozent des Schweines verwertet wurden, wie hoch der Anteil eines Pfundes Gulasch an der Gesamtverwertungsmasse des Schweines sei und kritisieren dann den Preis von einem Pfund Gulasch, der nur einen Promilleanteil an dem Schwein ausmache, als der Sache nicht angemessen.“

 

Lene lacht über diesen Vergleich.

„Du lachst? Nein, so sind einige dieser Leute, gierige, berechnende Leute. Einer meiner Kunden wohnte in Braunschweig und erkundigte sich immer erst nach dem Benzinpreis im Rhein-Main-Gebiet, bevor er anreiste. Er reiste nur an, wenn der Preis hier mindestens drei Cent unter dem in Braunschweig lag. Und, er füllte nicht nur seinen Tank, sondern auch die mitgebrachten Benzinkanister. Sicher, er war eine Ausnahme, aber im Prinzip verhielten sich einige genauso, ohne es so offen zu zeigen.

Ja und dann sind da noch die fußballspielenden Jungmillionäre, die meist flankiert von Vater oder noch schlimmer von ihrem Berater zu einem Gespräch erschienen, wobei der Vater, oft genauso ahnungslos, vorsichtig ausgedrückt, wie der Sohn war. Dementsprechend vorsichtig und misstrauisch verliefen die Gespräche. Dies sind Leute, die erst noch lernen müssen, mit Geld umzugehen, sie sind noch nicht im Reichtum angekommen…Aus Reichtum steigt mitunter Arroganz hoch, bei den Schnellreichen ist sie mir gelegentlich begegnet, das sind knallharte Gespräche, in denen mir der Kunde durchaus Sanktionen aufgrund seines finanziellen Hintergrundes androht, wenn der vereinbarte Abschluss nicht die gewünschte Wirkung zeigen würde.“

„Sanktionen? Wie kann ein Kunde Dich sanktionieren?“

„Na ja, er kann sein Vermögen von der Bank abziehen, eigentlich eine leere Drohung, nur ein Protzgehabe. Diese Leute sind mir erst später, als ich für Die Bank tätig war, begegnet. Bei Berenbach ging es noch seriös zu, mit sehr wenigen Ausnahmen. Ich denke, vielen Menschen hat der Reichtum die Seele verkümmert, was immer die Seele ist, das Gewissen, die Moral…Ich glaube, Reichtum macht sich keine Gedanken über das, was er verursacht, wie es dem überwiegenden Rest der Gesellschaft damit ergeht…Durch seine Besitzergreifungen löst er etwas aus. Nimm zum Beispiel den Wohnungsbau, exklusive Lagen werden mit schwer extravaganten Bauten versehen, als Luxuswohnanlagen angepriesen, mit der Folge, dass in deren Umkreis die Bau- und Mietpreise in die Höhe schießen. Die Mieter in Zentrumslagen werden aus ihren angestammten Wohnungen vertrieben, da sie nach mehr oder weniger aufwändiger Renovierung finanziell nicht mehr mithalten können.

Es wird gebaut, um den größtmöglichen Profit herauszuschlagen, also immer mehr Luxusimmobilien, satt erschwinglichen Wohnraum zu schaffen. Grotesk schon, was auf Sylt passiert ist, wo ehemalige Fischerkaten für Unsummen die Besitzer wechseln, die die Millionenobjekte nur gelegentlich nutzen. Die Angestellten, Aushilfskräfte und Dienstboten des Inselbetriebes müssen täglich vom Festland kommen, da auf der Insel der Wohnraum für sie zu teuer geworden ist…Und ich könnte Dir weiterer Beispiele anführen, bei denen der Reichtum die Richtung der Entwicklung bestimmt…weißt Du, Geld ist Macht, eine ungeheure Macht. Mit Geld kannst du, wenn du es hast, immensen Einfluss üben, kannst dir nicht nur großartige Villen kaufen, millionenschwere Yachten, Gemälde berühmter Maler, Diamanten, Edelsteine, oder Spitzenfußballer, ganze Fußballvereine, Präsidenten, ganze Regierungen, auch eine Parlamentsmehrheit, ein gutes Gewissen, Ansehen, einfach alles.

Es gibt keine Grenzen und das macht Angst. Geld macht Angst. Geld dirigiert die Welt, die Entscheidungen dieser Welt. Das ist keine Plattitüde, das ist eine Tatsache und als Investmentbanker bist du eine Randfigur in dem Spiel, gehörst aber zu den Spielern, den rückgrat- und gewissenlosen Spielern.“

 

Darüber zu sprechen hat ihn in eine grüblerische Stimmung versetzt, er spürt Traurigkeit über sich kommen angesichts der Jahre, die er als einer der Spieler funktioniert und gefühlt Schuld auf sich geladen hat. Lene nimmt ihre Füße von der Couch, sucht sich eine bequeme Stellung, schaut dabei zu Tom, mit einem skeptischen Blick.

„So redet eigentlich kein Banker…Verzeihung, Bankangestellter.“

„Das stimmt…der bin ich ja nicht mehr, will ich nicht mehr sein, ich habe in den letzten Wochen viel nachgedacht über das, was hinter mir liegt und mein Tun für diese Zeit hinterfragt. Die erhellenden Einsichten und Erkenntnisse kommen dir erst, wenn du eine lange Zeit in diesem Milieu verankert warst und du plötzlich außen vor bist. Nur von außen und mit Distanz, gelöst von der Pflicht, in dem Milieu zu funktionieren, siehst du die Realitäten. Die waren vorher zwar auch vorhanden, aber von einem Vorhang des Zwanges verdeckt waren. Es ist, wie wenn du in ein Bild, ein Gemälde gebannt bist, du siehst dich nicht, kannst dich nicht sehen, nicht die Position des Betrachters einnehmen, siehst also nicht, was das Bild darstellt, du kannst es nicht betrachten, nicht verstehen, nicht interpretieren und…ehrlich gesagt, einiges dessen, was ich gesagt habe, habe ich mir erst zusammengereimt, um Deine Frage zu beantworten.“

Ein kurzes auflachen beider.

„Tja, ich weiß nicht so recht, ob ich Deine Einschätzung teile, ich kenne das Milieu zu wenig, Du bist die Fachkapazität, hast das Wissen, also wird schon etwas dran sein, an dem, was Du sagst.“

Eine nicht unerhebliche Menge an Restskepsis scheint aber bei ihr zu bleiben.

„Von einigen solcher Auswüchse habe auch ich schon gehört. Ich weiß aber auch, dass es einige betuchte Bürger gibt, die sich sozial engagieren. Ich kenne jemand, der sich für krebskranke Kinder einsetzt, Kliniken für deren Behandlung unterstützt, Forschungsprojekte zur Krebsheilung fördert und Spenden in seinem Gesellschaftsumfeld dafür einsammelt.“

„Ich sage ja nicht, dass alle Reiche gesellschaftsabgewandt sind, aber glaube mir, die die vorbehaltlos Teilen, sind die Ausnahme. Das Gro der Reichen lässt seinen Reichtum wachsen, in Oasen, Investitionen oder Geldanlagen, verwendet darauf seine Energie und nicht auf soziale oder moralische Handlungen.“

Irgendwie beschleicht ihn das Gefühl, die Temperatur in der Wohnung sei deutlich gesunken, etwas hat sich in der Wohnung breitgemacht, hat er zu heftig, zu kritisch, zu ungerecht argumentiert? Lene als auch Tom blicken mehr in sich als auf oder vor sich. Ein Witz wäre jetzt auflockernd, aber er kennt keinen, kann sich keinen Witz behalten, nicht für eine Stunde, nachdem er ihn gehört oder gelesen hat, also versucht er es mit einem Fazit: „Reich sein ist schwer, aber das Geld macht es etwas leichter.“

Na ja, zumindest ein Lächeln kann er ihr entlocken.

 

„Wenn ich so zurückblicke, war meine Zeit bei Berenbach eine ehrliche Zeit, in der Regeln galten, die eingehalten wurden. Später, bei Der Bank, nur noch eine Zeit in der Moral, Ethik, Vertrauen langsam ihre Inhalte verloren und der Zynismus im Umgang mit den Kunden aus den Investmentabteilungen den Ton bestimmten. Ein Ton, der letztlich die Atmosphäre in der ganzen Bank vergiftete.

Bei Berenbach haben wir immer vertrauensvoll, untereinander abgestimmt und mit den Kunden deren Vermögensportfolio nach bestem Wissen und Gewissen optimiert. Zu einigen meiner Kunden konnte ich persönliche Kontakte aufbauen und Einladungen zu privaten Anlässen waren keine Seltenheit.

Bei Berenbach habe ich viel gelernt, sehr gut verdient und dies mit gutem Gewissen. Nachdem ich ungefähr fünf Jahre bei Berenbach beschäftigt war, tauchten erste Gerüchte auf, Die Bank wolle Berenbach übernehmen, was im Zuge des Umbaus Der Bank, von der wir natürlich wussten, nicht abwegig war. Die Übernahme kam ein halbes Jahr später, mit ihr Leute aus der Zentrale, die in kürzester Zeit den familiären, gediegenen Stil im Hause Berenbach durch einen profitgetriebenen unpersönlichen Stil ablösten.

Es war ein Kulturschock, als die Herren in den Labelanzügen, den bunten Hosenträgern und den gegelten Haarschnitten auftauchten und damit begonnen wurde, bisher funktionierende Strukturen zu verändern, was ein paar Kollegen zum Anlass nahmen, Berenbach zu verlassen. Das hätte ich auch tun sollen, eigentlich müssen, kam aber zu keiner Entscheidung und ließ die Dinge, von denen ich ahnte, wie sie kommen würden, laufen. Berenbach durfte die Geschäfte vorerst weiterführen, aber jetzt schaute ihm jemand über die Schulter. Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt bereits Personal-Vorstand Der Bank und wusste seit Jahren vom Interesse an Berenbach, vor allem an dessen ungefähr 6.000 gut bis sehr gut betuchten Kunden, ideale Opfer für die Investmentbanker Der Bank.

Berenbach hatte seine Bank persönlich in Schieflage gebracht, als er sich unter anderem zu sehr in Griechenland und Spanien engagiert hatte und große Summen abschreiben musste, da zwei namhafte mit ihm befreundete Familien mit ihren Unternehmungen in Konkurs gingen, also ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten. Ob die Empfehlung meiner Mutter in diese Bank einzutreten mit diesem Wissen im Hintergrund erfolgte und der weitere Verlauf ebenso ihrem Plan für mich entsprang… Ich weiß es nicht…aber es fühlte sich damals so an und noch heute bin ich davon überzeugt, dass sie dies bewusst eingefädelt hatte…Und dann kam, wie erwartet, die Versetzung in die Zentrale, begründet mit dem Ausbau meines persönlichen Profils durch institutionelle Erfahrungen und Wissenszuwachs. Was sich für mich anhörte, wie vom Amateur zum Profi entwickelt zu werden, was ich als ziemliche Arroganz Der Bank empfand.

 

Als ich mich von Dr. Berenbach verabschiedete und mich bei ihm bedankte für das Vertrauen, dass er in mich gesetzt hatte, nickte er nur und meinte „Gruß an ihrer Frau Mutter“ in einem Ton und einer Mimik, die gegenüber dem Grußwunsch von vor fünf Jahren, Enttäuschung und Wut ihr, letztlich auch mir gegenüber ausdrückte…Ja, da war ich dann dort, wo ich nie hinwollte, aber immer geahnt hatte, dass ich dort landen würde.

Und dort war alles anders, viele Leute auf engem Raum, schicke Büros am Rande des Saales, modernste Technik, quirlige Aufgeregtheit, stets blinkende Bildschirme, brodelnde Luft, Düfte nach teuren Deodorants, permanent summender Geräuschpegel, diffuses Stimmengewirr und eine Coolness, die nicht aus der Klimaanlage kam, sondern durch die multikulturelle Mischung der Typen im Raum, von denen die wenigsten eine klassische Bankausbildung genossen hatten. Alle waren per Du, amerikanisches Du, also Sie, aber Tom! Jahrmarkt der Eitelkeiten, nannte dies Tom Wolfe, so war es, ein Haufen Hähne, die sich in irgendeiner Form aus dem Haufen hervorheben wollten.

Und dies konntest du vor allem durch außergewöhnlich gute Abschlüsse. Wie bei meinem Eintritt in das Internat, beschnupperte ich die Bank widerstrebend distanziert, wurde immer interessierter, bis es mich in dieses ungezügelte Treiben hineinzog und ich im Sinne der Bank zu funktionieren begann. Die Bank hatte Jahre zuvor entschieden, globale Investmentbank zu werden, was zur Folge hatte, dass sie sich immer amerikanischer gebar, im Kundenverhalten, im Geschäftsgebaren, in der Sprache und immer mehr und öfters wechselnde Kollegen aus diversen Orten der Welt, vornehmlich aber aus England und Amerika.

Neue klingende Titel zogen ein, ich war jetzt Portfoliomanager mit einem Trupp Analysten im Schlepptau Quants und Trader, geführt wurde ich von einem Managing Director, dem mehrere Teams unterstanden. Neu waren auch die Produkte wie CDO, CDS, Swaps, Derivate, Futures und weitaus schlimmere undurchsichtige Produkte, die meist der Bank und nicht den Kunden nutzten.

Ich versuche erst gar nicht, Dir diese Produkte zu erklären, Du würdest sie so wenig verstehen wie ich. Anfänglich hatte ich noch den Überblick, hatte einige Kunden von Berenbach mitgezogen, bekam neue hinzu, aber je mehr die Kollegen vom Investment neue vertrackte Finanzprodukte erfanden, beziehungsweise von anderen Produzenten übernahmen und mir aufdrückten, sie den Kunden anzudienen, desto mehr ging der Überblick verloren. Ich wurde zum Abhängigen der Trader, die nicht wussten, was Loyalität ist.

Berenbach hatte mich diesbezüglich geprägt und Loyalität gegenüber dem Bankhaus wäre in meine Gene übergegangen, hätte ich dort noch ein paar Jahre verbringen können. Diese zugekauften Typen, die keine Ahnung hatten, von der aus protestantisch deutscher Tradition entstandenen und viele Jahre erfolgreich agierenden Bank, waren weit entfernt davon, dieser gegenüber Loyalität zu erweisen. Nur sich selbst gegenüber waren sie loyal.

In der Zentrale waren wir eigentlich die Nebenstelle, denn die Action spielte in London, New York oder Singapur, also traten wir in einen imaginären Wettbewerb um die besten Quartalsergebnisse mit denen, die wir gar nicht besiegen konnten. In dieser Zeit sackte ich auch persönlich ab von allem Bisherigen. Es galt nur noch das Geschäft, Boni einfahren, nach der Arbeit Absacker trinken mit den „Kumpels“ Abschlüsse feiern. Es galt Geld auszugeben, nur das Teuerste war gut genug, Verachtung auf die Ahnungslosen schütten, Tennis oder Golf spielen, nicht des Sportes wegen, sondern, um auch am Wochenende über geschäftliche Vorgänge unter Kollegen über zukünftige Projekte mit Kunden zu reden…Unter Strom zu bleiben…Wir trieben uns gegenseitig an und hoch, Kaffee, Energiedrinks und andere aufputschende Substanzen sorgten dafür, dass der Motor permanent lief. Meine Frau war fast nicht mehr existent, ich vernachlässigte sie, versetzte sie vor dem Kino, dem Theater, bei Familienfeierlichkeiten, führte einen rüden, selbstherrlichen, arroganten Tonfall gegen sie. Ich wurde zum Ekel, zum Arschloch…und als ich dann noch die Wohnung im Westhafen für über 800.000,00 Euro kaufte, ohne sie zu fragen…ich stellte es als ein Geschenk für sie dar, was eigentlich nur meinem Ego schmeicheln sollte…war unsere Beziehung am Ende.“

 

Auf Lenes Stirn ziehen fragende Falten auf, was ihn ahnen lässt, welche Frage kommen wird.

„Ja, ich weiß, was Du jetzt denkst, aber damals waren die vorhin geäußerten Gedanken noch nicht mein eigen…da stak ich noch mittendrin…Ann-Kathrin zog zwar noch mit in die neue Wohnung ein, nur das Nötigste mitbringend, in der Hoffnung, es gebe vielleicht noch etwas zu retten. Sie behielt unsere alte Wohnung und ich meinen neuen, alten Stil, machte weiter wie bisher auf der Jagd nach dem großen Geld.

Außenstehende haben dies als Gier angesehen, das war es aber nicht, es war ganz einfach sportlicher Ehrgeiz. Wer hat den höchsten Abschluss getätigt? Wer die meisten Abschlüsse? Wer hat sein Ziel um wie viel Prozent übererfüllt? Wer hat sich von seinen Boni was geleistet? Ehrgeiz unter den Kollegen, zwischen kämpfenden Abteilungen, befeuert von einem Bonussystem, dass das Management wie Holzscheite in den Ofen warf, obwohl der Ofen längst glühte.

Ann-Kathrin verlies mich dann endgültig, von ihr blieb nur ein Zettel auf dem Couchtisch zurück „Leb wohl und weiter so, ohne mich!“…Vielleicht war es das Beste, was mir passieren konnte, denn die Tage danach setzte bei mir ein Nachdenken ein über mich, den Job, die Beziehung zu Ann-Kathrin und überhaupt.“

 

Sie wirft ihm einen fragenden Blick zu, vielleicht liegt auch eine gewisse Strenge darin, nachvollziehend, dass Ann-Kathrin eine solche Beziehung nicht mehr wollte.

„War Dir nicht klar, was Du aufs Spiel setzt…Ich meine, Du hast sehenden Auges, das, was Du liebst, und davon gehe ich aus, dass Du das hast, Stück für Stück von Dir entfernt. Denkt man da nicht nach, was man tut?“

„Nein, du hörst auf zu denken. Wenn du im Rausch bist und das war ich, mit all den anderen, dann gaukelt dir das Geld, dass schon nicht mehr in deine Taschen passt, so etwas wie Macht vor…keiner kann dich bremsen. Du bist eine Rakete, hebst ab…Nein, ich habe nicht mehr viel gedacht und wenn da doch mal ein Funke Nachdenken hochkam, half der Alkohol dies wegzuschwemmen.“

Er hat alles getan, Ann-Kathrin aus seinem Leben zu treiben, er hat sie, die ihn wirklich liebte, nicht mehr verdient. Sicher, es war von ihm aus nicht die ganz große Liebe, eher der Widerstand gegen seine Mutter, die Ann-Kathrin mit ihren Schlapperkleidern, langen Harren, flottem Mundwerk und ihrem sozialen Engagement von Anfang ihrer Beziehung an ablehnte. Sie hätte es lieber gesehen, dass sich zwischen ihm und Monique, der Tochter der Galinskis, die zu von ihr arrangierten regelmäßigen Besuchen kamen, etwas entwickeln würde. Nicht das Monique hässlich gewesen wäre, nein es war unter anderem der Duft nach Pferden, der ihn an Monique störte. Er hasste Pferde und deren Ausdünstungen und so intensiv sich Monique auch duschte nach den Ausritten, es blieb immer etwas haften, dass er unangenehm mit der Nase aufnahm. Durch sein mit fadenscheinigen Begründungen Entziehen dieser Besuche wurde schließlich auch den Galinskis und seiner Mutter klar, dass sie ihre Verkuppelungspläne begraben mussten.

Aber diese Geschichte hält er vor Lene erst einmal zurück.

„Wie gesagt, der Weggang von Ann-Kathrin drang langsam in mein Bewusstsein. Mir erinnert der Tag, an dem ich abends mit den Kollegen meines Teams angetrunken und in Feierlaune in einer Striptease-Bar aufschlug, an der Theke stand, um mich herum ging es nur noch um Champagner und Girls. Es wurde gejohlt mit Geldscheinen gewedelt. Ich betrachtete diese Szene zunächst belustigt, dann aber immer angewiderter werdend und fragte mich, was ich hier mache, was hatte das hier mit mir zu tun? Mir war plötzlich als hätte mir jemand ein Eimer Eiswasser übergeschüttet. Wie immer bin ich mitgetrottet…habe mich widerstandslos mitziehen lassen…Hatte ich keinen Willen, keinen eigenen Willen?

Ich verlies ruckartig das Lokal, ging nach Hause, in die Wohnung, setzte mich in meinen Ohrensessel im Erkerquadrat und starrte auf den Fluss und sah das Wasser vorbeifließen wie mein Leben…Das Reflektieren über das, was mir, mit mir geschehen war ließ mich auch in den folgenden Tagen nicht los, hinzukam, dass sich die Finanzkrise weiter verschärfte, was innerhalb der Bank den Druck erhöhte. Die Morgenmeetings stimmten darauf ein, mehr Umsätze zu generieren, jeder hatte nur noch im Sinn, seinen Arbeitsplatz, zumindest seine Beschäftigung in der Bank zu sichern. Abteilungsstrukturen wurden stetig verändert, Kompetenzen wurden immer unklarer, irgendwie ging die Orientierung verloren, wo es eigentlich hingehen sollte.

Führungskräfte waren überfordert, da sie nie Führung gelernt hatten, nur Umsatz machen und je stärker sich die Krise auswirkte, umso hilfloser agierten sie. Dies führte zu Situationen, die meine Zweifel weiter forcierten. Gregor, der Managing Director, mein Chef, berief mich zu sich, zeigte ohne große Vorrede auf ein Papier vor sich, das Protokoll meiner Raumbelegungen für Kundengespräche und meinte, ich würde zu viel Zeit im Kundengespräch verbringen, dass sei Zeit, die ich anderen Kunden stehlen würde. Um im Gespräch zu bleiben, genüge ein kurzes Telefonat oder eine eMail, mach Umsatz und lass das sozialtherapeutische Gesülze weg. Punkt.

Bei Berenbach waren Kundenzufriedenheit, Kundenbetreuung und Kundenbindung die Basis der Geschäftsbeziehung, auf die auch ich großen Wert legte, aber Gregor interessierte nur sein Betriebsergebnis. An dem wurde er gemessen, an dem musste er sich messen lassen und als das Ergebnis in Gefahr geriet, unter die Zielvereinbarung zu fallen, gab er mir deutlich zu verstehen, dass dies auch Konsequenzen für mich habe.

Das war irritierend, auch der Ton Gregors hatte mich verwundert. Es war in meinem Umkreis bekannt, dass ich der Sohn der Chefin, wie meine Mutter intern genannt wurde, war und jeder ging davon aus, dass meine Mutter mich protegierte, und die Stelle des Managing Directors demnächst von mir besetzt werden würde. Dies führte dazu, dass um mich herum einige schleimend mit mir umgingen, andere vorsichtig, nichts falschen Tun und Sagen. Auch Gregor hielt sonst beobachtende Distanz zu mir und der Ton der Unterredung passte gar nicht zu seinem sonstigen Verhalten.

 

Mit der Beförderung des Schweizers zum Vorstandsvorsitzenden forcierte sich der Wandel Der Bank. Er reduzierte den Vorstand und damit auch die Position meiner Mutter, was noch nicht geschehen, aber als Gerücht durch alle Abteilungen ging. Wahrscheinlich war ich der Letzte, der davon erfuhr. Nun war mir das Verhalten von Gregor klar. Tage später wurde das Ganze dann offiziell, meine Mutter schied gut gepolstert aus dem Vorstand und aus der Bank aus und die Kollegen passten ihr Verhalten den neuen Gegebenheiten an. Von da an wussten oder zumindest ahnden sie, dass ich fallen würde. Die Berichte meiner Analysten wurden oberflächlich, lückenhaft, Auskünfte in die Länge gezogen, die die vorher geschleimt hatten, wurden patzig, das Klima um mich aggressiver bis hin zu eklatanten Tabubrüchen.

Bei der routinemäßigen Durchsicht der Depots meiner Kunden stieß ich bei einem Kunden auf Papiere, die mir unbekannt waren und von denen ich nicht wusste, dass sie im Depot vorhanden und wie sie dort hineingekommen waren. Es waren Aktienindex-Futures der heikelsten Sorte, die ich dem Kunden mit Nachdruck ausgeredet hätte. Mit Futures auf Aktien zu handeln, in einer Phase wo jeder in der Bank wusste, was sich da entwickelte, grenzte an Betrug.

Futures an sich hatten ihren Sinn, für den, der sie brauchte, wie Landwirte, für die Futures eigentlich erfunden wurden, um ihre Ernteerträge in einem gewissen Rahmen abzusichern, was aber daraus wurde waren Spekulationsgeschäfte, eigentlich Wetten, auf die Zukunft und auf alles Mögliche und Unmögliche. Nach einigen Versuchen ihn ans Telefon zu bekommen, erreichte ich den Kunden und fragte ihn nach den Papieren. Es stellte sich heraus, dass der Trader in meinem Team in meinem Namen gehandelt und ihm diese Papiere aufgeschwatzt hatte. Gregor hörte sich meine Empörung über den Vorgang ruhig an und meinte schließlich, „da war wohl jemand cleverer als Du“. Dass dies ein eklatanter Vertrauensbruch war, noch dazu mit einer Lüge verbunden, interessierte ihn ebenso wenig. Vertrauen kann man kitten, sagte er, verlorenes Geld nicht, wobei er meinte für die Bank verlorenes Geld.

Mein Kunde erlitt einen hohen Verlust durch diese Hinterhältigkeit, den er mir anlastete. Malcom, der mir dies eingebrockt hatte, lächelte mich im Vorbeigehen an, wohlwissend, dass ihm nichts passieren würde, außer dem Erhalt eines satten Bonus…Das Klima wurde immer rauer und dazu kamen immer mehr verärgerte Kunden, die ihren Frust wegen ihrer Verluste an ihren Beratern ausließen. Plötzlich war ich ein Halsabschneider, ein Betrüger, unangenehme Gespräche folgten aufeinander, am Telefon, wo die Leute so richtig aus sich herausgingen oder im Büro, wo es etwas gesitteter zuging, aber nicht minder vorwurfsvoll.

 

Da waren zum Beispiel die Drewick’s. Die beiden alten Herrschaften, er war 81, sie 78, ganz in graues und schwarzes Tuch gehüllt, von dem ein Geruch nach Mottenkugeln ausging, verhärmte Mienen, tieftraurige Augen unter faltiger Stirn bei der Frau, ratlose, aber ruhige Augen in einem starren Gesicht bei ihm. So saßen sie in sich versunken in Designerstühlen mir gegenüber, in dem lichtdurchfluteten Besprechungsraum, um ihre Verluste zu beklagen. Auf dem Schoß von Herrn Drewick lag, wie immer, ein Ordner, der sechszehn Jahre Vermögensverwaltung und stetes Anwachsen ihres Vermögens bis ins Detail beherbergte. Aus diesem Ordner heraus zitierte er, versuchte eine Rechtfertigung abzuleiten, die mir den Verlust seiner 75.000,00 Euro zuschreiben sollte, die die beiden im letzten Quartal eingebüßt hatten. Jedes Mal, wenn er die Summe nannte, führte dies zu einem tiefen Schluchzer bei ihr.

Ich versuchte sie zu beruhigen und auf ihr Vermögen zu verweisen, dass sie noch immer hatten und nur, wie sie wussten, der Risikobereich betroffen sei, den sie selbst auf eigenen Wunsch ausgedehnt hatten und den ich im Detail mit ihnen besprochen und abgestimmt hatte und nur auf ihren Wunsch hin das eine oder andere höher verzinste, aber auch riskantere Papier, eingebaut hatte. Sie hatten noch gut 2 Millionen Euro auf dem Festgeldkonto stehen, die sie nicht anrührten. Und dies seit den sechzehn Jahren, in denen sie betreut wurden -ich hatte sie erst mit dem Übergang in die Bank übernommen- wobei, wie bei allen vermögenden Kunden, die Bank nicht die einzige Bank war, die für sie Geld verwaltete. Ich konnte sie mir gut vorstellen, wie sie, anstatt Fern zu sehen, abends auf ihrer Couch oder am Küchentisch saßen, in ihrem Ordner blätterten wie andere Leute im Fotoalbum, und den Vermögenszuwachs belächelten, solange er noch wuchs…Sie hatten mir oft genug, wenn unsere Gespräche ins persönliche abglitten, davon erzählt. Sie gönnten sich über all die Jahre nichts, keinen Urlaub, keine neuen Möbel oder sonstigen in anderen Haushalten üblichen Käufe. Sie horteten ihr Geld und ich konnte nicht erkennen wozu, außer zum Selbstzweck.“

 

Lene bewegt ihre rechte Hand leicht nach oben und wendet ein: „Du sagtest Geld macht nicht glücklich, meinst Du nicht, dass die beiden Herrschaften sehr glücklich damit waren, ihr Vermögen wachsen zu sehen, ein Glück, basierend auf dem Gefühl, etwas erreicht zu haben in ihrem Leben?“

„Hm, was soll das für eine Art von Glück sein? Nein, ich sehe es als Unglück, Geisel einer imaginären Zahlenwelt zu werden, die zu irrealen Schlüssen verführt. So war der Verlust etwas, was sie nicht kannten und der in dieser Weltsicht nicht vorkommen darf. Ihrer Ansicht nach war ich der Schuldige für diesen Verlust und an der möglichen Altersarmut, die insbesondere Frau Drewick immer wieder heraufbeschwor („Ach Gott, was wird nun aus uns werden?“). Es war irrational, schrill, wie sich die beiden in dieser für sie eigentlich unbedrohlichen Situation bedroht sahen, aber es war ihnen nicht zu vermitteln, dass sie zwar einen Verlust erlitten hatten, der aber nicht ihren finanziellen Untergang bedeutete. Anstatt ihre paar Tage, die sie noch vor sich hatten, mit vollen Zügen zu genießen, wie Ilse dies tat, verharrten sie mit ihrem Ordner redend in ihrer Wohnung.“

„Wer ist Ilse?“ fragt Lene dazwischen.

„Oh, Ilse ist die Frau, die in der Wohnung unter mir wohnt, die in fast dem Alter ist wie die Drewicks und die ihr Geld als Kreuzfahrtjunkie verjubelt. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich, vielleicht ein anderes Mal bei mir, bei einem gemütlichen Essen, zu normaler Uhrzeit erzählen kann…was ich ernst meine.“

 

Und er fährt fort, ohne weiter auf Ilse einzugehen: „Nachdem ich mehrere Versuche unternommen hatte, ihnen zu erklären, dass sich der Verlust nicht rückgängig machen, aber mildern lässt, dass ich alle faulen Papiere abgestoßen hätte und wir abwarten müssten, bis die Aktienwerte wieder steigen würden, drängte ich sie zum Gehen, was sie aber nicht wollten. Mit den beiden Alten hatte ich Mitleid, weniger des Verlustes wegen, sondern, weil ich vor mir sah, was Geld auch anrichten konnte.

Ob Zufall oder nicht…eher nicht…trat plötzlich Gregor ein, stellte sich den Drewicks vor, hörte sich mit freundlicher Miene deren Klagen an, warf mir ab und zu einen ernsten Blick, den die Drewicks sehen sollten, zu. Er verabschiedete sie schließlich mit einem „Wir regeln das!“, mich anschauend „und wir auch“. Zwei Tage später erhielt ich die Aufkündigung meines Vertrages und wurde bis zum Auslauf des Vertrages freigestellt, mit Abfindung und laufenden Bezügen bis Vertragsende und den kopierten Zugangsberechtigungen und Kennwörtern Gregors. Die hatte er offen auf seinem Schreibtisch liegen gelassen, als er von seinem Chef verlangt wurde, dem sofort nachkam, ich zufällig in seinem Büro war und aus einem Impuls heraus, warum auch immer, die offen liegenden Daten abschrieb, ohne einen blassen Dunst, was ich damit anfangen würde. Man wird sehen…Ehrlich gesagt, ich war froh, dass da wieder jemand für mich die Entscheidung getroffen hatte, die ich längst hätte selbst treffen müssen. Es gab keine Gegenwehr meinerseits…mit einem Lächeln auf den Lippen ließ ich die Bank hinter mir…das ist jetzt fast fünf Wochen her…seitdem versuche ich, für mich eine Perspektive zu finden, in der Geld nicht vorkommt.“

Sie räuspert sich, scheint nachzudenken, schüttelt leicht den Kopf.

„Also, so ganz verstehe ich Dich nicht, ich meine, Du hast doch Fähigkeiten, Erfahrungen, die kann man doch auch anders nutzen, ich meine im positiven Sinn, was weiß ich…in einer Nonprofit-Organisation und, wenn ich Dich recht verstanden habe, hast Du Dich bei Berenbach doch auch wohl gefühlt. Also hat Dir die Tätigkeit doch Spaß gemacht? Oder?“

…„Berenbach war ein Anachronismus, das wurde mir erst später klar. Während die Finanzwelt langsam aus den Fugen geriet, hielt Berenbach an Prinzipien fest, die andere Geldhäuser, aber auch Kunden, längst als überkommen und den neuen Anforderungen nicht mehr gemäß ansahen und dementsprechend handelten.

Nein, auch bei Berenbach konnte ich nur durch das Ausklammern meines Magengrummelns arbeiten…Berenbachs gibt es nicht mehr, nirgendwo in der Finanzwelt gibt es...

 

Plötzlich dringt ein knirschendes Knarren, ein mächtiges Bollern, in ihr Gespräch, seinen Monolog, Holz splittert, beide erschrecken heftig, blicken erstaunt, ängstlich zum Eingang, die Türzarge fliegt in die Wohnung, knallt schlitternd und scheppernd auf das Parkett, die Tür springt in vollem Schwung auf, knallt gegen die rückwärtige Wand, erst ein, dann ein zweiter breiter Schatten, schwarz gekleidet, kahlköpfig mit wütendem Blick hereinstürzend, auf die beiden völlig verdutzt Aufgesprungenen zu. Tom will etwas sagen, sein Puls geht hoch, die Pupillen weiten sich, offener Mund, stehender Atem, der Herzschlag pulsiert fast hörbar, etwas tun, bekommt kein Wort hervor, kann den Schlag nicht abwehren, der ihn mit voller Wucht ins Gesicht trifft. Brennender Schmerz durchzuckt seinen Kopf, seinen Körper, wirft ihn um, lässt ihn auf den Couchtisch aufschlagen, pulsierender Schmerz im Kiefer, zuckender Schmerz rast durch seinen Körper. Er spürt eine kräftige Hand um seinen Hals, wird hochgezogen. Erneuter Schlag, in die Nieren, Übelkeit, spürt warme Flüssigkeit (Blut?) in seinem Mund, fühlt sich plötzlich leicht, fliegt von breiten Händen gehoben gegen die Vitrine, Glas splittert, neuerliche Schmerzkaskade durchzucken seinen Körper, glühender, stechender Schmerz im Rücken, Schreie um ihn herum, wildes Tosen, Gebrüll und Krachen von Holz, Poltern umfallender Gegenstände, Klirren von zerbrechendem Glas.

Stöhnen, Ächzen, Schmerz…Ruhe, dumpf hämmernde Hohlheit, entfernt, hallende Stimmen, Kälte, blaue, rote flirrende Lichter, grelles, helles Blitzen, dumpfes Brummen…Stöhnen, sein Stöhnen? Gerüche nach Äther, ferne Laute…schemenhaftes Gewusel um ihn, Pochen im Kopf, kribbelndes Brennen der Augen, Stiche, Gerüche nach Hygiene, Jod, Desinfektion, Geklapper von Blech auf Blech, leise beruhigende Stimmen…Piepsen, Summen, Stille…schmerzhaftes Pochen in Kopf, Rücken, Arm und Beinen…Etwas weiches umhüllt ihn, Wärme, plötzliche Wärme, Geruch von Wäschestärke, von Schweiß, er fährt vorsichtig über seine Lippen, Schorf darauf, trocken der Mund, blutige Grinde spürbar, alles Dunkel, im Augenwinkel dringt vages, diffuses Licht zu ihm durch, Nässe über den Lippen, dem Auge, ein nasses Tuch, beruhigende Worte, sanfte Töne, sein Herz schlägt wild, eine Stimme von weit entfernt, etwas schiebt sich zwischen seine Lippen, Feuchte, vorsichtiges schmerzendes Schlucken, eine Stimme „Hallo…Hören…..?“ Es pocht, pocht, pocht…

Wo nix Bäume, da auch nix Lianen

 

Finsternis. Dunkelheit. Die Augen, will sie öffnen, vorsichtig öffnen, keine Regung, schwarz, alles schwarz. Unbekannte Gerüche. Was? Was ist? Dumpf hämmerndes Pulsieren in der Stirn, piekendes Stechen im Rücken, kratzen, er würde sich gerne kratzen… der Arm, drückende Qual in der Schulter…Benommenheit. Summen im Kopf. Vorsichtig fährt er mit seiner Zunge über die Lippen, trocken, rau, Wunden darin, Einrisse. Grind auf den Lippen. Getrocknetes Blut? Der Mund ausgetrocknet, schlaff und schwer die Zunge, Geschmack nach…nach was? Zahnarzt? Die Nase verstopft, etwas steckt in ihr fest, will es herausschnäuzen, geht nicht, sitzt fest. Ein Geruch nach Hartgummi (?), nach Plastik. Schüttelt leicht den Kopf, mehr geht nicht, will es weghaben, zwecklos…Langsam bewegt er seine Hände, fühlt gestärkte Leinen mit seinen Fingern, daunenweiche Decke, spürt die Wärme, die seinen Körper umhüllt, es riecht nach feuchtem, verschwitztem Körper…Die Zunge gleitet durch den Mund. Eine Lücke? Links oben, eine Lücke in der Zahnreihe…Die Zähne?...Weg?...Was? Vorsichtig tastet er mit seiner Zunge die Lücke ab, zwei, drei oder mehr Zähne? Er spürt fleischiges, schwammiges Zahnfleisch, fühlt die Tiefe der Wunde, das geronnene Blut, desinfektionsmittelgetränkte Streifen fühlend. Geschmack nach Salbei (?), nach Kamille (?), versucht erneut die Augen zu öffnen, keine Bewegung auf dem linken Auge. Etwas befindet sich auf dem Auge, ein Verband?...Nur Dunkelheit. Rechts im Auge ein schwacher Schimmer faden Lichtes, schemenhaftes weiß, gedämpfte Stimmen, ein Geruch nach Fäulnis, Hygienemittel…Ausdünstungen von Fäulnis? Saurer Milch? Sein oberes rechtes Augenlid bewegt sich langsam nach oben, verklebt noch, alles verschwommen, Schatten…zwei Schatten?

Er zuckt zusammen, sein Puls schießt hoch, will aufschreien, bringt keinen Ton hervor, nur ein gequältes Röcheln. Wellen warmer Ströme schieben sich vom Bauch nach oben, will seine Hände schützend vor sich nehmen…metallenes Scheppern, blecherner Klang, etwas fällt auf ihn, fällt um, auf den Boden. Ein Klatschen, schneller werdendes Piepsen, brennendes Stechen durchzuckt seinen Arm, warme Flüssigkeit auf dem Arm spürend…“Ruhig, ganz ruhig, ganz ruhig“

…Druck auf seiner Brust, jemand drückt ihn fest auf die Matratze, eine Tür schlägt an, eine Frauenstimme „Hey, was ist hier los? Oh Gott! Gehen Sie, gehen Sie“.

Das Herz rast, Schweiß auf der Stirn, Feuchtigkeit am ganzen Körper spürend, es hämmert in seinem Kopf, im Arm…Hände auf seinem Arm „Beruhigen Sie sich bitte! Ganz ruhig, ganz ruhig. Sie sind hier bei uns in Sicherheit. Keiner will Ihnen etwas tun…ganz ruhig, ganz ruhig“

 

Warme Hände streicheln seinen linken, pochenden Arm, fahren über seine Stirn, hantierende Hektik neben ihm. Anweisungen. Unruhe um ihn, ein feuchtes Tuch streicht über Stirn, Wangen, Mund und Auge. Das rechte Auge öffnet sich, eine Frau in blauem Anzug lächelt ihn an: „Alles ist gut.“

Langsam gewahrt er, dass er sich in einem Krankenzimmer befindet. Wie kommt er hierher? Pflegerinnen um ihn, wischen Blut von seinem Arm, verbinden ihn, legen eine neue Kanüle, am anderen Arm, stummes staunendes Betrachten, ohnmächtiges Geschehen lassen.

Seine rechte Pupille durchsucht die Umgebung. Eingeschränktes Blickfeld, weiße Wände, mehrere Betten, eine, nein, zwei Krankenschwestern um ihn herum…surreal, alles surreal. Er schließt das Auge wieder, weg, alles weg, er ist nicht da, das ist alles nicht wahr….Nein, kein Traum, Gedankensplitter rasen durch seinen Kopf. Die zwei Dicken. Der Schlag. Allein die Vorstellung, der auf ihn zurasenden, großen Faust lässt ihn erschauern. Warum? Lene? Was ist da passiert? Die Schreie, die Schmerzen, das Klirren, wild surren Fragmente des Gewesenen durch sein Hirn. Den Verband um das linke Auge nimmt er wahr und den um den Arm, etwas fühlt er, klebt auf seinem weich liegenden Rücken.

Er will etwas sagen, etwas fragen, aber Worte wollen nicht aus seinem Mund kommen. Die Stimme eines Mannes, des Arztes? „Was war los?“

„Er hat sich erschreckt. Er hielt wohl die beiden Kriminalbeamten für seine Angreifer.“

„Okay. Ist er bei sich?“

„Er hatte kurz ein Auge offen. Er scheint aber noch benommen zu sein.“

„Gut, dann lassen wir ihn weiter ruhen.“…

 

Sein Bewusstsein schält sich behutsam aus dem Dämmerzustand, seine Gedanken beginnen Fahrt aufzunehmen, im Bemühen, das Geschehene zu verstehen. Er versucht es in einen logischen Zusammenhang einzuordnen, wo aber ist da Logik? Er liegt in einem tristen Krankenzimmer, hat dumpfen Schmerz in allen Körperteilen. Diese zwei Typen, in der Wohnung, hauten drauf, einfach drauf, auf ihn. Was wollten die Typen von ihm? Galt dieser Angriff überhaupt ihm und wenn nicht, wem dann? Lene? Warum sollten die Typen Lene am frühen Morgen in ihrer Wohnung überfallen? Warum ihn? Kein Mensch konnte wissen, dass er in den frühen Morgenstunden in Lenes Wohnung landen würde. Oder doch? Hatte man ihn, von ihm unbemerkt, verfolgt? Ein Kunde? Einer, der meinte, ihm seine Verluste mit Faustschlägen zu vergelten? Unsinn! Unsinn!

Jemand rüttelt sanft an seiner Schulter „Hören Sie mich? Hallo? Sie müssen etwas trinken. Hallo?“

Er öffnet widerwillig sein Auge, blickt in zwei blaue Augen, sieht einen freundlich lächelnden Mund in einem ungeschminkten Gesicht, einer Frau mittleren Alters, die ihm einen Becher zuführt mit einem seltsam geformten Deckel (eine Schnabeltasse?), den sie ihm zwischen seine Lippen schiebt. Wärme durchläuft ihn, Feuchte rinnt blubbernd durch seine Gedärme. Pfefferminztee, ausgerechnet Pfefferminztee, den er absolut nicht mag, ihm haftet Krankheit an. Es war immer Krankheit im Spiel, wenn es Pfefferminztee gab...Okay, er ist krank…es ist nicht zu leugnen.

“Danke“ kommt wie von selbst über seine Lippen.

„Ah, er kann auch reden. Dann verraten Sie mir mal ganz schnell, wie Sie heißen, wo sie wohnen und welchen Ihrer Angehörigen wir für Sie verständigen sollen und ach ja, Sie hatten keine Krankenversicherungskarte bei sich, wie sind sie denn versichert?“

Die Fragen muss er erst einmal auf die Reihe bringen…Wieder abtauchen?...

“Wie geht es Lene?“

“Wer bitte?“

„Lene!“

„Da bin ich überfragt. Ich kenne keine Lene. Nun, wie war Ihr Name?“

„Lene.“

„Nein, Ihr Name!“ und tippt ihm dabei auf die Brust. Sein Name? Sie will seinen Namen wissen? Ja, ach so. Er schnappt nach Luft, wie ein Karpfen in sauerstoffarmem Wasser, um die Worte herauszudrücken, die die Frau hören will.

„Ah, Thomas…Thomas Siedler, Karpfenweg 2…und…ich bin Privatpatient.“

„Schön, dann wäre das auch geklärt. Ich gebe das so weiter. Ach, wen sollen wir verständigen? Haben Sie eine Telefonnummer für mich?“

„Was? Verständigen? Wen verständigen?“

„Na ja, sie haben doch sicher Angehörige, die sie bestimmt schon vermissen?“

Tom schüttelt leicht den Kopf: „Nein, da ist niemand…Sie müssen niemand verständigen.“

„Ich bin übrigens Schwester Ulrike, Ihre Stationsschwester.“

Er schaut sie einäugig an. Station? Station von was? „Von welcher Station reden Sie?“

„Sie befinden sich in der chirurgischen Abteilung des Elisabethen-Hospitals.“

„In Sachsenhausen?“

„Richtig!“

Na ja, fast zu Hause und damit entzieht sie sich wieder seinem Gesichtsfeld, ihm fällt das Auge zu und er versinkt in einen Schlummer.

 

Um ihn herum wird

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Bernd Engroff
Lektorat: ohne
Korrektorat: Bernd Engroff
Tag der Veröffentlichung: 07.09.2017
ISBN: 978-3-7438-3178-0

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Jede Freude ist auf Erden Trügerischer Zauber, Das menschlich Herz ist die Quelle unendlicher Klage. Fiesco in Simon Boccanegra, 3. Akt, Oper von Giuseppe Verdi

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