Ob zurückgelehnt oder unter Anspannung, ob im Auto, in einem Eisenbahnabteil sitzend oder arbeitend in der Küche - was kann es Schöneres geben als vorgelesen zu bekommen. Hörbücher machen es möglich
Das erste Buch, dass ich geschenkt bekam, war „Die Kinder des Kapitäns Grant“ von Jules Verne. Es trägt das Erscheinungsjahr 1954. Zu diesem Zeitpunkt war ich 9 Jahre alt. Seitdem begleiten Bücher mein Leben. Ein Dasein ohne Lesen kann ich mir nicht vorstellen. Wie schnell und unkompliziert kann man die manchmal unwirtliche Umwelt verlassen und in ein andere Welt eintauchen; ohne Bedienung eines Gerätes, ohne auf die Laufzeit von Batterien zu achten. Gutenberg haben wir es zu verdanken, dass das Medium Buch als perfekter Datenträger für jeden erschwinglich und zugänglich ist
Wenn ich lese, versinkt die Gegenwart, ich tauche sozusagen in den Text ein, bin mittendrin, empfinde nicht mehr, dass ich lese. In meinem Kopf habe ich auch den kompletten Schauplatz; ganz konkret. Das stört mich dann bei Verfilmungen, da die Vorstellungen des Regisseur meistens nicht mit meinen übereinstimmen. In meiner Fantasie steht der Stuhl rechts vom Tisch, im Film ist er dann plötzlich links. Wie dieser Vorgang des „Eintauchens“ abläuft, darin sind sich die Wissenschaftler nicht einig. Eine Analyse der Augenbewegungen hat ergeben, dass solche Leser nicht der Zeile folgen, sondern auf der Seite hin und her springen, sich offenbar die sinntragenden Wörter zusammensuchen und daraus den Inhalt des Textes bauen. Daraus resultiert auch die ungeheure Schnelligkeit des Lesens. Ich konnte einen Kollegen, der nicht auf diese Art lesen konnte, immer wieder verblüffen. Er gab mir eine Seite eines dienstlichen Vorgangs zum Durchlesen, ich blickte darauf und gab ihm das Blatt zurück. „Du kannst doch unmöglich alles gelesen haben“, meinte er. Nun gelesen - im seinem Sinn - vielleicht nicht, aber ich wusste den Inhalt.
Durch das Fernsehen und allgemein durch das Zunehmen von bildlichen Informationen in unserer Umwelt, ist diese Art des Lesens leider rückläufig. Viele Menschen haben sich - auch welchen Gründen auch immer - in der Kindheit nicht die Fähigkeit des „Eintauchens“ in den Text angeeignet und lesen auch als Erwachsene Wort für Wort. Und hier springt nun die moderne Technik ein: Hörbücher sind ein stetig wachsender Teil des Büchermarktes.
Die Geschichte des Hörbuches begann als Hilfe für sehbehinderte Menschen. Seit 1956 gibt es in der Deutschen Zentralbücherei für Blinde in Leipzig Hörbücher; ursprünglich als Tonbandspulen, dann als Audiokassetten und aktuell auf einem eigenen digitalen Medium DAISY. Auf eine DAISY-CD passen bis zu 40 Stunden lange Hörbücher. Der Leser kann auf einer DAISY-CD wie in einem richtigen Buch blättern, es von der ersten bis zur letzten Seite lesen oder einfach von Kapitel zu Kapitel springen. Aus lizenzrechtlichen Gründen ist die Nutzung aber nur für nachweislich Sehbehinderte möglich.
Versuche mit dem Hörbuch gab es schon in der Schallplattenzeit. Der VEB Deutsche Schallplatten brachte das Label LITERA heraus, dass Lesungen und Schauspiele umfasste. Die relativ kurze Spieldauer der Schallplatte schränkte aber die Möglichkeiten stark ein; eine Breitenwirkung wurde damit nicht erzielt. Auf dem Büchermarkt hat sich als Hörbuch nach den Audiokassetten jetzt die Audio-CD durchgesetzt. Aber auch hier bedingt die lange Laufzeit von gelesenen Büchern, dass mehrere CDs für ein Buch nötig sind, weshalb man als Medium für Blinde davon Abstand nahm und das oben genannte System entwickelte. Der Vollständigkeit halber seien noch die Kinder-Hörspielkassetten erwähnt.
Da ich als Dialysepatient die Zeit an der Maschine möglichst sinnvoll verbringen will, wollte ich auch die Möglichkeiten des Hörbuchs - neben dem Musikhören - nutzen. (Lesen ist nicht möglich, weil ich dabei nur einen Arm benutzen kann, da fällt ständig das Buch herunter.) Leider ist das Hörerlebnis mäßig. Es gelingt mir nicht - wie beim Lesen - in die Handlung einzutauchen. Ich spüre immer die Sprache und den Sprecher als Mittler. Abgesehen davon neige ich durch die totale Passivität dazu, einzuschlafen oder zumindest „wegzutreten“. Dann muss ich rückwärts suchen, bis ich die Handlung finde, an die ich mich noch erinnere. Beim Buch muss ich regelmäßig die Seiten umblättern oder ich lege es direkt weg und schlafe. Der Cd-Player aber läuft weiter. Eine Rückfrage bei Bekannten ergab, dass sie ähnliche Probleme haben: Fehlen des Eintauchens in die Handlung und Neigung zum Einschlafen. Bei den Klassikern gibt es als Nebeneffekt einen besonderen Genuss: Ich erlebe die Sprache wie Musik
Die Hörbuch Produzenten werben mit begeisterten Zuschriften: Die Küchenarbeit und das Auto fahren wären durch das Hörbuch nicht mehr so langweilig. Das kommt mir nun allerdings wie ein Sakrileg vor. Ich nehme an, dass Menschen, die begeistert Hörbücher genießen, solche sind, denen aus den verschiedensten Gründen die oben beschriebene Art des Lesens verschlossen ist. Da sie vielleicht sogar Probleme haben, die Sprache in Bilder umzusetzen, ist ihnen der Vorleser eine Hilfe. Und die langsame Geschwindigkeit von Sprechen gegenüber Lesen wird sie auch nicht stören, da sie das schnelle Lesen gar nicht kennen. Ich habe allerdings bei einem unbekannten Hörbuch Probleme mich in die Handlung hineinzufinden und sie zu überblicken; noch dazu, dass man nicht einfach einmal ein paar Seiten zurückblättern kann.
Fazit: Mir ist ein Hörbuch ein dürftiger Ersatz gegenüber Lesen. Doch das muss nicht für andere gelten. Für Menschen, die das schnelle Lesen nicht beherrschen, ist es ein guter Ersatz für das Buch und für Blinde die einzige Möglichkeit Literatur zu genießen. Letztendlich wird es auch Menschen geben, die beides gleichermaßen nutzen: Goethe als Buch beim gemütlichen Sitzen und einen Krimi bei der Küchenarbeit als Hörbuch. Die Hauptsache, es macht Freude. Und auch ich werde trotzdem Hörbücher weiter nutzen, um die Dialysezeit sinnvoll auszufüllen; auch wenn Lesen noch schöner ist.
© by Eberhard Kamprad, Leipzig, Juni 2007, überarb. Nov. 2008
Tag der Veröffentlichung: 24.11.2008
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