Als sich an jenem Oktobertag im Jahre 1808 die Kutschen mühsam ihren Weg durch das kleine Fischerdorf am Rhein pflügten, begann für Marie ein neues Leben.
Natürlich wusste sie das in diesem Moment, als sie ihnen voller Neugier und Sehnsucht nachsah, noch nicht. Doch hatte sie ihr Leben lang gehofft, etwas möge sich ändern.
Als Tochter eines Tagelöhners geboren führte Marie ein einfaches und anstrengendes Leben und war seit jeher vom Fernweh geplagt. Niemand in ihrer Familie noch irgendwer im Dorf teilte ihren Hang zum Fantastischen noch ihren Wissensdurst und man nannte sie mit gutmütigem Spott eine Träumerin unter Gottes Himmel.
Verständnis hatte sie nur bei ihrer Mutter gefunden - Gott hab sie selig – die ihr als Kind zahllose Märchen von bösen Hexen, guten Feen und prachtvollen Prinzen erzählt hatte und nichts machte Marie mehr Freude, als sich des Abends fort zu stehlen, unter das Sternendach zu legen und sich selbst in die fantastischsten Welten zu träumen.
Und so war es wie ein Märchen für sie, als an diesem Tag ein hochgewachsener junger Mann aus der Kutsche stieg, im feinen Zwirn und goldenen Haaren und den schönsten blauen Augen, die Marie je gesehen hatte.
Der Mann stellte sich dem Dorf als Johann Bleu vor und sein Akzent verriet ihn als Franzose, auch wenn sein Deutsch beinahe tadellos war. Er erklärte, er bezöge das Herrenhaus am Ortsrand, ein vernachlässigter Familienbesitz, und er lächelte mild, als die Alten voller Unmut erklärten, jenes Haus, das er gedachte zu bewohnen, sei verflucht und er möge sich zum Teufel scheren statt schlafende Geister zu wecken.
Johann Bleu jedoch dachte gar nicht daran, wieder zu gehen und täglich ließ er neue Kutschen kommen, aus denen die Bedienstete unzählige Kostbarkeiten in das Haus trugen. Es wurde geschruppt und gewienert, und keiner verlor Zeit den modrigen Ausdruck des Verwunschenen weg zu scheuern und den Glanz alter Tage zurück zu polieren.
Der anfängliche Argwohn der Dorfbewohner gegen den Neuankömmling wich einer nervösen Ablehnung, als Anna Holzmännin, die Tochter des Ölmüllers, plötzlich und auf geheimnisvollste Art verschwand.
Doch trotz des Gemurmels und der prüfenden Blicke auf den Dorfwegen ließ Johann Bleu sich nicht beirren. Er legte eine fast schon sture Freundlichkeit an den Tag und wann immer er das Gasthaus zum Hirsch aufsuchte – und das tat er reichlich – lud er alle der Anwesenden zu Bier und Wein auf seine Kosten ein.
Er zeigte sogar das Feingefühl dies erst zu tun, wenn er selbst im Begriff war zu gehen. So musste sich keiner genieren rührte er den spendierten Becher doch an.
Es war ein solcher Besuch im Gasthaus, bei dem Johann Bleu Marie zum ersten Mal begegnete. Selbstredend war es kein Zufall, hatte Marie ihn doch seit Tagen beobachtet und einen Moment wie diesen abgepasst, ihm vermeintlich unerwartet über den Weg zu laufen.
Er forderte sie lächelnd auf sich zu ihm zu setzten, spendierte auch ihr einen Wein und die Beiden hatten ihre Becher noch nicht einmal zur Hälfte geleert, da waren sie schon rettungslos ineinander verliebt.
Mit einem Fest am letzten Oktobertag, zu dem das gesamte Dorf geladen war, verkündete Johann Bleu seine Absicht, Marie zu heiraten und er tat dies auf solch reizende Art, dass die Dorfbewohner begannen, sich ihres Argwohns zu schämen.
Konnte dieser Mann, krank und blind vor Liebe, wirklich schuldig sein an dem so düsteren Verschwinden der Anna Holzmännin?, fragten nicht wenige und der geschenkte Wein tat sein Übriges, die letzten Zweifel hinfort zu spülen.
Zumindest beinahe.
Maries Bruder Ludwig nämlich, der mit der Verschwundenen verlobt gewesen war, begegnete seinem künftigen Schwager zwar scheinbar mit Wohlwollen und Freundlichkeit, doch sobald ihm Johann Bleu den Rücken zugewandt hatte, feixte er. Er misstraute dem Fremden, der sich – so war er überzeugt – den eigenen Seelenfrieden zu erkaufen versuchte.
Als Elisabetha Zahn einen Tag vor der Hochzeit ebenfalls verschwand, wich Ludwigs Verdacht einer beinahe hysterischen Überzeugung.
Von Adam, dem Bruder der Verschwundenen, wusste er, dass Johann Bleu sie am Abend ihres Verschwindens von der Spätmesse nach Hause begleitet hatte, doch keiner im Dorf wollte Ludwigs Anschuldigungen hören.
Er sei vom Neid geplagt, musste er sich anhören. Undankbar wurde er genannt und seine eigene Schwester hielt ihm vor, wenn auch mit mildem Mitgefühl, er übertreibe es wohl etwas mit der brüderlichen Fürsorge.
Lediglich Adam und sein eigener Bruder Wilhelm standen Ludwig bei, wenn auch nur im Verborgenen. Offen wollte sich keiner gegen Johann Bleu stellen, genoss er doch nun die Zuneigung des gesamten Dorfes.
Die Hochzeit fand an einem überraschend milden Novembertag statt und Maries Wunsch nach einem neuen Leben wurde endlich Wirklichkeit.
So mussten sich die Prinzessinnen in den Märchen ihrer Mutter fühlen, war sich Marie sicher, als Johann sie zärtlich küsste und damit den Bund der Ehe besiegelte.
Ludwig dagegen stieg die Galle hoch, und er hatte Mühe, seine Miene zu beherrschen.
Als seine Schwester schließlich vor ihm stand und ihr das Glück die Augen erhellte, fiel es ihm schwer, seinen Kummer zu beherrschen.
„Liebste Schwester“, flüsterte er mit einem Lächeln, doch seine Augen sahen sie so besorgt und eindringlich an, dass Marie eine Gänsehaut bekam. „Ich kann dich nicht überzeugen, dass dein frisch angetrauter Mann ein dunkles Geheimnis hat und glaube mir, ich hoffe für dich, dass ich mich irre. Doch wenn dem nicht so ist und er dir auch nur ein Haar krümmt, dann rufe so laut du kannst nach Wilhelm und mir und wir werden dich retten.“
Marie legte den Kopf zur Seite und streichelte zart sein Gesicht. „Liebster Ludwig, ich weiß deine Fürsorge zu schätzen, doch wird es nicht nötig sein, euch um Hilfe zu rufen. Johann ist ein guter Mann und er wird für mich sorgen. Also fürchte dich nicht und versuche dich zu freuen, wenigstens ein bisschen, wenigstens für mich.“
Ludwig nickte, traurig, dem Wunsch seiner Schwester nicht genügen zu können.
Marie dagegen konnte die Sorgen ihres Bruders nicht verstehen. Selbstredend fand auch sie das Verschwinden von Anna und Elisabetha tragisch und geheimnisvoll, wenn nicht sogar beängstigend. Doch hatte ihr frisch angetrauter Ehemann selbst mitgeholfen, die verschwundenen Frauen zu finden, war selbst in tiefster Nacht mit den Männern des Dorfs durch den Wald gestapft und zeigte sich tief getroffen und besorgt.
Wie also konnte er etwas damit zu tun haben?
Nein, es war einfach ein unglücklicher Zufall, dass die beiden Frauen verschwunden waren, kurz nachdem ihr geliebter Johann in dem kleinen Dorf angekommen war, dessen war Marie sich sicher.
Als die Hochzeit vorbei war führte Johann Bleu seine Marie in die Bibliothek des Herrenhauses – seinem Lieblingszimmer, wie er ihr erklärte.
Das alte Haus, vollgepackt bis unter das Dach mit Erinnerungsstücke von Reisen zu fernen Orten, überwältigte Marie beinahe so sehr, wie Johann Bleu es selbst und sie brannte darauf, jeden Winkel erforschen zu können.
Als Marie jedoch an diesem Tag zum ersten Mal über die Schwelle der Bibliothek trat, überkam sie ein Schauer, der sie selbst überraschte. Es schien kühler als im übrigen Haus, auch roch anders wie sie fand und Marie war, als beobachte sie jemand.
Ihr Blick fiel auf ein Gemälde an der Seitenwand, das ihr viel zu groß für diesen Raum erschien. Es zeigte einen Mann, gekleidet in altertümlicher Rüstung und einem Schwert in der Hand. Auf ihre fragende Geste hin erklärte Johann schlicht, es handle sich um einen Kampfgefährten Jeanne d’Arcs, der gefeierten französischen Nationalheldin und da Marie nicht den Hauch einer Ahnung von solcherlei Dingen hatte, nickte sie nur und nahm den Wein entgegen, den Johann ihr anbot.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, öffnete sie die Augen nur zögerlich, zu groß war die Sorge, alles möge nur ein Traum gewesen sein.
Doch er war noch da, ihr Johann, und schlief friedlich neben ihr.
Sie betrachtete sein Gesicht und es dauerte einen Moment bis ihr auffiel, wie verändert er im Schlaf doch wirkte. Sein Bart, den er stets gewissenhaft rasiert trug, wuchs in blauen Stoppeln nach und die sonst so zarten Züge wirkten auf Marie plötzlich grimmig und hart.
Sie tadelte sich selbst für ihre dummen Gedanken. Es war nur das Licht, das ihr einen Streich spielte, war sie überzeugt und als Johann nur einen Atemzug später die blauen Augen öffnete und Marie mit weichem Blick ansah, schob sie ihre Verwirrung auf die ungewohnte, neue Situation.
Nach dem Frühstück an diesem Morgen zog Johann seine Marie zu sich auf den Schoss und legte ihr einen Schlüsselbund in die Hand. Er wog schwer und sogleich fiel Marie der einzige goldene Schlüssel inmitten der gewöhnlich silbernen auf.
Es waren die Schlüssel zu jeder Tür in diesem Haus, erklärte ihr Johann, dann deutete er auf den goldenen Schlüssel. „Nur diesen benutzt du nicht“, befahl er und seine sonst so weiche Stimme wurde hart. „Benutzt du ihn, wird es dir schlecht ergehen und ich werde dich vor einer Strafe nicht bewahren können.“
Sie schluckte schwer und sah verängstigt in sein Gesicht. Er war ihr fremd in diesem Moment und sie erinnerte sich an ihre unerklärliche Furcht am Morgen. Doch sogleich milderte sich die Miene von Johann wieder und zärtlich küsste er sie auf den Mund und damit jede Angst hinfort.
Einige Tage später eröffnete Johann seiner Marie, er müsse für einige Tage zurück nach Frankreich, einige Angelegenheiten klären. Ob sie nicht mitkommen könne, wollte Marie wissen, doch Johann nahm sie liebevoll in den Arm und versicherte ihr, sie würde sich nur schrecklich langweilen, da er ohnehin keine Zeit hätte, sie herumzuführen. Sie möge bitte hier auf ihn warten, dann wären sie umso schneller wieder vereint.
Noch am gleichen Nachmittag setzte er sich in die Kutsche und fuhr aus dem Dorf hinaus zur Fähre, die ihn über den Rhein bringen sollte.
Marie, die nicht wusste, was sie mit sich anstellen sollte, nun da sie alleine in dem großen Haus war, wanderte umher und schloss mit den silbernen Schlüsseln alle Türen auf. Doch trotz all der Kostbarkeiten und fremdartigen Relikte fand sie hinter keiner Tür etwas, was die Neugier in ihr zum Schweigen bringen konnte, die Tür mit dem Schloss zu finden, in das der goldene Schlüssel passen würde.
Auch schien ihr keine Tür die passende, waren sie doch alle gleich, mit den gleichen silbernen Schlösser, in die die silbernen Schlüssel passten.
Es war bereits Abend und düster vor dem Haus, als sie an der Schwelle der Bibliothek stand, dem einzigen Raum, der übrig blieb und den sie seit ihrer Hochzeit gemieden hatten.
Wieder empfing sie die kühle Luft als greife eine kalte Hand nach ihr und wieder meinte sie, es beobachte sie jemand.
Mit unruhigem Blick und bebendem Herzen schritt sie lautlos umher, schaute sich mit unruhigem Blick um, bis sie ihn plötzlich entdeckte: Den Absatz in der Wand unter dem riesigen Gemälde des Franzosen.
Sie schlich hinüber, tastete behutsam mit der Hand an der Tapete entlang und lachte leise auf, als sie die verborgene Tür ertastete, die so beschaffen war, dass sie wie ein Teil der Wand wirkte.
Und tatsächlich: Dort war das kleine goldene Schlüsselloch, in das der goldene Schlüssel passen musste.
Sie wich einen Schritt von der Wand zurück und sah sich ängstlich im Zimmer um, als erwarte sie, Johann könnte dort stehen. Doch der war weit weg, auf dem Weg nach Frankreich und er würde erst in ein paar Tagen wieder kommen.
Wem würde es also schaden, wenn sie einen kurzen Blick hinter die Tür wagte?
Sicher würde er ihr irgendwann doch zeigen, was sich dahinter befand, schließlich war sie seine geliebte Frau, mit der er alles teilte.
Natürlich konnte es auch ein Geschenk an sie sein und er wollte den richtigen Moment abwarten, es ihr zu überreichen. So gesehen war es nicht sehr nett von ihr, ihm diese Überraschung kaputt zu machen.
Ach, sie würde einfach überrascht tun, doch ihre Neugier würde sie so lange kaum zähmen können, dessen war sie sicher.
Mit zitternden Händen nahm sie einen Kerzenständer vom Tisch und schob den goldenen Schlüssel das kleine Schlüsselloch in der Wand. Sie atmete tief durch, als wollte sie Mut aus der Luft ziehen, dann drehte sie den Schlüssel entschlossen um.
Mit einem leisen Klicken, das ihr in der Stille des Hauses wie ein Peitschenschlag erschien, öffnete sich die verborgene Tür und schwang auf.
Der Gestank, der ihr entgegen schlug, raubte ihr beinahe den Atem und ihre Augen erkannten nicht gleich, was das flackernde Licht der Kerzen aus der Dunkelheit löste.
Sie ging einen Schritt in die Dunkelheit und als ihre nackten Füße in etwas Nasses traten, keuchte sie vor Schreck. Es kostete sie Mühe nicht in Ohnmacht zu fallen, als sie erkannte, dass sie in einer schier endlosen Blutlache stand.
Vor Schreck röchelnd hob sie den Kopf erneut, überzeugt sich jeden Moment erbrechen zu müssen, als das Kerzenlicht das Gesicht der verschwundenen Anna Holzmännin erhellte, mit gebrochenem Blick und aschfahler Haut. Neben ihr hing Elisabetha Zahn, die Augen grotesk verdreht und die wunderschönen Locken voll getrocknetem Blut.
Marie begann zu schreien, heiße Tränen flossen ihre Wangen hinunter und sie drohte in blinde Panik zu verfallen.
Ihr vermeintliches Märchenschloss, so wurde ihr klar, war die Hölle und ihr geliebter Johann war kein Prinz, er war der Leibhaftige.
Und er stand in der Tür.
Maries Blick war getrübt von den Tränen und dem Grauen um sie herum, doch er war es.
In seinen Zügen war nichts mehr von der Lieblichkeit und Wärme zu sehen und als er sprach, war seine Stimme unerbittlich und grausam.
„Ich habe dir verboten, die Tür zu öffnen.“
Marie wich von ihm zurück. „Was hast du getan?“, schrie sie hysterisch und deutete auf die toten Frauen. Der Schein der Kerzen entblößte immer mehr leblose Fratzen je weiter von ihm abrückte und Maries Schreie ebbten zu einem hilflosen Schluchzen ab. „Warum tust du das? Ich habe dich geliebt, doch du bist ein Monster.“
Johann kam auf sie zu, langsam aber mit Entschlossenheit in jedem seiner Schritte.
Er würde sie nicht gehen lassen, das wusste Marie und kraftlos ließ sie die Kerzen fallen.
„Weil ich es muss“, erklärte er und als er weiter sprach, klang seine Stimme seltsam traurig. „Es liegt in meiner Natur.“
Marie war bis zur Wand zurück gewichen, beinahe verschluckt von der Dunkelheit. Doch Johann war unaufhaltsam aufgerückt, so nah, dass sie seinen Atem in ihrem Gesicht spüren konnte.
Sie saß in der Falle, war in die Ecke gedrängt wie ein Lamm und vor ihr stand der böse Wolf, bereit sie in Stück zu reißen.
„Wirst du auch mich töten?“ Tränen liefen ihre Lippen entlang und schmeckten salzig auf ihrer Zunge.
„Ja.“
Maries Welt zerbrach endgültig mit dem Klang dieses kurzen Wortes.
Johann zog einen Dolch hervor, dann hielt er für einen Moment inne. „Ich habe so sehr gehofft, du würdest die Tür nicht öffnen.“
Dann hob er den Arm über den Kopf, den Dolch fest in der Hand, bereit Maries Leben brutal zu beenden.
Sie drehte den Kopf zur Seite, die Augen fest verschlossen. Sie konnte den Anblick nicht ertragen, von dem Menschen getötet zu werden, den sie so sehr geliebt hatte. Die Gewissheit allein war unerträglich genug.
Doch der Dolchhieb auf den sie wartete kam nicht.
Nur ein überraschtes Keuchen und das Geräusch, als fiele etwas Schweres in das nasse Blut auf dem Boden.
Vorsichtig öffnete sie die Augen und erkannte Johann, der mit einem Beil im Rücken zu ihren Füßen lag und seinen letzten Atem aushauchte.
Sie hob den Blick. Ludwig und Wilhelm, ihre geliebten Brüder, standen in der Tür, durch die zuvor sie und später Johann gekommen war.
Ihr Körper begann zu zittern, die Angst und das Grauen, das sie gespürt hatte, ließ von ihr ab und hinterließ ein Trümmerfeld voller Verzweiflung und Ernüchterung. Sie bemerkte nicht einmal wie ihre Brüder zu ihr kamen, die Arme um sie legten und aus dem Haus trugen, um sie zu ihrem Vater zu bringen.
Ohne ein Wort zu verlieren, schleppte sie sich in ihr altes Zuhause – ihr altes Leben - das sie so hoffnungsvoll verlassen hatte und überließ es ihren Brüdern, dem Vater zu berichten, was vorgefallen war.
Es überraschte Marie noch Jahre später wie sie trotz des Schreckens, der sich in ihren Gliedern festgekrallt hatte, in dieser Nacht Schlaf gefunden haben konnte. Doch kann es nur ein Traum gewesen sein, als in der Dunkelheit ihres Zimmers plötzlich Johann auftauchte und neben ihrem Bett kniete.
Johann, der schöne Mann mit den sanften blauen Augen, die sie traurig anblickten.
Nicht die Bestie, die Marie hatte töten wollen.
Am nächsten Morgen machte sich das ganze Dorf auf, die Leichen aus dem Herrenhaus zu holen und dem Totengräber zu übergeben.
Ausgenommen die des Johann Bleu.
Die wollte man verbrennen, bis selbst die Knochen zu Asche zerfallen waren, so hatte Ludwig es festgelegt.
Marie jedoch verließ ihr Zimmer nicht und wäre wohl nie wieder heraus gekommen, wäre nicht ein markerschütternder Schrei durch das gesamte Dorf gepeitscht, der sie hatte hochschrecken lassen.
„Er ist fort“, hörte sie eine aufgeregte Stimme von draußen kreischen und sie sprang sogleich aus ihrem Bett und eilte auf die Straße. Es war der Ölmüller Holzmann, der vom Herrenhaus ins Dorf gerannt kam. „Der Teufel ist fort. Seine Leiche liegt nicht mehr dort.“
Das Grauen der vergangen Nacht bäumte sich wieder auf und Marie schnappte erschrocken nach Luft. An jeder Ecke schäumte Panik auf, hatten doch mittlerweile alle erfahren, was in der Nacht zuvor vorgefallen war. Es war mühsam für Ludwig, sich Gehör zu verschaffen, als er vor dem Gasthaus zum Hirsch stand und berichten wollte.
Johanns Bleu, so erklärte er schließlich, obwohl mit einem Beil erschlagen, sei verschwunden. Seine Leiche war fort, ohne Spur, ohne Hinweis.
Das ganze Dorf beschloss ihn zu jagen, laut und jähzornig forderten sie seinen Kopf und sein Leben.
Doch die Wochen vergingen ohne dass Bleu gefunden wurde, weder am Tage noch in der Dunkelheit fand man auch nur die geringste Spur von ihm. Die Angst war zum stetigen Begleiter geworden, keine Frau und kein Kind verließ mehr das Haus, es sei denn ein Mann stand zur Begleitung zur Seite.
Als schließlich der erste Schnee fiel, brannten sie das Herrenhaus nieder, als hofften sie so den Teufel doch noch besiegen zu können. Eine grimmige Genugtuung war den Männern anzusehen, während sie unaufhörlich brennende Fackeln auf das Haus schmissen, selbst als es bereits lichterloh in Flammen stand.
Obwohl es sie schmerzte stellte sich Marie in die Kälte und starrte in die Flammen, die zwar das Haus langsam verschlungen, doch leider nicht die grausamen Erinnerungen mitnehmen konnten.
„Was ist denn hier passiert?“, fragte plötzlich eine gut gelaunte Stimme neben ihr und Marie fuhr in sich zusammen, war sie doch vollkommen in Gedanken gewesen.
Ein Fremder hatte sich neben sie gestellt, gekleidet in einem langen grauen Wollmantel, kurzen unordentlichen Haaren und einem krausen Vollbart, der ihn älter erscheinen ließ, als er war.
Seine freundlichen Augen sahen sie neugierig an und zögernd begann Marie ihm die grausame Geschichte des Johann Bleu zu erzählen.
Als sie am schrecklichen Ende angekommen war, nickte der Fremde zu ihrer Verwunderung nur.
„Ein Blaubart“, stellte er fest und wirkte beinahe vergnügt. „Die Hinweise sind zahllos, junges Fräulein. Selbstironisch, ja beinahe zynisch war er überdies. Sein Name als Beispiel. Bleu, wie das französische Wort für Blau. Ein herrlicher Scherz, wenn man makabere Ironie denn mag. Und das Gemälde an der Wand, so möchte ich doch meinen, zeigte ganz sicher den französischen Mörder Gilles du Rais. Ein Kampfgefährte der Jeanne d’Arc, gar keine Frage, aber gemeinhin eher bekannt für die über hundert Knaben, die er Zeit seines Lebens abgeschlachtet hat. Ich würde es ja überprüfen, aber ich fürchte, der Beweis liegt brennend vor uns.“ Er sah ins Feuer und machte eine verdrießliche Schnute, die sich sogleich wieder erhellte. „Nun, ich denke Sie können sich damit trösten, dass er wohl wirklich etwas für Sie übrig hatte, junges Fräulein, sonst hätte er sie nicht erst geheiratet, bevor er sie zu erdolchen gedachte. Blaubärte, so müssen Sie wissen, sind seltene Wesen, meist alte Männer, grässlich und blaubärtig, die das Morden als eine Pflicht ansehen, ohne die sie vor Ruhelosigkeit verenden und dem Wahnsinn verfallen.“
Marie starrte den Fremden ungläubig an und fragte schließlich, wer er denn sei, dass er das alles wusste.
„Grimm, mein Name“, erklärte er heiter, zog den Handschuh aus und bot Marie die Hand. „Jacob Grimm aus Hanau, jedoch gerade auf der Durchreise. Mein Bruder und ich sind auf dem Weg nach Frankreich. Zumindest wenn die sturen Franzosen uns endlich auf die Fähre ließen. Mein Bruder und ich schreiben Märchen, müssen Sie wissen und natürlich kenne ich auch das Märchen vom Blaubart.“
Marie hielt den jungen Mann für einen verwirrten Träumer, dass er eine Geschichte über einen Blaubart für ein Märchen halten konnte und das sagte sie ihm auch unverblümt.
Jacob Grimms Heiterkeit tat dich jedoch keinen Abbruch. Er zog sich den Handschuh wieder über und lächelte amüsiert. „Die wenigstens Märchen sind schön, junges Fräulein. Die allermeisten sind grausam und schmerzhaft. Und meist sind es die Monster, die es in Wirklichkeit gibt, viel seltener aber die Prinzen.“
Damit empfahl er sich und ging mit leichten Schritten wieder davon.
Johann Bleu wurde nie wieder gesehen und in dem kleinen Fischerdorf am Rhein geriet seine Geschichte in Vergessenheit, lebten die Menschen doch besser ohne die Erinnerung an dieses Monster. Seine Taten überlebten lebten lediglich in grausigen Horrormärchen am Lagerfeuer weiter, zu oft erzählt um noch etwas mit dem wahren Grauen gemeinsam zu haben.
Bedauerlich.
Sonst hätte Lisa vielleicht nicht ganz so sorglos gelächelt, als rund zweihundert Jahre später ein hochgewachsener junger Mann mit sonderbaren blauen Ziegenbart in das Gasthaus zum Hirsch trat und sie zu einem Glas Wein einlud.
Texte: E.J. Waldau
Bildmaterialien: Bookrix
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2014
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