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KRIEG UND ÜBERLEBEN

Der Wind blies ihr den Schnee mitten ins Gesicht. Sie versuchte durch den Schneesturm die Richtung zu sehen. Ihr Atem ging schwer, denn sie musste den Schlitten mit den beiden Kindern ziehen. Dazu hatte sie auch noch den schweren Rucksack auf dem Rücken, in dem sie ihr ganzes Hab und Gut verstaut hatte. Sie kniff die Augen zusammen und stapfte langsam vorwärts, immer in Richtung Bahnhof. Ihre Wangen waren schon blau vor Kälte, und wenn sie die Lippen bewegen wollte, spürte sie sie fast nicht mehr. Auf ihrer Mütze sammelten sich die Schneeflocken, bevor sie wieder vom Wind weggefegt wurden. Der Mantel, der ihr bis über die Knie reichte, beschützte sie einigermaßen vor dem eisigen Wind, und auch die Stiefel und Handschuhe, die sie anhatte, hielten sie warm. Durch die Anstrengung, die sie machen musste, um den Schlitten vorwärts zu ziehen, wurde ihr aber nicht kalt. Zum Glück war es noch nicht ganz dunkel, sonst hätte sie den Weg sicher nicht so einfach gefunden. Noch sah sie die Straße vor sich, aber in manchen Häusern wurde schon das Licht angemacht, und wenn sie den Kopf hob, sah sie durch die dichten Schneeflocken hindurch die kleinen Lichter aufblitzen. Sie wusste, sie musste sich beeilen. Sie musste den Bahnhof erreichen, bevor die Dunkelheit einen undurchdringlichen Mantel über die ganze Stadt legte. Es beruhigte sie, dass die Kinder im Schlitten warm in Felle eingepackt waren. Sie saßen fast aufeinander und konnten sich so gegenseitig wärmen. Die Fellmützen hatte sie ihnen ganz tief ins Gesicht gezogen, so dass sie fast nichts mehr sehen, aber doch noch atmen konnten. Vielleicht waren sie da hinter ihr auch schon eingeschlafen. Umso besser, dann kam sie schneller voran und musste nicht anhalten um nachzusehen, ob alles mit ihnen in Ordnung war. Sie spürte, wie ihre Kräfte nachließen, wie ihre Handflächen und Finger wund wurden. Aber die Hoffnung, Richard nochmal zu sehen und ihre Kinder im Bahnhof in Sicherheit zu wissen, gab ihr Kraft, sich weiter durch den Schnee zu kämpfen. 

Jetzt tauchten auch schon die dunklen Schatten der Gebäude auf. Es konnte nicht mehr weit sein. Da sah sie auch schon die ersten Soldaten. Sie wusste, sie hatte alle Papiere bei sich, und das gab ihr Sicherheit. Richard hatte an alles gedacht und ihr rechtzeitig die Dinge besorgt, die sie für die Reise brauchte. Es konnte ihr eigentlich nichts passieren. Sie hatte Angst gehabt, belästigt zu werden, als sie in der Abenddämmerung so alleine mit den Kindern unterwegs war, aber jetzt waren die Soldaten, die ihr auf dem Weg begegnet waren, viel zu sehr damit beschäftigt, sich in dem Schneesturm zurechtzufinden, als dass sie sie beachtet hätten. Sie war sehr froh darüber, denn man konnte ja nie wissen, was den Soldaten so alles einfiel, wenn es ihnen langweilig war.
Endlich hatte sie den Bahnhof erreicht. Sie atmete erleichtert auf. Das war überstanden. Sie hatte noch einen weiten Weg vor sich, aber jetzt konnte sie sich erst einmal ausruhen. Das Bahnhofsgebäude war nur schwach beleuchtet. Man wollte wahrscheinlich den Flugzeugen, falls welche über die Stadt hinweg fliegen sollten, keine Angriffsmöglichkeit geben. Über dem Eingang waren zwei Schilder, auf denen sie „Kriwoi Rog“ in ukrainischer und in deutscher Sprache lesen konnte. Unter dem Vordach der Bahnhofstüre standen zwei Soldaten mit geschulterten Gewehren. Obwohl sie sich vor dem Schneesturm versteckten, waren ihre schweren Mäntel weiß vom Schnee. Die Mützen hatten sie tief in die Stirn gezogen und die Ohrenklappen heruntergeklappt. Sie stand abwartend da, aber als die beiden sich nicht bewegten, sondern sie nur misstrauisch von oben bis unten betrachteten, ging sie zu ihnen hin.
„Papiere“, konnte sie durch das Heulen des Sturmes hören. Sie holte aus der Manteltasche die Papiere hervor und gab sie dem einen Soldaten. Während er die verschiedenen Papiere genau studierte, konnte sie sehen, dass er noch ganz jung war, ein Kind fast noch. Auch der andere, der neben ihm stand und immer wieder von einem Fuß auf den anderen trat, um sich warm zu halten, hatte die Gesichtszüge eines Jungen.
„Mein Gott“, dachte sie, „wohin hat euch der Krieg verschlagen? Ihr solltet doch noch in die Schule gehen.“
Der Soldat, der ihre Papiere überprüft hatte, sah ihr jetzt ins Gesicht und sie merkte, dass er sich überlegte, ob sie das wirklich war auf dem Foto. Einen Augenblick lang setzte ihr Herzschlag aus, und es überfiel sie eine Welle von Angst.
„Und das sind die Kinder?“, fragte er schließlich und sah zum Schlitten hin. Sie verstand nur wenig Deutsch, aber durch den Blick war ihr klar, was er meinte. Sie nickte.
Er sah sie noch einmal an und sagte dann: „In Ordnung. Sie können rein.“
Es dauerte eine Weile, bis sie die Kinder aus den Fellen geschält und alles in den übervollen Rucksack gestopft hatte. Den Schlitten ließ sie auf der Seite stehen, sie würde ihn nicht mehr brauchen. Dann betrat sie, ein Kind auf dem Arm und das andere an der Hand, die Bahnhofshalle. Es war düster in der Halle, nur ein paar Lampen leuchteten an den kahlen Wänden und es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten. Auch hier war es kalt, aber man war wenigstens geschützt vor dem Schneesturm. Es roch nach alten Kleidungsstücken, die sich mit Feuchtigkeit vollgesogen hatten. Die Halle war groß und hoch, und über den Türen, die zum Bahnsteig führten, hing eine große Uhr. Sie kannte den Bahnhof von früher, hier war sie vor mehr als einem Jahr angekommen. Aber so im Dämmerlicht sah er ganz anders aus. Bänke waren keine mehr da, wahrscheinlich hatte man die zum Heizen benutzt. Es waren noch nicht allzu viele Menschen in der Halle, und es herrschte eine ganz eigenartige Ruhe. Man hörte nur Gemurmel. Ab und zu nieste jemand oder lachte laut auf, und das war dann so, als ob diese Ruhe gestört worden war. Es würden sich aber bald noch mehr Menschen einfinden, die das gleiche Ziel hatten wie sie, und es würde eng werden. Sie musste sich mit den Kindern einen Platz suchen, an dem es nicht zog, also nicht zu nahe bei einer der Türen, durch die immer, wenn jemand hereinkam, eine Ladung Schnee mit hereingefegt wurde. Richard hatte ihr geraten, sie solle sich so früh wie möglich mit den Kindern auf den Weg machen, denn er wusste, wie es im Bahnhof zugehen würde.

Es war Februar 1943, und es war Krieg. In der Ukraine, die von den Deutschen vollständig besetzt worden war, war es noch verhältnismäßig ruhig. Aber im Osten hielten die Kämpfe unvermindert an. In Stalingrad waren die deutschen Truppen eingekesselt worden und es war abzusehen, dass sie sich nicht mehr lange halten konnten. Die Deutschen waren dabei, sich auch aus dem Kaukasus zurückzuziehen, denn die sowjetischen Truppen eroberten langsam aber sicher die Gebiete zurück, die von den Deutschen eingenommen worden waren. Es war zu erwarten, dass die Russen auch bald die Gebiete in der Ukraine erreichen würden. Flüchtlingsströme hatten sich in Bewegung gesetzt, und viele Menschen versuchten Russland und die Ukraine zu verlassen. So sammelten die Menschen sich auf den Bahnhöfen, um noch einen Zug zu erreichen, der sie nach Westen bringen würde.

Sie sah, dass eine Ecke ganz hinten im Bahnhof noch nicht belegt war, und war froh, dass sie so früh gekommen war. Sie steuerte auf diese Ecke zu und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass auch ein älteres Ehepaar diese Ecke entdeckt hatte. Mit den Kindern und dem schweren Rucksack stolperte sie vorwärts, aber zu spät, die anderen waren vor ihr da. Sie blieb stehen und schaute umher. Da winkte ihr das Paar, das die Ecke vor ihr erreicht hatte. Sie ging näher, und die Frau sagte: „Hier ist doch Platz für Sie auch!“, und deutete auf den Boden. Ja, es reichte auch für sie. Sie wollte nicht zeigen, dass sie kein Deutsch verstand, und nickte nur und lächelte die beiden dankbar an. Dann zog sie die Felle aus dem Rucksack, legte sie auf den Boden, so dass diese ihre Kinder und sie vor der Kälte schützen würden und machte ein richtiges, kleines Nest, in das sie sich einkuscheln konnten. Sie setzte sich hin und zog ihre beiden Kinder zu sich heran. Jetzt konnten sie sich hier ein bisschen ausruhen. Es würde sicher noch einige Stunden dauern, vielleicht sogar die ganze Nacht, bis von irgendwoher der Zug kommen musste, der sie von hier wegbringen würde. Hier konnte sie auf Richard warten, denn sie hoffte, dass er kommen würde, um sich von ihr zu verabschieden. Er hatte es ihr versprochen! So saß sie also da mit ihren beiden Kindern im Arm. In Gedanken ging sie zurück zum Sommer des Jahres 1941 zu den schicksalhaften Tagen, als sie noch in Moskau war bei ihren Eltern.

 

„Milotschka, du musst weg von hier. Es gibt keine andere Lösung.“ Mila sah ihre Mutter mit leeren Augen an. Sie wusste, dass ihre Mutter Recht hatte, aber sie wollte ihre Eltern nicht verlassen. Sie hatte Angst vor dem, was auf sie zukommen würde, wenn sie alleine wäre, alleine mit ihren Kindern.
„Die Deutschen stehen vor Moskau und wenn sie die Stadt einnehmen, wer weiß, was dann mit uns passiert.“
Auch darüber war sie sich klar. Man hörte ja schlimme Sachen über die deutschen Soldaten, die Frauen vergewaltigten und verschleppten.
„Du weißt, du hast zwei Kinder, für die du sorgen musst. Du musst es für die Kinder tun.“ Mila hatte Tränen in den Augen. Die Front war schon so nahe, dass es jeden Tag zum Angriff kommen konnte. Sie musste die Kinder vorher in Sicherheit bringen.
Mila war jetzt fast 30 Jahre alt. Sie war eine schöne Frau mit regelmäßigen Zügen und dunkelblonden gewellten Haaren. Das war gerade die Mode, und diese Frisur stand ihr besonders gut. Sie hatte einen jugendlich frischen Teint, und ihre Augen hatten einen ganz eigentümlichen, strahlenden Glanz, der die Menschen um sie herum im Innern berührte. Durch die zwei Geburten hatte sie etwas an Umfang zugelegt, aber sie war noch immer attraktiv.

 Die Arbeit bei der Eisenbahn hatte Milas Vater vor vielen Jahren, noch vor ihrer Geburt, dazu gebracht, das elterliche Gut bei Dünaburg in Lettland zu verlassen und mit der ganzen Familie nach Moskau zu ziehen. Da ihr Vater gut verdiente, wurden sie nach russischem Standard eine wohlhabende Familie. Es ging ihnen gut. 

Mila war in der Familie als das jüngste von 6 Kindern aufgewachsen und war von ihren Eltern immer verwöhnt worden. Ja, sie wusste, sie war das verwöhnte Nesthäkchen, dem alle Wünsche von den Augen abgelesen worden waren. Die Schule hatte sie ohne Schwierigkeiten gemeistert. Danach hatte sie Chemie studiert und eine Zeitlang in Perm in Sibirien als Chemikerin gearbeitet. Dort hatte sie ihren Mann Wassili kennengelernt, der aus der Ukraine stammte. Sie hatten geheiratet, waren dann zusammen nach Moskau gezogen und wohnten nun bei Milas Eltern. Milas Geschwister waren sehr viel älter als sie und bis auf eine Schwester und einen Bruder alle verheiratet und von zu Hause ausgezogen. Das Haus der Eltern war groß, und so hatten ihr Mann und sie beschlossen, bei ihnen wohnen zu bleiben, zumal die Wohnsituation in Moskau zu der Zeit nicht gerade einfach war. Es war ein schönes, großes Holzhaus mit vielen Zimmern in einem Vorort. Eine der Schwestern war mit einem hohen, kommunistischen Militärangehörigen verheiratet und hatte Mila und Wassili angeboten, dass sie zu ihnen ziehen sollten. Aber das hatten sowohl Mila, als auch ihr Mann abgelehnt. Bei den Eltern hatten sie es bequemer. Da konnten sie sich sogar eine Kinderfrau leisten, als die Kinder dann auf der Welt waren. Mila hatte sich die Kinderfrau selbst ausgesucht, eine etwas ältere, arme Frau aus einem Dorf in der Nähe von Moskau. Mila mochte sie, und die Frau war ihr dankbar, dass sie eine Stellung gefunden hatte und ihrer Familie regelmäßig Geld schicken konnte. So konnte Mila wieder arbeiten gehen, auch als die Kinder noch klein waren. Eine fröhliche, junge Frau war sie gewesen, bis zu dem Tag, an dem sich ihr Leben so radikal verändert hatte.

„Ich habe Hunger“, hörte Mila das leise Stimmchen ihrer Tochter und sie unterbrach ihre Gedanken. Sie holte den Beutel, in dem sie Essen und Trinken verstaut hatte, aus ihrem Rucksack. Daraus zog sie jetzt ein großes Butterbrot hervor, das sie unter den beiden Kindern aufteilte. Sie hatte sogar noch einen warmen Tee, von dem sie sich selbst auch einen Schluck genehmigte. Sie wollte das Essen und Trinken aber für ihre Kinder aufbewahren. Sie hatten ja noch eine lange Reise vor sich, und wer weiß, wo sie unterwegs etwas zu Essen bekamen.

 

Wieder gingen ihre Gedanken zurück. Ihre Mutter hatte Recht, sie würde Moskau verlassen und in die Ukraine fahren zu ihren Schwiegereltern. Ihr Mann Wassili war irgendwo im Krieg an der Front. Sie hatte lange nichts mehr von ihm gehört. Aber das war eigentlich gut so, denn das hieß, dass er am Leben war. Wenn man von den Männern hörte, dann waren sie entweder verwundet oder tot.
Die letzten zwei Wochen vor ihrer Abreise waren voller Hektik. Es musste noch so viel organisiert werden und die ganze Familie, ihre Schwestern, ihre Brüder und die Eltern halfen mit. Mila hatte bei den Schwiegereltern angefragt, ob sie denn überhaupt willkommen war mit den Kindern, und hatte eine positive Antwort bekommen. Sie würde auch Ausweispapiere brauchen. Ihr Schwager hatte bei den höchsten Stellen interveniert und alles bekommen, was sie benötigte. Zusätzlich hatte er ihr auch noch die letzten Plätze im Zug reservieren lassen.
„Du wirst sie brauchen können“, meinte er, „es werden viele Menschen unterwegs sein.“
Sie war froh, dass ihr Schwager so ein hohes Amt bekleidete und dass seine Beziehungen so weit reichten.
Dann sah sie sich ihren Rucksack packen. Sie konnte nur das Notwendigste mitnehmen, ein paar Kleidungsstücke für sich, Kleider für die Kinder. Den Rest würde sie sich bei den Schwiegereltern besorgen müssen. Sie hatte die Schwiegereltern nur einmal bei der Hochzeit getroffen. Sie waren alt, und der Weg von Kriwoi Rog nach Moskau war zu weit für weitere Besuche. Mila hatte Angst vor dem, was sie da erwartete. Was, wenn sie sich mit ihnen nicht verstand? Was, wenn die Deutschen Moskau einnehmen würden und sie ihre Familie nie mehr wiedersehen würde? Sie wollte gar nicht darüber nachdenken.
Und dann war es soweit. Die Stunde des Abschieds war gekommen. Einer der Brüder und ihre Mutter würden sie zum Zug bringen. Alle anderen wollten sich zu Hause von ihr verabschieden, auch ihr Vater. Er war krank und konnte sie nicht zum Bahnhof begleiten. Lange hielt er Mila in den Armen und streichelte ihr über die Haare. Alle weinten, umarmten sich gegenseitig, küssten sich immer wieder. Sie wussten, dass sie sich jetzt eine lange Zeit nicht sehen würden, oder dass es vielleicht das letzte Mal war, dass sie sich sahen. Die Zukunft war ja in diesen Zeiten so ungewiss. Auch Milas Kinder wurden von allen noch einmal geküsst und geherzt. Sie liefen durch das Haus und lachten und freuten sich. Alles war so aufregend für sie. Die beiden waren ja noch klein und konnten nicht ahnen, was das Schicksal für sie bereithielt.
Jetzt standen ihr Bruder und ihre Mutter mit ihr am Bahnhof. Es war zwar noch Sommer, aber der war in diesem Jahr besonders kühl, so dass Mila sich und die Kinder warm angezogen hatte. Auf dem Bahnsteig drängten sich schon viele Leute, und als Mila sah, wie viele das gleiche Ziel hatten, nämlich sich in diesen Zug zu setzen, war sie ihrem Schwager sehr dankbar für die Platzreservierung. Sie alle wollten Moskau verlassen, solange es noch möglich war. Es herrschte ein Stimmengewirr, die Menschen liefen mit ihren Gepäckstücken auf dem Bahnsteig herum. Die einen wollten möglichst vorne in den Zug einsteigen, die anderen hinten. Schon fuhr der Zug ein, ein fauchendes Ungeheuer, und mit lautem Kreischen der Bremsen kam er zum Stillstand. Rauch erfüllte den ganzen Bahnsteig und alle stürzten zu den Waggontüren. Taschen, Koffer, Kinder, Männer, Frauen, alles wurde irgendwie durch die Türen geschoben. Mila hatte mit Hilfe ihres Bruders ihre Plätze gefunden, und ihr Gepäck war schnell verstaut. Jetzt mussten sie sich verabschieden, denn der Zug würde bald abfahren. Letzte Küsse, Tränen, Umarmungen! Sie hielt ihre Mutter fest und wollte sie nicht mehr loslassen. Doch schon ertönten die Pfiffe, die anzeigten, dass der Zug sich in Bewegung setzen würde. Noch ein letztes Winken aus dem Zugfenster und schon verschwand der Bahnsteig aus dem Blickfeld. Mila musste nun alleine zurechtkommen. Aber sie hatte ja ihre Kinder und die gaben ihr Kraft.
Sie rollte einem ungewissen Schicksal entgegen. Die Reise würde jetzt, in den Kriegszeiten, einige Tage dauern, darauf hatte sie sich eingestellt. Soweit sie gehört hatte, hatten die Deutschen die Stadt Kriwoi Rog, in der ihre Schwiegereltern lebten, noch nicht eingenommen. Sie waren alteingesessene Ukrainer, die zwar die Russen nicht besonders mochten, aber die Deutschen noch weniger. Die Eltern ihres Mannes waren damals mit der Heirat nicht einverstanden gewesen. Es war so, dass in jenen Jahren im russischen Pass die Nationalität der Person stand, die diesen Pass besaß. Und bei Mila stand als Nationalität: deutsch. Mila fühlte sich nicht als Deutsche, sie sprach kein Wort Deutsch. Sie fühlte sich als Russin und war Russin. Aber als ihre Eltern, damals aus Dünaburg kommend, den russischen Pass beantragt hatten, mussten sie ihre Nationalität angeben. Und da ihre Vorfahren irgendwann einmal aus Deutschland gekommen waren, schrieben sie „deutsch“, als nach der Nationalität gefragt wurde. In der Familie hatte man kaum über dieses Thema gesprochen, es war niemandem wichtig. Erst jetzt, durch den Krieg, bekam dieser Eintrag im Pass eine folgenschwere Bedeutung. Für ihre Schwiegereltern war es ein Makel, dass ihr einziger geliebter Sohn eine „Deutsche“ geheiratet hatte. Konnte er sich denn nicht ein gescheites ukrainisches Mädel aussuchen? Nein, ausgerechnet diese „Deutsche“ oder was immer sie war, musste es sein!
Der Zug ratterte auf den Schienen entlang, und die Kinder saßen aufgeregt am Fenster und schauten hinaus.
„Schau, Mama, da!“, und „da!“, und „da!“ Die Kinder verlangten jetzt Milas ganze Aufmerksamkeit. Sie deuteten auf die Menschen, die Tiere und alles, was sich an ihnen vorbeibewegte. Mila betrachtete liebevoll ihre Kinder. Tanja, die Tochter, war jetzt zweieinhalb Jahre alt und ein kleiner gelockter Wirbelwind, der nie müde wurde. Neben ihr saß ihr kleiner Sohn Juri, der vor Kurzem ein Jahr geworden war. Er war ein stiller, lieber Junge, der seine große Schwester über alles liebte.
„Mama, ich habe Hunger.“ - „Mama, Durst.“ - „Mama, ich muss mal.“ So ging es die ganze Zeit. Schließlich aber beruhigten sie sich. Sie wurden müde und Mila konnte sie zusammen auf einen Sitz hinlegen, wo sie dann nach einer Weile einschliefen. Es kehrte Ruhe ein in das Abteil, das voll besetzt war. Nicht alle Taschen hatten in den Gepäcknetzen Platz gefunden, so dass einige Bündel auf dem Boden lagen. Mila hatte glücklicherweise zwei Plätze, so dass sie die Kinder nicht ständig auf dem Schoß halten musste. Sie atmete aus, jetzt hatte sie ein bisschen Zeit für sich und sah sich ihre Mitreisenden genauer an. Auf dem Platz neben den Kindern saß eine alte Babuschka. Unter dem bunten Kopftuch lugten graue Haare hervor, und in ihrem runden, weichen Gesicht sahen gütige Augen wohlwollend auf die schlafenden Kinder. Sie war in ein braungraues, warmes Wolltuch gehüllt, das sie sich um den Oberkörper gebunden hatte. Babuschka nickte ihr freundlich zu. Mila gegenüber saß ein etwa fünfzigjähriger Mann, der jetzt, da die Kinder eingeschlafen waren, den Kopf an das Fenster gelehnt hatte und auch versuchte, etwas Schlaf zu finden. Auf den zwei Plätzen neben ihm saß eine Mutter mit ihrem etwa vierzehnjährigen Sohn. Die Mutter sprach leise auf ihren Sohn ein, der aufmerksam zuhörte und sie immer wieder mit kurzen Fragen unterbrach. Sie redeten aber so leise, dass nur Gemurmel zu hören war. Es war stickig in dem Abteil, es roch nach menschlichen Ausdünstungen, aber Mila wagte nicht zu fragen, ob sie die Tür oder gar das Fenster öffnen könnte. Sie beschloss, sich bei der Aufsichtshabenden des Waggons einen Tee zu holen.
„Ich würde gerne einen Tee trinken“, sagte sie zur Babuschka. „Könnten Sie kurz auf die Kinder aufpassen? Ich gehe nur mal nach vorn zur Dseschurnaja. Soll ich Ihnen einen Tee mitbringen?“
Mit der Aufsichtshabenden eines Waggons, einer Dseschurnaja - das war gewöhnlicherweise eine ältere, resolute Frau - musste man sich gut stellen, denn sie war die Herrin über den Samowar, der bei ihr im Abteil am Ende des Waggons stand. Dort bekam man heißen Tee und konnte manchmal auch eine Kleinigkeit zu essen kaufen. Außerdem konnte man sich mit ihr unterhalten, wenn einem langweilig war. Sie wusste viel zu erzählen über die Fahrten, die sie gemacht hatte und über die Menschen, die sie da getroffen hatte.
So fuhren sie Stunde um Stunde. Mit den Kindern wurde es Mila nicht langweilig, sie hatten, wenn sie nicht schliefen, ständig etwas zu tun, waren immer im Abteil unterwegs und hielten auch ihre Mitfahrer auf Trapp. Babuschka kümmerte sich rührend um sie. Mila erfuhr, dass sie selbst auch Enkel hatte und jetzt zu ihnen unterwegs war. Sie würde ebenfalls bis Kriwoi Rog fahren, und Mila war sehr froh, dass sie in ihr Hilfe und Unterstützung gefunden hatte. An den verschiedenen Bahnhöfen stiegen immer wieder Leute ein und aus, und jeder, der zustieg, hatte Neues vom Krieg zu berichten. In der Nacht konnte Mila kaum schlafen. Immer wieder blieb der Zug stehen, und Mila hörte dann Flugzeuge über sie hinweg donnern. Das Quietschen der Bremsen, das Gerüttel und Geschüttel, es war wirklich schwer, bei einer solchen Fahrt Schlaf zu finden. Die Kinder waren da weniger anspruchsvoll und schliefen ruhig und fest. Irgendwie gelang es Mila aber doch einzunicken. Sie hatte wohl ein paar Stunden geschlafen, erwachte dann aber plötzlich mit einem Ruck. Sie lugte aus dem Fenster, konnte aber nichts sehen, da es noch dunkel war. Der Zug stand, wie lange wohl schon? Und da hörte sie es, in der Ferne war Geschützdonner. Alle im Abteil waren jetzt aufgewacht, nur die Kinder schliefen zum Glück noch. Alle lauschten, ja, es war Kriegslärm, der nun zu ihnen drang. Sie sahen sich gegenseitig an, und jeder wusste, was der andere dachte: „Hoffentlich kommt es nicht näher.“
Die Zeit zog sich dahin, sie standen jetzt schon mehrere Stunden und alle waren wie gelähmt. Sogar die Kinder, die inzwischen aufgewacht waren, spürten, dass etwas nicht in Ordnung war und verhielten sich ganz leise.
Plötzlich aber, ganz langsam, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Ein Aufatmen ging durch das Abteil und dann brach im Zug ein Lärm aus, der wohl in der ganzen Weite der Landschaft widerhallte. Aus allen Abteilen kamen die Leute auf den Gang und diskutierten lautstark, was wohl der Grund für den langen Aufenthalt gewesen war. Mila stand jetzt auch mit den Kindern im Gang und sah die vorbeifliegende Landschaft. Es war inzwischen Morgen geworden. Leute, die auf den Feldern arbeiteten, winkten dem Zug zu.
Ein älterer Mann gesellte sich zu Mila. „Das waren sicher die Deutschen. Sie haben jetzt die ganze Ukraine eingenommen.“
Mila erschrak. „Sagen Sie doch nicht so was.“
„Als ich eingestiegen bin, waren sie schon nicht mehr allzu weit weg. Sie werden schon sehen.“
Nein, das konnte nicht sein. Kriwoi Rog, da, wo sie hinwollte, war noch russisch. Da war sie sich sicher. Die Deutschen konnten nicht bis dahin gekommen sein. Aber in ihrem Innern blieb die Angst und die verließ sie nicht mehr.
   Zwei Tage waren sie nun schon unterwegs. Sie würden hoffentlich bald ankommen. Mila fühlte schon eine Vorfreude, dass die Fahrt endlich ein Ende haben würde. Doch plötzlich blieben sie wieder mitten auf der Strecke stehen. Man hörte Stimmen, Schreien, Pferdegewieher. Durch die Gänge des Zuges liefen Männer mit Gewehren und schrien irgendetwas von Bahnhof und Deutsche. Mila verstand nicht genau, was sie da von sich gaben, aber sie sah, dass einige Männer aus dem Zug stürzten und zu den Männern liefen, die draußen mit ihren Pferden standen. Diese gestikulierten wild und deuteten immer wieder in die Richtung, in die der Zug fahren sollte. Endlich gaben die Männer dem Lokführer ein Zeichen, und der Zug rollte wieder langsam an. Es wurde ganz still im Abteil. Während der Weiterfahrt war im ganzen Zug kaum ein Wort zu hören. Es hatte sich eine bleierne Stille über die Menschen gelegt. So ruckelte der Zug langsam dahin. Die ersten Häuser wurden sichtbar, man überquerte einen Fluss, und dann liefen sie auch schon im Bahnhof ein. Mit quietschenden Bremsen hielt der Zug an. Plötzlich war draußen Geschrei, man hörte Schüsse. Mila schaute aus dem Fenster und vor Schreck schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie sah das, was sie nicht geglaubt hatte oder was sie nicht hatte glauben wollen. Es wimmelte auf dem Bahnhof von deutschen Soldaten. Ganz still setzte sie sich auf ihren Platz zurück und nahm die Kinder auf den Schoß. So blieb sie eine Weile sitzen. Sie musste erst wieder zu sich kommen.
Jetzt verstand sie auch, warum der Zug vorhin angehalten hatte. Es waren wahrscheinlich Partisanen gewesen, die die Männer im Zug vor den Deutschen gewarnt hatten. Die wären sicher sofort verhaftet worden, wenn sie im Zug geblieben wären. Deshalb waren diese Männer ausgestiegen und nicht wieder zurückgekommen.
Von draußen her drang Lärm zu ihr und im ganzen Zug hatte eine rege Geschäftigkeit eingesetzt. Auch Mila packte jetzt ihren Rucksack und ihre Tasche. Die Kinder saßen immer noch verschreckt aneinandergedrängt auf ihren Plätzen. Im Abteil sagte niemand ein Wort. Babuschka hatte sich inzwischen ebenfalls von dem Schrecken erholt und packte ihre Sachen ein. Sie stiegen zusammen aus. Mila hielt Juri auf dem Arm und Babuschka hatte Tanja an der Hand. Sie mussten sich in eine lange Schlange einreihen, die sich auf dem Bahnsteig vor dem Bahnhofsgebäude gebildet hatte. Langsam ging es voran. Es wimmelte von bewaffneten Soldaten, die mit ihren Hunden entlang der Bahngleise patrouillierten. Innerhalb des Bahnhofgebäudes hatten die Deutschen Tische aufgebaut, wo man seine Ausweispapiere vorzeigen musste. Jetzt waren sie an der Reihe. Mila zog ihre Papiere aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Der Soldat überflog sie, dann hellte sich sein Gesicht auf.
„Sie sind ja Deutsche“, sagte er zu ihr.
Als er sah, dass Mila nicht reagierte, wandte er sich an den Dolmetscher, der neben ihm saß. „Sie sind Deutsche?“, wiederholte der.
„Ich habe die deutsche Nationalität“, erklärte Mila, „und die Kinder auch“, fügte sie hinzu.
Er sah Babuschka an. „Gehören Sie zusammen?“
„Nein!“, sagte Babuschka und legte nun ebenfalls ihre Papiere auf den Tisch. Der deutsche Soldat studierte lange beide Unterlagen. Er schien nichts daran auszusetzen zu haben.
„Gut, sie können gehen!“ Mila atmete erleichtert auf.
Sie nahm ihren Rucksack und ihre Kinder und verließ den Bahnhof. Babuschka folgte ihr. Vor dem Gebäude standen bewaffnete Soldaten, die eine Sperre errichtet hatten. Niemand konnte ungeprüft den Bahnhof betreten. Hinter dieser Sperre drängte sich eine Menge Menschen, die wohl alle auf jemanden warteten, der mit dem Zug angekommen war.
Da entdeckte Mila unter den Leuten ihre Schwägerin Olga. Sie hatten sich damals bei Milas Hochzeit kennengelernt und waren sich gleich sympathisch gewesen. Olga war etwas älter als Mila, hatte auch Kinder und war eine gutherzige warme Frau. Sie begrüßten sich herzlich, und Olga küsste sie und die Kinder immer wieder. Inzwischen hatte auch Babuschka ihre Tochter gefunden. Mila bedankte sich bei Babuschka für ihre Hilfe, und dann verabschiedeten sie sich, und auch die Kinder küssten und umarmten sie. Sie hatten die alte Frau, die sich so freundlich um sie gekümmert hatte, lieb gewonnen.
Olga hatte einen Leiterwagen mitgebracht, in dem die Kinder mitsamt dem Gepäck verstaut wurden, und dann gingen sie zu Milas neuem Heim bei ihren Schwiegereltern.
Überall auf den Straßen sah man Militär. Die deutschen Soldaten waren in Wägen und zu Fuß unterwegs, die Straßen und Plätze waren voller Menschen. Olga erzählte, dass die Deutschen erst vor kurzem die Stadt eingenommen hätten. Die russischen Truppen hatten sich aus Kriwoi Rog zurückgezogen, ohne dass viele Kämpfe stattgefunden hatten. Es war ziemlich unspektakulär vor sich gegangen – die Deutschen waren einfach eingezogen. Viele der Ukrainer hatten die Deutschen freundlich empfangen, denn für sie waren sie Befreier von den sowjetischen Unterdrückern. Aber Olgas Eltern waren entsetzt. Sie verabscheuten die Deutschen und jetzt hatten sie sie in der Stadt. Und das Schlimmste war, fügte Olga hinzu, ein deutscher Soldat war bei ihnen vor einigen Tagen einquartiert worden.
Milas Schwiegereltern hatten eine eigene Wohnung, und nachdem die Deutschen die Stadt besetzt hatten, wurde eines ihrer Zimmer requiriert. Zum Glück waren sie nicht ausquartiert worden, wie so manche Familie. Aber dieser Deutsche stand plötzlich vor der Tür und sagte, dass er bei ihnen wohnen müsse. Nun ja, die Eltern mussten sich natürlich fügen, was blieb ihnen denn anderes übrig. Aber glücklich waren sie nicht darüber. Zum Glück sprach dieser Deutsche, Richard hieß er übrigens, etwas Russisch, so dass man sich mit ihm einigermaßen unterhalten konnte. Jetzt wusste Mila ungefähr, was sie erwartete – nicht nur die Schwiegereltern, die sie nicht mochten, sondern auch noch ein deutscher Soldat.
Der Empfang bei den Schwiegereltern war dementsprechend relativ kühl. Jetzt kam diese „Deutsche“ auch noch zu ihnen und wollte bei ihnen wohnen. Gut, sie hatte Kinder mit ihrem Sohn. Wenigstens etwas! Deshalb hatten sie sich überhaupt bereit erklärt, sie aufzunehmen.
Die Schwiegereltern hatten, seitdem ihr Sohn Mila, eine „Deutsche“, geheiratet hatte, Angst um ihn gehabt. Deutsche und ihre Angehörigen waren in der Sowjetunion immer wieder als Spione und Volksfeinde verhaftet und verschleppt worden, vor allem seit der Krieg begonnen hatte. Und jetzt waren die Deutschen dabei, die Ukraine einzunehmen. Es war entsetzlich für sie.
Mila hatte schon geahnt, dass sie nicht herzlich empfangen werden würde, aber sie hatte sich nicht freiwillig zu ihren Schwiegereltern begeben. Sie hatte es für ihre Kinder getan. Wenigstens war da noch ihre Schwägerin, die zu ihr hielt. Die wohnte zwar nicht mehr bei den Eltern, aber sie würde sie sicher oft besuchen, denn sie wusste, wie ihre Eltern zu Mila standen.
Die Wohnung der Schwiegereltern lag in der Stadtmitte und bestand aus drei kleinen Zimmern, eines davon ein Durchgangszimmer. Mila wurde mit den Kindern in diesem Zimmer, das zugleich auch Wohnzimmer war, einquartiert. Das eine hintere Zimmer war das Reich der Schwiegereltern, und das andere hatten sie dem Deutschen überlassen müssen. Dann gab es noch einen kleinen Flur, ein kleines Bad und eine Küche. In diesen kleinen Wohnungen, die oft von Großeltern, Eltern und Kindern gleichzeitig bewohnt wurden, hatte man wenig Privatsphäre, man saß sozusagen aufeinander, was natürlich auch zu vielen Konflikten führte. Das Haus von Milas Eltern in Moskau war, verglichen damit, reiner Luxus gewesen, den sich zu der Zeit nicht sehr viele leisten konnten.
Mila packte ihre Sachen aus und richtete sich in dem Zimmer ein, so gut es ging. Sie würde mit den Kindern zusammen auf der Ausziehcouch schlafen, die tagsüber als Sofa diente. Wenn die Kinder am Tag schliefen, konnten sie vielleicht das Zimmer der Großeltern benutzen, denn sonst hätten sich alle Erwachsenen in dieser Zeit in der Küche aufhalten müssen, um die Kinder nicht zu stören. Sie brachte alle Sachen aus dem Rucksack im großen Schrank unter, der an der einen Wand stand. Die Kinder hatten es sich schon auf der Couch bequem gemacht. Sie waren erschöpft von der langen Reise, hatten aber noch Hunger. Die Schwiegermutter hatte ihnen etwas zubereitet und Mila war froh, dass sie wieder etwas Warmes in den Magen bekommen würden. Olga verabschiedete sich, sie musste nach Hause zu ihrer Familie.
Da saßen sie nun alle in der Küche um den kleinen Esstisch herum und Mila versuchte höflich, das Gespräch in Gang zu halten. Sie erzählte von ihren Eltern und von der Fahrt, aber sie hatte das Gefühl, dass das ihre Schwiegereltern nicht sonderlich interessierte.
Da hörten sie, wie die Haustüre aufgeschlossen wurde.
„Das ist er“, flüsterte die Schwiegermutter, und Mila erriet, dass das der deutsche Soldat sein musste, der hier bei ihnen einquartiert war.
Sie hörten die Schritte im Flur, und dann ging jemand an der Küchentür vorbei. Sie sahen nur seinen Schatten.
„Wer war das, Mama?“, fragte Tanja.
„Das war ein deutscher Soldat, der hier wohnt“, antwortete Mila.
„Ist der böse?“ Beide Kinder schauten sie verschreckt an. Sie hatten ja mitbekommen, dass irgendwas an diesen Soldaten nicht gut war.
„Nein, nein. Da braucht ihr keine Angst zu haben. Er tut uns nichts“, antwortete Mila und strich beiden über die Haare. „Kommt, esst jetzt, ihr müsst ins Bett.“
Endlich hatte sie die Kinder schlafen gelegt, und auch die Schwiegereltern hatten sich zurückgezogen. Jetzt konnte sie sich in den Sessel setzen, der am Fenster stand, und erst einmal tief durchatmen. Irgendwie würde sie sich mit den Schwiegereltern arrangieren müssen. Es blieb ihr ja nichts anderes übrig.
Da hörte sie hinter sich leise Schritte. „Entschuldigung, ich wollte Sie nicht stören. Ich heiße Richard Adler.“
Er sprach ganz leise, um die Kinder nicht aufzuwecken, und reichte ihr dabei die Hand. Sie nahm seine Hand und er drückte sie leicht. Sie konnte sein Gesicht nur im Umriss sehen, da im Zimmer nur ein kleines Licht brannte, um die Kinder beim Schlafen nicht zu stören.
„Ich gehe nur mal eben ins Bad“, fügte er hinzu. Er sprach ganz passabel russisch. Auf jeden Fall konnte man ihn gut verstehen.
Sie lehnte sich wieder in den Sessel zurück. Der Stimme nach zu urteilen war er noch jung und die Stimme klang nicht unsympathisch. Als er aus dem Bad kam, wünschte er ihr eine gute Nacht und verschwand in seinem Zimmer. Jetzt merkte Mila, wie müde sie war, und als sie sich zu den Kindern ins Bett legte, dauerte es keine Minute, bis sie eingeschlafen war.
Am nächsten Morgen wachte Mila auf, als Richard Adler auf Zehenspitzen durch das Wohnzimmer ging, um sie nicht aufzuwecken. Sie richtete sich auf und er nickte ihr zu. Bald darauf hörte sie, wie die Wohnungstür zufiel. Jetzt standen auch die Schwiegereltern auf und die Kinder erwachten ebenfalls. Es gab einiges zu tun heute.
Nach dem Frühstück holte Olga Mila und die Kinder ab, denn sie mussten sich bei der deutschen Kommandantur anmelden. Die Kinder sollten auch dabei sein, da jeder sich persönlich dort vorstellen musste. Olga hatte einen Kinderwagen mitgebracht, sie setzen die Kinder in den Wagen und gingen los. Olga führte Mila und die Kinder durch die Stadt, die wieder voller Menschen war. Autos und Lastwägen fuhren durch die Straßen und immer wieder marschierten Soldaten an ihnen vorbei. Die Deutschen hatten die Kommandantur im Rathaus eingerichtet, wo sich Mila nun mit Olga und den Kindern in eine lange Menschenschlange einreihen musste. Die Kinder, die ja sonst immer munter miteinander plapperten, saßen eingeschüchtert in ihrem Wagen. Langsam ging es vorwärts, bis sie schließlich ins Rathaus eingelassen wurden. Auf einer großen Tafel waren die verschiedenen Zimmer aufgezeigt, und hier verteilten sich die Leute, die eingelassen worden waren. Olga wandte sich an einen Mann, der an einem der Tische in dem großen Rathausfoyer saß und über dessen Tisch ein Schild hing mit der Aufschrift „Dolmetscher“.
„Meine Schwägerin muss sich anmelden. Hier sind ihre Papiere.“
„1. Stock rechts, Zimmer 121“, bekam sie als Antwort.
Sie konnten den Kinderwagen an der Treppe stehen lassen und gingen mit den Kindern in den 1. Stock hinauf. Vor dem Zimmer 121 warteten auch wieder viele Menschen, und so mussten sie sich wiederum in diese Schlange einreihen. Sie warteten und warteten. Die Kinder wurden ungeduldig und fingen an zu quengeln. Da sah Mila einen Mann in Uniform auf sie zukommen.
„Guten Tag“, sagte er, „ich habe gesehen, dass Sie hier warten.“
Jetzt erkannte sie ihn, es war der Mann, der gestern Abend zu Hause mit ihr gesprochen hatte, der deutsche Soldat, der sich als Richard Adler vorgestellt hatte und der bei ihnen einquartiert war.
„Ja“, sagte Mila, „ich muss mich anmelden.“
„Darf ich mal Ihre Papiere sehen?“
Sie reichte sie ihm. Er warf nur einen kurzen Blick darauf, dann sagte er zu ihnen: „Kommen Sie mit mir, ich werde das für Sie erledigen.“
Mila war froh über dieses Angebot, da die Kinder angefangen hatten zu weinen. Sie waren müde und hatten Hunger. So folgten sie ihm, und er führte sie durch mehrere Gänge, bis sie in ein Zimmer eintraten.
Hier nahm er nochmal ihre Papiere an sich und fing an, sie genauer durchzulesen. Jetzt konnte sich Mila den Deutschen genauer anschauen. Er mochte vielleicht in ihrem Alter sein. Er war groß und schlank und hatte ein sympathisches, offenes Gesicht. Seine blonden Haare waren, wie bei allen Soldaten, kurz geschnitten.
Er schaute hoch und lächelte sie freundlich an: „Sie sind ja Deutsche.“
„Ja, so steht es in meinem Pass.“
„Sie können hier warten, ich komme gleich zurück“, meinte er. „Die Kinder können ja solange etwas malen.“
Er legte ein paar Blätter Papier und einige Stifte auf den Tisch, bevor er den Raum verließ. Mila war angenehm überrascht, dass der Deutsche sich so der Kinder annahm. Die waren froh, eine Beschäftigung gefunden zu haben und stürzten sich auf die Stifte. Sie mussten nicht lange warten.
„Es ist alles erledigt“, sagte er zu Mila und reichte ihr die Papiere.
„Vielen Dank.“ Mila reichte ihm die Hand.
„Es tut mir Leid, dass Sie so lange warten mussten. Das dauert immer alles“, fügte er hinzu.
Er strich den Kindern über die Haare und beide lachten ihn an. Sie schienen ihn zu mögen. Auch Olga bedankte sich und dann begleitete Richard sie nach draußen.
„Da haben wir ja wirklich Glück gehabt“, meinte Olga, „jetzt aber schnell nach Hause!“
Zu Hause angekommen, erwartete Mila wieder die gleiche angespannte Stimmung, wie am Tag zuvor. Sie befürchtete, dass es wohl jetzt so bleiben würde, und es machte sie unglücklich.
Sie war froh, als es Abend wurde, die Kinder schliefen und die Schwiegereltern sich zurückgezogen hatten. Sie setzte sich wieder in den Sessel am Fenster. Wie lange würde sie es hier aushalten? Wenn sie doch wieder zurück könnte nach Hause zu ihren Eltern! Sie hörte den Schlüssel in der Eingangstüre. Das war wohl wieder der deutsche Soldat, der nach Hause kam. Er trat ins Wohnzimmer und sah sie dort im Halbdunkel am Fenster sitzen. Sie sah so traurig und einsam aus, fand er. Er fragte, ob er sich zu ihr setzen könnte. Sie nickte.
„Es tut mir sehr Leid, dass Sie mit den Kindern hier in diesem Zimmer schlafen müssen“, fing er an. „ Als ich hier einquartiert wurde, wusste ich nicht, dass Sie kommen, sonst hätte ich ja dieses Zimmer nie in Anspruch genommen. Ich werde sehen, ob ich nicht woanders einen Raum bekomme.“
„Ja“, sagte Mila. „Ich möchte mich auch nochmal bedanken für Ihre Hilfe heute, das war sehr freundlich von Ihnen.“
„Ich habe gesehen, dass die Kinder zu weinen anfingen.“
Sie saßen eine Weile da, ohne etwas zu sagen.
„Sie sehen nicht sehr glücklich aus“, fing er erneut ein Gespräch an.
„Meine Schwiegereltern sind nicht froh darüber, dass ich hier bei ihnen bin. Sie mögen mich nicht.“ Mila wollte sich nicht näher darüber auslassen, aber er schien zu verstehen, wo die Probleme lagen.
„Das ist sicher eine schwierige Lage für Sie“, meinte er.
Sie wechselten noch ein paar Worte und dann ging er zurück in sein Zimmer.
In den nächsten Tagen ging Mila der Schwiegermutter zur Hand, wo sie nur konnte, sie räumte auf, putzte das Bad und half ihr in der Küche, aber was sie auch tat, nichts konnte sie ihr recht machen. Ihre Schwiegermutter hatte an allem etwas auszusetzen, und der Schwiegervater zuckte nur mit den Achseln und zog sich in sein Zimmer zurück.
Die ersten Tage waren vergangen. Das einzige Bindeglied zwischen Mila und den Schwiegereltern waren die Enkelkinder, aber auch da mischte sich die Schwiegermutter ständig ein und wusste alles besser. Sie war eine sehr strenge Frau, die es nicht mochte, wenn die Kinder laut waren oder durch die kleine Wohnung purzelten. Dann wurden sie von der Großmutter zurechtgewiesen und mussten sich gehorsam auf das Sofa setzen. Mila versuchte, sich für sie einzusetzen, so gut sie konnte. Aber es war nicht ihr Zuhause und, wie ihr die Schwiegermutter gleich zu Anfang gesagt hatte, hier wurde gemacht, was sie sagte. Die Situation zu ertragen wurde immer schwieriger.

 

Mila hatte, seitdem sie aus Moskau weg war, nichts mehr von ihrer Familie gehört. Aber ein paar Tage später kam ihre Schwägerin ganz aufgeregt in die Wohnung gestürzt.
„Mila, es ist was passiert. Stell dir vor, sie haben Moskau dichtgemacht. Moskau ist zu! Man kommt weder rein, noch raus.“
Mila brach in Tränen aus. Nein, das durfte nicht wahr sein. Jetzt saß sie hier fest. Sie war bei den Schwiegereltern so unglücklich, dass sie erwogen hatte, wieder nach Moskau zurückzukehren. Aber diese Hoffnung war durch die neue Situation zunichte gemacht worden. Wenn sie gewusst hätte, dass Moskau geschlossen würde, wäre sie nie im Leben weggegangen. Aber nun gab es kein Zurück mehr, sie war auf Gedeih und Verderb hier gebunden. Es war auch kein Kontakt mehr zu ihrer Familie in Moskau möglich. Sie wusste nicht, wie es ihnen ging. Sie war todunglücklich. Sie hatte nur noch ihre Kinder. Sie waren das, was sie noch am Leben erhielt.

 

Die Wochen vergingen, und Richard schien es nicht eilig zu haben, ein Zimmer woanders zu finden. Es war jetzt oft so, dass er am Abend, wenn sich alle anderen schlafen gelegt hatten, ins Wohnzimmer kam, sich zu ihr setzte und sie sich dann unterhielten. Mila erzählte Olga, ihrer einzigen Vertrauten, davon. Olga war aber misstrauisch und meinte, dass er sie nur aushorchen wollte, um mehr über Wassili, ihren Mann zu erfahren, der sich vielleicht den Partisanen angeschlossen hatte. Mila wusste, dass das nicht der Fall war. Sie hatte Vertrauen zu Richard gefasst und fühlte, dass er von dem, was sie ihm erzählte, nichts weitersagen würde. Außerdem hatte er sie kein einziges Mal zu Wassili befragt.
Sie waren inzwischen zum „du" übergegangen und er erzählte ihr von seinem Zuhause. Er war in Dortmund aufgewachsen, hatte dort in der Nähe studiert. Eigentlich war er Ingenieur von Beruf. Sein Vater war an der Front in Norwegen. Er war der einzige Sohn. Mila fragte ihn, wo er Russisch gelernt hatte und erfuhr, dass in Dortmund vor dem Krieg Emigranten lebten, die nach der russischen Revolution dorthin gekommen waren. Sein bester Freund war ein russischer Junge gewesen und von ihm hatte er Russisch gelernt und viel über Russland erfahren. Seine Liebe zu Russland war damals erwacht, und er war immer neugierig darauf gewesen, nach Russland zu kommen. Dann kamen die Nazis an die Macht und eines Tages waren sein Freund und dessen Familie plötzlich verschwunden. Lag das daran, dass sie Juden waren? Richard war damals politisch nicht sonderlich interessiert. Er hatte sich nie darum gekümmert. Russen, Juden, für ihn waren das einfach Menschen, so wie er. Er hatte sich in der Familie seines Freundes immer wohlgefühlt, aber hatte, nachdem der Freund verschwunden war, nie mehr etwas von ihm gehört. Dann war er eingezogen worden und war eigentlich froh darüber, dass er in den Osten geschickt wurde. Sein Jugendtraum, Russland zu sehen, erfüllte sich hier. Er war verheiratet gewesen, aber seine Frau war früh an Lungenentzündung gestorben. Sie waren beide noch so jung gewesen, als sie geheiratet hatten, und wollten sich mit dem Kinderkriegen Zeit lassen. Aber dann war es zu spät. Er liebte Kinder und hätte doch gerne welche gehabt. Deshalb kümmerte er sich so um Milas Kinder.
Auch Mila erzählte ihm von ihrer Familie, von ihren Geschwistern und wie sie in Moskau gelebt hatten. Sie erzählte ihm von ihrer Ehe, die sie eigentlich nur eingegangen war, weil es endlich an der Zeit war zu heiraten. Sie war ja damals schon 25 gewesen und für russische Verhältnisse eine alte Jungfer. Sie liebte Wassili, wie man einen Ehemann lieben sollte. Er war ein guter Ehemann. Er trank nicht, er spielte nicht. Sie hatten zwei wunderbare Kinder und sie hatte ein zufriedenes Leben geführt, bis der Krieg ausgebrochen war. Jetzt war Wassili irgendwo an der Front. Sie hatte lange nichts mehr von ihm gehört.
Diese Abende mit Richard waren für Mila eine Wohltat nach den anstrengenden Tagen mit ihren Schwiegereltern. Wenn sie mit Richard zusammen war, fühlte sie sich sicher. Sie bemerkte, dass er immer öfter zu Hause war und auch früher heim kam, so dass er die Kinder noch sehen und mit ihnen spielen konnte.
Jetzt erzählte sie aber Olga nicht mehr von ihren Zusammenkünften mit ihm, da sie befürchtete, dass ihre Schwägerin ihren Eltern von ihrem Misstrauen gegenüber Richard berichten würde. Dann würde die Situation für Mila noch schwieriger werden. Außerdem war ihr zu Bewusstsein gekommen, dass sie für Richard mehr empfand, als sie eigentlich empfinden durfte, und sie glaubte, dass auch er ähnlich fühlte. Sie sah, wie er sie manchmal betrachtete, wenn er meinte, sie würde es nicht bemerken. Dann war sein Blick voller Wärme, und wenn sie ihn dann ansah, lächelte er. In seinen Augen konnte sie seine Gefühle lesen, und die sprachen von Zärtlichkeit und Zuneigung.
An einem Abend kam Richard wieder zu ihr ins Wohnzimmer und strahlte.
„Ich habe eine Überraschung für dich!“ Er küsste Mila auf die Stirn. „Ich habe für die Kinder einen Kindergartenplatz besorgt. Sie können ab morgen in den deutschen Kindergarten gehen und müssen nicht den ganzen Tag hier ruhig dasitzen.“
Mila fiel ihm um den Hals. „Nein, wirklich? Das ist ja wunderbar. Da werden sie sich aber freuen. Aber sind sie nicht zu klein für den Kindergarten?“
„Dort sind Kinder jeden Alters. Ich habe es mir angeschaut. Und dann können sie ja auch vielleicht ein bisschen Deutsch lernen. Sie sind ja Deutsche“, fügte er augenzwinkernd hinzu. Mila hatte ihm früher schon erzählt, dass die Schwiegermutter die Kinder immer schimpfte und in der Wohnung nicht herumlaufen ließ. Er hatte es ein paar Mal selbst miterlebt, und jetzt hatte er eine Lösung gefunden. Sie wusste, dass Richard in der Kommandantur arbeitete und Zugang hatte zu allen möglichen Bereichen. Die Kinder würden also in einen Kindergarten gehen und könnten mit anderen Kindern spielen. Mila war sehr froh darüber, vor allem auch, weil sie dann dem Zugriff der Schwiegermutter, die sie tyrannisiert hatte, zumindest tagsüber entzogen waren.

 

Eine andere Sache beunruhigte Mila. Richard hatte sie eines Abends darauf angesprochen, dass ihr Nachname nicht deutsch, sondern jüdisch klang. Sie war erschrocken, als er angefangen hatte, davon zu reden. Ihr Nachname war definitiv kein russischer Name, und in ihrer Familie hatte sie manchmal davon reden gehört, dass sie wohl jüdische Vorfahren gehabt hatten, die zum evangelischen Glauben konvertiert waren. Aber zu der Zeit war es in Russland besser, man hatte als Nationalität im Pass „deutsch“ stehen, als „jüdisch“. Die Juden waren noch stärkeren Repressalien ausgesetzt als die Deutschen. Als Mila geheiratet hatte, hatte sie ihren Mädchennamen behalten, was damals nicht unüblich war. Die Kinder allerdings hatten den Namen des Vaters, darauf hatte Wassili bestanden. Aber als ihr Schwager ihr die Papiere für die Reise besorgt hatte, hatte er die Kinder in ihren Pass eintragen lassen, sodass sie jetzt auch Deutsche waren und ihren Nachnamen trugen. Aber hier bei den Deutschen war es ja sehr gefährlich, einen jüdisch klingenden Nachnamen zu haben. Sie hatte gehört, dass die Deutschen, wie auch die Russen, Antisemiten waren und Juden weggebracht wurden. Richard meinte, sie müsse, um sich nicht zu gefährden und als Jüdin zu gelten, den ukrainischen Nachnamen ihres Ehemannes annehmen.
„Man weiß ja nicht, wie es hier weitergeht. Und wenn ich mal nicht hier sein sollte, kann es ja irgendeinem in der Kommandantur einfallen, die verschiedenen Akten zu überprüfen. Dein Name wird dann gleich auffallen. Also ist es am besten, wenn du deine Papiere ändern lässt. Ich werde mich darum kümmern.“
Mila war froh, dass sie in Richard jemanden gefunden hatte, der sich um sie sorgte und ihr helfen konnte.

 

Die Wochenenden verbrachte Richard manchmal, sehr zum Missfallen der Schwiegereltern, zu Hause. Er wurde zwar nicht eingeladen, in der Küche mitzuessen, aber manchmal setzte er sich dazu, wenn sie nach dem Essen alle im Wohnzimmer saßen. Meistens zogen sich die Schwiegereltern daraufhin zurück, so dass Mila und Richard mit den Kindern alleine waren. Sie wusste, dass die Schwiegereltern alles mit großem Misstrauen beobachteten, aber Mila und Richard waren sehr vorsichtig mit Austausch von Freundschaftsbezeigungen. Sogar vor den Kindern hielten sie sich zurück. Sie hatten nicht über ihre Gefühle gesprochen, aber beide wussten, dass es doch mehr war als nur Freundschaft, was sich zwischen ihnen entwickelt hatte. Richard war es egal, ob diese Frau Russin, Jüdin oder Deutsche war. Sie war so, wie er sich eine Frau immer vorgestellt hatte, warmherzig und mitfühlend. Die Kinder waren sehr zutraulich geworden, und wenn sie dann zu viert alleine im Wohnzimmer waren, spielte Richard mit ihnen und sie durften rumhüpfen und tanzen. Am liebsten hatten die Kinder es, wenn Richard sie hochhob und rumwirbelte und dazu ein Lied sang, das sie ganz besonders mochten. Auch Mila gefiel dieses Lied sehr. Es hieß „Lili Marleen“ und hatte eine schöne Melodie, deren Melancholie sie an russische Lieder erinnerte. Auch Richard liebte dieses Lied und die Kinder waren immer wieder entzückt, wenn er es anstimmte. Sie jauchzten und versuchten mitzusingen. Schließlich hatte er es so oft gesungen, dass auch die Kinder es singen konnten und sogar Mila mitsang, wenn sie alleine waren. Richards Lachen vermischte sich mit dem der Kinder, wenn sie durch das Zimmer tollten. Er hatte so ein frisches, jugendliches Lachen und Mila stimmte unwillkürlich mit ein. Es war so befreiend für sie, endlich wieder einmal lachen zu können.

Eines Abends saßen sie wieder einmal zusammen im Wohnzimmer. Alle anderen schliefen. Es herrschte eine wunderbare Ruhe nach einem Tag, an dem sie sich wieder wegen der Kinder mit ihrer Schwiegermutter gestritten hatte. Richard hatte seinen Stuhl ganz nahe an den Sessel gerückt, in dem Mila saß. So war er dicht bei ihr, und sie empfand seine Nähe als sehr angenehm. Sie fühlte die Wärme, die von ihm ausging und das vermittelte ihr ein Gefühl der Sicherheit. Sie tranken Tee, und als er seine Tasse an die Lippen führte, trafen sich ihre Blicke und blieben einige Sekunden länger aufeinander gerichtet als gewöhnlich. Richard lächelte sie an und sie erwiderte sein Lächeln. Plötzlich streckte er seine Hand aus und hielt sie ihr entgegen. Mila zögerte einen Augenblick, dann legte sie ihre Hand in die seine. So hielten sie sich beide eine Zeitlang fest, ohne etwas zu sagen. Dann beugte er sich zu ihr, strich ihr zärtlich die Haare aus der Stirn und küsste sie ganz sanft auf die Lippen. Mila fühlte eine Welle der Zärtlichkeit und der Liebe in sich aufsteigen und sie erwiderte seinen Kuss.
„Mila, meine Mila“, flüsterte er auf Deutsch.
Er erhob sich und zog sie zu sich hoch, legte seine Arme um sie und drückte sie an sich. Sie versank in seinen Armen. Es war so schön zu spüren, dass sie sich bei ihm aufgeben konnte, hier musste sie nicht stark sein. Er küsste sie zärtlich und strich ihr durch das Haar. Plötzlich hörten sie die Türe zu dem Zimmer der Schwiegereltern. Mila ließ sich in ihren Sessel fallen und Richard war schon fast an seiner Zimmertüre, als der Schwiegervater durch das Wohnzimmer schlurfte. Er sah von Richard zu Mila, die er aber nicht wirklich sehen konnte, da sie mit dem Rücken zu ihm saß. Er grummelte etwas vor sich hin und verschwand im Badezimmer. Richard öffnete seine Zimmertüre, lächelte Mila noch einmal zu und war verschwunden. Mila fühlte, dass ein Chaos in ihr aufbrach. Sie war verheiratet und hatte Kinder und hier saß sie und ließ sich von einem anderen Mann küssen, noch dazu von einem Deutschen. Sie musste verrückt sein! Nein, das durfte sie nicht machen. Aber das Gefühl, das sie im Laufe der letzten Wochen Richard gegenüber entwickelt hatte, hatte sich verselbstständigt und ließ ihr keine Wahl. Verwirrt und glücklich zugleich legte sie sich schlafen. Sie war sich nicht sicher, wie es weitergehen sollte.

 

Mila hatte immer noch nichts von ihrer Familie gehört. Aber in letzter Zeit hatten sich die Gerüchte gehäuft, dass die Deutschstämmigen, die auf russischem Gebiet waren, evakuiert, und das hieß, dass sie in Verbannung nach Sibirien geschickt wurden. Mila machte sich Sorgen. Sie hatte mehrmals Briefe nach Hause losgeschickt, aber nie eine Antwort erhalten. Doch dann, eines Tages, hielt sie einen Brief von ihrer ältesten Schwester in der Hand. Er war über viele Umwege zu ihr gekommen, und nun saß sie da in der Küche und traute sich kaum, ihn aufzumachen und zu lesen. Der Umschlag sah ziemlich mitgenommen aus, war aber nicht zerrissen, also wohl nicht geöffnet worden, was mit manchen Briefen passierte, die von irgendwelchen Behörden kontrolliert wurden. Und dann las sie:

Meine allerliebste Milotschka,
ich schreibe dir, weil ich dir schlimme Sachen zu berichten habe, und ich hoffe, dass du diesen Brief irgendwann bekommst.
Unsere ganze Familie ist verhaftet. Sogar mein Mann, Iwan Jakowitsch, konnte nicht helfen. Aber durch ihn sind die Kinder und ich geschützt und es wird uns nichts passieren. Soweit ich herausgefunden habe, sind der Vater und die Brüder nach Sibirien in ein Straflager zur Zwangsarbeit geschickt worden. Aber ich konnte noch nicht erfahren, wo sie sind. Die Mutter und die Schwester sind auch in Sibirien. Sie sind in einem Dorf angesiedelt worden, das Schalo heißt. Es liegt in der Nähe des Baikalsees. Dort müssen sie arbeiten. Vielleicht kommt es Mutter dort zugute, dass sie Lehrerin ist. Dann muss sie nicht so hart arbeiten. Aber mehr weiß ich im Moment auch nicht.
Liebste Mila, mach dir keine Sorgen um sie. Ich werde alles tun, um ihnen zu helfen. Iwan Jakowitsch wird alle Hebel in Bewegung setzen. Aber du weißt ja, jetzt während des Krieges ist die Situation hier sehr schwierig. Sei froh, Mila, dass du nicht hier bist, sonst wärst du mit den Kindern auch verschickt worden.
Ich werde versuchen, dir zu berichten.
Übrigens, Wassili hat sich gemeldet und weiß jetzt auch, dass du bei seinen Eltern bist. Er wird wohl irgendwann versuchen, mit dir in Kontakt zu kommen.
Ich küsse dich und die Kinder
Deine dich liebende Schwester Sweta

Während Mila den Brief las, flossen ihr die Tränen aus den Augen, und jetzt, da sie ihn fertig gelesen hatte, brach sie zusammen. Warum war sie bloß hierhergekommen? Sie wünschte, sie hätte es nie getan. Dann wäre sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Sibirien gekommen und die Familie wäre zusammengeblieben. Jetzt wusste sie, dass sie nie mehr nach Moskau zurückkehren würde.
Nach dem Beginn des Krieges war ein Erlass des Obersten Sowjets herausgekommen, nach dem die Russlanddeutschen - und ihre Familie zählte dazu, weil alle in ihrem Pass als Nationalität „deutsch“ stehen hatten - nach Sibirien und Kasachstan deportiert wurden. Man wollte mit dieser Umsiedlung eine Kollaboration der Russlanddeutschen mit den Nazideutschen verhindern. Viele Männer wurden ins Gefängnis geworfen und dann in Lager gesteckt, in denen sie arbeiten mussten. Frauen und Kinder wurden irgendwo angesiedelt und mussten da in den Kolchosen oder sonstigen Betrieben arbeiten. Es hatte sich rumgesprochen, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen furchtbar waren. Ihre Familie war verschont geblieben, da ihr Schwager eine hohe Stellung im Militär einnahm. Sie hatten sich darauf verlassen, dass ihnen aus diesem Grund nichts geschehen würde, aber jetzt hatte sogar das nicht mehr geholfen.


   

    Region Krasnoyarsk in der Mitte des Bildes eingekreist

                                 
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Die Kinder standen da und weinten mit Mila mit, obwohl sie nicht wussten, warum. Sie wusste, dass sie jetzt stark sein musste. Die Kinder waren das Wichtigste in ihrem Leben, das Einzige, was ihr noch geblieben war. 

An dem Tag war sie wie in Trance. Jeder Handgriff wurde ihr zu viel, aber sie durfte nicht aufgeben.
Am Abend, als Richard kam, hielt sie den Brief in der Hand. Er sah ihr verweintes Gesicht und wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war. Er begann zu lesen.
„Oh mein Gott“, entfuhr es ihm, „auch das noch.“
Er gab ihr den Brief zurück und nahm sie in den Arm.
„Meine arme Mila“, sagte er, „aber stell dir vor, du wärst da geblieben.“
„Hätte ich das doch bloß gemacht“, brachte sie unter Schluchzen heraus.
Er erwiderte nichts, sondern streichelte nur ihren Rücken. Sie war ihm dankbar, dass sie sich bei ihm ausweinen konnte. So blieben sie eine Weile stehen und Richard strich Mila zart über die Wange. Ihre Augen waren immer noch voller Tränen, sie hob den Kopf und sah ihn an. Ihre Blicke verflochten sich ineinander und ihre Lippen fanden zueinander. Es schien das Natürlichste der Welt zu sein. Mochten die Schwiegereltern kommen, Mila war es egal. Seine Küsse waren das, was sie jetzt brauchte. Sie küssten sich immer und immer wieder, so als ob ihr Leben davon abhinge.
„Ich liebe dich.“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Mila, ich würde so gerne mit dir zusammenleben.“
„Ach, wenn es nur keinen Krieg gäbe!“, flüsterte sie zurück und presste sich an ihn.
„Vielleicht ist der Krieg ja irgendwann mal vorbei, und dann können wir zusammen sein.“
Sie dachte nicht mehr daran, dass sie verheiratet war, dass er Deutscher war und sie Russin, sie dachte nur noch daran, wie schön es wäre, wenn sie immer zusammen sein könnten. Er nahm ihre Hand und leise gingen sie in sein Zimmer.

 

Die Kinder waren tagsüber im Kindergarten, was für Mila eine große Erleichterung war, da sie sich nicht mehr mit den Schwiegereltern wegen der Kinder streiten musste. Nur an den Abenden, wenn Mila die Kinder abgeholt hatte und sie zusammen in der Küche saßen und aßen, gab es immer noch Konflikte. Die Schwiegereltern aßen aber jetzt manchmal alleine, vorher oder nachher, und Mila war immer froh darüber, da sie dann in Ruhe gelassen wurden.
Nun hatte Mila mehr Zeit für sich, und so saß sie oft am Tag, wenn alle Arbeiten erledigt waren, am Radio und hörte die Übertragungen von Radio Moskau. Sie wusste, dass das streng verboten war, aber sie musste wissen, was in Russland vor sich ging. Die Deutschen waren in den Kaukasus vorgestoßen, Stalingrad wurde schwer umkämpft, aber Moskau hatten sie nicht eingenommen. Am Abend berichtete ihr dann Richard, was er erfahren hatte. Er war nicht sehr zuversichtlich und meinte, dass er nicht glaube, dass die Deutschen fähig wären, Russland ganz zu erobern oder gar zu halten.
Eines Abends eröffnete er ihr, er hätte eine Wohnung für sie gefunden und sie könne, wenn sie wolle, dort einziehen. Dann hätte sie ihre Freiheit und müsse nicht immer mit den Schwiegereltern herumstreiten. Mila war sofort einverstanden. Das würde den Konflikten ein Ende setzen und ihre Situation entspannen. Außerdem gab ihnen das die Möglichkeit, ungestört zusammen zu sein. Die Schwiegereltern waren misstrauisch geworden und manchmal am Abend kamen sie plötzlich beide aus ihrem Zimmer, angeblich um in der Küche etwas zu holen oder ins Bad zu gehen. Daraufhin war Richard abends nicht mehr so oft mit ihr im Wohnzimmer, doch sie vermissten beide ihr abendliches Zusammensein, die Zärtlichkeiten, die sie nur da austauschen konnten, und ihre Gespräche.
Die Schwiegereltern nahmen die Nachricht ihres Auszugs gleichgültig auf. Sie schienen froh zu sein, Mila und ihre Kinder loszuhaben. Sie verabschiedeten sich nicht von ihr und sagten auch den Kindern nicht Lebewohl. Für sie war Mila jetzt eine Verräterin, die sich mit dem Feind eingelassen hatte.
So zog Mila um in die neue Wohnung, die am anderen Ende der Stadt lag. Sie hatte jetzt zwei Zimmer, was für sie und die Kinder völlig ausreichte. Die Deutschen, die dort gelebt hatten, waren mit einem der Flüchtlingszüge in den Westen gefahren, und da sie nicht viel mitnehmen konnten, war in der Wohnung alles vorhanden, was man zum Leben brauchte.
Richard besorgte den Rest, der noch fehlte. Er brachte Essen und gab Mila Geld, damit sie einkaufen konnte. Er selbst wohnte offiziell noch bei den Schwiegereltern, hielt sich aber meistens in der Wohnung bei Mila auf.
Eines Tages traf Mila Olga auf der Straße. Sie hatten sich lange nicht gesehen. Olga hatte sich damals von ihr zurückgezogen, als Mila sich mit Richard angefreundet hatte. Mila war ja immerhin noch mit ihrem Bruder Wassili verheiratet, auch wenn die Ehe, wie Olga aus den Erzählungen Milas inzwischen wusste, mehr eine Pflichtgemeinschaft als eine Liebesbeziehung gewesen war. Sie gingen ein Stückchen miteinander. Mila wollte sich mit Olga aussprechen und ihr alles erklären. Sie sagte ihr, dass sie diesen deutschen Soldaten lieb gewonnen hatte und dass er für die Kinder alles tat, was er nur tun konnte. Sie erklärte ihr auch, dass Richard keine einzige Frage zu Wassili gestellt hatte. Olga hatte ja immer befürchtet, dass er Mila ausspionieren wollte. Olga hörte sich alles an, was Mila ihr erzählte. Ganz überzeugt war sie nicht, aber sie konnte sehen, dass Mila glücklich war. Sie schwankte zwischen ihrer Freundschaft zu Mila und der Liebe zu ihrem Bruder. Aber sie würde gerne zu Mila kommen und sehen, wie sie wohnte.

Die Tage verstrichen und Richard kam jeden Tag zu Mila und erzählte ihr die letzten Nachrichten, die er gehört hatte. Es wurde immer klarer, die Deutschen waren überall auf dem Rückzug. Immer wieder beratschlagten sie zusammen, was Mila machen sollte. Eigentlich war es beiden klar, Mila musste mit den Kindern weg, und zwar nach Deutschland. Sie musste sich einem der Flüchtlingstransporte anschließen, die jetzt in der Ukraine unterwegs waren und die deutsche Zivilbevölkerung zurück nach Deutschland brachten. Aber Mila wollte nicht, sie wollte nicht schon wieder einen Menschen verlassen müssen, den sie liebte. Und wieder gab es keinen anderen Ausweg, um sich und die Kinder zu retten. Es war jetzt nur noch eine Frage der Zeit.
Mila hatte Richard erzählt, dass eine Tante, eine Schwester ihrer Mutter, einen Silberminenbesitzer aus Sibirien geheiratet hatte und mit ihm irgendwann, wahrscheinlich während der russischen Revolution nach Paris gefahren und nicht wieder nach Russland zurückgekommen war. Später hatte sich dann ihre Tante mit der Stieftochter irgendwo in Berlin niedergelassen. Das war das letzte, was sie von ihr gehört hatten. Mila hatte also Verwandte in Berlin. Sie wusste zwar nicht, wo sie wohnten, aber sie hatte die Namen. Richard war begeistert. Sie solle nach Berlin fahren und sich dort ans Rote Kreuz wenden. Die würden ihre Tante finden können, und die würde sie sicher aufnehmen. Er versuchte sie zu überzeugen, dass das die beste Lösung für sie wäre.
Mila wehrte sich gegen diesen Vorschlag, aber in ihrem Innern wusste sie, dass wieder eine Trennung bevorstand. Doch vielleicht konnte sie das hinausschieben.

Dann kam Olga zu Besuch, und das, was sie erzählte, überzeugte Mila endgültig davon, dass ihre Lage aussichtslos war, wenn sie bleiben würde.
„Mila, es gehen Gerüchte, dass die russischen Soldaten, wenn sie Gebiete zurückerobern, Landesverräter sofort liquidieren, das heißt, sie werden erschossen, auf der Stelle.“
Mila schluckte. „Bist du ganz sicher? Wo hast du das gehört?“
„Alle erzählen das. In Stalins Augen sind alle, die mit den Deutschen irgendwie näheren Kontakt haben, Kollaborateure des Naziregimes.“ Sie schaute Mila bedeutungsvoll an. „Du weißt, was das für dich und die Kinder bedeutet! Ich habe gestern mit einer Frau gesprochen, die gesehen hat, wie eine ganze Familie ausgelöscht wurde. Einfach an die Wand gestellt und erschossen. Mann, Frau und zwei kleine Kinder. Mila, es ist furchtbar!“
Mila war ganz blass geworden. Sie schlug die Hände vors Gesicht.
„Ach Mila, meine arme Mila!“ Olga legte die Arme um sie. „Was wirst du tun?“
„Was kann ich denn da noch machen? Ich muss weg, zusammen mit den Kindern“, schluchzte Mila auf.
„Kann Richard dir helfen?“
Mila nickte nur. Sie konnte nicht mehr sprechen. Sie zitterte. Jetzt war es soweit. Sie musste weiterziehen.
„Ich sage dir Bescheid, wenn ich noch was höre.“ Sie küsste Mila zum Abschied.
Am Abend kam Richard und fand Mila weinend. Sie erzählte ihm, was sie von Olga gehört hatte. Er nahm sie in den Arm.
„Ich werde mich gleich morgen um eure Papiere kümmern. Ich muss sie ja auf den Namen deines Mannes ändern lassen. Und dann werde ich sehen, wann du einen der Züge nehmen kannst.“

 

Ein paar Tage später, am Nachmittag, klopfte es an der Tür. Mila öffnete, es war Olga.
„Du musst mitkommen, Mila, sofort!“
Mila erschrak. „Ist etwas passiert?“
Olga sagte nur ein Wort: „Wassili.“
Mila zog sich schnell einen Mantel über. Unterwegs, während sie durch die Straßen hasteten, erzählte ihr Olga kurz, was geschehen war.
„Heute Nacht stand Wassili plötzlich vor unserer Tür. Es ist gefährlich für ihn, dass er hergekommen ist, aber er möchte dich sehen. Ich habe ihm erzählt, dass die Kinder im deutschen Kindergarten sind und dass du in einer deutschen Wohnung lebst, und er ist sehr darüber erschrocken. Ich habe ihm aber nichts von Richard erzählt. Er muss es nicht wissen, hörst du?“ Sie drückte Milas Hand. „Er wartet bei mir in der Wohnung.“
Olga schloss die Tür zur Wohnung auf. Während sie hineingingen, sagte sie:
„Ich hole deine Kinder vom Kindergarten und lege sie ins Bett. Ich warte bei dir auf dich, Mila. Mein Mann und meine Kinder sind bei den Schwiegereltern, ihr könnt euch also Zeit lassen.“
Damit verschwand sie und machte die Tür hinter sich zu. Mila trat ins Wohnzimmer.
Da stand er, Wassili. Er zog sie an sich und umarmte sie. Lange blieben sie so stehen, ohne ein Wort zu sagen. Dann setzten sie sich auf das Sofa. Mila schaute ihn an. Er war immer ein großer, stattlicher Mann gewesen, aber jetzt hatten sich seine Schultern gesenkt und sein Gesicht wirkte grau und eingefallen. Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Er, der immer so viel Wert auf eine gepflegte Erscheinung gelegt hatte, trug jetzt abgerissene und schmutzige Kleidung. Sie sah seine Augen und sie sah die Zärtlichkeit in ihnen, mit der er sie betrachtete. Aber er machte einen gehetzten Eindruck. Wo waren der Stolz und das Selbstbewusstsein geblieben, die ihn alle die vergangenen Jahre erfüllt hatten? Sie musste an die schönen Zeiten denken, die sie miteinander verbracht hatten. Jetzt war das alles Vergangenheit.
„Ich kann nicht lange bleiben. Ich muss bald wieder weg“, sagte er. Mila nickte nur.
Sie legte ihre Hand auf die seine. „Wie geht es dir? Wie ist es dir ergangen?“
Da begann er von den Geschehnissen zu erzählen, die er während der letzten Jahre durchlebt hatte. Er hatte grausame Dinge gesehen und wünschte sich, dass das alles bald ein Ende haben würde.
„Aber ich will nicht die ganze Zeit nur von mir reden“, beendete er seine Erzählung, „wie geht es dir? Wie geht es den Kindern?“
Ja, was sollte sie sagen? Es ging ihr ja verhältnismäßig gut.
Er hatte gehört, was mit ihren Eltern und Geschwistern passiert war, und war in Sorge um sie gewesen. Dann hatte er erfahren, dass sie noch rechtzeitig aus Moskau ausgereist war, und war sehr erleichtert gewesen.
Sie erzählte, dass sie sich mit den Schwiegereltern verstritten hatte und deshalb ausgezogen war. Sie berichtete von den Kindern und von dem Leben, dass sie jetzt führte. Er hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen.
„Hast du Hunger?“, fragte sie ihn plötzlich. „Ich werde sehen, ob ich in der Küche was zu essen finde.“
Er folgte Mila in die Küche, und sie begann in den Schränken nach etwas Essbarem zu suchen.
Wassili stand im Türrahmen und sah zu, wie sie unruhig in der Küche hin und herging. Nur mit Mühe hielt Mila die Tränen zurück. Sie schluckte. Hier war Wassili, ihr Mann. Sie fühlte sich schuldig ihm gegenüber und dann auch wieder nicht. Es waren so unklare, zwiespältige Gefühle, die von ihr Besitz ergriffen hatten. Sie wollte ja Wassili auf keinen Fall verletzen und fühlte eine Zärtlichkeit ihm gegenüber in sich aufsteigen. Aber dann tauchte Richards Bild vor ihr auf. Er war ihr Freund und Retter, und sie liebte ihn. Sie fühlte Angst und Verzweiflung und Liebe, alles vermischte sich in ihrem Innern. Sie konnte nicht mehr klar denken. Ihr wurde schwindlig, und sie musste sich an der Tischkante festhalten.
Wassili merkte, dass es Mila nicht gut ging. Er trat zu ihr hin.
„Essen ist nicht so wichtig jetzt“, sagte er und nahm ihre Hand. Sie setzten sich ins Wohnzimmer. Mila kam wieder zu sich.
„Die Kinder vermissen dich“, begann sie.
„Und ich, ich habe euch auch sehr vermisst“, erwiderte er. „Aber Olga hat mir erzählt, dass du weg willst von hier. Ist das wahr?“
„Ich will nicht, aber ich muss. Die Kinder sind im deutschen Kindergarten. Ich lebe in einer deutschen Wohnung. Und außerdem steht im Pass, dass wir Deutsche sind. Und du siehst ja, was mit meiner Familie in Moskau geschehen ist. Weißt du, was mit mir passiert, wenn die Deutschen hier abziehen? Und so wie es aussieht, wird es über kurz oder lang darauf hinauslaufen.“
„Ja, ich weiß, es war unklug von dir, dich hier in so eine Lage zu begeben. Aber, Mila, ich bitte dich, geh nicht.“
„Wassili, weißt du, was die russischen Truppen mit den Kindern und mir machen, wenn sie hier einmarschieren? Olga hat mit einer Frau gesprochen, die ihr das beschrieben hat. Sie hat gesehen, wie eine Familie erschossen wurde. Wassili, wir sind dann sofort tot. Ich auf jeden Fall. Vielleicht lassen sie die Kinder leben und geben sie in ein Waisenhaus. Aber das glaube ich nicht. Sie werden nicht lange überlegen. Wir haben hier keine Chance.“
Wassili sah Mila an und er verstand, dass sie es wirklich ernst meinte.
„Mila, ich flehe dich an, geh nicht! Wir werden das schon irgendwie hinbekommen. Wir können ja sagen, dass du von den Deutschen gezwungen wurdest.“
„Die Kinder sollen gezwungen worden sein, in einen deutschen Kindergarten zu gehen? Wassili, denk doch selbst, wer wird mir das glauben? Sie werden doch nicht lange fackeln und sich auch noch anhören, was ich zu sagen habe. Und mein Pass? Da steht doch, dass ich Deutsche bin. Ich kann nicht, Wassili, ich kann nicht bleiben. Schon um der Kinder willen. Sie sind zu jung, um zu sterben. Ich muss sie beschützen, ich muss sie retten.“
„Mila, ich liebe dich doch. Nimm die Kinder und geh jetzt mit mir mit. Wir werden denen alles erklären.“
„Nein, nein, nein, Wassili. Es geht nicht, versteh doch.“ Mila brach in Tränen aus. „Es geht nicht, ich muss weg.“
Sie weinte leise. „Mach es mir doch nicht schwerer, als es schon für mich ist. Ich will nicht weg, verstehst du.“ Sie schluchzte auf. „Aber ich will leben, und ich will, dass die Kinder leben. Und da gibt es nur eine Lösung.“
Er sah unglücklich aus. Dann beugte er sich nach vorne und stützte den Kopf in die Hände. So saß er eine Weile schweigend da. Er hatte verstanden. Er konnte sie nicht halten.
„Ich muss jetzt gehen, bevor es ganz dunkel wird.“, sagte er und erhob sich. „So werden wir uns wohl nicht wiedersehen. Wenn es irgendwie geht, gib mir Bescheid, wie es dir und den Kindern geht. Ich habe Kontakt mit deiner Schwester in Moskau.“
Mila weinte immer noch: „Wassili, es tut mir so Leid. Aber ich muss die Kinder retten. Du verstehst das doch, oder?“
Er schaute sie traurig an. „Ja, ich verstehe dich. Es muss wohl so sein.“
Es brach ihr das Herz, aber was blieb ihr denn anderes übrig?
Dann, während er seinen Mantel überzog, sagte er: „Warte noch eine Weile, bevor du diese Wohnung verlässt. Ich muss erst weg sein. Und küsse Tanja und Juri von mir, und sag ihnen, dass ihr Vater sie immer lieben wird.“
Sie küssten sich ein letztes Mal, er hielt sie ganz fest in seinen Armen. Dann riss er sich los, machte die Haustüre auf und war fort.
Mila ließ sich auf einem Stuhl nieder und konnte nicht aufhören zu weinen. In ihrem Innern war ein unsäglicher Schmerz, der ihr die Luft nahm und das Atmen schwer machte. Was sollte sie tun? Hatte Wassili Recht, wenn er sagte, dass man den Russen ihre Verbindung zu den Deutschen erklären könnte? Würden sie auf sie hören? Aber dann stieg dieses Bild vor ihr hoch, das Olga in ihr erweckt hatte, als sie davon erzählte, dass diese Familie einfach so erschossen worden war. Sie musste auch an ihre eigene Familie denken, die einen im Gefängnis, die anderen irgendwo in Verbannung in Sibirien, und das nur, weil sie das kleine Wörtchen „deutsch“ in ihrem Pass stehen hatten. Nein, sie konnte nicht bleiben! Es hatte nichts mit Richard zu tun, es hatte mit ihr selbst und den Kindern zu tun. Sie musste weg von hier, so bald wie möglich.

Die nächste Zeit verging wie im Flug. Mila bereitete die Abreise vor. Sie wusste, diesmal würden sie sehr lange unterwegs sein. Richard hatte ihr gesagt, dass sie erst einmal in ein Lager in Polen gebracht werden würden. Von dort konnte sie vielleicht schon eine Anfrage beim Roten Kreuz stellen. Die hatten sicher eine Nebenstelle dort. Es kamen ja viele Flüchtlinge dort an.
Die letzten Tage war Richard nicht mehr so oft bei ihr gewesen. Er hatte so viel zu tun mit den ganzen Transporten nach Deutschland. Und - er musste natürlich sehen, dass er ihr die nötigen Papiere besorgen konnte.
Dann war alles bereit. Sie hatte die Papiere für sich und die Kinder. Der Rucksack war gepackt. Richard hatte ihr Felle besorgt, so dass die Kinder nicht frieren mussten. Er gab ihr nochmal genaue Instruktionen, wie sie sich verhalten sollte. Sie spielten verschiedene Situationen durch.
Ja, und er hatte noch etwas für sie. Er gab ihr einen Zettel mit der Adresse seiner Familie in Dortmund.
„Wenn du dich in Berlin niedergelassen hast, möchte ich, dass du zu meiner Mutter fährst. Ich weiß natürlich nicht, in welchem Zustand du sie dort antriffst, aber ich werde versuchen, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, damit sie nicht allzu sehr überrascht ist, wenn du plötzlich vor ihrer Tür auftauchst.“
„Aber was soll ich ihr denn sagen, ich kann doch kein Deutsch?“
„Bis dahin wirst du sicher etwas Deutsch gelernt haben. Aber falls es mir nicht gelingt, sie zu informieren, hier ist ein Brief für sie, in dem ich ihr alles erkläre.“
Er gab Mila ein Briefkuvert.
„Und das hier“, er hielt ihr ein Foto hin, „das ist für dich.“
Es war ein Foto von Richard. Es zeigte ihn lächelnd, das Lächeln, das sie so gerne mochte, in Uniform. Seine Mütze hatte er für das Foto abgenommen. Ja, so würde sie ihn in Erinnerung behalten.

Es war ihre letzte gemeinsame Nacht, in der sie sich aneinanderklammerten wie zwei Ertrinkende.
Am nächsten Morgen musste Richard wieder früh los. Mila sollte mit den Kindern erst am Spätnachmittag zum Bahnhof aufbrechen.
„Geh zeitig los mit den Kindern, damit du im Bahnhof einen Platz bekommst. Es wird voll werden und es ist noch ungewiss, wann genau der Zug kommt. Ich werde kommen und euch in den Zug setzen. Versprochen.“

 

„Mila, wach auf!“
Jemand rüttelte sie an der Schulter. Sie musste über ihren Gedanken eingeschlafen sein.
„Wach auf, Mila!“
Sie öffnete die Augen. Wo war sie? Ach ja, mit ihren Kindern im Bahnhof, und sie wartete auf den Zug, der sie nach Deutschland bringen würde.
Richard stand vor ihr. Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn.
„Ich bin so froh, dass du gekommen bist.“ Sie war noch ganz schlaftrunken.
„Ich hatte es dir doch versprochen“, erwiderte er.
Er half ihr aufzustehen. Mila schaute sich um. Es war voll geworden in der Bahnhofshalle. Die Kinder erwachten ebenfalls, da sie die Nähe und Wärme der Mutter nicht mehr spürten und drückten sich an Richard. Er nahm beide auf den Arm und küsste sie.
„Ja, jetzt werden wir doch mal sehen, ob da draußen nicht bald der Zug kommt.“, sagte er zu ihnen. „Mama muss hier mal warten.“ Er lächelte Mila zu.
Mit den Kindern auf dem Arm ging er durch die Halle, stieg über die schlafenden Menschen hinweg und erreichte die Tür, die zum Bahnsteig führte. Dort standen bewaffnete Soldaten, die ihn aber, ohne nach Papieren zu fragen, durchließen. Er verschwand mit den Kindern nach draußen. Mila stand unschlüssig da. Sie wusste nicht, ob sie ihre Sachen schon zusammenpacken sollte und wartete einen Augenblick. Sie sah auf die Bahnhofsuhr. Die schien die richtige Zeit anzuzeigen. Es war kurz nach 23 Uhr. Also hatte sie doch ein paar Stunden geschlafen. Immer noch herrschte dieselbe gedrückte Stimmung, die keine lauten Stimmen zuließ. Die meisten Leute lagen auf dem Boden und schliefen.
Da tauchte Richard wieder in der Tür auf, aber ohne Kinder. Er kam wieder zu ihr zurück und sah ihren fragenden Blick.
„Ich habe die Kinder beim Bahnhofsvorsteher untergebracht. Er hat mir den Raum überlassen und dort ist es warm. Komm, du kannst auch dort warten.“
Er half ihr, die Sachen zusammen zu packen. In seiner Begleitung musste auch sie ihre Papiere nicht vorzeigen. Die Soldaten salutierten.
Der Raum neben der großen Bahnhofshalle war winzig. Eine Bank und ein kleiner Tisch standen dort, und die Kinder saßen beide auf der Bank, wo Richard sie hingesetzt hatte. Ein kleiner Holzofen verbreitete eine angenehme Wärme, so dass Mila und die Kinder ihre Mäntel ausziehen konnten.
„Ich habe mich erkundigt, ungefähr in einer Stunde ist es soweit, und wir können hier warten. Olga war heute Abend da und wollte sich von dir verabschieden. Sie wusste nicht, dass du so früh von zu Hause weggehen würdest. Ich habe ihr vorgeschlagen, dass sie hierherkommen soll, aber sie hat Angst. Wenn sie es nicht schafft, dann soll ich dir von ihr sagen, dass sie euch liebt und immer im Herzen behalten wird.“
Mila nickte. Ja, sie konnte verstehen, dass Olga nicht mitten in der Nacht durch die Stadt gehen wollte. Es war vielleicht auch besser so, denn der Abschied wäre zu schmerzlich gewesen. Die Schwiegereltern vermisste sie nicht, aber Olga, die eine liebe Freundin geworden war, würde sie sehr vermissen.
Mila gab den Kindern etwas zu essen und zu trinken. So saßen sie also da, und Mila wusste, dass es die letzten Stunden waren, die sie mit Richard verbringen würde. Er streichelte ihre Hand. Er empfand den Abschied von ihr als genauso schmerzhaft. Hier hatte er eine Frau gefunden, bei der er das Gefühl hatte, dass er mit ihr hätte glücklich werden können. Dieser Krieg hatte sie zusammengebracht und würde sie wieder trennen. Aber vielleicht gab es ja noch eine Möglichkeit, wenn der Krieg zu Ende war. Er wünschte es sich so sehr.
Um die Kinder ein bisschen zu unterhalten, stimmte er noch einmal ihr Lieblingslied an - „Lili Marleen“ – und mit verzückten Blicken lauschten die beiden der Melodie.

Die Stunde verging schnell. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, ein Mann streckte den Kopf herein und rief: „Er kommt gleich!“
Es war soweit! Die Sachen waren eingepackt, die Mäntel wurden schnell angezogen. Mila nahm den Rucksack und Richard die beiden Kinder. Es würde sehr chaotisch werden auf dem Bahnsteig, wenn der Zug einlief. Bei so vielen Leuten bestand die Gefahr, dass die Kleinen niedergetrampelt werden würden, wenn die Menge losstürmte.
Durch das Fenster der kleinen Wachstube sah Mila, dass sich viele bewaffnete Soldaten auf dem Bahnsteig eingefunden hatten. Passagiere wurden aber noch keine zugelassen.
„Man will verhindern, dass Panik ausbricht, wenn der Zug kommt. Die Soldaten werden die Leute zurückhalten und jede Waggontüre wird von einem Soldaten bewacht“, erklärte Richard. Ja, die Deutschen waren bekannt für ihre Ordnung, und jetzt war Mila dankbar dafür.
Der Zug fuhr ein. Wieder hörte Mila das Kreischen der Bremsen und wieder erfüllte Rauch den Bahnsteig. Richard öffnete die Tür des Wachraums und gleichzeitig öffneten sich die Türen zum Bahnhofsgebäude. Die Menschen hasteten auf die Waggontüren zu, Schreie, Rufe, Pfiffe ertönten, es war ein ohrenbetäubender Lärm und im Nu war der Bahnsteig gefüllt mit Menschen und Koffern und anderen Gepäckstücken. Mila hatte Mühe, Richard hinterherzukommen, der sich mit den Kindern auf dem Arm einen Weg durch die Menge bahnte. Sie sah, dass er der erste war, der eine der Waggontüren erreichte. Jetzt war sie beruhigt. Er würde ihnen Plätze besorgen. Sie wurde mitgerissen von einer Menschenlawine, die sie in Richtung des Zuges drückte. Endlich hatte auch sie sich zur Waggontür durchgekämpft. Richard stand im Zug und nahm den schweren Rucksack entgegen. Er hatte die Kinder schon auf zwei Plätze gesetzt und ihnen gesagt, dass sie sitzenbleiben mussten, bis er mit Mama zurückkäme. Wenn sie irgendjemand von den Plätzen wegschieben wollte, sollten sie ganz laut schreien. Endlich hatten Mila und Richard die Plätze erreicht.
„Wir haben niemanden hierher gelassen“, berichtete Tanja stolz und Juri nickte zustimmend.
Sie richteten sich auf ihren Plätzen ein. Es war ein großes Abteil, das sie mit vielen anderen Menschen teilen würden. Es wurde immer voller im Waggon. Die meisten Menschen verließen Russland für immer und hatten versucht, so viel wie möglich von ihrem Hausstand mitzunehmen. Milas Rucksack war nur ein Bruchteil davon, was die meisten Leute in dem Abteil dabei hatten. Dementsprechend sah es auch aus. Die Gänge waren vollgestellt mit allen möglichen Gepäckstücken, so dass man fast nicht mehr laufen konnte, ohne nicht irgendwo auf etwas zu treten. Aber Mila war es egal. Sie hatte 2 Plätze für sich und die Kinder und hatte sich in ihr Schicksal ergeben. Was blieb ihr auch anderes übrig?
Jetzt musste sie Richard Lebewohl sagen. Würde sie ihn je wieder sehen? Würde dieser Krieg je enden? Richard küsste die Kinder noch ein letztes Mal, und jetzt nahm er Mila noch einmal in den Arm. Sein Mund war ganz nah an ihrem Gesicht und er summte ihr sein Lieblingslied ins Ohr – Lili Marleen. Er wischte ihr die Tränen aus den Augen.
„Nicht weinen, Liebste.“ Er wiederholte die Worte aus dem Lied: „Wir werden uns einst wiedersehen.“
Sie küssten sich ein letztes Mal.
„Bald seid ihr in Sicherheit. Vergiss mich nicht.“ Mila schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht sprechen. Nein, sie würde ihn nie vergessen.
Dann musste er den Zug verlassen. Mila drängte sich mit den Kindern ans Fenster. Dort stand er und winkte ihr zu. Sie winkte zurück mit tränengefüllten Augen. Der Zug setzte sich in Bewegung und er verschwand aus ihrem Blickfeld.

   Die Reise ins Unbekannte hatte begonnen. Sie hauchte ein Loch an die gefrorene Fensterscheibe des Zuges und sah die winterliche Landschaft vorbeifliegen. Der Lärm und die Stimmen in dem großen Abteil umschwirrten sie, aber sie hörte nicht zu, und da verschwammen sie zu einem Nichts, gingen unter in dem Geratter des Zuges.
Hier war sie, die sich früher ihre Zukunft so leicht und einfach vorgestellt hatte, die mit ihrem Leben immer vollauf zufrieden gewesen war, die sich nie um etwas wirklich Sorgen machen musste, da sie immer Helfer gehabt hatte, die ihr zur Seite gestanden waren. Und jetzt? Was hatte das Schicksal noch mit ihr vor? In diesen letzten Jahren hatte sie so viel erlebt und gesehen, dass sie in gewisser Weise erwachsen geworden war. Sie dachte an ihre Familie und vor allem an ihre Mutter. Wie es ihr wohl jetzt ginge, dort in Sibirien? Sie hoffte, dass sie noch am Leben war. Diese Ungewissheit war es, die sie am meisten peinigte. Wenn sie nur ein kleines Lebenszeichen erhalten hätte, bevor sie wegfahren musste. Aber außer dem Brief von ihrer Schwester hatte sie keine Nachrichten mehr erhalten. Würde sie ihre Familie je wiedersehen? Der Krieg hatte so viel zerstört in ihrem Leben. Eigentlich hätte sie die Deutschen dafür hassen müssen. Aber sie hatte gesehen, dass nicht alle Deutschen so waren, und jetzt war sie sogar unterwegs nach Deutschland, ins Land der Feinde. Feinde, Freunde, wer war was? Die Feinde waren dabei, sie zu retten und die Freunde trachteten ihr nach dem Leben. Das war der Krieg, der alles ins Gegenteil umkehrte.
Und sie hatte die große Liebe kennengelernt, und das mit einem Mann, mit dem sie sich eigentlich nicht hätte einlassen sollen. Sie holte das Foto hervor, das ihr Richard gegeben hatte. Ja, das war er, der Mann, den sie liebte und den sie nach dem Krieg hoffentlich wieder sehen würde. Sie war zuversichtlich, musste es sein, denn das gab ihr die Kraft, alle Mühen und Gefahren durchzustehen.

 

Die Fahrt war lange, zog sich hin. Tanja und Juri hatten keine Lust, ständig nur ruhig dazusitzen, aber zum Rumlaufen war es zu eng, es stand überall zu viel Gepäck in den Gängen. Nach einer Weile wurde auch das Aus-dem-Fenster-Schauen langweilig. Sie vermissten den Kindergarten, in dem sie sich so wohl gefühlt hatten und die anderen Kinder, mit denen sie sich angefreundet hatten. Sie quengelten, aber diesmal gab es keine Babuschka, wie auf der ersten Zugfahrt, die sich mit ihnen beschäftigte.
Immer wieder blieb der Zug stehen, stundenlang, bevor es dann wieder weiterging. An jeder Station stiegen mehr Leute ein. Es wurde immer voller, obwohl eigentlich kein Platz mehr war. Aber immer noch passten Menschen in die Wägen. Mila verteidigte ihre beiden Plätze, wenn jemand meinte, dass die Kinder doch zu klein wären um einen ganzen Sitzplatz einzunehmen. Unterstützung bekam sie dann von den anderen Frauen im Waggon, von denen sich viele in der gleichen Lage wie sie befanden.
Sie näherten sich der polnischen Grenze. Aber da war keine Grenze mehr, das war alles das Deutsche Reich, Polen war ja besetzt von den Deutschen. Und weiter rollte der Zug in Polen. Die erste Zwischenstation sollte ein Lager in Litzmannstadt sein, hatte man gehört. Dort würde man erst mal untergebracht werden. Wie es danach weiterging, das wusste noch niemand. Aber das Wichtigste war, dass man wieder einmal frische Luft schnappen und sich die Beine vertreten konnte. Vielleicht bekam man da ja auch wieder ein warmes Essen und einen richtigen Schlafplatz.

Der Zug fuhr in den Bahnhof von Litzmannstadt ein - Endstation. Zusammen mit allen anderen stieg Mila mit den Kindern aus dem Zug. Es herrschte ein unglaubliches Durcheinander, und der Lärm auf dem Bahnsteig war so unerträglich laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Mila ließ sich von den Menschenmassen durch die Bahnhofshalle zum Ausgang treiben. Sie wusste ja sonst nicht, wohin sie sollte. Vor dem Bahnhofsgebäude angekommen, schaute sie sich ratlos um. Im Zug hatte es geheißen, dass man sich beim Roten Kreuz melden sollte, um einen Schlafplatz im Lager zu bekommen. Aber wo war das Rote Kreuz? Der Platz war voller Menschen, so dass man nicht sehen konnte, ob es irgendwo eine Anlaufstelle gab. Mila musste jemanden fragen. Sie wollte die Kinder nicht alleine lassen, damit sie nicht Gefahr laufen würde sie zu verlieren. Also kämpfte sie sich mit den Kindern an der Hand wieder zurück zur Bahnhofstüre durch. Dort hatte sie einen Bahnbeamten stehen sehen.
„Rotes Kreuz?“, schrie sie gegen den Lärm an.
Der Mann nickte und zeigte nach innen in die Bahnhofshalle. Sie musste sich also wieder da hineindrängen. In der Halle auf der rechten Seite hing über einer Glastüre ein Schild mit der Aufschrift: „Rotes Kreuz.“ Das hatte sie vorher in der Menschenmenge nicht wahrgenommen. Aber jetzt war sie endlich da. Sie atmete erleichtert auf und reihte sich in die Schlange ein, die sich vor der Tür gebildet hatte. Es dauerte nicht lange und sie war an der Reihe. Mit den wenigen Worten Deutsch, die sie inzwischen gelernt hatte, konnte sie sich verständigen. Sie bekam eine Karte für sich und die Kinder. Damit hatte sie Anrecht auf einen Schlafplatz und ein warmes Essen am Tag. Ihr wurde ein Platz in der Sporthalle eines Schulgebäudes zugeteilt, das zum Glück nicht allzu weit vom Bahnhof entfernt war. Sie bekam ein Stück Papier, auf dem aufgezeichnet war, wo sich die Schule befand und machte sich auf den Weg. Es war kalt und es schneite wieder. Der Schnee türmte sich auf den Gehsteigen, und Mila musste sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnen. Sie sehnte sich nach Wärme und Sauberkeit, aber dieser Wunsch würde wahrscheinlich in dieser Unterkunft nicht erfüllt werden. Sie zog die Kinder an der Hand hinter sich her. Sie waren müde und ihre kleinen Beinchen hatten große Mühe, durch den Schnee zu stapfen. Die Menschen auf den Straßen waren, wie sie, alle irgendwohin unterwegs. Zum Glück waren die Flüchtlinge in mehreren Unterkünften untergebracht, so dass Mila die Hoffnung hatte, dass es dort nicht allzu voll sein würde. Bald hatte sie die Schule erreicht. Es war ein großes, graues Gebäude und sah unverwechselbar aus wie eine Schule. Sie musste um das Schulgebäude herumgehen und erreichte die Sporthalle. Dort war sie mit den Kindern untergebracht. Am Eingang zur Sporthalle zeigte sie ihre Karten vor. Ja, sie war am richtigen Ort. In der Schulkantine könnten sie dann einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekommen, und dann wurde Mila ihre Schlafstätte zugewiesen. Sie trat in die Halle. Lampen an der Decke verbreiteten ein grelles Licht, obwohl es Tag war. Überall waren Feldbetten aufgestellt. Die meisten Familien hatten die Feldbetten im Viereck gestellt, so dass sie in der Mitte einen kleinen Raum für sich hatten. Das ließ die Halle nicht so lagermäßig erscheinen. Wenn es Sommer gewesen wäre, hätte man sie sicher in Zelte gesteckt, aber im Winter war es draußen zu kalt dafür. Es war nicht kalt in der Halle, aber wirklich warm konnte man es auch nicht nennen. Deshalb saßen die meisten in ihren Mänteln da. Mila fröstelte und zog den Mantel fester um sich. Das war also jetzt ihre Bleibe für die nächsten Tage. Sie bekam drei Feldbetten und Decken. Das war gut, da konnten die Kinder in eigenen Betten schlafen. Sie schob die Betten so zusammen, dass sie mit der Wand ein Viereck bildeten und hatte somit auch einen kleinen Raum, in dem sie sich mit den Kindern aufhalten konnte. Die Halle war fast voll und würde sicher noch voller werden, und alle würden zusammenrutschen müssen, aber sie war froh hier zu sein, denn jetzt waren sie erst mal in Sicherheit. Wie viel Zeit würden sie hier verbringen müssen? Wann würde es weitergehen? Das waren Fragen, die sich hier wohl alle stellten.
Richard hatte Mila empfohlen, sich schon hier an das Rote Kreuz zu wenden, um ihre Tante in Berlin ausfindig zu machen. Ja, das würde sie tun, das würde ihr eine Beschäftigung geben. Außerdem wollten die Kinder unterhalten werden. In der Halle waren viele Familien mit Kindern einquartiert worden. Nach ein paar Tagen und einigen schüchternen Versuchen, hatten Tanja und Juri kleine Freunde gefunden und waren froh sich in der Halle mit ihnen beschäftigen zu können. Sie spielten Fangen und Verstecken und Mila konnte sie dort getrost unter Aufsicht anderer Eltern lassen und musste sie nicht mitnehmen, als sie sich zum Roten Kreuz aufmachte.
Im Bahnhof angekommen, in dem es genauso zuging wie an dem Tag, als sie angekommen war, erfuhr sie, dass für Familienzusammenführungen und das Auffinden von vermissten Personen eine Stelle im Rathaus eingerichtet worden war. Also machte sie sich auf den Weg dorthin. Sie schien aber nicht die Einzige zu sein, die einen Dienst in Anspruch nehmen wollte, denn die Eingangshalle des Rathauses war voller Menschen. So hieß es wieder Schlange stehen und warten. Sie war froh, dass sie die Kinder nicht dabei hatte. Als sie zum Schalter kam und erklärte, was sie vom Roten Kreuz wissen wollte, bekam sie einen Zettel mit einer Nummer.
„Das ist Ihre Nummer, mein Fräulein. Sie werden irgendwann mal aufgerufen“, erklärte ihr der Mann, der hinter dem Schalter saß.
„Wird es lange dauern?“, erkundigte sie sich. Der Mann sah sie mitleidig an.
„Na ja, zwei oder drei Tage kann es schon noch gehen. Ich würde an Ihrer Stelle heimgehen und morgen wiederkommen. Dann sehen Sie, wie weit wir gekommen sind.“
Sie bedankte sich höflich. Also würde sie morgen wiederkommen, und vielleicht auch noch übermorgen. Sie hatte ja Zeit. Es sah nicht so aus, als würde sie in den nächsten Tagen weiterfahren können.
Nach ein paar Tagen war es soweit. Sie teilte ihr Anliegen den Angestellten vom Roten Kreuz mit und musste einen Fragebogen ausfüllen mit genauen Angaben. Sie würden den Fragebogen so bald wie möglich nach Berlin schicken. Sie sollte sich, wenn sie dort angekommen war, ans Deutsche Rote Kreuz wenden. Die würden ihr sicher helfen können. Mila war beruhigt. Es würde alles gut werden.

Nachdem sie eine Woche mit ihren Kindern in Litzmannstadt ausgeharrt hatte, bekam sie Bescheid, dass in den nächsten Tagen einige Züge nach Berlin fahren würden. Es hatten sich inzwischen so viele Menschen angesammelt, dass ein Zug nicht mehr ausreichte. An mehreren Tagen hintereinander würden die Züge gehen. Es gelang ihr, in einem der Züge einen Platz zu ergattern. Diesmal saßen die Kinder bei ihr auf dem Schoß, aber die Fahrt würde, wenn es keine Angriffe gäbe, nicht sehr lange dauern. Der Zug war wieder übervoll, und Mila war froh, dass ein Ende der Fahrt abzusehen war. Unterwegs hörten sie immer wieder das Brummen von Flugzeugen. Aber zum Glück war es ziemlich weit entfernt und schien nicht in ihre Richtung zu kommen.
„Die bombardieren Berlin.“ Das war eine Aussage, die Mila erschauern ließ. Sie wollte nicht daran denken, was wäre, wenn sie ihre Tante in Berlin nicht antreffen würde.
Sie näherten sich der Stadt. Der Zug fuhr jetzt ganz langsam, und man sah zerstörte Häuser und Straßen. Es war also doch wahr gewesen. Berlin war bombardiert worden. Zwischendrin fuhren sie wieder durch Stadtteile, die noch ziemlich unversehrt waren. Bis zum nächsten Angriff vielleicht? Mila sah die Ruinen und sah die Menschen, die umhergingen und dachte an alle die Opfer, die der Angriff sicher gefordert hatte und an die Sinnlosigkeit dieses ganzen Krieges. Im Zug war es ganz still geworden. Alle drängten sich an die Fenster.
Langsam fuhren sie in den Bahnhof ein. Plötzlich fühlte Mila sich so verloren und der ganze Mut, ihre Zukunft zu meistern, den sie noch während der Fahrt gehabt hatte, verschwand. Doch dann fühlte sie die Hände der Kinder in ihren Händen und sie wusste, dass sie nicht aufgeben durfte. Sie hielt die Kinder ganz fest an der Hand, ihren Rucksack hatte sie auf dem Rücken. So stieg sie aus dem Zug. Das Gedränge auf dem Bahnsteig war unbeschreiblich. Mila wollte gleich am Bahnhof zum Roten Kreuz gehen. Da gab es sicher eine Anlaufstelle, an die sie sich wenden konnte. Wieder musste sie sich durch eine Menschenmenge kämpfen, um zu dem Schild zu kommen, das schon von weitem sichtbar war: „Deutsches Rotes Kreuz.“ Jetzt würde es sich entscheiden, ob sie hier eine Zukunft hatte oder nicht. Sie überlegte, was sie machen würde, wenn es plötzlich Bombenalarm geben würde. Sie sah sich um: Wo waren die Luftschutzkeller? Es musste doch auch hier welche geben. Aber bevor sie diesen Gedanken zu Ende denken konnte, hatte sie die Tür erreicht, welche in den Saal führte, in dem an unzähligen Tischen die Angestellten des Roten Kreuzes saßen, die versuchten den Leuten zu helfen und die Fragen zu beantworten, die ihnen gestellt wurden. Manche Menschen im Saal weinten, anderen sah man an, dass sie verzweifelt waren. Was hatten sie wohl erfahren? Vom Tod eines nahen Angehörigen, oder dass der, den sie gesucht hatten, hier unbekannt war? Und andere standen einfach nur da, ganz still.
Nun hieß es wieder warten. Aber auch das hatte irgendwann ein Ende. Die Kinder waren so müde und erschöpft, dass sie sich auf den kalten Boden setzten und nicht aufstehen wollten. Also nahm Mila Juri auf den Arm und zog Tanja hoch. Sie taten ihr Leid, aber was sollte sie machen? Auf dem Boden sitzend würden sie sich erkälten.
Endlich kamen sie an die Reihe und die Kinder konnten sich auf den Stuhl setzen, der vor dem Tisch stand, dem sie zugeteilt waren. Mila war aufgeregt. Ihr Herz schlug bis zum Hals.
Sie gab der Angestellten den Namen ihrer Tante und erklärte ihr, dass sie wohl irgendwo in Berlin wohnen müsse, zumindest war das das Letzte, was sie von ihr gehört hatten. Sie erzählte ihr auch, dass sie in Litzmannstadt einen Fragebogen ausgefüllt hatte, der nach Berlin geschickt werden sollte.
„Wann war denn das?“, fragte die Angestellte.
Als sie hörte, dass die Dokumente erst vor einer Woche ausgefüllt worden waren, meinte sie: „Nein, dann können sie noch nicht hier sein.“
Mila sah sie ratlos an. Ihr wurde heiß und kalt. Sollte sich hier doch noch alles zerschlagen? Die Angestellte sah ihren verzweifelten Blick.
„Ja, dann wollen wir mal sehen.“ Sie zog ein dickes Adressbuch hervor und fing an, darin zu blättern. Auf einer Seite machte sie Halt und fuhr mit dem Finger hoch und runter, dabei murmelte sie unverständliche Namen. Da, der Finger blieb stehen! „Pod…Podnebes…Podnebesnich“, buchstabierte sie. „Ist das Ihre Tante?“
Mila blieb vor Freude das Herz stehen. Nein, es war unfassbar. Sollte das wirklich wahr sein? Sie wäre vor Freude am liebsten um den Tisch herum gelaufen und hätte die Angestellte umarmt und geküsst.
Ja, auch der Vorname stimmte, und … sie hatte auch eine Telefonnummer.
„Wir rufen am besten gleich dort an, dann kann Ihre Tante Sie abholen.“
Sie wählte eine Nummer. „Hallo, Zentrale, bitte verbinden Sie mich mit folgender Nummer.“ Sie nannte die Nummer und wartete eine Weile. Dann gab sie Mila den Hörer.
„Ja“, hörte Mila eine Stimme.
„Tante“, flüsterte Mila „ich bin‘s, Mila.“ Einen Moment war Stille auf der anderen Seite.
Dann ein Ungläubiges „Mila? Mein Gott, Kind! Was ist passiert? Wo bist du?“
„Ich bin in Berlin am Bahnhof beim Roten Kreuz mit meinen Kindern Tanja und Juri. Sie haben euch ausfindig gemacht. Ich bin in Berlin, Tante.“
Die Tante schien sprachlos zu sein. Dann sprudelte sie los und wollte wissen, wo, warum, weshalb. Sie stellte eine Unmenge Fragen, aber Mila konnte nichts mehr sagen.
„Kannst du uns abholen?“, war das Einzige, was Mila noch hervorbrachte.
„Ach, entschuldige, natürlich. Wir sind gleich da.“
Mila bedankte sich bei der Frau vom Roten Kreuz und versicherte ihr, dass sie sehr dankbar wäre für alles, was sie für sie getan hatte. Dann ging sie mit den Kindern auf den Bahnhofsplatz, um auf ihre Tante zu warten. Sie war so aufgeregt. Hatte ihre Fahrt jetzt wirklich ein Ende? Sie konnte sich an ihre Tante nur noch schwach erinnern, denn sie war noch ein Kind gewesen, als ihre Tante mit ihrem Mann und der Stieftochter Russland verlassen hatte. Sie hatten ab und zu von ihr gehört, aus Paris und dann zum Schluss aus Berlin. Ihre Mutter hatte viel von ihr erzählt, von der kleinen Schwester, da sie wohl immer eine sehr extravagante Persönlichkeit gewesen war. Jetzt endlich würde sie sie kennenlernen. Mila wünschte sich, dass ihre Mutter das erfahren könnte.
Kurze Zeit später kam ein Auto vorgefahren. Daraus stieg eine vornehm gekleidete Dame. Mila wusste, dass die Tante nur ein paar Jahre jünger war als ihre Mutter, aber dieser Frau, die ihr da entgegenkam, sah man das Alter nicht an. Bekleidet war sie mit einem langen Mantel, wie es in Berlin, trotz des Krieges, gerade Mode war. Auf den dunklen Haaren saß ein kleines Hütchen, das leicht auf eine Seite hin verschoben war. Von diesem Hütchen hing ein Schleier, der das halbe Gesicht bedeckte und ihr das Aussehen eines Filmstars gab. Die Handschuhe und Stiefeletten vervollständigten das Bild. Hinter ihr stieg eine junge Frau aus dem Auto. Das war wohl ihre Stieftochter, die in Milas Alter sein mochte. Im Gegensatz zur Eleganz ihrer Stiefmutter war sie unauffällig gekleidet.
„Mila, mein Kind! Komm, lass dich umarmen.“ Sie drückte Mila an sich und hörte nicht auf, sie wieder und wieder zu küssen.
„Nein, und das sind deine Kinder! Ach, wie schön!“ Und auch die Kinder wurden hochgehoben und gedrückt und abgeküsst. Sie blickten die fremde Frau, die sie da umarmte, überrascht, aber neugierig an.
„Und das ist Nina“, stellte sie ihre Stieftochter vor. Auch sie begrüßte Mila und die Kinder aufs Herzlichste.
Das Gepäck war schnell im Auto verstaut und mit Nina am Steuer fuhren sie durch die Stadt. Immer wieder kamen sie an Ruinen und abgebrannten Häusern vorbei.
„Ist das nicht furchtbar? Und es wird noch schlimmer werden, da bin ich mir sicher. Solange bis alles in Asche versinkt.“
Mila war entsetzt, diese Zerstörung jetzt von nahem zu sehen. Es war einfach bedrückend.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Sie hielten an, die Tante stieg aus und sagte. „Und hier Mila, ist unser Restaurant direkt am Hohenzollerndamm.“
Mila war überrascht. Ein Restaurant hatte sie nicht erwartet. Über dem Eingang stand in großen Buchstaben „Baikal.“ Ja, natürlich, der Mann ihrer Tante war ja aus Sibirien, vom Baikalsee.

 

„Wir wohnen hier im Haus hinter unserem Restaurant. Ihr werdet natürlich erst mal bei uns bleiben.“ Sie stiegen die Treppe hoch in den ersten Stock und kamen in eine Wohnung mit hohen Decken und großen Fenstern. Die Möbel waren schwer und sehr erlesen. Mila betrachtete die Einrichtung mit Ehrfurcht. So etwas hatte sie noch nie gesehen, und vor allem jetzt, nach dem, was sie in den letzten Jahren erlebt hatte, schien ihr alles wie ein Traum.
„So, jetzt setzt euch hin.“ Das waren, nach der Begrüßung, die ersten Worte, die Mila von Nina hörte. Sie schien sehr zurückhaltend zu sein und wollte sich wohl nicht in den Vordergrund drängen. Das wäre beim Auftreten der Tante auch schwierig zu machen gewesen.
„Also, ihr bekommt jetzt erst mal etwas zu essen. Währenddessen macht euch Nina ein Zimmer zurecht, nicht wahr?“ Sie wandte sich an Nina.
„Natürlich, Mamotschka.“
„Ihr schlaft euch dann aus. Morgen ist bei uns im Restaurant geschlossen und da musst du uns erzählen, warum ihr hier in Berlin seid und was mit meiner Schwester ist, und überhaupt alles. Und ihr“, die Tante wandte sich an die Kinder, „könnt morgen mit uns spazieren gehen.“
Die Kinder strahlten sie an. Spazieren waren sie schon lange nicht mehr gegangen. Das hörte sich wirklich gut an. Mila war ihrer Tante dankbar. Sie hatte das Gefühl, ein neues Zuhause gefunden zu haben.
Mila bekam ein schönes, großes Zimmer, in dem sie es sich mit den Kindern bequem machte. Die Fenster gingen auf den Hinterhof. Auch in diesem Zimmer standen schwere Möbel und zwei große Betten, in welchen sie mit ihren Kindern schlafen konnte. Es war warm und gemütlich. Wenn nur nicht Krieg wäre!
Nach dem Frühstück am nächsten Morgen, das vor allem die Kinder sehr genossen, da sie hier sogar Milch zu trinken bekamen, setzten sich alle ins Wohnzimmer. Die Kinder krabbelten auf dem Boden herum und die Tante und Nina sahen Mila erwartungsvoll an.
„So, jetzt erzähl mal!“, forderte die Tante sie auf.
Und Mila begann zu erzählen. Von ihrer Fahrt in die Ukraine, von den Schwiegereltern, von den Problemen, die sie mit ihnen gehabt hatte. Sie verschwieg nichts, auch nicht ihr Verhältnis zu Richard. Als sie davon berichtete, sah sie, wie die Tante die Augenbrauen hob und recht kritisch schaute. Aber sie sagte nichts. Als Mila fertig war, wurde es still im Wohnzimmer. Die Kinder hatten sich während des Erzählens auf den Boden gelegt und auch den Worten der Mutter gelauscht. Die Tante beugte sich zu ihnen und strich beiden über die Haare.
„Was habt ihr in eurem kurzen Leben schon durchmachen müssen.“ Sie hob Juri hoch und setzte ihn sich auf die Knie. Sie schien ganz verliebt in beide Kinder zu sein. Sie hatte ja nie selbst welche gehabt und hatte vor, sie zu verwöhnen, wo sie nur konnte.
„Aber du hast von einem Brief erzählt, den du von deiner Schwester bekommen hast, in dem sie beschreibt, wie es der Familie geht.“
Mila holte den Brief aus ihrem Gepäck und gab ihn ihr. Sie nahm der Tante Juri ab, damit sie den Brief lesen konnte, und Tanja krabbelte zu Nina auf den Schoß, während sich Juri an Mila drückte.
Sie las den Brief laut vor, damit auch Nina wusste, was darin stand. Nachdem sie ihn durchgelesen hatte, stöhnte sie auf:
„Mein Gott, mein Gott! Was wird nur mit ihnen werden, da in Sibirien. Wenn ich ihnen nur helfen könnte.“
„Ich glaube“, meinte Mila, „die einzige, die ihnen jetzt helfen kann ist meine Schwester Sweta. Vielleicht kann ihr Mann, Iwan Jakowitsch, doch einiges bewirken und sie nach Moskau zurückholen. Aber erst muss mal dieser furchtbare Krieg zu Ende sein.“
„Du siehst ja“, meldete sich jetzt auch Nina zu Wort, „In Berlin fallen die Bomben und es gehen die Gerüchte um, dass Stalingrad gefallen ist. Vielleicht ist ja doch ein Ende des Krieges absehbar.“
Mila betrachtete Nina, während sie sprach. Sie war eine ausgesprochen schöne, junge Frau mit ebenmäßigen, weichen Gesichtszügen. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie hinten mit einem Kamm hochgesteckt. Sie war zierlich und strahlte eine Natürlichkeit aus, die auf Mila einen sehr sympathischen Eindruck machte. Mila wunderte sich, dass sie nicht verheiratet war.
Dann war Mila an der Reihe zu fragen.
„Tante, wie seid ihr denn hier nach Berlin gekommen? Wir haben gehört, dass ihr in Paris gelebt habt, und plötzlich seid ihr in Berlin?“
„Das kann ich dir heute Abend erzählen. Den Kindern wird es sonst zu langweilig. Ich habe ihnen doch versprochen, dass wir spazieren gehen. Und dann muss Ninotschka euch noch den Luftschutzkeller zeigen. Wir werden hier von den Bomben wohl auch nicht verschont bleiben.“
Das Restaurant lag nicht weit von der russischen Kirche entfernt. Die Tante wollte sich etwas ausruhen, also führte Nina die Kinder und Mila herum und zeigte ihnen die Umgebung.
Sie kamen an der russischen Kirche vorbei.
„Sie ist erst vor nicht allzu langer Zeit eingeweiht worden. Sieh mal, wie schön sie ist, Mila.“ Mila war im Kommunismus aufgewachsen und hatte keinerlei Beziehung zu Religion entwickeln können. Ihre Mutter hatte sie zwar taufen lassen, protestantisch, sicher ein Erbe der deutschen Vergangenheit, aber weiter hatte Mila keine religiöse Unterweisung bekommen. Das ging vielen so, die zu der Zeit in Russland lebten. Religion war tabu! Aber egal wie Mila über Religion dachte, die Kirche war wirklich wunderschön. Sie stand weiß im Nachmittagslicht und die Kreuze auf den Kuppeln überstrahlten alles. Ein wunderschöner Anblick inmitten des Kriegselends.
Tanja und Juri waren froh, wieder unbeschwert laufen zu können. Sie spielten und liefen und purzelten übereinander und man sah, wie sehr sie diesen Spaziergang genossen. Aber über den Straßen lag eine unheilvolle, bedrückende Stille.
Nina führte sie auch in den Luftschutzkeller, der sich ein paar Häuser weiter befand, und Mila hoffte, dass sie ihn nicht oft würden benutzen müssen. Während sie den Hohenzollerndamm entlang gingen, beschloss Mila, Nina das zu erzählen, was sie ihr und der Tante am Morgen verschwiegen hatte, als sie ihnen von Richard erzählte. Der kritische Blick, den ihr die Tante zugeworfen hatte, als sie von ihm sprach, hatte Mila zum Schweigen gebracht. Jetzt vertraute sie sich Nina an.
„Nina, ich habe vor, nach Dortmund zu Richards Mutter zu fahren. Du weißt, Richard ist der Deutsche, den ich in Kriwoi Rog kennengelernt habe.“
Nina erschrak: „Das willst du wirklich machen? Jetzt im Krieg dahin fahren? Weißt du, wie gefährlich das ist?“
„Ja, aber ich habe es ihm versprochen und ich möchte seine Mutter kennenlernen“, meinte Mila. „Vielleicht fahre ich in ein paar Wochen, auf jeden Fall sobald wie möglich.“
„Mila, ich weiß nicht, ob du das wirklich machen solltest. Und wenn sie nicht mehr da wohnt, bist du umsonst gefahren.“
Nina wollte ihr die Idee ausreden. Aber Mila war fest entschlossen, ihren Plan durchzuführen.
„Dann habe ich es wenigstens versucht. Hilfst du mir, Nina?“
„Ja, natürlich, wenn du dich gar nicht davon abbringen lässt.“ Nina hatte ihren Widerstand aufgegeben.
„Aber sag mal, Nina“, fuhr Mila fort, „warum bist du eigentlich nicht verheiratet? Es gibt doch sicher genügend Männer, die dich heiraten würden.“
„Ach Mila“, antwortete Nina traurig. „Ja, Männer gibt es genug. Aber ich hatte nie die Möglichkeit. Ich musste mich doch immer um meine Eltern kümmern. Als Papa noch lebte, brauchte er mich, und jetzt“, sie machte eine Pause, „jetzt kann ich doch Mamotschka nicht alleine lassen.“
„Du könntest mit deinem Mann doch bei der Tante leben und dann für sie sorgen.“ Mila machte nochmal einen schwachen Versuch.
„Oh Gott, nein, nie und nimmer“, brach es aus Nina raus. „Mamotschka würde so etwas nie wollen. Es hat ja schon einige Männer in meinem Leben gegeben, aber es ist dann nie etwas daraus geworden.“
Während des Gesprächs waren sie wieder in der Wohnung angekommen. Der Tag verlief ruhig und Mila war schon neugierig darauf, zu hören, was die Tante und Nina zu erzählen hatten. Endlich war es Abend, die Kinder waren im Bett und die Erwachsenen setzten sich im Wohnzimmer zusammen.
„Du willst jetzt sicher hören, wie wir hier gelandet sind“, begann die Tante. Mila nickte.
„Ninotschka, wenn ich etwas falsch erzähle oder vergesse, musst du mich unterbrechen. Also, Mila, du weißt ja, dass mein geliebter Mann Nikolai aus Sibirien war, genauer gesagt, vom Baikalsee. Er hatte dort Silber- und Edelsteinminen.“
„Deshalb haben wir ja auch unser Restaurant „Baikal“ genannt“, warf Nina ein.
„Ja, genau. Also, Nikolais erste Frau, Ninas Mutter, war früh gestorben, und so suchte er eine Gouvernante für Ninotschka. Ich nahm die Stelle an, und wie es so kommt, kamen wir uns näher.“ Sie lachte schelmisch und zwinkerte Mila zu. „Kurz gesagt, wir heirateten und ich blieb bei ihm in Sibirien. Wir wohnten in der Nähe von Irkutsk, bis die Bolschewiki kamen. Wir mussten ziemlich schnell alles zusammenpacken, konnten aber einiges an Wertvollem mitnehmen. Der Weg zurück nach Moskau war zu gefährlich, also machten wir uns auf den Weg nach Harbin in China. Viele waren mit uns unterwegs, alle, die Angst vor den Bolschewiki hatten und es nicht mehr nach Europa geschafft hatten. Harbin war eine russische Stadt mitten in China, und eigentlich hätten wir dort bleiben können. Aber mein Nikolai wollte nach Europa. Er hatte einen großen, grünen Nephrit aus seinen Minen mitgenommen, und den wollte er verkaufen. Du weißt vielleicht, dass ein Nephrit ein wertvoller Stein ist, und er hoffte in Europa einen Käufer zu finden. Also kamen wir nach Paris. Wir lebten vom Verkauf der Steine, die wir mitgenommen hatten. Aber unser größter Schatz, der grüne Nephrit, war so groß und teuer, dass Nikolai keinen Käufer finden konnte.
Dann kamen in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht, und Nikolai meinte, dass die vielleicht interessiert wären an dem Nephrit. Also setzte er sich mit ihnen in Verbindung und bekam eines Tages die Nachricht, Goebbels möchte sich mit ihm zu einem Gespräch treffen. Noch wohnten wir ja in Paris, aber als dann Nikolai mit Goebbels verhandeln sollte, war es einfacher, wenn wir in Berlin wohnten. Also zogen wir nach Berlin um, hier in diese Wohnung. Noch während die Gespräche liefen - es ging ja um Millionen, soweit ich das mitbekommen habe - brach der Krieg aus und die Verhandlungen wurden abgebrochen. Mein geliebter Mann ist vor einem Jahr gestorben. Da haben wir dann von den Steinen, die wir noch hatten, dieses Restaurant gekauft. Und jetzt sind wir hier.“
„Und was ist mit dem Nephrit passiert?“
„Den haben wir hier im Hof eingegraben.“
„Was?“, brachte Mila ungläubig heraus.
„Ja, was sollten wir denn tun? Wir konnten ihn doch nicht so einfach hier herumliegen lassen. Dort im Hof ist eine Rasenfläche, da haben wir ihn eingegraben und da liegt er noch. Wenn der Krieg vorbei ist, graben wir ihn wieder aus und verkaufen ihn.“

Sie machte eine Pause. Mila wusste nicht, ob sie das ernst meinte mit dem Wiederausgraben. Aber ja, warum nicht? 
„Das war jetzt unsere Geschichte“, fuhr die Tante fort. „Aber nun zu morgen. Was hältst du davon, wenn du ab morgen mit uns zusammen im Restaurant arbeitest? Wir können dich gut gebrauchen. Die Kinder nehmen wir erst mal mit, falls es Fliegeralarm gibt. Dann können wir uns ja überlegen, ob du nicht ein Kindermädchen anstellen kannst, während du arbeitest. 

Ja, und noch was muss ich dir zum Restaurant erklären. Wir liegen hier ja nicht so weit entfernt von der russischen Kirche. Die Leute gehen in die Kirche und dann kommen sie zu uns, vor allem die Männer. Es gibt hier viele Emigranten, die nach der Revolution hier gelandet sind. Du wirst sehen, Offiziere der weißen Armee und auch Generäle. Und dann haben wir hier natürlich auch noch bolschewistische Spione. Die treffen sich hier alle bei uns und versuchen sich gegenseitig auszuspionieren. Und dann haben wir noch die Deutschen. Aber die lassen uns in Ruhe. Wahrscheinlich haben wir das dem Goebbels zu verdanken.
Es ist eine ganz bunte Gesellschaft, die sich hier trifft. Aber du wirst sehen, die Männer sind alle sehr höflich und zuvorkommend, so wie es sich für einen Mann gehört. Aber jetzt kommt, lasst uns ins Bett gehen.“
Bevor Mila einschlief, dachte sie an Richard. Wo er wohl jetzt war? Ob er immer noch in Kriwoi Rog war? Konnte er sich vorstellen, wie es ihr ging? Nein, wahrscheinlich nicht. Sie hätte ihn so gerne wissen lassen, dass es ihr gut ging und dass er sich ihretwegen und der Kinder wegen keine Sorgen zu machen brauchte.

Am nächsten Tag machten sie sich nach dem Frühstück alle auf ins Restaurant. Die Kinder waren begeistert von der Idee, dort spielen zu können. Es war ja der ideale Spielplatz, hinter der Theke, unter den Tischen und in der Küche. Mila wurde den anderen Angestellten vorgestellt. Es gab zwei Köche und noch eine andere junge Frau, Asja, die mithalf beim Bedienen. Tante organisierte alles, sie war die Chefin. Sie hatte dafür gesorgt, dass das Restaurant der Mittelpunkt der russischen Emigrantenszene war, und das Geschäft lief gut. Es war so, wie Tante es beschrieben hatte. Die alten Weißgardisten trafen sich hier, um in Erinnerungen zu schwelgen. Die Zarenzeit, an die sich Mila nicht erinnerte, da sie noch ein Kind gewesen war, wurde wieder lebendig. Die Tante und Nina kannten alle, und alle wurden jeden Tag aufs Neue persönlich begrüßt. Dann gab es einige, die versuchten, sich möglichst unsichtbar zu machen, aber immer dann in der Nähe auftauchten, wenn Gespräche im Gange waren, oder die politische Lage in Russland besprochen wurde.
„Das sind die bolschewistischen Spione,“ flüsterte Nina Mila zu.
Bevor es aber dann zu heiß herging, schritt die Tante meistens ein. Sie wollte keine Schwierigkeiten bekommen.
Die Männer achteten und bewunderten sie. Sie war da mittendrin wie ein Feldmarschall.
Den drei weiblichen Angestellten, Mila, Nina und Asja wurde von den früheren weißrussischen Offizieren und Generälen der Hof gemacht. Sie waren höflich und zuvorkommend, Kavaliere der alten Schule, und Mila konnte sich gut vorstellen, wie es damals in der Zarenzeit in diesen Kreisen zugegangen war. Doch das war eine untergegangene Welt, die nur noch in der Emigration bestand.

Das Restaurant wurde aber nicht nur von Russen besucht, sondern war auch Treffpunkt des deutschen Adels, des niederen und des hohen. Tante wusste mit großzügigen Geschenken alle an sich zu binden.
Am besten hatten es die Kinder. Bis Mila ein Kindermädchen gefunden hatte, durften sich die beiden im Restaurant aufhalten. In kürzester Zeit kannten sie alle Gäste und waren mit allen befreundet. Diese Männer, die oft ihre Familien und Kinder in den Wirren der Revolution oder danach verloren hatten, waren begeistert von ihnen. Tanja und Juri wurden nach Strich und Faden verwöhnt. Und dann war da noch die Tante, die von den beiden auch nicht genug bekommen konnte. Wenn sie irgendwas angestellt hatten, nahm sie sie immer in Schutz, und die Kinder liefen auch immer zu ihr hin, wenn sie etwas wollten. Niemand hatte eine Chance, gegen die Tante anzukommen, was die Kinder betraf. Sie war ein Ersatz für die Großmutter, die sie schon vergessen hatten.
Tanja war eine kleine Schauspielerin. Manchmal setzte sie Juri auf einen Stuhl und befahl ihm, da sitzenzubleiben. Selbstverständlich widersetzte er sich ihren Wünschen nicht. Er saß gehorsam da und wartete auf das, was da kommen würde. Dann stellte sich Tanja in Position vor ihm auf und begann zu tanzen und zu singen. Am liebsten sang sie das Lied, das sie von Richard gelernt hatte, und „Lili Marleen“ erschallte durch den Raum. Die Erwachsenen klatschten begeistert Beifall, wenn sie fertig war mit ihrer Vorstellung.
Aber diese Stimmung, die im Restaurant herrschte, wurde leider allzu oft unterbrochen von dem Sirenengeheul, das einen Fliegeralarm ankündigte. Mila zog dann den Kindern schnellstens die Mäntel und Mützen an und flüchtete zusammen mit den anderen in den nahegelegenen Luftschutzkeller. Dort saßen sie, manchmal stundenlang. Man konnte hören, wie die Bomben einschlugen, und die Kinder fingen an zu weinen. Oft sang Mila ihnen dann ein Lied vor oder erzählte ihnen eine Geschichte, damit sie sich nicht so ängstigten. Wenn dann die Entwarnung erfolgte, krochen alle wieder heraus aus ihren Verstecken und die Straßen belebten sich wieder.
Am schlimmsten war es aber, wenn mitten in der Nacht der Alarm erfolgte. Dann hieß es, die Kinder aus dem Bett zu holen und sie schnell warm einzupacken. Nina packte dann meistens den noch schlaftrunkenen Juri und Mila nahm Tanja auf den Arm, und dann liefen sie hinüber zum Keller. Wann würde das alles ein Ende haben?

 

Es waren ein paar Wochen vergangen, und der Gedanke an Richard ließ Mila keine Ruhe. Sie wollte seine Mutter treffen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Seine Mutter zu sehen würde ihn ihr wieder ein Stückchen näher bringen. Sie musste mit der Tante darüber reden und dann versuchen, einen Zug nach Dortmund zu bekommen. Beides war gleichermaßen schwierig. Aber egal, was die Tante dazu sagte, Mila würde sich auf keinen Fall von ihrem Plan abbringen lassen.
Und so wagte sie es eines Abends, ein Gespräch anzufangen.
„Tante“, begann sie, „du erinnerst dich, ich habe dir, als ich hergekommen bin, von Richard erzählt.“
„Ja.“ Die Tante warf ihr einen kurzen Blick zu.
„Er hat mir seine Adresse gegeben und ich möchte seine Mutter aufsuchen.“ Jetzt war es heraus. Sie hatte es schon lange mit sich rumgetragen. Sie hatte ein Donnerwetter erwartet, und war sehr erstaunt über die Reaktion der Tante.
„Ja, das habe ich mir schon gedacht. Du willst das jetzt machen?“, fragte sie.
„Ja“, antwortete Mila, „sobald ich eine Fahrkarte nach Dortmund bekommen habe.“
„Na gut! Ninotschka und ich werden solange auf die Kinder aufpassen, denn die willst du doch wohl nicht mitnehmen, oder?“
„Nein, nein, natürlich nicht.“
Mila war erleichtert. Sie ging zur Tante hin und küsste sie.
„Danke, vielen Dank!“

Eine Woche später saß Mila früh morgens im Zug nach Dortmund. Es war ihr gelungen, eine Fahrkarte für die Hin- und Rückfahrt zu erstehen. Sie hatte Richards Brief an seine Mutter in der einen Manteltasche und einen Brief, den Mila an Richard geschrieben hatte und seiner Mutter geben wollte, in der anderen. Sie befühlte beide Briefe. Sie war nervös. Wie würde sie empfangen werden? Würde sich Richards Mutter überhaupt mit ihr unterhalten wollen? Je weiter sie fuhr, desto öfter sah sie zerstörte Städte und je mehr sie sich Dortmund näherte, desto schlimmer wurde es. Dortmund lag in Trümmern. Bei den meisten Häusern waren die Dächer eingestürzt, und viele waren bis in die erste Etage hinunter zerstört. Man schaute durch die eingerissenen oder herabgefallenen Mauern des Eingangsbereichs auf die dahinterliegenden Mauern, die noch standen. Wände waren es, Innenwände von Zimmern, in denen mal Familien gewohnt hatten. Da klebten noch die Tapeten, teilweise waren sie verbrannt, teilweise hingen sie in Fetzen herab. An manchen Wänden hingen Bilder der ehemaligen Bewohner dieser Wohnung. Sie hatten ihre Bilder nicht mehr von den Wänden nehmen können. Sie waren von den Bomben getroffen und in den Tod gerissen worden. Soviel Tod und Zerstörung ringsum. Kaum irgendetwas war noch heil. Wie konnten Menschen da überhaupt noch leben? Es war grauenhaft.
Mila stieg aus dem Zug. Die Tante hatte ihr geraten, sich an die Bahnhofsmission zu wenden und dort den Weg zu erfragen. Das war wahrscheinlich die einzige Möglichkeit zu erfahren, wo Richards Mutter wohnte. Sie zeigte den Zettel mit der Adresse vor und bekam die Auskunft. Sie hatte Glück, sie konnte den Weg vom Bahnhof bis zum Nordmarkt, wo sich die Mutter hoffentlich noch aufhielt, zu Fuß gehen. Langsam ging sie durch die Straßen. Die meisten Häuser entlang ihres Weges waren zerstört. In den Ruinen spielten Kinder. Menschen mit vollgeladenen Leiterwägen gingen an ihr vorbei. Wahrscheinlich hatten sie da ihr letztes Hab und Gut gerettet. Es war Verzweiflung in den meisten Gesichtern zu sehen. Sie ging weiter durch die zerstörte Stadt. Nach gut einer halben Stunde Fußmarsch meinte sie, die Straße gefunden zu haben. Sie fragte einen Mann, der rauchend an der Straßenecke stand. Ja, es war richtig. Jetzt musste sie nur noch das Haus finden. Hier in der Straße waren die Häuser unversehrt, und sie hatte Glück, sie fand die Hausnummer. Und hier stand auch der Name „Adler“ – 2. Stock. Jetzt war Mila sehr aufgeregt. Sie atmete tief durch, stand einen Augenblick unschlüssig da, und dann klingelte sie, einmal. Sie wartete. Nichts rührte sich. Dann klingelte sie noch einmal. Sie hörte einen leisen Summton und drückte die Tür auf. Jetzt in den 2. Stock. Langsam stieg sie die Treppe hoch. Hier musste es sein. Sie blieb vor der Wohnungstür stehen. Da war ein kleines Schild mit dem Namen „Adler“. Sie klopfte. Die Tür ging einen Spalt breit auf und eine Frau sagte mit leiser Stimme:
„Ja, bitte?“
Mila räusperte sich. „Sind Sie Frau Adler?“
Die Antwort war kurz: „Ja.“
„Ich heiße Mila. Ich bin eine Bekannte Ihres Sohnes Richard. Ich habe ihn in der Ukraine kennengelernt.“
Mila hatte inzwischen so viel Deutsch gelernt, dass sie sich einigermaßen verständlich machen konnte, auch wenn sie mit starkem russischen Akzent sprach.
„So?“ Frau Adler schaute sie von oben bis unten an. Mila befürchtete, dass sie ihr die Tür vor der Nase zuschlagen würde und sagte schnell:
„Ich habe einen Brief für Sie von Richard.“ Sie zog den Brief aus der Manteltasche.
Die Tür ging etwas weiter auf. Die Frau sah sich ängstlich im Treppenhaus um und sagte dann zu Mila:
„Kommen Sie herein!“
Mila trat in einen dunklen Flur und wurde weiter in das Wohnzimmer geführt. Das erste, was ihr auffiel, waren zwei große Koffer.
„Ich werde heute noch zu meinem Bruder aufs Land fahren“, sagte sie, nachdem sie Milas Blick gesehen hatte. „Es ist zu gefährlich hier, die Bomben fallen fast jeden Tag. Wir haben zu viel Industrie hier.“
Mila sah sich im Zimmer um. Es war sauber und aufgeräumt. Auf der einen Seite stand eine Anrichte mit vielen Fotografien. Mila hätte sie gerne angeschaut. Es waren sicher welche von Richard dabei. Vor der Anrichte war ein kleiner Esstisch mit einer weißen, bestickten Tischdecke. Mila fiel das auf, denn so eine ähnliche Tischdecke hatte ihre Mutter auch gehabt. Mila überfiel ein Gefühl der Trauer. Sie musste mit den Tränen kämpfen. Jetzt nur nicht an zu Hause denken!
Frau Adler zeigte auf einen Stuhl, der auf der anderen Seite stand. Mila setzte sich. Hier stand ein Sofa, davor ein kleiner Tisch und links und rechts ein Sessel. Auf dem Boden unter dem Tisch lag ein schwerer, dunkler Teppich. Das Zimmer wurde vom Licht, das durch die beiden hohen Fenster kam, erhellt, aber die dunklen Möbel machten einen traurigen Eindruck. Mila reichte der Frau Richards Brief. Frau Adler setzte sich auf das Sofa, riss ihn auf und begann zu lesen. Das also war Richards Mutter! Sie war großgewachsen und sehr schlank. Richard hatte die gleiche Statur, kam Mila in Erinnerung. Ihr Gesicht war fast hager zu nennen, und sie hatte die grauen Haare streng nach hinten gekämmt und in einem Knoten im Nacken zusammengefasst. Ihre Kleidung sah nach Reise aus. Mila war froh, dass sie sie noch angetroffen hatte. Wäre sie einen Tag später gekommen, hätte sie vor verschlossenen Türen gestanden.
Es vergingen einige Minuten, bis Richards Mutter den Brief durchgelesen hatte. Es war ganz still im Zimmer. Dann legte sie ihn zur Seite und sagte:
„Sie können aber nicht hier bleiben.“
Ihre Stimme klang feindselig.
„Richard hatte schon immer eine Schwäche für die Russen, seitdem er sich in seiner Jugend mit diesem Russenjungen herumgetrieben hat“, begann sie. „Ich habe ihn gewarnt damals, aber er hat nicht auf mich gehört.“ Sie sprach wie zu sich selbst. „Das wird ihm nochmal den Kopf kosten. Ach, wäre doch nur sein Vater hier.“ Sie sah hinüber zu der Anrichte mit den Fotografien. „Der würde ihm den Kopf schon wieder zurechtrücken, schon alleine der Nachbarn wegen.“
Sie saß eine Weile schweigend da, so als ob sie ganz vergessen hatte, dass Mila hier war. Dann schien sie Mila wieder zu bemerken und stand auf.
Mila erhob sich auch. Sie hatte begriffen, dass sie hier nicht willkommen war. Sie hätte noch gerne von Richard erzählt, und gehört, ob die Mutter vielleicht wusste, wie es ihm ging. Aber Frau Adler war so abweisend, dass Mila es nicht wagte, etwas zu sagen. Trotzdem, den Brief an Richard wollte sie ihr noch übergeben. Sie zog ihn aus ihrer Manteltasche.
„Ich habe Richard einen Brief geschrieben. Wenn Sie so freundlich wären und ihn ihm geben, falls er zu Ihnen kommt.“
Sie reichte ihr den Brief. Dann wurde sie hinausbegleitet und die Tür hinter ihr ging zu. Die Mutter hatte nicht einmal geantwortet, als Mila „auf Wiedersehen“ gesagt hatte.
So, das war also das Treffen mit Richards Mutter gewesen. Mila kämpfte mit dem Tränen. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Natürlich, sie war Russin, eine Feindin des deutschen Volkes, und vielleicht hatte Richards Mutter einfach nur Angst gehabt. Mila setzte sich auf die Treppe und stützte den Kopf in die Hände. Tränen rollten über ihre Wangen. Ach, Richard!
Sie hoffte, dass seine Mutter ihm den Brief übergeben würde, wenn er auf Fronturlaub war, dass sie wenigstens das tun würde.
Sie würde also wieder zum Bahnhof gehen und dort warten, bis sie den Zug nach Berlin nehmen könnte. Sie musste lange warten. Der nächste Zug ging erst am Morgen darauf. Sie setzte sich im Bahnhof auf eine Bank und verbrachte dort die Nacht. Sie war nicht die einzige, die das tat. Der Bahnhof war voller Menschen, die alle darauf warteten, auf die eine oder andere Weise hier wegzukommen.
Das Leben ging weiter. Sie war um eine Erfahrung reicher, aber zugleich um eine Hoffnung ärmer geworden, nämlich die Hoffnung, von Richards Mutter herzlich aufgenommen zu werden.
    Tanja und Juri liefen ihr freudig entgegen, als sie die Haustüre aufsperrte. 
„Sieh mal Mama, wie schön wir tanzen können!“ Tanja sprang herum, während sie wieder ihr Lieblingslied sang, „Lili Marleen.“ Und Juri stand da und klatschte im Takt in die Hände und stampfte mit seinen kleinen Beinen. Mila war so froh, dass sie die Kinder hatte. Sie waren ihr ganzer Schatz und Reichtum. Sie nahm beide in die Arme und küsste sie. 
„Wunderschön, wie ihr das macht. Ihr seid richtige Künstler.“
Nina stand in der Türe. „Sie waren ganz brav!“, sagte sie. 
„Aber nun kommt, wir wollen runtergehen ins Restaurant und der Tante und Asja helfen.“ Mila nahm die beiden Kinder an die Hand. Am Abend würde sie der Tante und Nina erzählen müssen, wie es ihr in Dortmund ergangen war, denn beide erwarteten von ihr einen detaillierten Bericht. Viel hatte sie ja nicht zu sagen.

 

Das Leben in Berlin wurde immer schwieriger. Jetzt kamen die Bombenangriffe regelmäßig, manchmal tags, manchmal nachts. Sie hatten keine Ruhe mehr. Es galt nur noch zu überleben. Einesteils waren diese Angriffe fürchterlich, aber andererseits nährten sie die Hoffnung, dass dieser Krieg bald ein Ende haben würde.
Wenn die Nächte nicht von Bombenangriffen unterbrochen wurden, so waren es immer wieder andere Zwischenfälle, die die Menschen aus dem Schlaf rissen. Schüsse, Schreie, Gekreische, und am nächsten Morgen erzählte die Nachbarin: „Heute haben sie schon wieder welche abgeholt.“ Alle lebten in ständiger Angst.
Das Restaurant am Hohenzollerndamm war immer noch Mittelpunkt der weißrussischen Emigranten und sowjetischen Spione. Es war wie eine Insel im Flammenmeer. Aber auch hier kam es vor, dass einer der Gäste verschwand und niemand wusste, was mit ihm geschehen war.
Mila arbeitete jeden Tag und sie war froh, dass sie etwas zu tun hatte. Sie hatte eine junge Frau gefunden, die ihr für ein kleines Entgelt die Kinder manchmal abnahm. Sie ging mit ihnen spazieren und hielt sich dann mit ihnen in der Wohnung auf.

An einem Abend, kurz bevor das Restaurant geschlossen wurde, kam Asja, Milas Kollegin, zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr, dass sie in den Hinterhof gehen sollte, dass da jemand auf sie wartete.
Mila erschrak: Wer konnte das sein? Sie ging zur Hintertür und trat in den Hof. Licht aus den Fenstern der umliegenden Häuser fiel in den Hof, aber das genügte nicht, um ihn zu erleuchten. Es war dunkel. Auf der einen Seite waren Kisten aufgestapelt mit Waren aus dem Restaurant und Mila sah, dass eine Gestalt an einer dieser Stapel lehnte und rauchte. Sie konnte das Gesicht nicht erkennen, aber es war ein Mann.
„Guten Abend!“, Mila ging näher.
„Sie sind Mila?“, fragte eine ihr unbekannte Stimme auf Russisch.
„Ja, und wer sind Sie?“
„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, um Sie und mich nicht zu gefährden. Aber ich muss Ihnen etwas erzählen. Wassili ist Ihr Mann?“
Mila erschrak und einen Moment lang dachte sie, dass das vielleicht ein sowjetischer Spion war, der gekommen war, sie zu liquidieren.
Sie nickte, aber dann wurde ihr bewusst, dass er diese Kopfbewegung im Dunkeln nicht sehen konnte.
„Ja“, flüsterte sie, „was ist mit ihm?“
„Also, nachdem die Rote Armee wieder eingezogen ist, haben sie Wassili verhaftet und vor Gericht gestellt.“
„Aber warum denn?“, brachte Mila hervor.
„Sie haben gesagt, seine Frau ist eine Landesverräterin, also ist er es auch. Er wurde zum Tode verurteilt.“
„Nein, das ist nicht möglich. Bitte sagen Sie, dass das nicht wahr ist.“ Mila war entsetzt. Ihr wurde übel und sie musste sich an einer der Kisten festhalten.
„Doch, er saß bis vor kurzem in der Todeszelle. Wir haben alles versucht, ihm zu helfen. Schließlich konnten wir das Todesurteil abwenden. Er wurde begnadigt, unter der Bedingung, dass er sich scheiden lässt. Er hat natürlich ja gesagt.“
Der Mann schwieg. Mila fühlte, wie ihre Knie weich wurden. Krampfhaft hielt sie sich fest.
„Er ist jetzt noch im Gefängnis, wird aber bald freigelassen. Ich konnte mit ihm sprechen. In der Todeszelle hat er im Wasser gestanden, die ganze Zeit. Seine Kniegelenke sind sehr in Mitleidenschaft gezogen. Aber es geht ihm jetzt wieder besser. Er hat mich zu Ihnen geschickt, dass ich Ihnen das sagen soll.“
Mila stöhnte auf. „Oh nein, mein Gott! Wie haben Sie mich denn gefunden? Das ist alles meine Schuld.“
„Aber Sie wären sicher nicht mehr am Leben, wenn Sie da geblieben wären und Ihre Kinder auch nicht. Die Sowjets räumen richtig auf. Ich muss aber jetzt wieder gehen. Es wird hier für mich zu gefährlich.“
Mila wollte noch mehr wissen. Er kannte Wassili, er hatte mit ihm gesprochen!
„Können Sie morgen Abend wieder hierherkommen? Um die gleiche Uhrzeit? Ich würde gerne noch mehr über Wassili erfahren.“ Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Bitte.“
„Ich werde es versuchen. Aber ich kann es nicht versprechen.“ Er trat seine Zigarette aus und verschwand in der Dunkelheit.
Mila machte sich furchtbare Vorwürfe, dass sie Wassili damals verlassen hatte. Aber was nützte das jetzt? Der Mann hatte Recht, sie hätte das nicht miterlebt, sondern wäre vorher umgebracht worden. Morgen könnte sie noch mehr über Wassili erfahren. Vielleicht könnte sie dem Mann auch einen Brief an Wassili mitgeben, in dem sie ihm schrieb, wie es den Kindern und ihr ergangen war und dass es ihr gut ging. Ja, das würde sie tun!
Am nächsten Morgen erzählte sie der Tante und Nina von dem abendlichen Besuch. Sie rätselten, wer das wohl gewesen sein könnte. Wie hatte er sie ausfindig gemacht? Wie war er hergekommen? Würde er wiederkommen? Das, was er tat, war sicher gefährlich.
Mit Ungeduld erwartete Mila den nächsten Abend. Den Brief, den sie noch in der Nacht für Wassili geschrieben hatte, hatte sie in ihrer Jackentasche und immer wieder musste sie ihn berühren, um sich zu vergewissern, dass er noch da war.
Zur angegebenen Uhrzeit, wieder kurz vor Restaurantschluss, ging sie in den Hof und stellte sich an die Kisten. Hier wollte sie warten, bis der Mann käme. Sie hatte zuvor Nina gebeten, sich um die Kinder zu kümmern, sie ins Bett zu legen, wenn sie hier aufgehalten werden würde, denn sie hatte vor, den Mann genauestens nach Wassili auszufragen. Vielleicht wusste er ja auch etwas von ihrer Familie in Moskau und Sibirien.
Die Zeit verging – eine halbe Stunde, eine Stunde. Wo blieb er denn? Würde er nicht kommen? War ihm etwas zugestoßen? Mila hatte sich nur eine Jacke übergezogen und fror. Die Nacht war dunkel und langsam verloschen die Lichter in den Fenstern, die auf den Hof zeigten. Er kam nicht! Aber sie wollte noch warten. Vielleicht war er aufgehalten worden. Sie würde hier Wache halten.
Die Hintertür zum Restaurant öffnete sich und Nina steckte den Kopf durch die Türspalte.
„War er da?“, flüsterte sie.
„Nein, noch nicht. Aber er kommt sicher noch“, antwortete Mila ebenso leise. „Schlafen die Kinder?“
„Ja, ja, mach dir keine Sorgen. Aber frierst du nicht? Warte, ich bringe dir einen Mantel.“
Ein paar Minuten später kam sie mit einem Mantel und legte ihn Mila um die Schultern.
„Wie lange willst du noch warten?“
„Bis er kommt.“
Eingehüllt in den warmen Mantel setzte sich Mila auf eine der Kisten und lehnte sich an die Mauer. Sie merkte nicht, wie sie einschlief. Plötzlich wachte sie mit einem Ruck auf. Hatte sie ihn verpasst? Nein, er hätte sie sicher aufgeweckt, wenn er da gewesen wäre. Wie lange hatte sie geschlafen? Sie hatte das Gefühl, dass die Dunkelheit sich schon leicht in Morgengrauen verwandelt hatte. Sie ging ins Restaurant und schaute auf die Uhr, die dort hing. Ja, es war schon Morgen. Er war nicht gekommen! Und er kam auch die nächsten Abende nicht. Sie wartete vergebens. Was war passiert? Hatte er gar nicht kommen wollen, oder war etwas dazwischen gekommen? Wenn ja, was? Und wer war er überhaupt? Auf alle ihre Fragen gab es keine Antworten und sie überlegte, ob es je Antworten geben würde.

 

Die Monate vergingen und der Krieg wollte nicht enden. Immer öfter hasteten sie in den Luftschutzbunker. Immer größer waren die Zerstörungen, die die Bomben anrichteten. Viele Teile der Stadt lagen in Trümmern, aber ihr Stadtteil war noch größtenteils verschont geblieben. Tanja und Juri waren still geworden. Die ständige Angst hatte sie im Griff. Selten kam es jetzt vor, dass sie sangen oder durch das Restaurant oder die Wohnung sprangen.
Eines Nachts wachte Mila schweißgebadet auf. Sie hatte einen Alptraum gehabt. Was hatte sie geträumt? Sie versuchte sich zu erinnern. Ja, da kam der Traum wieder hoch. Sie stand mit ihren Kindern auf einer Brücke. Plötzlich fielen beide Kinder ins Wasser. Sie sprang ihnen nach und versuchte beide zu erreichen. Sie kämpfte gegen die Wellen und konnte die Kinder nicht fassen. Schließlich erwischte sie Tanja. Juri wurde von der Strömung abgetrieben, und da war sie erwacht. Sie setzte sich auf. Ihr Herz klopfte immer noch wie verrückt. Was für ein furchtbarer Traum! Sie stand auf und ging zu Tanjas und Juris Betten. Beide lagen da und schliefen tief. Sie küsste sie und deckte sie zu. Lange lag sie noch wach und dachte nach. Der Traum ließ sie nicht einschlafen, bis sie endlich am Morgen in einen unruhigen Schlaf fiel. Was für ein unsinniger Traum das gewesen war. Sie wollte nicht weiter daran denken.

 

Es war Dezember geworden. Eines Abends kam Mila nach der Arbeit nach Hause, und da lag im Briefkasten ein Brief für sie. Sie hatte bisher hier noch nie einen Brief bekommen. Ganz andächtig nahm sie ihn und drehte ihn in den Händen. Er war in Deutschland abgestempelt, aber die Stadt und das Datum auf dem Stempel waren so undeutlich, dass sie nicht sehen konnte, woher er kam.
Langsam öffnete sie ihn und begann zu lesen:

 

Meine liebste Mila,
ich bin gerade bei meiner Mutter zu Besuch, fahre aber bald wieder weg. Meine Mutter hat mir deinen Brief gegeben, so dass ich weiß, dass es dir und den Kindern gut geht. Das freut mich sehr!
Ich bin an die Ostfront versetzt worden und werde am Freitag, den 3. Dezember, um 12 Uhr 10 mit dem Zug durch Berlin kommen. Der Zug hat einen kurzen Aufenthalt in Berlin und ich würde mich sehr freuen, wenn du zum Bahnhof kommen würdest und wir uns sehen könnten.
Ich freue mich so darauf, dich wiederzusehen.
Dein Richard

 

Ein Brief von Richard! Mila ließ sich auf einen Stuhl nieder und las den Brief immer und immer wieder. „An die Ostfront versetzt“ – schrecklich. Aber sie würde ihn wiedersehen! Welcher Tag war heute? War es nicht der 2. Dezember? Wie lange hatte der Brief denn gebraucht? Morgen, morgen würde sie ihn wieder sehen, wenn auch nur kurz, aber trotzdem.
Sie lief mit dem Brief zur Tante und zu Nina. Sie hatten sich schon gewundert, dass ein Brief, in Deutschland abgestempelt, für Mila im Briefkasten lag.
„Hmm, ja! Er denkt wohl immer noch an dich“, sagte die Tante unbestimmt, nachdem sie den Brief gelesen hatte, während Nina Mila in den Arm nahm und drückte.
„Soll ich die Kinder morgen mitnehmen? Er würde sich sicher freuen, sie wieder zu sehen.“
„Nein, bist du verrückt? Morgen ist sicher viel los am Bahnhof. Da werden die Kinder erdrückt. Geh nur alleine hin!“
Mila war so aufgeregt, dass sie die Nacht kaum schlief. Sie hätte Tanja und Juri so gerne mitgenommen, aber Tante hatte recht, es würde sicher voll werden auf dem Bahnhof.

Als Mila am nächsten Tag am Bahnhof ankam, hatte sie das Gefühl, dass sich alle Bewohner Berlins hier versammelt hatten, um die Soldaten, die hier in den Zug steigen sollten, zu verabschieden. Schon vor dem Bahnhof war eine solche Menschenmenge, dass sie nicht wusste, wie sie auf den Bahnsteig gelangen sollte. Das hatte sie nicht erwartet. Mühsam kämpfte sie sich durch die Menschenmassen. Als sie den Bahnsteig erreicht hatte, war der Zug schon eingefahren. Aber wie sollte sie hier jemals Richard finden? Der Zug war so lang, dass sie das Ende nicht sehen konnte und immer noch strömten von überall her die Menschen. Es herrschten ein heilloses Durcheinander und ein Lärm, dass man fast taub davon wurde. Soldaten und Gepäck wurden in die Türen geschoben. Aus allen Fenstern hingen Soldaten und wurden von Händen, die sich ihnen entgegenstreckten, nicht mehr losgelassen. Küsse, Weinen, Umarmungen überall. Mila bewegte sich am Zug entlang, viel zu langsam, wie es ihr schien, und versuchte in dem Gewirr der Uniformen ein bekanntes Gesicht zu erkennen, das Gesicht, das sie liebte.
„Richard“, rief sie, „Richard.“
Aber sie wusste selbst, dass sie den Lärm mit ihrer Stimme nicht übertönen konnte. In ihr wuchs die Angst, dass sie ihn vielleicht nicht finden würde, bevor der Zug abfuhr. Aber er würde sie auch suchen, er wartete auf sie. Sie musste sich nur am Zug weiter entlang kämpfen. Die Minuten vergingen. Da, sie hörte das schrille Pfeifen, das die Abfahrt ankündigte.
„Nein!“, schrie sie verzweifelt, „nein! Richard, bitte!“
Die letzten Türen wurden zugeschlagen, die letzten Hände losgelassen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie blieb stehen. Es war zu spät. Unter den vielen Menschen und all den Soldaten hatte sie ihn nicht gefunden. Langsam fuhr der Zug aus dem Bahnhof und die Menschen auf dem Bahnsteig winkten so lange, bis nichts mehr zu sehen war. Dann verlief sich die Menge und bald war der Bahnsteig leer. Mila stand da, wie betäubt. Sie konnte es nicht glauben! Sie hatte nicht mal mehr Tränen, um zu weinen. Sie setzte sich auf eine Bank. Was war denn das Leben wert? Wie viel sollte sie noch ertragen müssen? Sie konnte nur dasitzen und vor sich hinstarren.
Ein älterer Herr setzte sich neben sie. Er war gepflegt gekleidet.
„Ich habe gerade meinen einzigen Sohn in den Zug gesetzt“, begann er.
Mila schaute ihn an und sah, dass er reden wollte. Ihr war alles egal, sie konnte genauso gut zuhören.
„Meine Frau ist vor einem Jahr gestorben – Lungenentzündung - und jetzt nimmt man mir auch noch meinen Sohn. Er ist doch noch fast ein Kind.“
Er machte eine Pause.
„Wen haben Sie zum Zug begleitet?“
Er sah sie fragend an. Mila schaute ihn nur an, sie konnte nichts sagen, nicht erzählen, dass sie den Mann, den sie liebte, noch einmal hatte sehen wollen, bevor er an die Ostfront fuhr.
„Haben Sie Kinder?“, fragte er weiter.
Mila nickte.
„Ja“, dachte sie, „Kinder! Meine Kinder sind alles, was ich noch habe.“ Alles um sie herum schien zusammenzubrechen, aber die Kinder gaben ihr noch die Kraft, die sie brauchte, um weiterzuleben. Sie erhob sich.
„Ich muss nach Hause“, sagte sie. Er sah zu ihr hoch und lächelte.
„Sie sind noch jung“, sagte er, „Ihr Mann kommt sicher wieder.“
Langsam ging sie zurück, vorbei an den zerbombten Häusern, an den Ruinen, an dem, was von Berlin noch stehengeblieben war. Vielleicht war er gar nicht im Zug gewesen, dachte Mila. Aber nein, dann hätte er ihr das mitgeteilt. Vielleicht hatten seine Vorgesetzten kurzfristig die Pläne geändert. Vielleicht! Wenn er da gewesen war, hatte er sie sicher auch gesucht. Ihr Herz war schwer vom Kummer, dass sie Richard nicht getroffen hatte. Aber er wusste, wo sie wohnte, und jetzt würde sie darauf warten, dass sie wieder etwas von ihm hörte.

 

Die Tage vergingen. Milas Leben spielte sich ab zwischen der Wohnung, dem Restaurant und dem Luftschutzkeller. Die Kinder waren ihr Ein und Alles, ihr Leben. Sie bediente jetzt meistens nur nachmittags im Restaurant, damit sie abends mit den Kindern zusammen sein konnte. Nur in Ausnahmefällen war sie abends dort. Und einer dieser Abende war solch ein Ausnahmefall. Das Lokal war voll besetzt, es gab viel zu tun. Wie so oft, vor allem, wenn die weißrussischen Offiziere zusammensaßen, erklangen alte russische Weisen. Eine schöne, nostalgische Stimmung entstand, wenn die Männerstimmen erklangen und diese wunderbaren Lieder sangen. Dann erstarben die Gespräche und alle lauschten den Gesängen. Auch Mila und Asja standen da und hörten zu. Einer der Offiziere erhob sich und mit einem wohlklingenden Tenor begann er, ein Lied zu singen. Mila hörte die ersten Worte und die ersten Töne und es war wie ein Schlag. Das war das Lied, das ihre Mutter immer gesungen hatte, wenn sie im Haus arbeitete, in der Küche oder im Garten. Es war so lange her, dass Mila das Lied zum letzten Mal gehört hatte. Es erinnerte sie an eine Zeit, die es nicht mehr gab. Eine tiefe Sehnsucht nach dieser Zeit erfüllte sie, nach ihrer Mutter und ihrer Familie. Während sich die Töne in ihr Herz bohrten, liefen ihr die Tränen wie von selbst aus den Augen und über die Wangen. Sie schluchzte auf und Asja, die neben ihr stand, sah sie erschreckt an.
„Was ist los, Mila?“, flüsterte sie.
Mila schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht darüber reden. Das Lied war beendet und alle klatschten. Bravo-Rufe ertönten. Das Publikum beruhigte sich und der normale Restaurantbetrieb wurde wieder aufgenommen.
Mila war bis ins Innerste getroffen. Sie hatte die Gedanken an ihre Familie, seitdem sie nach Berlin gekommen war, immer verdrängt. Aber jetzt, durch dieses Lied, kamen sie zurück und nahmen sie ein. Dieser Mann, der ihr von Wassili erzählt hatte, war damals die letzte Hoffnung gewesen, etwas über die Familie zu erfahren. Solange der Krieg währte, war es unmöglich, irgendwelche Informationen zu bekommen. Aber vielleicht nach dem Krieg. Ja, dann könnte sie es versuchen. Wenn nur der Krieg schon zu Ende wäre!

 

Einen Monat später bekam Mila eine Mitteilung, dass ihre Kinder mit ihr zur Kinderlandverschickung eingeteilt waren. Mila verstand nicht, was es damit auf sich hatte, und fuhr in die Stadt in das Büro, das ihr die Mitteilung geschickt hatte.
„Ja, Sie stehen hier mit Ihren beiden Kindern.“ Die Frau im Büro deutete auf ihre Liste.
„Aber ich verstehe nicht, was das bedeutet.“ Mila sah sie fragend an.
„Also, Sie werden mit Ihren Kindern nächste Woche aus Berlin rausgebracht.“
„Aber warum denn?“, frage Mila weiter.
„Die Situation in Berlin wird immer schlimmer, mit den Bombenangriffen, meine ich, und wir wollen die Kinder in Sicherheit bringen.“
„Und ich kann dann mitfahren?“
„Ja, natürlich. Ihre Kinder sind ja noch zu klein, um alleine zu fahren. Größere kommen aufs Land in Pflegefamilien. Da wird dann gut für sie gesorgt.“ Die Beamtin sah, dass Mila Zweifel hatte und versuchte sie zu beruhigen. „Das ist doch viel besser, als wenn Sie hier in Berlin immer mit diesen Bombenangriffen leben müssen. Ich kann Ihnen versichern, es wird Ihnen gut gehen. Besser als hier in der Stadt. Sie werden in einem Heim untergebracht, in dem viele Mütter mit Kindern sind.“
Mila wusste, dass diese ständige Angst und diese Aufenthalte in den Luftschutzkellern für die Kinder furchtbar waren und sie fühlte, dass sie wahrscheinlich auf dem Land mit anderen Kindern ein sehr viel ruhigeres Leben haben würden. Zum Schluss willigte sie ein. Nächste Woche würde sie mit den Kindern aufs Land fahren. Sie musste das jetzt nur noch der Tante und Nina erklären, aber die würden das sicher verstehen.
Zu Hause erzählte sie, was ihr diese Frau über die Kinderlandverschickung gesagt hatte. Beide, die Tante und Nina, hörten sich schweigend an, was Mila zu sagen hatte.
„Nun ja“, sagte die Tante schließlich, „vielleicht ist das ja eine gute Sache. Die beiden leiden wirklich unter der Lage hier.“
„Ja“, pflichtete Nina ihr bei, „so Leid es mir tut, euch wegzulassen, aber es wird euch auf dem Land sicher besser gehen. Die Kinder haben doch schon so lange nicht mehr draußen gespielt.“
Sie hatte Recht. Seitdem die Bombenangriffe zugenommen hatten, war es zu gefährlich geworden, mit den Kindern längere Spaziergänge zu machen. Gut, es blieb also bei nächster Woche!
Die folgenden Tage verbrachte Mila damit, alles für die Fahrt vorzubereiten. Den Kindern erzählte sie, wie schön es auf dem Land sein würde. Sie erzählte ihnen von den Tieren, die sie dort sehen würden, und wie gut sie es dort hätten. Die Kinder hingen fasziniert an ihren Lippen. So viele Tiere hatten sie ja in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Es war eine neue Welt, die sich da vor ihnen auftat.
Aber Mila bemerkte, dass Juri, der immer ein sehr zartes Kind gewesen war, nicht so begeistert schien wie seine Schwester. Immer öfter war er müde, legte sich auf den Boden und schlief einfach ein. Mila war etwas beunruhigt, aber sie schob das darauf, dass ihm die kommende Umstellung zu schaffen machte, bis sie eines Morgens, als sie die Kinder weckte, bemerkte, dass Juri glühte. Er hatte Fieber. Es schien sehr hoch zu sein. Er jammerte über Ohrenschmerzen und wollte nicht aufstehen. Mila rief die Tante und Nina. Sie standen zu dritt um das Bett und überlegten, ob sie gleich den Arzt rufen oder es erst mit Hausmitteln versuchen sollten. Sie entschieden sich für den Arzt, denn nächste Woche sollte Juri mit aufs Land fahren. Am Nachmittag kam der Arzt und untersuchte den kleinen Jungen.
„Tja“, sagte er, „das scheint eine richtige Mittelohrentzündung zu sein. Hat er denn so was schon mal gehabt?“
„Er war immer schon empfindlich an den Ohren“, erklärte Mila.
„Also, das Fieber ist sehr hoch. Sie müssen zusehen, dass er viel trinkt. Machen Sie ihm Ohrwickel, und ich verschreibe ihm was gegen die Schmerzen. In den nächsten Tagen müsste es besser werden.“
„Ich soll nächste Woche mit den Kindern aufs Land fahren. Was meinen Sie, Herr Doktor?“, wollte Mila wissen.
„Na ja, also, ich würde damit noch warten. Wenn er dann wieder ganz gesund ist, können Sie ja immer noch fahren. Aber die Gefahr eines Rückfalls ist zu groß, wenn er erst mal dort ist.“
Die nächste Nacht verbrachte Mila an Juris Bett. Er weinte vor Schmerzen, obwohl er die Medizin bekommen hatte. Sie schien nicht zu helfen. Das Fieber ließ den kleinen Körper zittern. Erst am Morgen fiel er in einen unruhigen Schlaf. Da legte sich Mila neben ihn und versuchte auch etwas zu schlafen. Der kleine, glühende Körper presste sich an sie. Sollte sie nochmal den Arzt rufen?
Als er wieder aufgewacht war, schien sich das Fieber etwas gesenkt zu haben. Er lag in seinem Bett und sah Mila mit seinen großen, fiebrigen Augen an.
„Tun dir die Ohren noch weh, mein Liebling?“, fragte Mila zärtlich.
Er schüttelte den Kopf. Vielleicht begann die Medizin jetzt zu wirken. Mila verbrachte den Tag an seinem Bett und auch Tanja wich nicht von der Seite ihres Bruders und versuchte ihn aufzumuntern, was er mit einem schwachen Lächeln quittierte.
Aber am Abend schnellte das Fieber wieder nach oben, und Juri lag in seinem Bett und schien niemanden mehr zu erkennen. Mila packte die Angst. Sie rief die Tante.
„Ich glaube, wir sollten ins Krankenhaus fahren, Tante.“
Die Tante sah auf den kleinen Körper.
„Ja, pack ihn warm ein. Wir fahren sofort.“
Im Krankenhaus angekommen, wurde Mila mit Juri auf dem Arm gleich in die Notaufnahme geführt. Sie erklärte kurz den Krankheitsverlauf und dann verschwand Juri in den Armen einer Krankenschwester, die ihn wegbrachte.
„Ich möchte mitkommen.“ Mila hastete hinter der Schwester her. Sie wurde aufgehalten.
„Nein, wir müssen Ihren Jungen erst untersuchen. Vielleicht hat er ja eine ansteckende Krankheit.“
„Nein, der Arzt gestern sagte, es sei eine Mittelohrentzündung.“
„Das müssen wir erst selber überprüfen. Sie können morgen zu den Besuchszeiten wiederkommen und dann auch die Angaben zu Ihrem Sohn machen.“
Mila sah, dass sie keine Chance hatte, sich dem Krankenhauspersonal zu widersetzen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als wieder heimzufahren. Sie stieg zur Tante ins Auto, die dort gewartet hatte.
„Und? Was haben sie gesagt?“, fragte sie.
„Sie müssen erst Untersuchungen machen, und ich soll morgen wiederkommen. Ach, Tante, er ist doch noch so klein. Und jetzt ist er da alleine im Krankenhaus“, antwortete Mila bekümmert.
„Mach dir keine Sorgen, Mila, die passen schon auf ihn auf“, versuchte die Tante sie zu beruhigen.
Aber in dieser Nacht fand Mila keinen Schlaf. Juri war bis jetzt immer nur mit ihr zusammen gewesen, und plötzlich waren da wildfremde Menschen um ihn rum. Wie würde er reagieren? Würde er weinen, schreien, nach ihr rufen?
Am nächsten Tag war Mila pünktlich zu Beginn der Besuchszeit im Krankenhaus und durfte, nachdem sie alle Angaben gemacht hatte, zu ihrem Juri. Er lag in der Kinderabteilung in einem Zimmer mit drei weiteren Kindern. An den Betten der anderen Kinder saßen Mütter und Verwandte. Mila trat zu ihrem Sohn ans Bett, und als er sie erkannte, leuchteten seine Augen auf. Sie setzte sich zu ihm und er umfasste ihren Hals. Sie fühlte, dass er immer noch sehr heiß war.
„Wie geht es dir, mein Liebling?“, flüsterte Mila. „Jetzt bin ich hier, jetzt ist alles gut.“ Er legte seinen Kopf in ihren Schoß und sie strich ihm über die heiße Stirn.
Die Krankenschwester betrat das Zimmer und kam auf Mila zu.
„Schwester, was hat er? Ist es diese Ohrenentzündung?“, wollte Mila wissen.
„Ich kann Ihnen leider dazu nichts sagen“, erwiderte die Schwester. „Aber wenn Sie hier warten wollen, in einer Stunde kommt der Arzt und dann kann er Ihnen alles erklären. Ihr Sohn ist aber ein ganz ein Lieber“, fügte sie hinzu.
Mit einem leisen Stimmchen bat Juri Mila, sie solle ihm doch nochmal etwas über diese Tiere erzählen, die er bald sehen würde. Mila brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass sie wegen seiner Erkrankung beschlossen hatte, erst einmal nicht aufs Land zu fahren, aber sie begann, ihm von den Tieren zu erzählen. Während sie sprach, schlief er auf ihrem Schoß liegend ein. Sie hielt sein kleines, heißes Händchen in ihrer Hand. Sie hatte Angst. Er sah so zerbrechlich aus, so klein, fast durchsichtig. Sie war da, um ihn zu beschützen, aber gegen diese Krankheit war sie machtlos. Sie fühlte eine Welle der Liebe zu ihrem kleinen Sohn in sich aufsteigen, die ihr die Tränen in die Augen trieb.
Es mochte wohl eine Stunde vergangen sein, als plötzlich überall Sirenen zu hören waren. Fliegeralarm! Gerade jetzt! Eine Krankenschwester kam hereingestürmt und rief: „Wickeln Sie die Kinder in die Decken und tragen Sie sie runter in den Keller. Schnell!“ Schon hörte man das Brummen der Flugzeuge. Mila packte Juri ein, der ganz schlaftrunken war, und zusammen mit den anderen lief sie die Treppen hinunter in den Keller. Dort hatten sich schon viele Menschen versammelt. Krankenschwestern und Ärzte stützten Patienten, die sich alleine nicht so schnell bewegen konnten. Mila überlegte, was wohl wäre, wenn nicht gerade Besuchszeit gewesen wäre. Schafften es die Schwestern wirklich, alle Kinder nach unten zu bringen? Jetzt saßen sie da im Keller und warteten. Ganz laut hörten sie die Flieger und immer wieder Detonationen ganz in der Nähe. Einige der Kinder fingen an zu weinen. Mila hatte sich auf eine Bank gesetzt und hielt Juri ganz fest in ihren Armen. Er klammerte sich an sie. Nach einer halben Stunde war der ganze Spuk vorbei. Alle gingen zurück in ihre Zimmer. Mila wollte noch auf den Arzt warten, aber die Krankenschwester kam und erklärte, dass er heute nicht mehr kommen würde. Mila sollte am nächsten Tag wiederkommen.
„Ich komme morgen wieder, mein Liebling. Ich komme jeden Tag, solange du hier im Krankenhaus bist“, sagte sie Juri zum Abschied. Er lag verloren in dem Bett und sah sie nur traurig an. Er war zu schwach, um zu protestieren.
Am nächsten Tag erfuhr sie, dass es sich wirklich um eine Mittelohrentzündung handelte. Da aber das Fieber so hoch war und er so schwach war, würde er noch im Krankenhaus bleiben müssen.
Zu Hause wartete Tanja ungeduldig jeden Tag darauf, dass ihr kleiner Bruder wieder zu ihr zurückkommen durfte.
„Bald, bald, meine Liebe“, versuchte Mila sie zu beruhigen. „Er muss nur wieder gesund werden, dann kommt er zu uns zurück.“
Mila war jeden Tag bei ihm im Krankenhaus, und wenn er sie kommen sah, strahlte sein kleines Gesichtchen.
Immer wenn Fliegeralarm war - es war jetzt oft Fliegeralarm - und sie nicht im Krankenhaus war, überlegte sie, ob die Schwestern es wohl geschafft hatten, Juri nach unten in den Keller zu bringen. Es war kalt, hatten sie ihn auch warm genug eingewickelt? Kümmerten sie sich genug um ihn, wenn sie nicht da war?
Ein paar Tage waren vergangen, aber immer noch war das Fieber nicht gesunken. Mila machte sich ernsthaft Sorgen. Das war doch nicht normal, dass das Fieber so lange andauerte. Sie würde versuchen, mit einem Arzt zu sprechen.
Als sie am nächsten Tag aus dem Krankenhaus kam, sah sie auf dem Küchentisch einen Brief liegen, der an sie adressiert war. Er sah irgendwie unheilvoll aus. Langsam öffnete sie ihn. Es war nur eine kurze Mitteilung.

 
Ich möchte Ihnen mitteilen, dass mein Sohn Richard an der Ostfront gefallen ist. 
Hochachtungsvoll

Adele Adler

 

Die Worte verschwammen vor ihren Augen. Sie ließ sich auf einem Stuhl nieder und legte den Brief auf den Tisch. Eine Taubheit hatte ihren Körper ergriffen und durchdrang ihn. Sie verstand die Worte nicht, sie lösten sich auf in ihrem Kopf. Sie nahm den Brief wieder in die Hand, hoffend, dass sie etwas falsch gelesen hatte oder übersehen. Aber die Worte veränderten sich nicht. Sie saß da, wie gelähmt, und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Richard, ihr geliebter Richard, der Teil ihres Lebens geworden war, war plötzlich fort, wie verschwunden in einem schwarzen Loch. Er war fort: Nie mehr würde sie ihn sehen können, mit ihm sprechen können, ihm nie mehr von den Kindern erzählen können. Er wurde aus ihrem Leben gerissen und zugleich aus dem Herzen, er, mit dem sie gehofft hatte, ein neues Leben aufbauen zu können.
Nun war da plötzlich nur noch ein Nichts, eine gähnende Leere …
Sie konnte nicht glauben, was sie gelesen hatte. Das konnte nicht wahr sein, das durfte nicht wahr sein! Er hatte doch gesagt, dass sie nach dem Krieg zusammenkommen würden, und sie hatte ihm geglaubt. Da konnte doch so etwas nicht passieren! Sie hatte sich auf ihn verlassen. Aber es war ja nicht seine Schuld. Er hätte alles getan, um zu ihr zurück zu kommen, das wusste sie. Er würde sie nie mehr in den Arm nehmen, sie würde nie mehr seine Zärtlichkeit spüren, nie mehr würde er mit den Kindern herumtanzen und mit ihnen „Lili Marleen“ singen. Ihre Gedanken gingen immer nur im Kreis. Ein furchtbar kaltes Gefühl des Verlustes überfiel sie und ließ sie frösteln.
Sie saß immer noch da, als Nina in die Küche kam, um nach ihr zu sehen. Mila sollte eigentlich Tanja aus dem Restaurant in die Wohnung holen. Aber als sie zur verabredeten Zeit nicht erschien, fing Nina an sich Sorgen zu machen.
„Mila, wie siehst du denn aus? Wie ein Gespenst …“, rief Nina erschrocken aus. „Was ist denn los? Ist was mit Juri?“
Mila schüttelte den Kopf und reichte ihr den Brief.
„Oh Gott! Nein!“, rief Nina aus, als sie die Zeilen gelesen hatte und sah Mila an. „Komm, leg dich hin, du schaust ja furchtbar aus.“
Sie nahm Mila an der Hand und diese folgte ihr willenlos. Mila legte sich aufs Bett und plötzlich fing sie an zu weinen und zu schluchzen und wand sich wie vor Schmerzen. Die Verzweiflung, die sie fühlte, überfiel ihren ganzen Körper und sie spürte sie in jeder Faser. Die Tränen strömten ihr aus den Augen und sie konnte und wollte sie nicht zurückhalten. In ihrem Innern fühlte es sich an, als ob sie mit Messern zerschnitten würde. Der Schmerz war fast nicht auszuhalten.
„Was soll ich denn noch alles ertragen?“, stöhnte sie.
„Meine arme, arme Mila!“ Nina brachte ihr eine Tablette. „Nimm das, dann kannst du ein bisschen schlafen. Ich kümmere mich um Tanja.“ Sie saß eine Weile bei ihr am Bett und wartete, bis Mila eingeschlafen war.
In dieser Nacht hatte Mila einen seltsamen Traum. Sie saß auf einem Wagen zusammen mit Richard, und er erzählte ihr, wie schön es da war, wohin sie fuhren. Er meinte, es würde ihr da auch gefallen. Es war ein Wagen, der von Pferden gezogen wurde. Sie kamen an einer Wiese vorbei und plötzlich sah sie, dass ihre Kinder auf dieser Wiese liefen. Da wollte sie zu ihren Kindern. Sie sprang vom Wagen und rief Richard zu: „Entschuldige, aber ich kann nicht mit dir kommen. Ich muss zu meinen Kindern.“ Und sie lief über die Wiese, ihren Kindern hinterher. Dann wachte sie auf.
Es war Morgen und sie hatte Mühe sich zurechtzufinden. Was war gestern geschehen? Ach ja, jetzt erinnerte sie sich, der Brief! Aber dieser Traum? Sie sah immer noch den Pferdewagen vor sich und die Kinder, wie sie über die Wiese liefen. Aber es war wahr! Richard war tot. Ihr Traum von einem gemeinsamen Leben war beendet. Jetzt hieß es, sich zusammen zu reißen, das Leben musste weitergehen. Sie wollte ins Krankenhaus. Juri wartete auf sie. Alle anderen Sorgen musste sie zurückstellen.
Sie weckte Tanja auf, denn sie wollte gleich am Vormittag zum Krankenhaus. Tanja schlang ihre Arme um Milas Hals:
„Wann kommt denn Juri endlich wieder nach Hause? Ich möchte mit ihm spielen.“
„Bald, mein Schatz, bald.“ Mila küsste sie. „Ich fahre jetzt ins Krankenhaus und frage, wann er wieder nach Hause darf. Gut?“
Tanja nickte begeistert.
„Aber du bleibst wieder bei Tante Nina und bist ganz brav.“

Im Krankenhaus angekommen, ging Mila gleich in Juris Zimmer. Sie öffnete die Türe und ging einen Schritt hinein. Dann blieb sie stehen. Sie musste sich im Zimmer geirrt haben. Das Bett, in dem Juri sonst gelegen hatte, war leer. Sie ging noch einmal hinaus und schaute auf die Zimmernummer. Nein, es war die richtige Nummer. In ihr zog sich alles zusammen. Panik überfiel sie. Wo war Juri? Sie lief zum Schwesternzimmer.
„Wo ist mein Sohn?“ brachte sie hervor.
„Oh, Sie sind schon da? Ich habe auf Sie gewartet.“ Die Krankenschwester schaute sie ernst an. „Wir mussten Juri auf die Intensivstation verlegen. Er hat Lungenentzündung. Ich kann Sie gleich dorthin führen.“
Lungenentzündung? Wie konnte das denn sein? Wahrscheinlich hatte er sich durch das ständige Rauf- und Runtertragen in den Keller erkältet. Das Panikgefühl, das Mila überfallen hatte, wurde immer stärker. Lungenentzündung! Auf der Intensivstation! Was, wenn jetzt Fliegeralarm war?
Juri lag im Bett, noch kleiner als sonst und noch bleicher. Am Arm hatte er eine Kanüle, die an einem Tropf befestigt war. Er hob seine kleine Hand wie zur Begrüßung. Mila standen die Tränen in den Augen. Stark sein! Sie setzte sich zu ihm ans Bett.
„Schau mal, Mama! Ich habe so Schnüre im Arm“, flüsterte er.
„Ja, das habe ich gerade gesehen. Wer hat denn das gemacht?“ Mila musste die Tränen zurückhalten. Er war so stolz auf das, was er da am Arm hatte.
„Die Schwester und der Arzt. Werde ich jetzt bald wieder gesund, Mama?“
„Ja, ganz sicher, mein Lieber.“ Er lächelte sie an und schloss die Augen. Er war eingeschlafen.
Mila ging zur Krankenschwester.
„Bitte, sagen Sie mir, wie es um meinen Sohn steht“, bat sie mit brechender Stimme.
„Es ist sehr ernst. Er war diese Nacht bewusstlos, so dass wir ihn hier in die Intensivstation verlegen mussten. Leider gab es bei ihm bei dieser Ohrenentzündung Komplikationen. Jetzt hoffen wir, dass er auf die Medikamente anspricht.“
Mila ging zu seinem Bett zurück und setzte sich zu ihm. Plötzlich musste sie an den Traum denken, den sie vor Kurzem gehabt hatte: die Kinder waren in den Fluss gefallen und sie konnte nur Tanja retten. Nein, er hatte nichts zu bedeuten! Es war nur ein dummer Traum gewesen.
Es war spät geworden, als sie das Krankenhaus verließ. Es hatte den ganzen Tag über keine Bombenangriffe gegeben, der Tag war ruhig verlaufen. Mila hatte Juri wieder von seinen geliebten Tieren erzählt, Dann hatte er sich sein Lieblingslied gewünscht: Lili Marleen, und Mila hatte es ihm ganz leise vorgesungen. Er war dann eingeschlafen und Mila war gegangen. Als sie nach Hause kam, schlief Tanja schon. Mila erzählte der Tante und Nina, dass Juri Lungenentzündung hatte und auf die Intensivstation verlegt worden war. Die beiden schauten sie erschrocken an, aber sie sagten nichts, um Mila nicht weiter zu beunruhigen. Mila wollte gleich wieder am nächsten Morgen ins Krankenhaus fahren.
Als sie am Morgen dort ankam, kam ihr schon im Eingang die Krankenschwester, die Juri betreute, entgegen.
„Ich möchte Sie bitten, mit mir zu kommen“, sagte sie und nahm Mila am Arm.
Mila sah sie erschrocken an.
„Was ist passiert?“
Mila konnte kaum atmen. In ihrem Kopf wurde es ganz leer. Die Angst, die sie in den letzten Tagen immer wieder gespürt hatte, war wieder da.
„Kommen Sie!“
Sie führte Mila in einen kleinen Raum. Ein Arzt saß dort an einem Schreibtisch. Er erhob sich, als die Krankenschwester mit Mila hereinkam.
„Setzen Sie sich, bitte!“
Er deutete auf einen Stuhl. Wie in Trance setzte sich Mila.
„Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn in der Nacht gestorben ist. Wir konnten ihn nicht mehr retten.“
Die Worte hallten in Milas Ohren. Sie fiel in sich zusammen und saß unbeweglich auf dem Stuhl. Sie hörte dem Klang der Worte nach. Das, was sie am meisten gefürchtet hatte, war wahr geworden.
„Sie können ihn noch einmal sehen, wenn Sie wollen. Die Schwester wird Sie zu ihm bringen.“
Sie hörte das, was gesagt wurde, aber es drang nicht in ihr Bewusstsein.
„Sie wollen ihn doch nochmal sehen, oder?“
Mila nickte automatisch. Sie war nicht mehr sie selbst. Es war etwas anderes, was in ihr die Führung übernommen hatte. Sie folgte der Schwester in den Keller. Sie hatten Juri in den Kühlraum gebracht. Die Schwester öffnete die Tür und blieb stehen. Mila betrat den Raum. Es war ein kahler Raum ohne Fenster. Die Schwester drückte auf einen Schalter und ein trübes Licht verbreitete sich im Raum. In der Mitte stand ein Bett. Mila trat näher heran. Dort lag er mit geschlossenen Augen, friedlich, als ob er schlafen würde. Sie hatten ihm die Haare gekämmt und die Hände auf der Brust gefaltet. Mila setzte sich aufs Bett, und nahm seine Hände in ihre. Sie waren kalt. Sie küsste sie. Dann beugte sie sich zu ihm und legte ihr Gesicht neben seins. Es war genauso kalt, wie seine Hände. Sie strich über seine Stirn, seine Augen, seine Nase, seinen Mund. Das war er, ihr Sohn. Und so würde er für sie immer bleiben. Sie hatte das Glück gehabt, ihn vier Jahre lang lieben zu dürfen. Aber jetzt war er ihr genommen worden. Sie küsste ihn auf die Stirn. Sie fühlte nichts mehr, sie hatte keine Tränen mehr. Es war, als ob in ihr alles verstummt war. Sie sah keine Zukunft mehr für sich. Mit ihm war alles Leben in ihr gestorben.
Sie verließ das Krankenhaus, ohne ein Wort zu sagen, ohne zu denken. Sie ging hinunter zum Fluss und fand eine Stelle am Ufer, wo sie sich hinsetzen konnte. Sie sah nichts von ihrer Umgebung, nichts von den Leuten, denen sie begegnete. Sie wollte nicht mehr leben. Sie hatte in ihrem Leben alles verloren, was es an Werten gab, die Familie, die Heimat, ihren Mann, ihren Geliebten, und nun noch ihren Sohn. Was für einen Sinn hatte es noch zu leben? Es war kalt, aber sie fühlte die Kälte nicht. Sie sah nur das trübe Wasser, dessen leichte Wellen sich am Ufer brachen. Sie schaute den Wellen nach und wünschte, sie könnte sich in ihnen auflösen. Alles hatte seinen Sinn verloren, sie spürte nur noch eine Leere in sich. Was hatten die ganzen Kämpfe in den letzten Jahren für einen Sinn gehabt? Sie fühlte, dass das Schicksal ihr entgegenarbeitete. Sollte sie ins Wasser springen? Dann würde das sinnlose Ringen mit dem Schicksal ein Ende haben. Es war eine Weile ganz still in ihr. Sie zögerte. Doch dann kamen die Bilder ihres Traumes wieder hoch in ihr. Ihren Sohn hatte sie nicht retten können, aber sie hatte doch ihre Tochter gerettet. Nein, sie durfte ihrem Leben kein Ende machen, ihre Tochter brauchte sie. Sie musste zurück zu ihr. Es musste weitergehen. Irgendwie. Sie hatte es ja bis hierher geschafft und würde es auch weiter schaffen.

 

 

Impressum

Texte: Vera K.
Bildmaterialien: Vera K.
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Zur Erinnerung an meine Mutter, die diese Geschichte erlebt hat und die Kraft hatte, weiterzuleben. Bedanken möchte ich mich bei Jürgen, der mich immer unterstützt hat, so dass ich diesen Roman schreiben konnte.

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