Cover

Geschichte einer Liebe

Sie stützte sich auf ihren Ellenbogen und betrachtete ihn, wie er schlief. Trotz seines Alters und seiner grauen Haare war er immer noch ein sehr attraktiver Mann, dem die Frauen in einem bestimmten Alter auf der Straße hinterher schauten. Aber er war ja auch nicht uninteressiert an Frauen und sie konnte sehen, wie auch er manchen Frauen hinterher sah. Er atmete ruhig und tief, und als ihm ein kleiner Schnarchton entschlüpfte, musste sie ein Lachen unterdrücken.

Erinnerungen kamen in ihr hoch, und sie ging in Gedanken zurück zu dem Treffen, an dem sie sich in ihn verliebt hatte. Sie wusste damals nicht, dass er nicht frei war, dass eine Frau im Hintergrund stand, von der er sich nicht trennen konnte.
    Aber dann schweiften ihre Gedanken noch weiter zurück zu ihrer ersten Begegnung. Sie arbeiteten beide in derselben Branche, und sie war durch Zufall, oder Schicksal, oder wie immer man das nennen will, in den Betrieb gekommen, in dem auch er arbeitete.
In ihrer Phantasie malte sie sich jetzt aus, wie alles hätte kommen können. Sie wusste, dass es nicht so gewesen war, aber es machte Spaß sich vorzustellen, wie es sich abgespielt haben könnte. Und so trug ihre Phantasie sie zu dem, was nie wirklich stattgefunden hatte.

 

Sie hatten sich angesehen, damals, das erste Mal, und es war bei beiden wie ein Blitzschlag gewesen. Sie hatten sofort gewusst, dass sie in irgendeiner Weise zusammengehörten. Aber sie waren beide gebunden. Er hatte inzwischen schon seine zweite Frau geheiratet und hatte mit ihr ein Kind und es waren noch Kinder aus seiner ersten Ehe vorhanden. Und sie hatte auch Mann und Kinder. Sie fühlten beide, dass es ein Irrsinn war, wenn sie die Gefühle ausleben würden. Aber keiner wusste vom anderen, dass er die gleichen Gedanken hatte. So näherten sie sich langsam einander an – mal ein Wort hier, mal ein paar Worte da, Blicke, die sich zufällig begegneten, und man lächelte sich freundlich an. Wenn man auf dem Arbeitsplatz irgendwo zusammenkam, versuchten beide sich dem anderen entweder gegenüber zusetzen, um den anderen beobachten zu können, oder sich nebeneinander zu setzen, um die Ausstrahlung des anderen zu spüren. Manchmal berührten sich dann wie zufällig ihre Arme oder Hände und dann spürten sie beide ein leichtes Vibrieren. Aber immer noch wusste der eine nicht von den Gefühlen des anderen. Das Schicksal spannte beide auf die Folter. Die Spannung zwischen beiden wuchs. Ihr blieb oft der Atem weg, wenn sie ihn vom Fenster aus auf dem Hof entlanggehen sah, schwarzhaarig, schlank, in seiner lässigen Weise, und er fühlte eine heiße Sehnsucht in sich aufsteigen, wenn sie ins Zimmer trat. Ihre Art sich zu bewegen und zu sprechen, ach, einfach alles an ihr gefiel ihm. Aber keiner von beiden wagte den ersten Schritt, weil sie beide wussten, welche Konsequenzen eine Annäherung nach sich ziehen könnte.
Er wusste, er war durch seine Frau, die er ja liebte - sie hatten ja auch ein Kind miteinander - gebunden, und er hatte eigentlich nicht das Bedürfnis, irgendwelche anderen Beziehungen einzugehen. Aber diese Frau, die ihm da jeden Tag begegnete, hatte etwas in ihm anklingen lassen, was wie aus den Tiefen seiner Seele zu kommen schien.
Und auch von ihrer Seite war eigentlich kein Verlangen nach einer außerehelichen Beziehung vorhanden, denn es war für sie fern jeder Vorstellung, ihren Mann und die Kinder zu verlassen. Aber da war dieser Mann, von dem sie nun in der Nacht träumte und der ihr die Erfüllung all ihrer nie ausgelebten Wünsche zu versprechen schien.
Ja, und dann kam diese Wanderung, dieser Betriebsausflug. Man ging und lachte und unterhielt sich, und plötzlich, beide wussten nicht, wie es sich ergeben hatte, waren die anderen ein großes Stück vorausgegangen und sie waren alleine. Erst gingen sie schweigend nebeneinander her, dann versuchten beide ein Gespräch anzufangen, damit die Stille nicht zu peinlich würde. Und plötzlich, sie wussten nicht, wie das geschah, hatten sich ihre Hände gefunden. Sie schauten sich an und lachten ein bisschen schuldbewusst. Es war von beiden Seiten gleichzeitig gekommen. Keiner hatte als erster die Initiative ergriffen, es hatte sich von alleine so ergeben. Und dann standen sie voreinander und es wurde beiden klar, dass sie sich gefunden hatten. Diese erste Begegnung war voller Zärtlichkeit, und es folgten andere, in denen sie sich immer wieder beteuerten, wie sehr sie sich liebten, aber dass ihre Liebe nicht ausgelebt werden durfte, weil sie anderweitig gebunden waren. Es waren Momente von so großer Liebe und Zärtlichkeit, wie sie sie beide noch nie erlebt hatten.

 

Sie überlegte, ja, so hätte es damals sein können, aber so war es nicht gewesen. Obwohl es so lange her war, erinnerte sie sich noch genau, wie es war, als sie dort zu arbeiten anfing. Sie waren Kollegen, aber er beachtete sie kaum. Sie fand ihn attraktiv damals, aber auch ein bisschen arrogant. Sie hatte keine Ambitionen auf eine nähere Bekanntschaft, und er ja wohl auch nicht. Er schien sogar damals eher genervt von ihr zu sein, aber später, als sie dann zusammen waren, meinte er, er hätte sie sehr wohl bemerkt und sie hätte ihm gefallen, aber er hatte ja mit seinen Frauen und Kindern so viel am Hals, dass er nicht noch mehr Probleme wollte. Aber sie wusste nicht, ob das nur eine seiner Phantasiegeschichten war, die er ihr immer wieder erzählte. Er war ja sehr gut im Erzählen. Er war überhaupt sehr wortgewandt, das war ihr schon damals aufgefallen. Er konnte jeden in Grund und Boden argumentieren, eine Fähigkeit, die ihr absolut abging und die sie vielleicht deshalb an ihm bewunderte. Sie hatte auf diesem Gebiet keine Chance gegen ihn.
Damals gingen Gerüchte auf dem Arbeitsplatz, dass er Probleme hatte und später erzählte er ihr, er sei wegen dieser Probleme so abweisend gewesen. Immer wieder überlegten sie später, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie damals beide nicht gebunden gewesen wären. Ob sie sich wohl dann gefunden hätten, wie sie es sich in ihrer Phantasie vorgestellt hatte. Ja, wahrscheinlich, denn dann hätte es ja keine Hindernisse gegeben. 
Aber dann verließ er mit seiner Familie die Stadt und das Land, und sie hörte später nur noch, dass sich auch seine zweite Frau von ihm getrennt hatte. Aber das interessierte sie damals nicht allzu sehr. Sie hatte ihre eigenen Sorgen.

 

Sie wurde in die Gegenwart zurückgeholt, weil er sich neben ihr bewegte. Noch ein paar Atemzüge und er war wach. Er stand auf und sie hörte, wie er sich in der Küche aus dem Kühlschrank etwas zu trinken holte. Ja, das machte er oft. Sie kannte seine Gewohnheiten. Er hatte nicht gesehen, dass sie wach neben ihm lag. Erst als er sich wieder hinlegte, sah er zu ihr hinüber und bemerkte, dass ihre Augen geöffnet waren. „Ist alles in Ordnung?“ - „Ja, klar, schlaf nur wieder.“ Sie lächelte ihn an, und Sekunden später hörte sie wieder sein tiefes Atmen.


    Und wieder versank sie in den Erinnerungen. Es waren viele Jahre vergangen, in denen sich die Welt weitergedreht hatte. Die Ehe mit ihrem ersten Mann hatte sich im Laufe der Zeit von einem Miteinander immer mehr zu einem Nebeneinander entwickelt. Sie schafften es nicht mehr, die Beziehung wieder aufleben zu lassen. Sie wussten damals nicht, wie sie an ihrer Ehe hätten arbeiten können. Es war ja nicht so, dass sie sich zerstritten hatten, sie hatten sich nur nicht mehr viel zu sagen. Aber sie hatte ihre Kinder und ihre Arbeit, und das füllte sie vollends aus. Warum sollte sie sich von ihrem Mann trennen? So wie es lief, war es doch in Ordnung.
Aber in ihrer Seele hatte es irgendwann angefangen zu rumoren. Immer wieder kamen die Gedanken: War das alles? Ist das alles, was ich noch vom Leben erwarten kann? Ganz innendrin saß in ihr eine Sehnsucht, aber sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.
Und dann kam im Büro die Nachricht an, in der er, der ja damals ins Ausland gegangen war, anfragte, ob jemand interessiert daran war ein Fortbildungsseminar mit ihm zu organisieren. Dieser Vorschlag war genau das, was sie jetzt brauchte, um an etwas anderes als nur an das Alltagsleben zu denken. Sie meldete sich, und bald planten sie das Seminar. Allmählich wurden ihre Mails immer länger und persönlicher und sie diskutierten immer intensiver miteinander. Längst war das Seminar kein Thema mehr, er war nur noch Nebensache. Sie schrieben sich jetzt täglich, und er vermochte aus ihr Sachen herauszulocken, die sie vorher noch niemandem erzählt hatte. Immer mehr fragte sie sich, wer dieser Mensch war, dem sie sich so anvertraute. Er war ihr doch total fremd, bis auf die kurzen kollegialen Begegnungen, damals vor langer Zeit. Und immer wieder kam ihr der Gedanke, ob sie sich wohl in ihn verliebt hatte? Aber sie kannte ihn doch gar nicht. Kann man sich in einen Fremden, den man nicht kennt, verlieben? Aber das war doch nicht möglich! Sie war hin- und hergerissen.
Und dann fand das Seminar statt. Er kam und ihr wurde klar – sie hatte sich in ihn verliebt, auch wenn sie ihn nicht wirklich kannte. Die Woche mit ihm war herrlich, sie schwebte auf rosaroten Wolken. Sie war überzeugt davon, dass er ihr dieselben Gefühle entgegenbrachte, wie sie ihm. Aber wenn man verliebt ist, kennt man keine Realität. Sie sprach mit ihm nicht über ihre Gefühle, aber er musste es einfach fühlen. Die Gespräche, die sie führten, waren sehr vertraulich, und es kam zwischen ihnen auch zu einer gewissen Annäherung, nein, nichts Intimes, aber für sie waren diese Gespräche und dieses Zusammensein ausschlaggebend. Und als er dann noch sagte, dass er sich durchaus eine Beziehung mit ihr vorstellen könnte, sich aber nicht mit einer verheirateten Frau einlassen würde, da das seiner moralischen Überzeugung nicht entspräche, wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie war zu allem bereit.    
Nachdem er wieder weggefahren war, wusste sie, dass sie sich von ihrem Mann trennen musste. Mit so einer Situation konnte sie nicht leben. Das wäre ihrem Mann gegenüber nicht ehrlich gewesen. Ja, und dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und sprach mit ihrem Mann. Es fiel ihr nicht leicht, auch wenn diese Ehe keine mehr war. Aber es musste sein. Denn jetzt hatte sie eine Entscheidung getroffen, die ihr Leben verändern würde. Sie würde diesem Mann dorthin folgen, wo er lebte. Ihre Kinder waren ja inzwischen erwachsen, und ihrem Mann musste es vielleicht auch bewusst werden, dass ihre Ehe nicht mehr das war, was sie sich erwartet hatten.
Nach diesem Gespräch mit ihrem Mann war sie voller Trauer und Kummer und unglücklich und glücklich zugleich. Jetzt musste sie sich erst einmal zurückziehen, wie ein Tier, das seine Wunden leckt. Als sie dann nach einigen Tagen wieder aus ihrer Höhle hervorkroch, rief sie ihn an und erzählte ihm, was sich bei ihr abgespielt hatte. Seine Stimme klang kühl und er teilte ihr mit, dass er mit so einer unzuverlässigen Frau, wie sie es war, die sich einfach tagelang nicht meldet, nichts zu tun haben wollte. Jetzt gestand sie ihm, dass sie sich in ihn verliebt hatte und er zögerte einen Augenblick. Aber auch das konnte seine Meinung über sie nicht ändern, und er sagte ihr, dass er nicht mehr an ihr interessiert war. Mit diesen Worten ging die Welt für sie unter, sie verstand gar nichts mehr, sie war wie von Sinnen. Alles brach für sie zusammen. Aber es war die Wahrheit. Es war zu Ende, bevor es noch richtig angefangen hatte.
Was er ihr damals nicht sagte, sondern erst später erzählte, war, dass er genau in diesen Tagen seine frühere Liebe getroffen und sich wieder in sie verliebt hatte.
Doch das konnte nicht wahr sein. Sie konnte das so nicht akzeptieren, denn sie wusste ja da nichts von seiner alten, neuen Liebe. Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie sicher anders gehandelt. Dann hätte sie sich damit abgefunden, dass es so war, wie es war. Sie wusste ja, dass man Gefühle nicht erzwingen kann.
Aber so fing sie nach einiger Zeit wieder an, ihm zu schreiben, nichts Persönliches, nur ganz unverfängliche Themen und Diskussionen. Er ging darauf ein und es entwickelten sich interessante Gespräche, in denen sie feststellte, wie viele gemeinsame Interessen sie hatten. Sie wollte ergründen, was damals wirklich passiert war, als er sie abgeschoben hatte, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand so reagieren konnte – einfach alles beiseiteschieben, was sich als Gefühl gerade zu entwickeln begann. Sie wartete darauf, dass er irgendetwas schreiben würde, das auf seine Gefühle zu ihr deutete, aber es kam nichts. Über private Themen sprachen sie nicht mehr. Alles war sehr förmlich, aber es war wenigstens ein Kontakt, wenn auch nicht der, den sie sich erhofft hatte. 
    Aber eines Tages merkte sie, dass er in seinen Berichten wieder persönlicher wurde. Er fragte sie nach ihrem Befinden und erkundigte sich nach persönlichen Dingen, und sie jubilierte. Sie dachte, er hat es sich also doch anders überlegt. Was sie aber damals nicht wusste, war, dass die Beziehung zu seiner früheren Liebe wieder in die Brüche gegangen war. Später, als sie das erfuhr, machte sie sich viele Gedanken darüber. Erst hatte er sie abgeschoben, damit er mit seiner großen Liebe wieder zusammen sein konnte, und erst dann, als sich das aufgelöst hatte, kam er wieder auf sie zurück. Da konnte sie sich lange des Gefühls nicht erwehren, zweite Wahl gewesen zu sein. Aber was hätte sie gemacht, wenn sie das alles gewusst hätte? Darauf hatte sie keine Antwort.
Sie näherten sich in den Mails wieder einander an und verabredeten ein Treffen. Er wollte sie sehen! Sie war glücklich. Sie trafen sich und für sie war es wieder Liebe und Leidenschaft pur. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Glück und diese Liebe je enden würden. Jetzt hatte sie sich endgültig entschlossen, ihre Heimat zu verlassen und in seine Nähe zu ziehen. Sie hatte das Gefühl, dass es noch nicht zu spät war, und lieber spät als nie.
Es fiel ihr schwer, ihr Heim aufzugeben und das Land, in dem sie die meisten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Aber sie wollte dieser Liebe, die sich so seltsam entwickelt hatte, eine Chance geben.

Sie waren ja inzwischen beide alt geworden und lebenserfahren. Sie wussten, was es bedeutet, etwas zu verlieren, aber sie wussten auch, wie es sich anfühlt, wenn man etwas gewonnen hat. Sie hatten beide gelernt, Kompromisse zu schließen. Das Leben hatte ihnen viel beigebracht.

Sie drehte sich auf die Seite, und bevor sie einschlief, kamen ihr noch die letzten Gedanken daran, dass es doch noch viele Rückschläge in ihrer Beziehung gegeben hatte, denn diese Frau, seine frühere Liebe, die im Hintergrund oft auftauchte, stand immer wieder zwischen ihnen, und es war nicht leicht ihren Schatten loszuwerden. Es war eine mühevolle Zeit gewesen in den letzten Jahren, in denen sie sich zusammenraufen mussten. Aber jetzt waren sie ja zusammen und hatten eigentlich vor, es zu bleiben. Sie sah ihn nochmal an, wie er so ganz friedlich schlief, schloss die Augen und schlief auch ein.

Impressum

Texte: Vera K.
Bildmaterialien: Vera K.
Tag der Veröffentlichung: 06.11.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /