Cover



Bald würde es so weit sein.
Ich spürte es. Mein Atem ging schon beängstigend langsam, jede auch so kleine Bewegung war die reinste Qual, doch trotzdem zwang ich mich, einen Fuß nach den anderen zu setzen. Meine knorrigen Finger waren fest um den Gehstock geschlossen, er war meine letzte Hoffnung.
Eigentlich wollten mich Marie und ihre Töchter heute besuchen, doch ich hatte ihren Besuch schon vor Wochen abgelehnt, als ich spürte, dass meine Zeit bald gekommen war. Ich wollte nicht, dass sie mir zuschauten, wie ich starb, wollte nicht, dass ihre entsetzten und traurigen Gesichter das Letzte waren, was ich von dieser Welt sah.
Ich dachte an meine Enkelin Lucie, die kleine, dreijährige Lucie, die früher immer in meinen Armen gelegen hatte. An ihr fröhliches Lachen, bei dem ich unwillkürlich selbst lächeln musste. Dachte daran, wie ich sie immer in den Schlaf gespielt hatte. Ja, das Letzte, was ich tun wollte, war spielen.
Vorsichtig ließ ich mich auf dem Hocker vor dem schwarzen, glänzenden Flügel nieder. Der Schmerz jagte durch meinen Körper, doch ich war zu schwach, um einen spitzen Schrei von mir geben zu können.
Ich hob die zitternde Hand und strich – das letzte Mal – über das glatte Holz. Obwohl mein Spiegelbild auf dem Flügel seltsam verzerrt aussah, konnte man die unzähligen Falten im Gesicht nicht übersehen. Sie schmiegten sich an meine Augen, ließen die Haut an den Wangen schlaff herunterhängen. Auch mein dünnes, graues Haar spross nur noch büschelweise am Kopf.
Ich war alt.
Und es war Zeit, von der Erde zu gehen. Irgendwann musste das jeder.
Man sollte den Tod nicht als etwas Schlimmes betrachten. Lieber sollte man sich vorstellen, er würde einem in einen tiefen, ewigen Schlaf versetzen.
Deshalb war es Lucies Schlaflied, das ich zu spielen begann.
Allmählich fingen draußen Vögel zu zwitschern an, die Strahlen der aufgehenden Sonne drangen in den Raum.
Blätter in Orange, Braun, Rot und Gelb wurden vom Herbstwind auf den Boden geweht und bildeten kleine Häufchen.
Schlagartig fiel mir ein, dass heute der sechste Oktober war; der Geburtstag meines verstorbenen Mannes.
»Alles Gute, Mark«, flüsterte ich.
Schon waren da schwarze Flecken, die sich langsam in mein Sichtfeld schoben.
Ich lächelte.
Dann schloss ich die Augen, tat noch einen letzten Atemzug, saugte so viel ein, wie ich konnte.
Doch der letzte Ton des Liedes wurde nie gespielt.

Impressum

Texte: Vielen Dank an Casandra Krammer (cassyk) für das Cover!
Tag der Veröffentlichung: 26.06.2011

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