Im Jahr 2098 nach Christi Geburt ist die Erde geprägt von globaler Erwärmung, Umweltverschmutzung und Ölknappheit. Nationalistisch und ökonomisch motivierte Terroranschläge und Kleinkriege sind an der Tagesordnung. Die Weltpolitik - inklusive der Vereinigten Staaten von Amerika - ist scheinbar machtlos dagegen.
Angetrieben von den globalen ökologischen und ökonomischen Problemen sowie der politischen Unsicherheit in vielen Ländern der OPEC, besinnen sich die Industriestaaten ihrer wissenschaftlichen Vormachtstellung und werfen all ihr Potential ins Rennen. Ziel ist die Erschließung neuer Energieformen.
Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten von Amerika haben schon vor drei Jahrzehnten eine gemeinsame Wissenschaftspolitik begonnen, die nun erste Früchte zu tragen scheint. Der wissenschaftliche Vorsprung gegenüber den anderen Staaten der Erde konnte ausgebaut werden. Eine politische Zusammenführung der USA und der EU steht immer wieder in diversen Medien und auch in politischen Gremien zur Diskussion. Einzig die Breite des Atlantiks und kulturelle Differenzen hindern die ehemaligen europäischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent daran, sozusagen in ihren Ursprung heimzukehren.
Ein internationales Team von Wissenschaftern aus der EU und den USA hat gerade den Durchbruch bei der Erforschung der sogenannten kalten Kernfusion geschafft, bei deren Ablauf keine so exorbitant hohen Temperaturen notwendig sind und auch nicht entstehen, wie sie im Inneren von Sternen auftreten.
Politik und Wissenschaft sind sich einig, daß die erste Verwertung der neuen Technologie der Energiegewinnung zugute kommen soll. Das wiederum käme den OPEC-Staaten sehr ungelegen, denn Erdöl ist für viele von Ihnen die einzige Einnahmequelle, auch wenn diese bereits endgültig zu versiegen droht. Die daraus entstehenden Spannungen stehen kurz vor einer Entladung, als etwas geschieht, womit niemand rechnen konnte. Über Nacht ist alles andere nicht mehr wichtig und eine Erde mit vielen Nationalstaaten tut die ersten Schritte auf dem Weg zu einer kosmischen Nation.
Aber begonnen hatte alles am Freitag, den 20. Juni 2098 in einem Hochenergielabor des Massachusetts Institute of Technology ...
Am Nuclear Research Laboratory (NRL) des Massachusetts Institute of Technology (MIT) herrschte ausgelassene Hochstimmung. Nach weltweit tausenden erfolglosen Versuchen hatten sich die neuesten Berechnungen und Computersimulationen in der Wirklichkeit erfolgreich umsetzen lassen.
Vor etwas mehr als zwei Stunden war dem Team um den Kernphysiker Dr. Steven Waterson der Durchbruch bei der sogenannten kalten Kernverschmelzung gelungen. Diese Kernfusion entwickelte nicht die apokalyptische Gewalt einer Wasserstoffbombe und verlangte auch nicht die physikalischen Bedingungen eines Sternes. Die kalte Kernfusion konnte unter Laborbedingungen in kleinem Rahmen und bei Temperaturen bei etwas über 4000° Celsius durchgeführt werden. Das war immer noch zu heiß um angenehm zu sein, aber zum Glück Welten von einem mehrere Millionen Grad heißen Kern eines Stern entfernt.
Die Reaktion lief jetzt schon seit fast drei Stunden stabil. Die Energieausbeute des provisorischen Reaktors lag bei 150 kW Energieumsatz, aber der Reaktor hatte auch nur das Volumen von ca. einem Kubikmeter und lief auch fast im Leerlauf. Der "Treibstoff" des Reaktors bestand aus möglichst reinem, hochaktivem Deuterium - je reiner, desto besser. Die elektromagnetischen Einengungsfelder in der Reaktionskammer wurden ebenfalls vom Reaktor selbst mit Strom versorgt. Diese verbrauchten 85% der Reaktorleistung, das heißt, der Wirkungsgrad des Minikraftwerks lag bei 15%. Für eine Versuchsanordnung in einem Labor war das schon eine recht beachtliche Ausbeute.
Das wissenschaftliche Team feierte mit Champagner. Dr. Waterson und sein Team waren sich der Bedeutung dieses Ereignisses bewußt. Ihre Leistung würde die gesamte Zivilisation verändern. Nicht mehr Erdöl würde die Welt regieren, sondern vergleichsweise fast kostenloser Wasserstoff.
Mittlerweile konnte das Wasserstoffisotop Deuterium durch simplen Neutronenbeschuß von leichtem Wasserstoff recht günstig hergestellt werden. Waterson war sich sicher, später auch einen Reaktor bauen zu können, der das wesentlich häufiger vorkommende Isotop Protium verwenden würde.
Man war nach jahrelangen Forschungen davon abgegangen, ein Gemisch aus Deuterium und Tritium, dem dritten und auch schwersten Wasserstoffisotop, zu verwenden. Das hatte zwar zu einer Verzögerung von einem Jahr geführt, aber der Erfolg war ein Reaktor, der auch mit dem wesentlich einfacher herzustellenden Deuterium arbeitete.
Die Forschungsergebnisse hatte Dr. Waterson ins Internet gestellt, um sämtliche internationalen Auseinandersetzungen zu vermeiden und irgendwelchen Terroranschlägen oder Spionageversuchen vorzubeugen. Weiters hatte er alle Unterlagen dazu auch per Email an Wissenschafter in aller Welt verschickt. Das Wissen um die kalte Kernfusion war damit Allgemeingut auf dem Planeten Erde.
Die industrielle Nutzung dieses Durchbruchs in der Forschung war bereits vorbereitet worden. In den USA und der EU standen Gelder und Infrastruktur bereit, große Reaktoren zu bauen und die Altlasten aus der archaischen Zeit der Energiegewinnung - sprich die Kernkraftwerke aufbauend auf dem Prinzip der Kernspaltung - stillzulegen.
Ein sehr ehrgeiziges Programm zur Beseitigung der radioaktiven Abfälle würde nun ebenfalls anlaufen. Die beiden Raumfahrtbehörden ESA und NASA hatten beschlossen, die Abfälle in die Sonne zu schießen. Das wäre dann wirklich eine sichere Endlagerung dieser gefährlichen Abfälle. Die Pläne für eine derartige Abschussbasis in einer Erdumlaufbahn waren bereits fertig.
Dr. Waterson lehnte sich in seinem bequemen Ledersessel zurück und genoß das Glas Champagner. Für diesen Augenblick hatten sie einige Flaschen sehr guten Dom Perignon eingekühlt. Das hatte das Budget des Projektes zwar etwas belastet, aber das war es allemal wert.
"Steve, jetzt wo wir es endlich geschafft haben - was wirst du tun?" fragte ihn seine Stellvertreterin Osasu Moghu. Die Afroamerikanerin war erst vor wenigen Jahren in die USA gekommen. Ihre Ausbildung an der University of Cape Town in ihrer Heimat Südafrika war sehr hochwertig gewesen. Sie hatte sich dann in mehreren Projekten im Bereich der Nuklear- und Quantenphysik einen Namen gemacht.
"Keine Ahnung Osaso, keine Ahnung", antwortete Waterson entspannt.
"Ach komm Steve. Ein energiegeladener Mann wie du wird doch verrückt, wenn er nichts zu tun hat. Du wirst mir doch nicht erzählen wollen, daß du darüber noch nicht nachgedacht hast, oder?"
Osaso kannte ihn gut - kein Wunder nach fast 5 Jahren gemeinsamer Forschungs- und Projektarbeit. Und sie konnte sehr hartnäckig sein. Das war auch ein Grund, warum Waterson sie eingestellt hatte.
"Du hast recht, ich habe darüber nachgedacht. Einige Dinge schweben mir im Kopf herum, zwar noch recht nebulös, aber immerhin."
"Und was wird aus diesem Projekt?"
"Ich werde die Leitung des Teams an Musashi übergeben und mich neuen Aufgaben zuwenden."
"Musashi hat aber nicht den wissenschaftlichen Biss, den Du hast Steve. Und das weißt du auch." entgegnete Osasu.
"Stimmt, aber wissenschaftlich ist das Projekt ja abgeschlossen. Jetzt braucht es gute Ingenieure, um daraus Nutzen und Profit zu ziehen. Und das konnten die Japaner immer schon besser als andere, daher Yamamoto Musashi."
"Ja, da muß ich dir recht geben."
"Und was hast du geplant Osasu?"
"Noch nichts Bestimmtes. Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich tun werde."
"Wir müßten alle nicht mehr arbeiten gehen. Das weißt du oder?"
"Ja Steve. Die Patente machen alle Teammitglieder zu sehr reichen Menschen. Aber den Rest des Lebens einfach nur herumsitzen? Könntest du das? Ich nicht."
"Nein, das wäre nichts für mich. Ich habe heute noch ein interessantes Gespräch mit einem Herrn der NASA. Aber ich kann dir frühestens morgen sagen, worum es geht."
"Geheimsache Steve? Du weißt, mit dem Militär will ich nichts zu tun haben."
"Ja, ich kenne dich gut genug. Es geht angeblich nicht um Waffen, sondern um Weltraumforschung."
Damit stand Steve auf und verließ sein Büro. Zurück blieb eine verdutzte und ratlose Nuklearphysikerin und Mathematikerin. Osasu Moghu hatte einen IQ von 148, aber das sah man ihr im Moment nicht im mindesten an.
"Was meint er bloß damit", grübelte die 30-jährige und kam zu keinem Ergebnis. Als Wissenschafterin war das für sie nicht gerade ein angenehmer Zustand. Das Dumme war nur, daß selbst Dr. Waterson nicht wusste, was er davon halten sollte.
Die Feier nahm ihren Lauf wie so viele typisch studentische Festlichkeiten an vielen anderen Universitäten auch. Dass Dr. Waterson fehlte, fiel zu diesem Zeitpunkt gar nicht weiter auf, denn es war bereits nach 22:00 Uhr und die Mitglieder des Projektteams waren großteils nicht mehr nüchtern.
Dr. Waterson verließ den Campus und fuhr mit seinem alten Chrysler Voyager die Massachusetts Avenue entlang und bog dann nach rechts in die Vassar Street ein. Am östlichen Ende der Vassar Street entschied er sich für die Main Street nach Osten und hatte dann auch gleich die Ames Street erreicht und damit sein Ziel. Er suchte sich einen Parkplatz, mied dabei aber den Broadway. Dort war so gut wie nie einer zu finden.
In den Tiefgaragen fühlte er sich nicht mehr wohl, seit vor einem halben Jahr ein Irrer aus dem Iran ein Attentat auf ihn verüben wollte. Das war der bisher letzte Versuch eines erdölexportierenden Landes gewesen, die Industriereife der kalten Kernfusion zu verhindern. Natürlich hatten die meisten Regierungen dieses Planeten von seinem Projekt und den Fortschritten gewußt. Und Steve war sich sicher, daß es an verschiedensten Stellen genug Spione gab, die ihm und seinem Team genau auf die Finger sahen. Damals hatte ihn nur ein Agent des Secret Service gerettet, den ihm die US-Regierung als Schatten auf den Hals gehetzt hatte. Die Medien hatten den Vorfall damals ausgeschlachtet, wohl auf Drängen der Regierung. Daraufhin waren die ausländischen Störangriffe auf sein Projekt rasch weniger geworden. Insofern war er der Regierung dankbar dafür.
Schließlich hatte er seinen Wagen eingeparkt. Rasch band er sich eine Krawatte um und schlüpfte in das mitgebrachte Sakko. Waterson stieg aus dem Wagen und marschierte zielstrebig Richtung Marriott Hotel, mittlerweile eine der besten Restaurantadressen in Cambridge.
In der Cocktailbar wartete bereits sein Gesprächspartner. Der stellvertretende Direktor der NASA Robert D. O'Neele saß an der Bar und nippte an einem alkoholfreien Drink. Der ehemalige Pilot des Space Shuttle war noch immer ein Antialkoholiker, obwohl er nicht mehr in den Weltraum flog. O'Neele unterzog sich auch noch immer den quartalsmäßigen Fitness-Checks seiner Raumpiloten. Nur wenige der jungen Männer konnten eine bessere Konstitution vorweisen als der Stellvertreter ihres obersten Chefs Direktor Michael Broderick.
Waterson ging hinüber und sie reichten sich die Hand.
"Guten Abend Steve."
"Ihnen auch einen angenehmen Abend, Bob."
"Gehen wir gleich hinüber ins Restaurant? Ich habe einen ruhigen Tisch reservieren lassen. Und mich quält etwas der Appetit", sagte O'Neele in seiner Eigenschaft als Gastgeber.
"Gute Idee. Wir haben zwar den Erfolg gefeiert im Labor, aber zu essen gab es leider nichts mehr seit dem bescheidenen Lunch. Sie wissen ja, daß es in solchen Situationen manchmal hektisch zugeht."
"Ja, das kennen wir aus den eigenen Labors."
"Also Bob, worum geht es?", fragte Waterson.
"Sie sind doch als Physiker mathematisch geschult. Es sollte ihnen also kein Problem bereiten, mit mehrdimensionalen Räumen im mathematischen Sinn zu arbeiten, richtig?"
"Ja, da haben sie recht. Das lernen Jugendliche aber schon auf der High School."
"Gut. Ihr Durchbruch mit der kalten Kernfusion löst ein weiteres Problem der Wissenschaft, dessen sie sich wahrscheinlich noch gar nicht bewußt sind."
"Das wäre welches?", fragte Waterson.
"Die heiße Kernfusion ist mit Ihrem Reaktor jetzt wirtschaftlich geworden. Ihr Reaktor erzeugt genug Energie für magnetische Einengungsfelder. Damit lassen sich Reaktoren für die Kohlenstoffkatalyse starten."
"Hm, das ist mir an sich schon bewußt. Aber was hat das mit der NASA zu tun?"
"Die heiße Kernfusion liefert ein Vielfaches an Energie verglichen mit ihrem Reaktor. Der Faktor dürfte bei mehr als 100 liegen, wenn wir von einem ähnlichen Wirkungsgrad ausgehen. Allerdings dürfte der Wirkungsgrad ebenfalls weit höher liegen."
"Auch das ist mir bekannt Bob. Worauf wollen sie hinaus?"
"Einige Leute bei der NASA haben einige sehr fremdartige Gedanken gewälzt in den letzten Jahren. Man hat errechnet, wieviel Energie man bräuchte, um in einer vierdimensionalen Raumzeit hyperdimensionale Kraftfelder erzeugen zu können."
"Und was machen sie mit diesen Kraftfeldern?"
O'Neele verzweifelte fast. Manche Wissenschafter konnten schon sehr begriffsstutzig sein.
"Mit hyperdimensionalen - also fünfdimensionalen - Kraftfeldern lassen sich vierdimensionale Einflüsse abschirmen. Das klingt zwar jetzt nach Science Fiction, aber so Dinge wie Schutzschirme und Neutralisatoren für Beschleunigungskräfte sind damit möglich. Ebenso kann man Düsenquerschnittsfelder einsetzen, um den Energieausstoß aus Triebwerken zu regulieren. Man könnte sogar fünfdimensionale Impulswellen erzeugen, die sich an der vierdimensionalen Raumzeit abstossen und somit als Antrieb funktionieren. Damit bräuchte man kein Strahlmedium mehr für Raumschiffe, sondern nur mehr Kernbrennstoff in Form schweren Wasserstoffs."
Waterson ließ fast das Besteck fallen. Er schloß die Augen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Ein leichtes Kribbeln ging ihm durch den ganzen Körper.
"Jetzt weiß ich, was sie mit dem Begriff Kolonisierung gemeint haben. Sagen sie bloß, sie haben schon einen Zielstern mit einem entsprechenden Planeten ausgesucht."
"Ja, haben wir. Die notwendigen Maschinen, Generatoren, Umformer etc. existieren bereits. Auch ein heißer Fusionsreaktor ist bereits vorhanden. Nur mehr ihr kalter Fusionsreaktor fehlt noch sozusagen als Starter für all das."
"Aber wie konnten sie all die Geräte testen?"
"Oh, wir hatten einige große Stromausfälle in den letzten Jahren, oder? Tja, da wurde die Energie wohl wo anders benötigt. Zum Beispiel für das Hochfahren eines heißen Kernfusionsreaktors", antwortete O'Neele und ließ den letzten Satz nachschwingen.
Der Oberkellner brachte den ersten Gang, daher unterbrachen sie ihr Gespräch kurz. Beide wußten, wie brisant diese Dinge waren.
"Und ein Raumschiff gibt es auch schon nehme ich an."
"Nicht ganz. Die Planung ist abgeschlossen. Mit dem Bau wurde zwar begonnen, aber es fehlt noch ein wichtiger Teil dieses Puzzles. Unser Impulsantrieb funktioniert noch nicht so, wie er sollte. Die intermittierenden Impulswellen sind nicht konstant in Richtung und Stärke Aufgrund der enormen Schubkraft ist ein solches Triebwerk aber kaum zu bändigen, wenn die Abstimmung nicht sehr genau ist. Uns sind einige Versuchsaggregate im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren geflogen."
"Und ich soll das für sie hinkriegen?"
"Ja, so in der Art stellt sich die NASA das vor. Das ganze Projekt ist sehr international ausgerichtet. Europäer, Inder, Chinesen, Afrikaner, Russen ... alle sind dabei. Sie könnten sich auch ihr Team selbst zusammenstellen. Wir haben ein Budget von einer Milliarde US Dollar pro Jahr auf drei Jahre nur für die Antriebssysteme."
Waterson pfiff leise durch die Zähne. Das war doch mal ein vernünftiges Budget für ein Forschungsprojekt.
"Sie kleckern wohl nicht, sondern klotzen gleich."
"Ja, zumindest in diesem speziellen Fall."
"Wieviel dürfen sie mir erzählen", fragte Waterson sein Gegenüber nicht ganz unberechtigt. Solche Projekte wurden meistens streng geheim abgewickelt.
"Eine ganze Menge. Wie wäre es, wenn sie in den nächsten Tagen mal im NASA-Hauptquartier vorbeischauen? Ich kann sie dann in das Projekt einführen und sie auf den letzten Stand der Dinge bringen. Sie waren während ihrer Projektarbeit nämlich ziemlich abgeschottet vom Rest der Wissenschaft. Dann lassen sie sich alles eine Weile durch den Kopf gehen und teilen mir oder Direktor Broderick ihre Entscheidung mit."
"Klingt vernünftig Bob. Wie wäre es mit nächstem Mittwoch? Das wäre dann der 25. Juni."
O'Neele klappte seinen Tablet auf und tippte einige Male auf dem Display herum.
"Ja, das würde gut passen. Sagen wir so gegen 10:00 Uhr?"
"Ja, gut. Ich habe gehört, der Kaffee im NASA-Hauptquartier soll sehr gut sein", antwortete Waterson mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Damit waren sich die beiden Männer einig und genossen ihr Dinner in diesem großartigen Ambiente.
Washington D.C., NASA-Headquarters, 25. Juni 2098
Bis jetzt hatte er den Spießrutenlauf durch die weltweiten Medien, Politiker und Wissenschaftskollegen recht gut überstanden. Wie das aber in Zukunft weitergehen sollte, davon hatte er keine Ahnung. Die ständigen Repräsentationstermine hielten ihn völlig von der Arbeit ab. Andererseits hatte er im Moment ohnehin nichts zu tun, also konnte er die ganze Show auch etwas genießen. Er hatte nur nicht mit soviel Aufmerksamkeit gerechnet.
Trotz des schlechten Wetters fühlte sich Dr. Steven Waterson gut. Sein Flug nach Washington war zwar etwas holprig gewesen aufgrund der Windböen, aber er freute sich schon so auf das Meeting mit den Leuten von der NASA, daß ihm der rauhe Flug nichts ausmachte. Die NASA hatte den Reiseplan aufgrund seiner Publicity kurzerhand geändert und ihm einen neutralen Jet sozusagen aus dem eigenen Inventar geschickt um ihn abzuholen. Waterson hatte auch erwogen, die paar hundert Meilen mit dem Auto zu fahren, aber das wäre wahrscheinlich keine so gute Idee gewesen.
Am Baltimore Washington International hatte er die Gulfstream der NASA schließlich verlassen. Gepäck hatte er zwar welches mit, aber darum kümmerte sich ein Mitarbeiter der NASA. Waterson wollte diesen Burschen nicht zum Feind haben. Dieser Mr. Jeff Parker schien kein Gramm Fett am Körper zu haben und trotzdem trug er scheinbar recht groß geschnittene Sakkos – und das nicht nur wegen seiner Muskeln, sondern wahrscheinlich auch wegen eines stählernen Begleiters in einem Lederhalfter.
Am VIP-Terminal wurde er schnell vorbeigeschleust und vor einem Seiteneingang des Flughafens stand auch schon eine unauffällige Limousine mit dunklen Scheiben. Waterson stieg ein und sah sich wieder einmal Robert O’Neele gegenüber.
“Guten Morgen Steve.”
“Guten Morgen Bob. All der Aufwand für einen Wissenschafter. Ist das wirklich notwendig?” fragte Waterson.
“Ihnen ist wahrscheinlich noch nicht bewußt, was ihr Erfolg für die Menschheit bedeutet. Sämtliche Erdölfelder, Kohlegruben etc. sind sozusagen über Nacht wertlos geworden. Erdöl wird nur mehr für spezielle Kunststoffe benötigt. Wenn die Regierungen nicht kühlen Kopf bewahren, wird das Kriege auslösen.”
“Ich habe so etwas befürchtet, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich dagegen tun könnte.”
“Sie nichts, Steve. Sie haben sich absolut richtig verhalten, als sie ihre Ergebnisse sofort in alle Welt hinausposaunt haben. Dadurch gibt es schon mal keinen Streit um den Zugang zu diesen Informationen.”
“Ich wette, viele Landsleute sehen das anders- vor allem in unserer Regierung und beim Militär.” bemerkte Waterson.
“Da haben sie recht Steve. Die Bunkerköpfe des Militärs hatten sofort neue Waffensysteme im Kopf und sonst nichts. Sie verstehen nichts von der globalen Bedeutung des Ganzen.”
“Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich es in letzter Konsequenz verstehe.”
“Die Regierungen müssen einfach einen kühlen Kopf bewahren. Und die Menschheit braucht eine neue Aufgabe, damit sie nicht auf dumme Ideen kommt. Sie wissen ja, wer beschäftigt ist, denkt nicht daran, dem Nachbarn den Schädel einzuschlagen.”
“Und die NASA will den Menschen diese Aufgabe geben, nehme ich an.”
“Ja, Präsident Atkinson hat das zum Thema Nummer Eins gemacht in der Politik der USA. Die EU sieht das ähnlich und zieht mit. Was glauben sie, was los ist, wenn alle erdölexportierenden Staaten auf einmal beginnen, sich wie Radaubrüder aufzuführen? Die ruhigsten Regionen sind das ja ohnehin nie gewesen.”
“Da haben sie wohl recht. Wie wollen sie diese Länder ruhig stellen?”
“Wir werden sie an den neuen Projekten beteiligen und haben sie bisher auch schon teilweise beteiligt. Und wir haben ihnen von Anfang an reinen Wein eingeschenkt, was die Kernfusion und unser Engagement betrifft.”
“Was wird der erste Meilenstein sein?“ fragte Waterson.
“Eine bemannte Landung auf Pluto. Dort gibt es genug Wasser um daraus Wasserstoff produzieren zu können, daher kann ein Raumschiff ohne Tanks für den Rückflug aufbrechen.”
“Wieviele Astronauten und wieviel Nutzlast wollen sie dort landen?”
“Wir schicken ein Team aus 10 Mann mit einer Nutzlast von ca. 300 Tonnen. Das leere Schiff wird das dreifache wiegen.”
“Das heißt, sie schießen 1200 Tonnen zum entferntesten Planeten des Sonnensystems und wissen nicht mal genau, wie dieser aussieht beziehungsweise woraus er genau besteht? Das ist doch verrückt Bob!”
“Da irren sie sich Steve. Nicht nur sie erzielen Erfolge in der Forschung. Wir haben das alte Hubble-Teleskop vor einigen Jahren auf den neuesten Stand der Technik umgerüstet. Wir können mittlerweile recht genau sagen, woraus Pluto besteht. Die neuen Interferometer und der Umstieg auf elektromagnetische Felder als Linsen für die Optiken haben sich mehr als bezahlt gemacht. Im Grunde genommen ist nur mehr die Hülle des alten Hubble die gleiche.”
“Hm, von der astronomischen Seite versteh ich nicht allzu viel. Das muß ich wohl ihnen überlassen.”
“Das haben wir nach fast 90 Jahren mittlerweile ganz gut im Griff.” antwortete O’Neele mit einem breiten Grinsen.
Kurz darauf bog die Limousine in die Haupteinfahrt der NASA ein und hielt vor dem Portal des Information Center. Die drei Männer in Anzügen stiegen aus und marschierten in das Gebäude. Einige Minuten später hatten sie einen kleinen Konferenzraum erreicht. Niemand hatte sie aufgehalten oder auch nur kontrolliert. Waterson fragte danach, doch Bob O’Neele bemerkte, daß die NASA so wenig Aufmerksamkeit wie nur irgend möglich erregen wolle. Sie hatten den Raum kaum betreten, als eine Frau zu Ihnen stieß.
“Das ist Dr. Naomi Pearson, Leiterin unseres hyperphysikalischen Forschungsteams. Sozusagen unter ihrem Kommando bündeln wir die weltweite Hyperfeldforschung.” stellte O’Neele die blonde, schlanke Frau vor.
“Und sie sind Dr. Waterson, der Kernphysiker.” antwortete sie in einer sehr angenehmen Altstimme.
“Kernphysiker stimmt nicht so ganz meiner Ansicht nach. Ich würde es eher als Hochenergiephysik betrachten. Andererseits hat es mit beidem sehr viel zu tun, also haben sie wohl nicht unrecht Mrs. Pearson.” antwortete Waterson und reichte ihr die Hand.
“Ach, bleiben wir doch nach amerikanischer Unart beim Vornamen, wenn es ihnen nichts ausmacht. Sonst laufen wir noch in interkulturelle Probleme der besonderen Art hinein.” bemerkte sie mit leichtem Sarkasmus in der Stimme und einem Augenzwinkern.
“Tja, die Leute, die vor Jahrhunderten nach Amerika auswanderten, waren scheinbar eher zu den unkultivierteren Europäern zu rechnen. Die kultivierten Europäer hatten ja auch kaum Veranlassung aus den feudalen Systemen von damals auszuwandern. Schließlich lebten sie ja auf Kosten der unkultivierten Bevölkerung ganz gut.”
“Touche Steven. Andererseits hat die amerikanische Art durchaus Vorteile. Das Arbeitsklima ist doch etwas entspannter.”
“Ja, da haben sie sicher recht. Ok Naomi und Bob. Erzählen sie mal, was hier so läuft und wie sie sich das alles vorstellen.”
Naomi warf Bob einen fragenden Blick zu, worauf dieser leicht nickte. Die Schwedin nahm sich daher die Fernsteuerung eines Videobeamers und begann mit ihrem wohlvorbereiteten Vortrag.
“Wir zeigen ihnen einen von uns produzierten Dokumentarfilm über die letzten Ergebnisse der HighTech-Forschung. Dieses Material werden wir in einigen Wochen auch veröffentlichen. Wir werden niemandem – auch ihnen nicht - sagen, wie und wo diese Ergebnisse entstanden sind. Hier geht es um geheime Forschungseinrichtungen, von denen nur höchste Regierungskreise wissen. Zur Zeit möchten wir diese Einrichtungen noch bedeckt halten. Diese Einrichtungen wissen auch voneinander nicht.”
“Soll mir recht sein.”
“Falls sie dann für uns arbeiten wollen, werden sie ebenfalls in so einer Einrichtung tätig sein, Steve.” merkte Bob an.
“Und das heißt für mich was? Ausschluß vom normalen Leben? Ein Bunker mitten in irgendeiner Wüste? Wachpersonal mit dem Befehl zu schießen?”
Bob und Naomi schauten sich kurz an, dann lachten sie beide.
“Nein Steve, aus diesem Zeitalter sind wir schon raus. Wir werden ihnen einen Chip unter die Haut verpflanzen, der jegliches Ausplaudern irgendwelcher sicherheitsrelevanten Dinge verhindert. Ihr Einverständnis dazu ist Voraussetzung für eine Tätigkeit in solchen Forschungseinrichtungen.”
Langsam kroch ein unangenehmes Gefühl seinen Rücken hinauf und erreichte seinen Nacken. Offenbar hatte er während seiner Forschungsarbeit vieles verschlafen, was sich in anderen Bereichen ereignet hatte. Und daß ein Chip seine Gehirntätigkeit überwachen sollte, behagte ihm noch viel weniger. Wer weiß, was dieses Ding noch alles tun würde. oder was passieren würde, wenn etwas schief ging mit so einem Chip?
Steve hob sich diese Fragen für später auf, aber er vergaß sie nicht.
Naomi Pearson begann mit ihrem Vortrag über die Forschungsergebnisse der NASA. Die NASA war in diesem Zusammenhang die koordinierende Stelle innerhalb eines großen Netzwerkes von weltweiten Forschungseinrichtungen. Die meisten dieser Einrichtungen schienen das Fernziel, das auf einmal so nahe gerückt zu sein schien, überhaupt nicht zu erkennen. Ob das an einer bewußten Informationspolitik der NASA lag oder an der schlichten Naivität, die sehr viele Wissenschafter ausserhalb ihres Themengebietes an den Tag legten, konnte Steve im Moment nicht beurteilen. Wahrscheinlich war es wohl von beidem etwas.
Dem Dokumentarfilm nach zu urteilen, hatte die NASA in Zusammenarbeit mit vielen anderen Einrichtungen während der letzten 15 Jahre es geschafft, fundamentale Probleme der Raumfahrt zu lösen.
Schlüssel zu all diesen technischen Kunststücken war der Beweis für die schon lange angenommene Mehrdimensionalität des Universums gewesen. Die Nachricht in den Medien darüber war in den Meldungen über den vierten Golfkrieg untergegangen. Der Iran hatte damals zehn Jahre nach der Vereinigung mit dem ehemaligen Irak Kuwait okkupiert, wie es der Irak selbst schon einmal versucht hatte. Damals hatte sich die internationale Staatengemeinschaft - allen voran die USA - allerdings intelligenter verhalten wie seinerzeit Präsident Bush, als er seine Truppen den Irak hatte einnehmen und besetzen lassen. Eine internationale Armee befreite Kuwait in einem Blitzkrieg von acht Tagen Dauer und warf die Iraner einfach hinaus. Ein Monat später zog die Armee einfach wieder ab. Einige iranische Regierungsmitglieder fanden während der nächsten Wochen auf seltsame Weise genauso den Tod wie einige ihrer Generäle. Ein Exempel war statuiert worden.
Aufgrund der Entdeckung der Mehrdimensionalität des Universums hatten sich einige Mathematiker und Physiker Gedanken darüber gemacht, welche Eigenschaften dieser überdimensionale Raum wohl haben könnte, und ob man diese vielleicht verwenden könnte.
Herausgekommen waren Anlagen, die nahezu frei formbare Hyperfelder im normalen Universum errichten konnten. Diese Felder waren derart vielseitig anwendbar, daß einen allein beim Durchdenken der Konsequenzen das Staunen schon nicht mehr losließ. Hyperfelder konnten zum Beispiel Einflüsse des normalen Universums von allem abschirmen, was in sie eingehüllt war. Anwenden ließen sich solche Felder bei Triebwerken, um die Brennkammern vor der Hitze hochwertiger Treibstoffe zu schützen. Weiters konnte man ein ganzes Raumschiff in ein solches Feld hüllen und Beschleunigungskräfte bis zu einem gewissen Grad eliminieren. Die Stärke hing über eine recht komplexe Gleichung direkt von der Feldliniendichte des Hyperfeldes ab. Als Schutzschirme waren die Felder nicht geeignet – noch nicht bemerkte der Filmbericht, denn das war angeblich nur eine Frage des Energieaufwandes und der Feldfrequenz.
Weiters ließen sich diese Felder auch als intermittierende Impulswellen einsetzen und damit als Antrieb verwenden. Das Problem dabei war, wie Dr. Waterson bereits wußte, die Instabilität der Frequenz und Amplitude dieser Wellen. Das hatte zur Folge, daß solche Triebwerke zu unregelmäßig arbeiteten, um wirklich eingesetzt zu werden. Mit diesen Triebwerken sollte es möglich sein, ein 1200 Tonnen schweres Raumschiff in wenigen Stunden auf annähernde Lichtgeschwindigkeit zu bringen. Relativistische Effekte wie Zeitdilatation oder Erhöhung der Masse, vorhergesagt durch Einsteins Relativitätstheorie, ließen sich ebenfalls durch abschirmende Hyperfelder vermeiden.
Der maßgebliche Faktor zu all diesen technischen Wundern war die verfügbare Energiemenge. Reaktoren zur sogenannten “heißen” Kernverschmelzung, auch Hot Fusion genannt, lieferten schier unerschöpfliche Energie, wenn sie einmal in Betrieb waren. Auch diese Aufgabe hatte die Wissenschaft vor einiger Zeit gelöst. Problematisch war nur das sogenannte “Hochfahren” des Reaktors vom kalten Zustand in den Betriebszustand. Dazu waren gewaltige Energiemengen nötig.
Da kam Steves Realisierung der kalten Kernverschmelzung auch “Cold Fusion” genannt gerade zum richtigen Zeitpunkt. Um einen Hot-Fusion-Reaktor, groß genug für ein 1200 Tonnen schweres Raumschiff, zu zünden, genügte ein Cold-Fusion-Reaktor von der Größe eines Wohnzimmerschranks. Dabei waren all die Komponenten noch gar nicht miniaturisiert und in keiner Hinsicht noch technisch ausgereift. Die Zukunft hatte also noch einiges an Entwicklungspotential für die CF-Reaktoren in petto.
Der Film endete mit der Zukunftsvision einer Menschheit, die sich in den Weltraum hinaus ausbreitete – der Kolonisation der gesamten Milchstraße innerhalb der nächsten 100 Generationen.
Waterson blieb skeptisch. Astronomie war zwar nicht gerade sein Spezialgebiet, aber die Entfernungen in der Milchstraße kannte er doch einigermaßen. Der nächste Stern war fast 5 Lichtjahre entfernt, und das war noch vergleichsweise nah. Die Milchstraße als Ganzes hatte den 20.000-fachen Durchmesser.
“Na Steve, was halten sie davon?” fragte O’Neele.
“Netter Film. Gute Special Effects wie man so schön sagt.”
“Klingt nicht sehr überzeugt. Was stört sie denn?”
“Die Realität Bob. Die Milchstraße hat einen Durchmesser von 100.000 Lichtjahren. Es würde bei Lichtgeschwindigkeit also 100.000 Jahre dauern, bis wir das andere Ende erreicht hätten – ganz davon abgesehen, daß selbst das bloße Erreichen nicht so problemlos sein dürfte, daß es so schnell ginge.”
“Ach ja, der Film zeigt natürlich nicht alle Konsequenzen der hyperdimensionalen Feldtheorie.” antwortete Naomi.
“Die Abschirmung vier-dimensionaler Einflüsse durch diese Felder ist ab einer gewissen Feldstärke so perfekt, daß auch die Lichtgeschwindigkeit kein physikalisches Limit mehr darstellt. Der Schlüssel im Antrieb liegt hier bei einer Kombination aus Frequenz- und Amplitudenmodulation der Impulswellen in den Antrieben. Damit lassen sich theoretisch Geschwindigkeiten weit über der des Lichts erreichen.”
“Und die Einflüsse des Hyperfelds Naomi? Im Hyperfeld kann nur Energie existieren, aber keine Materie.” fragte Steve.
“Stimmt, daher hüllen wir Raumschiffe auch komplett in diese Hyperfelder. Diese Felder werden vom Hyperfeld als artverwandt anerkannt und die Materie darin wird nicht in Energie aufgelöst.”
“Autsch, eine Zwiebel aus Energiefeldern im Hyperfeld. Das ist ziemlich komplex für ein Transportmittel, das sich im lebensfeindlichsten Medium dieses Universums fortbewegen soll. Ich meine, da brauchen sie ja eine ganze Kompanie Wissenschafter und Ingenieure nur um das Schiff in Betrieb zu nehmen und zu beherrschen. Von der Besatzung und eventuellen Auswanderern reden wir da noch gar nicht. Mit 10 Mann werden sie Pluto nie erreichen. Da brauchen sie eher 30 Leute, und alles Spezialisten Naomi. Und haben sie auch bedacht, daß all diese Energieflüsse bei Dauerbelastung auch die Besatzung schädigen würden? Wo finden sie 30 so verrückte Wissenschafter und Techniker?”
“Einen haben wir doch hier sitzen.” antwortete Bob mit einem breiten Grinsen.
“Oh, daß ich mitfliegen soll, haben sie mir aber nicht erzählt.”
“Nur wenn sie wollen, Steve.”
“Hm, das überlege ich mir noch, wenn ich darf.”
“Kein Problem. Wir haben einen Starttermin irgendwann in drei Jahren.”
Waterson hatte sich innerhalb von zwei Tagen für das NASA-Projekt entschieden. Wie versprochen durfte er sich sein wissenschaftliches Team selbst zusammenstellen. Das nahm fast vier Monate in Anspruch.
Kurz darauf wurden alle Teammitglieder vereidigt und mit dem Chip versehen. Die Übersiedlung in das Forschungszentrum mitten in Nevada fand gleich danach statt. Dort erlebten sie eine Überraschung sondergleichen. Mitten in der Wüste war ein Airforce-Stützpunkt eingerichtet worden, doch dieser diente nur als Flughafen zur Versorgung des unterirdischen Forschungszentrums. Sie fanden sich in einer unterirdischen Stadt mit ca. 6000 Einwohnern wieder, als sie nach der Landung mit dem Aufzug in die Tiefe gefahren waren.
Unterdessen hatte Pearson eine interdisziplinäre Projektgruppe auf die Beine gestellt, um die biologischen Auswirkungen eines langen Raumfluges mittels Hypertechnologie zu untersuchen. Pluto würde man bei einer Geschwindigkeit von 20% Lichtgeschwindigkeit innerhalb von 14 Stunden erreichen. Der Aufenthalt sollte einige Tage bis zwei Wochen dauern, und der Rückflug sollte so lange dauern wie der Hinflug. Geplant waren auch mehrere Beschleunigungs- und Bremsmanöver, um den Impulsantrieb zu testen.
Als seine Stellvertreterin hatte Steve sich wieder Osasu Moghu ins Boot geholt. Sie kannten sich gut und kamen wunderbar miteinander aus, und ausserdem war sie als Südafrikanerin auch eine Konzession der NASA an die geforderte Internationalität all dieser Projekte. Zusammen hatten sie dann ein schlagkräftiges und pragmatisches Team von Wissenschaftern und Ingenieuren aufgebaut. Erste brauchbare Ideen wurden bereits während der wöchentlichen Meetings auf den Tisch geworfen.
Die NASA-Leute waren ja begnadete Ingenieure und Raumfahrttechniker, aber vom Reaktorbau schienen sie nicht allzu viel zu verstehen. Steves Gruppe konstruierte den Hot-Fusion-Reaktor des Projektes innerhalb von nur zwei Monaten um. Das Bordkraftwerk für das Raumschiff war dann nur mehr halb so groß bei gleicher Leistung. Die erforderliche Zündleistung, die der Cold-Fusion-Reaktor liefern sollte, verringerte sich damit auf ein Achtel, da das zu kontrollierende Volumen mit der dritten Potenz schrumpfte.
Den Cold-Fusion-Reaktor hätte man aus diesem Grund kleiner bauen können, doch Steven hatte Bob O’Neele davon überzeugt, daß eine höhere Reserveenergie an Bord nie schaden könne.
Ein Jahr später ...
Sie hatten sich alle schon recht gut eingelebt in ihrem Wüstenbau. Manchmal sehnte man sich nach echtem Sonnenlicht, frischem Quellwasser oder irgendeiner anderen Annehmlichkeit der Oberfläche, aber da sie regelmäßig am Wochenende das Gelände verlassen konnten, hielten sich die Probleme dieser Abschottung in Grenzen.
Moghu kam zu Waterson an den Tisch, als sie ihn in der Kantine beim Essen sah.
“Darf ich Steve?” fragte sie.
“Klar doch Osasu.”
Sie stellte ihr Tablett auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber hin.
“Mir ist gestern eine Idee gekommen, Steve.”
“Zu welchem Thema?”
“Zum Thema Nummer 1.”
“Seit wann reden wir beide über Sex?” fragte Steve mit gespieltem Erstaunen.
“Männer!“ antwortete Osasu mit einem Kopfschütteln, setzte aber dann fort: ”Wir haben doch beim Impulsantrieb diese Fluktuationen in den Impulswellenbündeln.”
“Ja.”
“Die scheinen aber nicht aus dem Feldgenerator zu kommen. Der ist viel zu stabil dafür. Ich hab das immer wieder durchgerechnet und mit den Elektronik-Gurus besprochen. Selbst im schlimmsten Fall verursacht der Feldgenerator nur 0,8% der Fluktuationsamplitude. Das würde man bei einem Triebwerk wahrscheinlich nicht mal spüren.”
“Stimmt.“ antwortete Steve etwas einsilbig. Er wußte, daß es besser war, seine Stellvertreterin nicht zu unterbrechen, denn dann hatte sie die besten Ideen.
“Das heißt aber, die Fluktuationen werden von einem der Reaktoren induziert oder von außen. Es gibt sonst keine Möglichkeit. Die Reaktoren sind es aber auch nicht, denn die haben wir mehrmals ausgemessen.”
“Aber wir haben keine äußeren Einflüsse gemessen.”
“Ja, stimmt. Keine vierdimensionalen Einflüsse. Aber wie sieht es mit hyperdimensionalen Einflüssen aus? Warum soll Hyperenergie nicht auch Streuverluste haben genauso wie unsere gewohnten Energieformen?”
“Naja, aber die Streuverluste wären dann aber wohl oder übel immer gleich und würden nicht schwanken oder?”
“Ich bin mir nicht sicher, aber könnten uns da nicht hyperdimensionale Eigenschwingungsphänomene Probleme bereiten? Was wissen wir denn schon vom Hyperfeld? Ich habe zum Beispiel keine Ahnung, bei welcher Frequenz die Hintergrundstrahlung im Hyperfeld liegt.”
Waterson überlegte eine Weile hin und her. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich ständig, doch plötzlich wurde er ernst.
“Osasu, wir arbeiten doch mit sehr niedrigen Frequenzen im Hyperfeld im Vergleich zu dem was möglich ist, richtig? Die Hintergrundstrahlung liegt naturgemäß ebenfalls bei einer sehr niedrigen Frequenz. Du hast vielleicht gerade das Problem gelöst. Und wenn nicht ganz, dann zu einem großen Teil. Wir sollten mal mit Mark Bergmeier sprechen.”
“Den habe ich schon gefragt. Er meint, es könnte stimmen. Er denkt gerade über ein Meßgerät nach, um solche Sachen messbar zu machen. Wir stolpern nämlich, was den Hyperfeld betrifft, momentan ziemlich planlos durch die Gegend. Wir haben gerade mal das Zipfelchen des riesigen Schleiers über diesem Geheimnis gelüftet mit all dem, was wir hier tun.”
“Bei Marks deutscher Gründlichkeit haben wir die Meßgeräte spätestens in einer Woche und sie funktionieren auf Anhieb bestens.” meinte Waterson.
“Eher schneller. Ich habe ihm dafür erste Priorität gegeben.”
“Hm, und ich kann wieder mit O’Neele streiten, wegen der Planänderungen.” stellte Waterson mit einem Schmunzeln fest.
Naja, das hast du doch bis jetzt immer recht gut hingekriegt.”, antwortete Osasu grinsend.
“Aber Spaß ist es trotzdem keiner.”
“Deswegen bist ja du der Chef und nicht ich.“ bemerkte sie mit einem schadenfrohen Gesichtsausdruck.
“Vielen Dank für deine Loyalität.“ antwortete Steven mit einem breiten Grinsen. “Aber ich denke, ich kann dich an meinem Elend teilhaben lassen, Osasu. Damit du dich schon mal auf das Chef-sein vorbereiten kannst, kommst du mit zu O’Neele.”
“Das hab ich mir jetzt wohl selbst eingebrockt.”
“Hey, O’Neele ist ja kein Monster. Ich habe durchaus Verständnis für seine Hartnäckigkeit. Irgendjemand muß ja das Gesamtprojekt im Überblick behalten, und jede Planänderung wirkt sich auf das Projekt aus.”
“Ja, ich weiß, aber es ist trotzdem lästig.”
“Dann beeil dich mit dem Essen, und wir erledigen das gleich.”
Kurz darauf marschierten sie schnurstracks in den Bürobereich des Forschungszentrums und klopften an O’Neeles Tür. Er rief sie hinein.
“Kann ich ihnen etwas anbieten?”
“Nein danke, Bob. Wir wollen nur kurz etwas mit ihnen besprechen.”
“Setzen sie sich doch. Und dann schießen sie los.”
“Osasu hat möglicherweise die Ursache für die Fluktuationen im Impulsantrieb gefunden.”
O’Neele war auf einmal ganz hellhörig:”Erzählen sie.”
Osasu wußte, daß O’Neele Physiker war, daher konnte sie durchaus mit Fachbegriffen arbeiten, als sie ihm erklärte worum es ging.
“Hört sich plausibel an. Sie haben recht, was den Hyperfeld betrifft, stolpern wir wirklich noch etwas planlos herum. Und was wird mich das kosten, ihre Idee zu überprüfen?”
“Ich schätze eine Woche Mark Bergmeier.” warf Steve ein.
“Au, das tut weh. Er ist der beste Meßtechniker hier.”
“Genau deswegen brauchen wir ihn, Bob.”
“Hm, laßt mich mal einige Dinge nachschauen.” Bob ging wieder an seinen Schreibtisch und hämmerte einige Zeit in die Tasten seines Computers.
“Laut Projektplan arbeitet er zur Zeit an Meßgeräten für die Feldverschränkung. Das ist zwar ein sehr wichtiges Teilprojekt, liegt aber nicht auf dem kritischen Pfad.”
“Oh, ich denke, wenn er die Meßgeräte für die hyperdimensionale Hintergrundstrahlung hinkriegt, kann er das sicher auch teilweise für die Feldverschränkung verwenden. Die Problematiken überschneiden sich.” merkte Osasu an.
“Ja, das stimmt. Ok, genehmigt. Soll ich ihm das mitteilen?”
“Schon erledigt Bob. Ich hab ihn schon verplant und gesagt, wir klären das mit dir.”
Bob zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Als er Osasus Grinsen bemerkte schüttelte er nur leicht den Kopf
“Ist sie immer so Steve?”
“Was glauben sie, warum ich sie ins Team geholt habe? Genau deswegen.”
Daraufhin mußten sie alle drei lachen. Steve und seine Stellvertreterin standen auf, um sich wieder an die Arbeit zu machen.
Kaum hatten sie das Büro verlassen, grinste Steve über das ganze Gesicht:”Ging doch sehr schnell und einfach. Du hast dich wacker geschlagen. Das Timing für dein Argument mit der Themenüberschneidung bei Marks Arbeit war perfekt. Meinen Job kannst du schon haben. Ich leg mich in der Zwischenzeit oben in die Sonne.”
“Oh, danke, aber das kann ich nicht verantworten. Ein Grottenolm wie du würde sich dort oben in der Wüste einen höchst ungesunden Sonnenbrand einhandeln. Abgesehen davon würdest du geistig verkümmern. Du siehst, ich bin sehr um dein Wohl besorgt Steve.”
“Vielen Dank, Frau Kollegin.”
Lachend gingen sie den Gang entlang bis zum nächsten Lift.
“Und was machen wir, wenn du recht hast Osasu? Wenn die Hintergrundstrahlung uns da einen Streich spielt?”
“Ach, das ist ganz einfach. Wir mitteln uns die Frequenz und Amplitude der 5-dimensionalen Hintergrundstrahlung und pfropfen unseren Feldern eine phasenverschobene Schwingung auf. Die beiden löschen sich dann gegenseitig aus.”
“Die Schwingung wird aber an jeder Stelle des Raumes unterschiedlich sein. Und bei den Geschwindigkeiten, die wir erreichen wollen, kann das recht schnell wechseln.”
“Eben, drum werden wir einen Mittelwert nehmen. Wir werden vor dem Eintritt in den Hyperfeld auf dem Kurs die mittlere Frequenz und Amplitude bestimmen und dann als kursspezifische Werte in den Kursrechner eingeben. All das kann automatisch passieren.”
“Das begrenzt aber die maximale Reichweite und Geschwindigkeit eines Hypertriebwerks beträchtlich.”
“Ja, aber dann fliegt man halt auf Etappen. Wie lang die Etappen sein können, muß ich erst abschätzen. Jenseits davon wird durch die restlichen Fluktuationen die Zielgenauigkeit zu stark beeinträchtigt. Bei der Geschwindigkeit habe ich auch noch keine Vorstellung, was möglich ist.”
“Das kann sich aber relativ bald ändern, wenn sich an der Meßgenauigkeit oder an der Reichweite des entsprechenden Meßgerätes etwas ändert.”
“Ja. Ich werde das mal durchrechnen. Es wird schätzungsweise ein oder zwei Tage dauern.”
“Gut. Sobald du die Ergebnisse hast, informiere mich darüber. Das muß ich dann nämlich auch mit Bob besprechen. Und das wird ihm weniger gefallen, als die Planänderung vorhin.”
“Tja, das ist der Physik ziemlich egal, schätze ich.”
“Nur gut, daß Bob selbst Physiker ist. Der hat mitunter ein Einsehen bei Naturgesetzen als Argument. Politiker wären da nicht so ... hm ... umgänglich.”
“Da hast du sicher recht Steve.”
In ihrem Bürotrakt angelangt verschwanden sie wieder in ihren Büros. Als Steve Waterson sich wieder an seinen Schreibtisch setzte, dachte er darüber nach, wie dieses Projekt bisher für ihn gelaufen war. Als Kernphysiker und Reaktorspezialist hatte man ihn hier eingestellt. Die Reaktoren, egal ob Cold- oder Hot-Fusion liefen alle einwandfrei und trotzdem hatte das die Probleme mit dem neuartigen und unkonventionellen Antrieb nicht gelöst.
Vor kurzem hatte ihm O’Neele die gesamte Entwicklung des neuen Antriebskonzeptes übertragen. Er hatte sich innerhalb kürzester Zeit in die ihm fremde Physik des Hyperfelds und der Gravitationswellen einarbeiten müssen. Osasus mathematische Sichtweise der Dinge hatte ihm da sehr geholfen. Gemeinsam hatten sie es irgendwann geschafft, und es hatte sozusagen in ihren Gehirnen geklickt.
Der Deutsche Mark Bergmeier hatte es sogar in nur 4 Tagen geschafft, ein entsprechendes Meßgerät zu entwickeln. Kaum begannen die ersten Testreihen in den Triebwerksprüfständen zeigten sich auch schon die ersten Ergebnisse auf den Skalen des noch primitiven neuen Hyperrauminterferometers – nämlich nichts. Das wiederum war gleichbedeutend mit einer sich aufschaukelnden Resonanz zwischen den 5-dimensionalen Impulswellen und der Hintergrundstrahlung des Hyperfelds.
Sie hatten mittlerweile alle erwartet, daß es ein Resonanzeffekt war, der ihr Triebwerk störte, aber daß die Frequenzen so genau übereinstimmten, daß die Abweichungen nur 0,02% ausmachten, erstaunte doch alle. Im Nachhinein waren sie aber froh darüber, daß es doch eine Abweichung gab, denn eine noch genauere Übereinstimmung hätte bei Versuchen sehr schnell zu Katastrophen geführt. Der Hyperraum barg Kräfte, die man in diesem Ausmaß noch nicht beherrschte. So hatten sie nur mit Fluktuationen in der Triebwerksleistung und im Richtungsvektor zu kämpfen gehabt.
Die Techniker gingen daraufhin ein ganzes Frequenzband höher mit den Impulswellen. Das vervielfachte aber auch die Leistung der Triebwerke. In diesem Stadium war das aber nicht erwünscht, daher fuhren sie dann mit der Amplitude herunter, bis der Schub wieder ein erträgliches Maß erreichte. Den einen zerstörten Prüfstand, durch ein wild gewordenes Triebwerk in seine Einzelteile zerlegt, schrieb man als Verlustposten in der Bilanz ab. Der Erkenntnisgewinn war diese Ausgabe allemal wert.
Steve betrat den Prüfstand, in dem ein kleines Triebwerk problemlos mittlerweile seit Stunden im Dauerlauf auf 80% Leistung lief.
“Na Mark, wie sieht es aus mit unserem Baby?” fragte er den Meßtechniker in der schalldichten Steuerkabine.
“Sehen sie selbst Steve. Hier die Diagramme der letzten drei Stunden. Oben der Schub und unten der Richtungsvektor. Die rote Linie ist das von uns gewünschte Profil. Wir haben auch einige Lastwechsel durchgeführt, teilweise extreme.”
“Wer hat das autorisiert?”
“Dr. Moghu war hier und hat ein Leistungsprofil eingegeben in den Steuerrechner.”
“Oh. Sie konnte es wohl nicht erwarten. Na wie ich sie kenne, hat sie alles vorher berechnet.”
“Scheint so, denn Soll- und Ist-Werte stimmen bis zur 16. Kommastelle überein.
“Ohne Nachkalibrierung?”
“Ohne.”
“Hört sich gut an. Das dürfte die Geschwindigkeit und Distanz der Flüge auf einem brauchbaren Niveau halten.”
“Ich hab mir das mal überlegt Dr. Waterson. Bei 100 Lichtjahren Distanz und einer Geschwindigkeit von 1.000-fach Licht würde man maximal mit einer Lichtstunde Abweichung leben müssen. Die Kurve steigt von da an allerdings stark an. Aber ich denke Dr. Moghu ist da die bessere Ansprechperson.”
“Mag sein, aber sie liegen bei solchen Dingen auch sehr selten falsch Mark. Vielen Dank für die erstklassige Arbeit. Damit sind sie wieder freigegeben für die planmäßige Projektarbeit. O’Neele wird einen sehr positiven Bericht ihrer Arbeit von mir erhalten.”
“Danke Sir. Hat Spaß gemacht, dieses kleine Problem für sie zu lösen.”
Waterson sagte nichts mehr, als er sich umdrehte und wieder in sein Büro ging.
“Kleines Problem ... ts! Diese jungen Leute heutzutage ...”, dachte er sich allerdings, während er die Tür zumachte.
Einige Wochen später waren die Tests am Impulstriebwerk abgeschlossen. Das Aggregat lief tadellos. Die Software zur Triebwerkssteuerung konnte überarbeitet werden und konnte dabei gleich um die Hälfte verkleinert werden. Die Computer dankten es den Programmierern mit einer Steigerung der Performance um 280%.
Kaum hatte O’Neele die endgültige Bestätigung erhalten, daß alles in die richtige Richtung lief, ging er damit auch schon in den Projektlenkungsausschuß. Eine Stunde später allerdings bereute er schon seinen schnellen Entschluß, denn der Präsident der USA wollte ihn daraufhin persönlich sprechen und über den Projektfortschritt unterrichtet werden. Die Anweisung enthielt auch einen Absatz, daß leitende Projektmitglieder ebenfalls erwünscht wären. Bob O’Neele dachte eine Weile darüber nach, doch dann traf er ebenso schnell diese Personalentscheidung wie vorhin jene, den Lenkungsausschuß zu unterrichten. Steven Waterson und Osasu Moghu würden dieses Schicksal mit ihm teilen. Sie hatten sich schon mehrmals als durchaus kompetente und wortgewandte Teilprojektleiter erwiesen.
Nevada Spacecraft Engineering Center (NSEC) - so hieß dieser ganze Forschungs- und Ingenieurskomplex in der Wüste - war mittlerweile ein Bienenstock geworden. Der nationale Sicherheitsberater des Präsidenten und auch der Verteidigungsminister hatten empfohlen, das Zentrum als eigenes aber staatliches Unternehmen zu führen und das auch noch öffentlich.
Seither kamen ständig Anträge auf Besichtigungen, Interviews, etc. in der Pressestelle an. Die Gerüchteküche erstarb aber daraufhin sehr schnell. Die eingebundenen Partnerländer und –organisationen, allen voran die European Space Agency, konnten sich mehr um die eigentliche Projektarbeit kümmern und die ganze Geheimniskrämerei stark reduzieren. Das setzte wiederum erhebliche finanzielle und personelle Mittel für die Forschung frei.
Die Forschungsergebnisse kamen scheinbar immer schneller aus dem Labor und harrten der Überleitung ins Prototyping. Diese Überleitung in die Produktion kam scheinbar nicht mehr mit der Verwertung der Ergebnisse nach. O’Neele war dieser Engpaß sehr wohl aufgefallen und daher hatte er nach Abhilfe gesucht. Das Management dieser Aufgabe hatte ebenfalls ein ehemaliger Mitarbeiter von Steven Waterson übernommen. O’Neele war vor einiger Zeit an Waterson herangetreten. ob er denn jemanden wisse, der die Überleitung der angewandten Forschungsergebnisse in die Produktion managen könne. Daraufhin war Waterson sein ehemaliger Kollege Yamamoto eingefallen. Musashi Yamamoto hatte die Cold-Fusion-Reaktoren innerhalb des letzten Jahres zur Serienreife geführt und die wirtschaftliche Ausbeutung dieser Entdeckung sehr gut und effizient durchgezogen. Die beteiligten Firmen und Mitarbeiter waren mittlerweile schwer reich geworden.
Am 17. September 2099 flogen eine Frau und zwei Männer nach Washington DC, um vom Präsidenten der USA empfangen zu werden. Ihr Besuch war vom Präsidentschaftsbüro auf eine Stunde begrenzt worden. Präsident Benjamin Atkinson schien nicht mehr Zeit zu haben. Dabei mußte man sich mit einer Stunde ohnehin schon glücklich schätzen. Auf dem Flug wollte O’Neele noch einmal Watersons Rede durchgehen.
“Ich spreche frei und aus dem Stegreif Bob. Ich habe nur einige Grafiken vorbereitet.”
O’Neeles Kopf schnellte herum:“Sind sie verrückt Steve?”
“Nein, aber geübt. Vertrauen sie mir einfach.”
“Sie haben gut reden. Dieser Mann unterschreibt schließlich die Schecks für alles. Wenn sie sich da nur nicht selber kündigen ...”
“Würde mich nicht stören. Ich habe an den CF-Reaktoren genug für 10 Generationen verdient.”
“Und all die anderen Leute?” meinte Bob etwas frustriert.
“Kommen sie schon Bob, er macht das immer so und er kann das auch.” mischte sich Moghu ein. Die Südafrikanerin kannte Waterson schon sehr lange.
“Na da bin ich aber gespannt.” antwortete Bob O’Neele unsicher.
Es wurde großartig. Präsident Benjamin Atkinson erwies sich als technisch interessiert und auch bewandert. Er war kein Physiker, aber seine Allgemeinbildung erwies sich als äußerst umfangreich, und so begriff er die wesentlichen Dinge sehr schnell. In der Vergangenheit waren die USA nicht immer mit solchen Qualitäten an der Staatsspitze gesegnet gewesen.
“Dr. Waterson, vielen Dank für ihre Ausführungen. Jetzt habe ich endlich verstanden, was die NASA da eigentlich mit all dem Geld anstellt. Sagen sie Dr. Waterson, wie lange noch bis zum Start?” schloß der Präsident seinen Kommentar.
“Sie meinen die Pluto-Mission Mr. President?”
Atkinson nickte nur.
“Ich denke, die antriebstechnischen Probleme sind gelöst. Das Impulswellenaggregat funktioniert einwandfrei. Jetzt liegt es an den anderen Komponenten des Gesamtprojektes. Laut Projektplan können wir einen ersten Probeflug des Schiffes in ca. sechs Monaten durchführen. Den festgelegten Starttermin schaffen wir mit etwas Anstrengung auch noch. Besser wäre aber eine kleine Verschiebung von sagen wir zwei Monaten.”
“Hm, das paßt mir gar nicht, aber wenn es nicht anders geht, wird uns ohnehin nichts anderes übrig bleiben. Und die andere Mission?”, wollte Atkinson wissen.
“Das ist etwas anders gelagert, Sir. Das Hyperfeldtriebwerk ist in seinen Grundzügen fertig und kann in die Produktion gehen. Probleme macht noch die Computersteuerung. Und erproben kann man das Ding ohnehin nur im Weltraum. Was uns noch fehlt, sind die entsprechenden Kühlaggregate und die Eigenschwingungsdämpfer, aber das sind mehr oder weniger Standardanlagen.”
“Und wenn wir die Pluto-Mission aufschieben und etwas später mit dem Hyperfeldtriebwerk starten lassen, könnte es gleich erprobt werden, oder?”
“An sich stimmt das Mr. President, aber ich würde abraten. Zuviel müßte am Raumschiff noch geändert oder beachtet werden. Und wir würden ein System mitschleppen, das weder erprobt noch notwendig ist für diese Mission. Außerdem müßte man die Pluto-Crew noch auf dem Hyperfeldtriebwerk ausbilden. Hyperfeldflüge sollte man erst mal mit einem unbemannten Schiff durchführen. Ein entsprechendes Versuchsprogramm wäre innerhalb eines Jahres durchführbar. Wir könnten auch das zurückgekehrte Plutoschiff umbauen als Versuchsschiff für den Hyperantrieb.”
“Legen sie mir entsprechende Entwürfe dazu vor Waterson. Arbeiten sie mit O’Neele eine best-of-breed Lösung, einen Mittelweg und eine Sparversion aus. Sie bekommen dann innerhalb von 2 bis 3 Wochen meine Antwort.”
O’Neele blickte Waterson fragend an. Dieser nickte bestätigend.
“Machen wir Mr. President. Ich werde gleich Direktor Broderick informieren sobald wir zurück sind.”
“Das ist nicht notwendig, er weiß es schon. Michael Broderick wird sich beruflich verändern. Diese Regierung zentralisiert die Forschung und Entwicklung stärker. Aus diesem Grund habe ich beschloßen, ein Wissenschaftsministerium zu schaffen. Mr. Broderick wird der erste Secretary of Science sein und dieses neue Ministerium ab 1. Oktober übernehmen. Die NASA wird diesem Ministerium genauso unterstellt wie all die anderen Forschungseinrichtungen.”
“Und wer wird dann neuer NASA-Direktor?”
“Ein gewisser Robert O’Neele, wenn ich mich recht entsinne.”
Bob war sprachlos. Normalerweise kündigten sich solche Veränderungen durch irgendwelche Gerüchte an, aber Atkinson schien dies im Alleingang geplant zu haben. Seine Regierungsmannschaft hatte er wohl vor vollendete Tatsachen gestellt.
“Sir, ich weiß jetzt nicht ...”
“Macht nichts Bob. Sie haben das verdient. Suchen sie sich einige Kandidaten für den Stellvertreterjob und schicken sie mir die Vorschläge bis Ende nächster Woche. So meine Dame und meine Herren, jetzt muß ich sie hinauskomplimentieren. Ich habe noch einiges zu tun heute. Die Norweger wollen jetzt noch intensiver einsteigen in das Projekt. Die Delegation kommt in einer Stunde.”
Präsident Atkinson stand hinter seinem Schreibtisch auf und verabschiedete seine Besucher.
Kurz darauf stiegen sie wieder in die Limousine, die sie hergebracht hatte.
“Und jetzt sagen sie bloß, Steve habe seine Sache nicht gut gemacht und ich rede kein Wort mehr mit ihnen Bob”, bemerkte Osasu mit sanftem Sarkasmus.
“Ok, ok. Er war sogar sehr gut. Die Frage ist nur, ob ich gut genug bin.”
“Machen sie sich nicht kleiner als sie sind Bob”, merkte Steve mit einem breiten Grinsen an.
Nachdem Robert O’Neele die NASA als deren Direktor übernommen hatte, waren kurzfristig Zweifel an der Realisierbarkeit der Projektpläne aufgekommen, doch der neue Secretary of Science Michael Broderick tat Fragen der Journalisten mit einer seiner typischen, lakonischen Äußerungen ab: ”Glauben sie wirklich, der Präsident befördert den NASA-Direktor zum Minister, wenn er mit dessen Arbeit nicht sehr zufrieden wäre?” Daraufhin verstummten die Kritiker sehr schnell, denn Präsident Atkinson war bekannt dafür, daß er an seinen Mitarbeitern vor allem ihr Können schätzte und niemanden in die Regierung holte, der nicht wirklich beste Arbeit geleistet hatte. Die Forschung und Entwicklung für die Pluto-Mission liefen also weiterhin planmässig.
Das öffentliche Interesse an den bis vor kurzem noch geheimen Forschungsanlagen erlahmte in den folgenden Monaten rasch. Die Aura des Geheimnisvollen war abgebröckelt und die Einrichtungen für die Öffentlichkeit daher nicht mehr interessant. Lediglich einige Wissenschaftsmagazine und andere einschlägig Interessierte hielten Kontakt zu den Labors. Denen wiederum wurde nur ein beschränkter Blick in die Aktivitäten der Institutionen gewährt, denn man wollte die gesamte Hyperfeldtechnologie noch unter Verschluß halten.
Präsident Atkinson hatte ihnen auch die Startverschiebung um zwei Monate gewährt. Ein Startfenster brauchten sie mit dem neuen Triebwerk ohnehin kaum einhalten. Die Startfenster für Ziele innerhalb des Sonnensystems waren mit dem Impulstriebwerk mit einem Mal so groß geworden, daß es egal war, wann man startete. Mit diesem Triebwerk hatte die Menschheit die Himmelsmechanik zumindest im eigenen Sonnensystem fürs erste ausgetrickst.
Das Raumschiff wurde in einem riesigen Hangar des NSEC zusammengebaut. Die Probleme mit der Steuersoftware waren gelöst worden. Das Schiff führte nun in Form eines Großrechners die Computerleistung eines kleinen Rechenzentrums mit. Der leitende Ingenieur von NSEC - der Japaner Miamoto Shima - war mindestens einmal täglich im Hangar um den Baufortschritt persönlich zu überwachen.
Für seine 1200 Tonnen Gewicht war das Schiff relativ klein, aber es stellte dennoch den Kulminationspunkt in der technischen Entwicklung der Menschheit dar. Bei vielen Kleinigkeiten war man trotz Verfügbarkeit modernerer Systeme bei älteren und bewährten Technologien geblieben. Die wichtigsten Schalter zum Beispiel blieben nach wie vor Kippschalter wie an Bord von vielen Luftfahrzeugen auch.
Auf eine aerodynamische Form war nicht sonderlich geachtet worden. Das Schiff würde ohnehin so große Leistungsreserven in den Triebwerken haben, daß es kaum eine Rolle spielte und ausserdem würden die Hyperfelder das Schiff in der Atmosphäre auch von der umgebenden Lufthülle und deren Reibung abschirmen. Für den Start hatte man ein Steuerprogramm für die Hyperfelder entwickelt, die dem Schiff sozusagen eine aerodynamisch günstige Hülle aus Energiefeldern verschaffte.
Die Crew für die Pluto-Mission wurde bereits seit Monaten trainiert. Vor allem das neue Triebwerk erforderte ein völliges Umdenken der Astronauten. Treibstoff spielte nur mehr eine untergeordnete Rolle. Für den Flug zu Pluto und retour würden sie bei ständiger Maximalbelastung der Reaktoren nur circa vier Tonnen Deuterium benötigen. Laden würden sie zwölf Tonnen.
Zeitgleich wurden auch kleine Raumschiffe entwickelt, die sowohl Ladung als auch Personal transportieren konnten. Dazu wurde die letzte Bauserie der aktuellen Raumgleiter einfach mit dem neuen Impulsantrieb und den entsprechenden Navigationsdeflektoren versehen. Das Fahrwerk wurde durch einfache Teleskopstützen ersetzt. Treibstofftanks konnten ausgebaut werden und der Platz für andere Dinge genutzt werden. Das alte Energieverteilernetz wurde noch an die neuen Reaktoren angepaßt. Die beiden Shuttles erhielten jeweils nur einen CF-Reaktor. Heiße Fusion war für diese Raumgleiter nicht notwendig. Der Laderaum mußte ebenfalls umkonstruiert werden. Das Öffnen sollte nicht mehr wie gewohnt nach oben geschehen, sondern nach unten zwischen die Teleskopstützen. Die Strukturelemente der Konstruktion und die Außenhaut waren angepaßt worden und durch Bauteile mit neuesten Werkstoffen wie molekularverdichtetem Molybdenstahl oder Kunststoff-Stahl-Legierungen ersetzt worden.
Der endgültige Starttermin der Pluto-Mission war auf den 13. Januar 2101 festgelegt worden. Ein Jahr vor diesem Termin begannen die ersten echten Flugtests mit den Shuttles und dem Raumschiff selbst.
Raumhafen NSEC, 15.10.2099, 0900 Uhr
Auf dem scheinbar endlosen Flugfeld stand die USS GALILEI. Die Aggregate liefen auf Standby. Auf der Brücke des Schiffes machte sich Nervosität breit. Die Leute waren alle Profis und hatten schon einige Testflüge mit ihrem Schiff hinter sich, aber heute würde man wieder einmal etwas Neues probieren.
Commander David Norwood als Captain des Schiffes schaltete auf den externen Funkkanal: "Tower, hier GALILEI. Ersuchen um Startfreigabe für Testflug Alpha-3."
"GALILEI, hier Tower. Sie haben Startfreigabe. Startvektor wird übermittelt." kam die prompte Antwort.
"Beginnen Startsequenz. Melden uns dann aus der Umlaufbahn."
"Roger, GALILEI. Viel Glück!"
Norwood drehte sich nach rechts zu seinem Copiloten. Im Raumanzug eine etwas unbeholfen wirkende Bewegung, aber Norwood wollte nicht auf den Anzug verzichten bei einem Testflug. Es konnte ein Hüllenbruch auftreten und dann wären sie innerhalb kürzester Zeit tot.
"Status?"
Lieutenant Bernardo Cagliari antwortete: "Alle Systeme grün. Startvektor eingegeben und Kurs liegt an. Crew bereit."
Hinter den beiden Piloten saßen die beiden Bordingenieure und beobachteten aufmerksam die scheinbar zahllosen Meßgeräte, die sie mitgebracht und installiert hatten. Im Cockpit konnte man sich kaum noch bewegen, ohne eines davon ungewollt mitzunehmen. Hinten im Beobachterabteil saßen vier weitere Piloten, die nach Erreichen des Orbits, die beiden Shuttles ausschleusen, fliegen und wieder einschleusen sollten. Bisher waren die GALILEI und ihre Shuttles nur getrennt getestet worden. Rendezvous-Operationen mit aus- und einschleusen waren aber für die Mission wichtig und daher waren auch entsprechende Tests in den Testplänen vorgesehen.
"Ok, dann wollen wir mal." merkte Norwood an.
Gefühlvoll schob er den Schubkraftregler der bereits im Leerlauf leise winselnden Triebwerke nach vorne. Die Impulswellen wurden beim Start automatisch durch die Triebwerksöffnungen an der Unterseite des Rumpfes geleitet. Ein schwaches Vibrieren des Schiffes kündigte sich an, doch die Eingenschwingungsdämpfer sprangen kurz darauf an, und die Vibrationen verschwanden, bevor sie noch richtig begonnen hatten. Dann spürten sie alle die erste Bewegung des Schiffes nach oben. Wie üblich setzten die Trägheitsdämpfer erst ab einer gewissen Grenze ein. Man wollte so der Besatzung ein Gefühl für den Flugzustand vermitteln.
Norwood ließ das Schiff auf 300 Meter Höhe steigen, bevor er den Autopiloten aktivierte. Kaum war der Autopilot eingeschaltet, als das Schiff auch schon sanft auf den Startvektor ausgerichtet wurde und zu beschleunigen begann. Die Trägheitsdämpfer setzten ein und reduzierten die Massenträgheit an Bord auf Null. Anders hätten sie die starke Beschleunigung, die nun folgte, nicht überlebt. Die GALILEI donnerte mit 20g Beschleunigung durch die Atmosphäre in den Weltraum hinaus. Die 20g erschienen verglichen mit alten Raketen sehr hoch, aber Norwood hatte nur ein Drittel der Leistung von den Triebwerken abgerufen. Als der geplante Orbit 300km über der Erdoberfläche näher kam, begann der Autopilot bereits mit den ersten Kursanpassungen für das Einschwenken in den Orbit.
"Bernardo, check mal den Kurs. Irgendwelche Probleme da hinten?" fragte Norwood.
"Kurs ok, Dave."
Lieutenant Erin Sandler als leitende Ingenieurin und einzige Frau an Bord meldete sich: "Alle Anzeigen normal oder besser. Keine Probleme derzeit."
Norwood mochte die kurze und prägnante Art der hübschen Cheftechnikerin. Er schenkte den Anzeigen noch einen prüfenden Blick, bevor er den nächsten Abschnitt ihres Flugplans mit einem Schalterdruck freigab: "Ok. Löse einschwenken in den Orbit aus."
Das walzenförmige Schiff näherte sich vollautomatisch dem geplanten Orbit. Mit einigen Korrekturstößen aus den Triebwerken erreichte die GALILEI endgültig die Zielumlaufbahn. An sich war das nichts Großartiges, denn solche Flüge hatte das Schiff schon mehrere hinter sich gebracht. Anfangs hatte es eine Menge kleiner Probleme gegeben, doch die befürchteten großen waren ausgeblieben. Das Konzept hatte sich als praxistauglich erwiesen. Der aktuelle Flug diente eigentlich nur dem Test von Shuttle-Operationen.
Die fehlende Schwerkraft verlangsamte die Bewegungen und ließ sie eigenartig aussehen. Der Crew machte das nichts aus, man war einerseits darauf trainiert und hatte sich andererseits daran gewöhnt. Norwood schnallte sich von seinem Sitz los, nachdem er alle Antriebssysteme heruntergefahren hatte. Er wollte selbst sehen, wie das Aus- und Einschleusen von Shuttles ablief. Die Piloten machten sich bereits fertig für den Umstieg. Sie prüften ihre Ausrüstung und schwebten dann zu den beiden Shuttles in der Dockbucht hinüber.
Nur zu gern hätte Norwood eines der Shuttles selbst geflogen. Das große Schiff war zwar auch interessant, aber die Shuttles waren grundsätzlich wesentlich beweglicher und man hatte als Pilot ein unmittelbareres Fluggefühl. Vor allem in der Atmosphäre gaben Shuttles ein ungleich deutlicheres Feedback auf die Steuerkommandos des Piloten als große Schiffe. Und verglichen mit den 25 Metern Länge der Shuttles war die GALILEI mit ihren 200 Metern ein Gigant. Dabei hatte die GALILEI noch gar keines dieser neuen Hyperfeldtriebwerke an Bord. Das würde für ihre Mission zum Pluto nicht notwendig sein. Die Pluto-Mission diente vorwiegend dem Zweck, die Konstruktion auf Fernflugtauglichkeit und unabhängiges Operieren zu testen. Das Schiff war auch deswegen so groß, weil es wesentlich mehr technisches Personal an Bord hatte, als in Zukunft üblich sein würde. Die interstellaren Nachfolger der GALILEI würden nicht nur ein Hyperfeldtriebwerk besitzen, sondern auch einige andere Annehmlichkeiten.
Die neuen Trägheitskompensatoren und Vibrationsdämpfer waren allerdings schon eingebaut. Auch umfassende Offensiv- und Defensivsysteme hatte man zu Testzwecken eingebaut. Sie waren an den taktischen Gefechtsdatenverbund angeschlossen und konnten vom Gefechtscomputer gesteuert werden. Bei höheren Geschwindigkeiten wäre ein Mensch nicht mehr dazu in der Lage gezielt zu feuern.
Die GALILEI war mit der minimalsten Rumpfbesatzung zu diesem Test gestartet. Sollte etwas schief gehen, wollte man sich unnötige Opfer ersparen. Insgesamt waren nur 20 Personen an Bord. Die meisten davon waren Ingenieure, die vor ihren Messgeräten angeschnallt waren und alle möglichen Maschinen überwachten.
"Dockbucht an Brücke. Fertig zum Ausschleusen."
"Norwood hier. Freigabe zum Ausschleusen erteilt."
Damit hatte der Deckoffizier LT Roger Sabato die Befehlsgewalt über die Dockbucht. Er ließ gleich innerhalb der Schleusentore ein Kraftfeld aufbauen, das ein Austreten der Atmosphäre in den Weltraum verhindern sollte. Ausserhalb des Kraftfeldes glitten die Schleusentore auseinander und die Schwärze des Weltraums sprang förmlich in die Dockbucht hinein. Das Kraftfeld funktionierte einwandfrei, und die Atmosphäre blieb stabil. Die Shuttles meldeten zehn Minuten später, nachdem sie die Checkliste abgearbeitet hatten, Startbereitschaft.
Von außen betrachtet, öffnete sich am Heck des Schiffes zwischen den Triebwerken eine riesige Schleuse und man konnte in die erleuchtete Dockbucht hineinsehen. Die Klammern an den Landebeinen der Shuttles lösten sich, nachdem die Shuttles ihre Prallfelder aktiviert hatten. Auf diesen elektromagnetischen Prallkissen glitten sie auf das offene Hangartor zu und ließen sich hinaustreiben in den freien Weltraum. Dabei passierten sie das Kraftfeld, das die Atmosphäre in der Dockbucht hielt. Andernfalls wäre das Vakuum des Weltraums mit infernalischer Gewalt über die Dockbucht hergefallen.
Nachdem die Shuttles einen Sicherheitsabstand von 200 Metern erreicht hatten, aktivierten sie ihre Triebwerke und begannen mit den geplanten Flugmanövern. Von der Brücke der GALILEI aus sah das völlig unspektakulär aus. Die Triebwerke der Shuttles leuchteten in einem intensiven Weiß mit einem leichten blauen Schimmer auf und wurden schnell kleiner. Die Shuttles selbst konnte man mit normalen Augen im Dunkel des Weltraums nicht sehen. Erst der Blick auf den Bildschirm, der die Ortungsdaten in das normaloptische Bild einspielte, zeigten sich die Konturen der Shuttles. Die Daten wurden 50 mal pro Sekunde aktualisiert, sodass sich auf dem Schirm ein flüssiger Bewegungsablauf der Objekte ergab.
Für die Crew der GALILEI begann jetzt das langweilige Warten bis zur Rückkehr der Shuttles und den Manövern zum Einschleusen. Die Shuttles würden laut Plan vier Stunden unterwegs sein und verschiedene Manöver im erdnahen Raum fliegen. Danach würden die Shuttles einschleusen und die GALILEI zurückkehren.
Einige Zeit war überlegt worden, die GALILEI bis zum Missionsbeginn in einem Erdorbit zu parken. Das hatte sich als sinnlos erwiesen, solange man nicht wußte, wie aufwändig das Aus- und Einschleusen von Shuttles funktionieren würde. Nun, die Tests liefen gerade. Das Ausschleusen war technisch kein Problem und nahm auch kaum Zeit in Anspruch. Die meiste Zeit wurde für das Hochfahren der Shuttle-Systeme und die Preflight-Checklist benötigt. Gerade diese beiden Punkte hatte man aber gut im Griff und konnte sie gut automatisieren beziehungsweise beschleunigen.
Für das Mutterschiff lagen während der Wartezeit keine besonderen Befehle vor, aber irgendwie hatte Norwood im Gegensatz zu sonst keine Lust auf eine seiner üblichen Extratouren. Er klappte seinen Pilotensitz zurück und schlug auf seinem Tablet-Computer ein Buch auf. Cagliari wunderte sich, denn er kannte Norwood gut, sagte aber nichts. Ähnlich erging es Sandler. Norwood verdankte es eigentlich nur seinen Fähigkeiten als Testpilot und Raumfahrtingenieur, daß die Projektleitung seine mitunter nicht ungefährlichen Abenteuer bisher geduldet hatte. Meistens hatte er dabei Fehler in diversen Systemen aufgezeigt, weil er die Maschinen oft sozusagen bis zum Anschlag ausgereizt hatte oder eben irgendwelche verrückten Sachen getan hatte, die so definitiv nicht im Handbuch standen.
"Homebase, Flight Zebra hier!" meldete sich das Führungsshuttle.
Norwood aktivierte den Funkkanal: "Zebra, hier Homebase. Was liegt an?"
"Wir haben leicht erhöhte Reaktortemperatur an Bord von Zebra 2, aber weit unter kritisch. Wir können locker damit zurückkehren und heimfliegen."
"Negativ Zebra. Zebra 2 wird evakuiert. Besatzung übersetzen auf Zebra 1. Zebra 1 kommt zurück. Und zwar blitzartig Leute."
"Aber ..."
"Nichts aber. Macht schnell."
Ein mulmiges Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Gerade die kleinen Shuttle-Reaktoren hatten sich bisher als unverwüstlich erwiesen. Er wußte nicht, warum er so auf Eile drängte, aber sein Instinkt riet ihm, den beiden 2-Mann Teams Feuer unter dem Hintern zu machen.
"Erin, rechne mir den Mindestsicherheitsabstand aus, falls der Reaktor mit voller Ladung hochgeht." befahl er.
"Aber das kann gar nicht passieren. Wenn ..."
"Tu es einfach ok?"
"Aye, Captain." sagte die Ingenieurin nur. Sie kannte Norwood gut genug um zu wissen, wann es sinnlos war, mit ihm zu diskutieren. Statt dessen hämmerte sie bereits mit rasenden Fingern in die Tasten des Bordcomputers. Eine halbe Minute später hatte sie ihre Berechnung abgeschlossen.
"Mindestabstand im All zwei Klicks. Am Boden wären es fünf. Empfehlung lautet fünf Klicks. Da hat der Strahlenschock sich dann schon ausgedünnt."
"Ok. Hält unser Schutzschirm eine solche Explosion aus?"
"Theoretisch ja, aber getestet hat es noch niemand. Zu nahe herangehen würde ich trotzdem nicht."
"Zebra 1, hier Homebase! Status!"
"Zebra 2 verlassen. Besatzung setzt gerade über. Distanz zu Zebra 2 beträgt 50 Meter."
"Schutzschirm aktivieren, sobald alle an Bord sind und dann abrauschen. Macht hin, daß ihr so schnell wie möglich mindestens 5 Klicks weg seid."
"Kontrollen von Zebra 2 sind auf RC geschaltet. Kanal 3."
"Ok, gute Idee. Erin schau dir die Messdaten von Zebra 2 an und zeichne soviel auf, wie es geht."
"Homebase, Zebra 1 hier. Wir kommen mit Vollgas zurück."
Systemspezialist und Bordfunker Lieutenant Bernardo Cagliari hatte inzwischen das Kontrollzentrum verständigt. Von dort kamen keine Rückfragen an Norwood. Sie wollten das Krisenmanagement des Kommandanten nicht stören. Cagliari konnte auch ohne ihn erschöpfend Auskunft geben. Genau genommen wussten sie ohnehin nicht, was mit dem Reaktor von Zebra 2 los war.
Auf dem Bildschirm wurde Zebra 1 wieder größer. Mit hoher Geschwindigkeit und direktem Kurs kam es zum Mutterschiff auf. Im scheinbar letzten Moment begann der Shuttle-Pilot mit dem Bremsmanöver. Dazu wendete er das Shuttle und ließ die Haupttriebwerke mit voller Gewalt losdonnern. Norwood nickte zu dem Gewaltmanöver nur. Er hätte es in dieser Notsituation nicht anders gemacht. Sandler meldete in der Zwischenzeit einen steilen Anstieg der Reaktortemperatur an Bord von Zebra 2.
Norwood wollte gerade das Kommando zum Einschleusen geben, als Zebra 2 mit der Gewalt einer großen Wasserstoffbombe explodierte. Sie waren 120 Kilometer entfernt und trotzdem blendete sie die gleißende Explosion. Einen Sekundenbruchteil später blendete der Bordcomputer die Sichtluken und die Bildschirme ab, um die Besatzung zu schützen. Gefährliche Strahlung wurde keine frei.
Sandler saß blass in ihrem Schalensitz und starrte ungläubig in die Explosion als Norwood sich zu ihr umdrehte: "Hast du nicht gesagt, das könne gar nicht passieren?"
"Ja ... nein ... ähm ja, hab ich gesagt. Technisch ist das auch unmöglich. Bevor der Reaktor so kritisch heiß wird, gehen die Einengungsfelder für das Wasserstoff-Plasma drauf und das Plasma fällt sofort wieder in den üblichen Aggregatzustand des Wasserstoffs zurück. Damit ist die Geschichte zu Ende. Ok, der Strahlenschock wäre medizinisch unangenehm, aber heutzutage auch nicht gefährlicher als ein entzündeter Blinddarm."
"Und wie sieht es aus, wenn die Einengungsfelder aus irgendeinem Grund viel länger durchhalten als geplant?" fragte Norwood nach.
"Ok, das könnte dann eine Explosion verursachen, wenn sie schlußendlich dann doch irgendwann den Geist aufgeben. Aber der Energiebedarf wäre im Falle eines solchen Shuttles mehr als der bordeigene Reaktor leisten kann."
"Die Leistungsabgabe würde aber auch steigen. Nicht unbedingt exponentiell wie die Temperatur, aber doch stark genug oder?"
"Lass mich das mal nachrechnen."
"Tu das. In der Zwischenzeit wird Cagliari den Reaktor von Zebra 1 auf Herz und Nieren prüfen. Ich werde mal mit Mission Control reden."
Mission Control, NSEC, Nevada, USA
In der Einsatzzentrale des Raumfahrtzentrum hörte man gerade fassungslos den Bericht von Commander David Norwood. Parallel luden die Spezialisten die Daten vom Bordcomputer der GALILEI auf den baugleichen Computer in der Zentrale und begannen mit der Analyse. Flight Director Nicolas Grant wollte schon Befehl zur Rückkehr geben, als Norwood das Umschalten auf einen verschlüsselten Kanal anforderte.
"Nick, wir sollten besser nicht gleich zurückkehren. Ich bin der Ansicht, daß hier ein Softwareproblem vorliegt. Wenn Zebra 1 oder auch die GALILEI selbst das gleiche Problem haben, dann gibt es am Boden eine Katastrophe. Ich würde gerne Cagliari und Sandler die Reaktoren checken lassen, dazu brauchen wir die Unterstützung der Software-Ingenieure am Boden. Das wird einige Stunden dauern, aber ich denke, dann wissen wir Bescheid. Ich empfehle weiterhin die sofortige Stilllegung dieses Reaktortyps weltweit und sobald wir landen, auch an Bord von GALILEI und Zebra 1."
"Dave, weißt du, was du da sagst? Es gibt mittlerweile einige Hundert dieser Dinger in allen möglichen Stromnetzen." fragte Nick nach.
"Du bist selbst Ingenieur und kennst das Reaktorprinzip gut genug. Diese Dinger explodieren nicht einfach so. Das geht rein technisch schon gar nicht. Irgendwer oder irgendetwas hat die Einengungsfelder rekalibriert, damit sie länger durchhalten und auch mehr Leistung aufnehmen können. Und dann brauchte man nur mehr Brennstoff zuführen als üblich. All das kann man rein per Software steuern. Da brauchen wir noch irgendeinen Regelmechanismus, der solche Probleme auffängt und den Reaktor herunterfährt."
"Mag sein, aber wer um Himmels willen sollte so etwas tun?"
"Nick, ich bin Ingenieur und Pilot aber kein Agent. Ich kann dir die technischen Gegebenheiten darlegen, aber was ihr dann daraus macht ..." Dave ließ den Satz unvollendet.
"Ok, ich werde das an den Minister weitergeben. Soll er entscheiden, was zu tun ist. Er wird einen Mitschnitt unseres Gesprächs bekommen. Weiters bleibt das Gespräch und sämtliche anderen Daten der gesamten Mission unter Verschluß, bis wir anderweitige Befehle erhalten. Die Explosion erklären wir vorerst gar nicht in der Presse. Ihr checkt noch eure Reaktoren. Sobald es etwas Neues gibt, will ich es wissen, Dave. Ist das klar?"
"Aye Nick."
"Und wenn ihr nichts findet, dann könnt ihr wieder heimkommen."
Sie ließen sich einige Stunden Zeit mit der Überprüfung - auch um zu sehen, ob einer der Reaktoren Auffälligkeiten zeigte oder nicht. Aber weder die Überprüfung der Miniaturkraftwerke noch das Warten auf eine Veränderung förderten etwas zutage. Aus diesem Grund meldete Norwood nach fast sechs Stunden bei Mission Control seine Rückkehr an. Der Rückflug verlief ereignislos, obwohl Norwood stark mit Reaktorproblemen gerechnet hatte.
Das Schiff wurde vom sonst üblichen Landeplatz an den Leitstandshallen zu einem anderen umdirigiert. Als sie aus wenigen hundert Metern Höhe auf die Bildschirme sahen, konnten sie einen Kreis aus gepanzerten Fahrzeugen und einen Zug Infanterie ausmachen. Erst als sie im Endanflug nur mehr wenige Meter über dem Boden einschwebten, geführt vom Leitstrahl des Landefeldes, erkannte Norwood die Uniformen der Soldaten. Es waren die schwarzen Uniformen der Spartaner, der absoluten Eliteeinheit der Marines.
In den letzten Jahrzehnten waren bei allen großen Machtblöcken die Spezialeinheiten zu einer einzigen Einheit zusammengefasst worden. Lange hatte es diesbezüglich Widerstände gegeben. Schlußendlich hatte ein Stab aus Militärexperten, Wirtschaftsexperten aus Europa und Nordamerika die Einsparungspotentiale errechnet, falls die militärischen Einheiten der Mitgliedsstaaten zusammengelegt würden. In Folge wurden auch die Spezialkräfte fusioniert. Bei den Nordamerikanern und den Europäern waren es eben die Spartaner. Aus allen Einzelverbänden wurden die besten Ausbildungsmethoden, Taktiken, Strategien und Erfahrungen zusammengezogen und für die Ausbildung und den Einsatz der Spartaner in neue Form gegossen.
Die Marines der Marine Expeditionary Force selbst sahen sich schon als Elitesoldaten, doch die Spartaner waren die absolute Spitze in jeder Hinsicht. Sie selbst machten allerdings nicht so viel Aufhebens darum, wie es so manche Marines taten. Ihr Selbstverständnis war einfach ein anderes. Ein großer und auch wichtiger Unterschied der Spartaner zu den Marines war ihre Anzahl. Marines gab es ungefähr eine Million, Spartaner hingegen nur ein Regiment mit ungefähr 5.000 Soldaten weltweit.
Umso erstaunter war die Schiffsbesatzung als sie die Einheit erkannte. Auf einen Schlag gleich einen vollen Zug dieser Eliteeinheit anzutreffen, war dann doch sehr ungewöhnlich. Die Spartaner operierten im Normalfall in kleinen Teams in der Größe von maximal zwei Gruppen mit je neun Soldaten. Ein aufmerksamer Beobachter konnte auch sehen, daß um den Landeplatz herum in ungefähr zwei Kilometern Abstand ein Kreis aus hastig errichteten Stellungen gezogen worden war. Norwood nahm an, dass es sich um reguläre Marines handelte. Schützenpanzer, gepanzerte Truppentransporter und LKWs standen in regelmässigen Abständen auf einem fiktiven Kreis mit vier Kilometern Durchmesser herum.
Als die GALILEI gelandet war und die Schleuse aufging, wurden sie alle von Spartanern in Empfang genommen und schweigend auf Fahrzeugen rasch aus der Landezone gebracht. Ihr Ziel war ein Bunker nahe Mission Control, 20 Kilometer vom Ausweichlandeplatz entfernt, auf dem die GALILEI jetzt stand. Weit genug, daß sie alle eine Reaktorkatastrophe überleben würden. Bisher waren sie nicht zu Wort gekommen, aber sie waren sicher, daß diese Gelegenheit noch kommen würde - spätestens beim abschließenden Debriefing.
Mit den schnellen Transporthelikoptern hatten sie die Distanz in fünf Minuten hinter sich gebracht. Auf dem schwer abgesicherten Raumhafen nahe des Forschungszentrums wurden alle zehn Besatzungsmitglieder vom Helikopter zum Bunker des Stützpunktkommandos begleitet. Sie hatten alle das Gefühl, daß die Spartaner nur hier waren, um sie nicht entkommen zu lassen, aber wo hätten sie in der Wüste hin sollen? Vor allem aber hatten sie nichts verbrochen.
Es folgte eine Serie von Einzelverhören durch Spezialisten der Bundespolizei, des Geheimdienstes und einiger anderer Organisationen, die sie bisher nicht einmal dem Namen nach gekannt hatten. Sie versuchten sich dagegen zu wehren, schließlich waren sie nicht die Täter sondern nur die Überbringer der schlechten Nachricht, doch wie zu erwarten gewesen war, fruchtete es nichts. Erst als Norwood und seine Crew die Kommunikation einstellten und geschlossen mit Austritt aus dem Raumflugprogramm drohten, wurde der etwas rüde Ton um einiges freundlicher.
Nach fast fünf Stunden Dauerverhör durch alle möglichen Dienste erschien ein neues Gesicht im Bunker. Ein gewisser Dr. Steven Waterson stellte sich ihnen als Nuklearphysiker vor. Die Einzelverhöre schienen vorbei zu sein, denn sie trafen sich alle im großen Konferenzraum des Raumhafens. Einige Minuten später erschien auch noch der NASA-Director Robert O'Neele, der dann auch den Anfang machte.
"Guten Abend. Nehmen sie bitte Platz. Auf den Tischen an der linken Seite des Raumes finden sie Sandwiches und Getränke, falls sie möchten. Kaffee sollte ebenfalls dabei sein. Mein Name ist Robert O'Neele. Ich bin der Director der NASA. Neben mir sehen sie Dr. Steven Waterson, den Erfinder des Cold Fusion Reaktors, den wir kurz CFR nennen. Es ist nicht notwendig, daß sie sich vorstellen, sie alle sind uns beiden bekannt."
Norwood ging auf die Verpflegung mit einem abfälligen Grinsen ein und setzte ein trotziges Gesicht auf: "Eine neue Verhörrunde Director? Diesmal mit wissenschaftlichem Anstrich und Verpflegung als Psychospielchen? Lesen sie einfach die Protokolle der bisherigen Befragungen. Wir haben diesen nichts mehr hinzuzufügen."
O'Neele lehnte sich zurück und legte nachdenklich die Hände aneinander: "Keine Sorge Commander. Das wird kein Verhör. Natürlich würden wir gerne von ihnen allen hören, was abgelaufen ist, aber dazu gibt es wie sie schon sagten Protokolle und Datenbestände. Die Fakten kennen wir also. Was uns beide trotzdem interessieren würde, ist eine Schilderung aus ihrer aller subjektiver Sicht, unabängig von den Fakten. Und ich habe eigens darum ersucht, sie gemeinsam sprechen zu dürfen. Sie alle sind Experten auf ihren Gebieten, und ich bin der Ansicht, daß es durchaus einen Mehrwert haben kann, wenn sie gemeinsam hier teilnehmen. Ziel soll es sein, alles noch einmal gemeinsam durchzugehen und aus ihrer Sicht Lösungsansätze gegen eine Wiederholung zu finden."
Er machte eine wohlüberlegte Pause, indem er sich vom provisorischen Buffet eine Tasse starken Kaffee holte und sich wieder hinsetzte.
Aber gegen die Erwartung aller setzte Waterson fort: "Sie haben vielleicht bewußt oder unbewusst etwas im Kopf, das wir übersehen haben. Wir sind also nicht hier um sie noch mehr zu quälen, sondern wir bitten sie um Hilfe. Die CFRs entwickeln sich immer mehr zum Allheilmittel des globalen Energiehungers, und sie sind absolut notwendig für das Raumfahrtprogramm. Die Sache ist also wichtig. Je schneller das Problem vom Tisch ist, desto besser. Und die ganze Sache ist freiwillig. Sollten sie genug haben, was wir durchaus verstehen könnten, dann werden wir das akzeptieren."
Norwood sah seine Crewmitglieder der Reihe nach an. Alle nickten leicht. Dann sah er auf die Armbanduhr. Es war bereits später Abend. Die Verhöre waren anstrengend gewesen und der Flug davor war immer noch nicht Routine genug, daß es eine Kleinigkeit gewesen wäre.
"Wir sind einverstanden, aber auch etwas geschafft von all dem Zirkus. Macht es ihnen etwas aus, wenn wir erst morgen früh damit beginnen? Sagen wir so gegen 0900?"
"Das geht in Ordnung. Mr. O'Neele und ich werden auf dem Gelände bleiben, und wir sehen uns dann morgen früh hier wieder. Es werden dann noch zwei Experten zu uns stoßen, nämlich die Leiterin der Hyerraumforschung Naomi Pearson und der Leiter der hiesigen Meßtechnik Mark Bergmeier. Möchten sie noch etwas dazu sagen, Robert?"
"Ja. Wir bekommen direkt vom Präsidenten alle Ressourcen, um das Problem mit Priorität 1 zu lösen. Was immer sie für die nächsten Tage brauchen, sagen sie es so schnell wie möglich Dr. Waterson oder mir. Unsere Kontaktdaten finden sie ab sofort in ihren dienstlichen Postfächern. Haben sie noch Fragen?"
"Wie lange wird diese Geschichte dauern?" wollte Sandler wissen. "Wir haben großteils Familie."
O'Neele blickte auf: "Heute noch geht fast die ganze Wahrheit über die Sache an die Presse. Wir stellen es als Unfall dar, der aufgrund der Umsicht des Kommandanten und seiner Crew glimpflich ausging. Sie können ab morgen früh das Gelände unter der Bedingung verlassen, daß sie sich an diese Story halten und auch den sonst hier üblichen Bestimmungen Folge leisten. Das betrifft auch alle Formen von Kommunikation, aber halten sie sich bitte von Pressefritzen oder Unbekannten mit diesem Thema fern. Da bis auf Weiteres alle Testflüge gestrichen sind, werden sie hier also einige ganz normale Arbeitstage verbringen. Das einzige was sich ändert, sind die Sicherheitsbestimmungen für Besucher. Ihr Training läuft weiter wie geplant."
NSEC, 16.10.2099, 0900 Uhr
Am nächsten Morgen fanden sie sich alle wieder im Bunker ein. Der unterirdische Komplex bot alle Annehmlichkeiten eines mittleren Konferenzzentrums modernster Ausprägung. Norwood hatte sich die Leiterin der Hyperfeldforschung etwas anders vorgestellt - wohl eher mit dicker Brille und vollkommen verstaubt. Statt dessen wurde er mit einer überaus attraktiven Frau konfrontiert, die für ihre 42 Jahre sehr gut aussah und einen jugendlichen Elan versprühte. Der Messtechnik-Experte Mark Bergmeier sah ebenfalls ganz anders aus, als Dave sich einen typischen Deutschen vorgestellt hatte. Von wegen blond und blaue Augen - Bergmeier hatte rabenschwarzes Haar und dunkelbraune Augen. Er würde auch problemlos als Süditaliener durchgehen. Die sonnengebräunte Haut - sie befanden sich immerhin in der Wüste von Nevada - tat ihr übriges, um diesen Eindruck zu verstärken. Davon abgesehen schien Bergmeier ein eher ruhigerer Typ zu sein, der mehr durch Kompetenz glänzte als durch Mitteilungsbedürfnis. Waterson und O'Neele hielten sich im Hintergrund und verlagerten sich auf das Beobachten. So kam es, daß Pearson den Tag eröffnete.
"Guten Morgen. Ich hoffe sie sind ausgeschlafen, denn es wird ein anstrengender Tag werden. Mein Name ist Naomi Pearson und ich bin die organisatorische Leiterin der Hyperfeldforschung. Der wissenschaftlich-technische Leiter ist Steven Waterson, den sie ja schon kennen. Neben mir sehen sie Mark Bergmeier, den besten Meßtechniker an diesem Standort und wahrscheinlich auch innerhalb des euro-amerikanischen Blocks. Unsere Aufgabe ist klar umrissen. Wir sollen klären, warum der Reaktor hochgegangen ist. Sobald wir das wissen, sollen wir Konzepte erarbeiten, die das Problem in Zukunft verhindern. Haben sie Fragen dazu?"
Norwood meldete sich mit einem Räuspern: "Ja. Ich habe Mission Control empfohlen, weltweit alle Reaktoren dieses Typs abzuschalten. Was ist da der Stand der Dinge?"
"Alle Betreiber eines solchen Reaktors wurden ausnahmslos informiert. Inwieweit sie die Reaktoren abschalten, wissen wir nicht und können wir auch nicht beeinflussen." gab Pearson zur Antwort. "Wir wissen zum Beispiel, daß die Antarktis Forschungsstation nicht abgeschaltet hat. Die meisten tun es aber, soweit es uns bekannt ist."
Norwood lehnte sich zurück in seinem Bürosessel. Mehr als die Leute informieren konnte man nicht verlangen. Wenn einige den Empfehlungen nicht folgen wollten, dann war das ihr eigenes Risiko. Pearson bildete zwei Teams, die sich mit verschiedenen Teilaspekten des Problems befaßten. Kurze Zeit später waren sie bereits in die Analyse der vorhandenen Daten vertieft. Als es an die Analyse der Software ging, wurde dann noch der leitende Software-Ingenieur hinzugezogen.
Recht bald hatte sich herauskristallisiert, daß der Auslöser tatsächlich, wie bereits vermutet, falsch kalibrierte Einengungsfelder der Reaktorkammer gewesen waren. Die beiden Teams setzten sich nach mehreren Stunden wieder zu einer ersten Klausur zusammen.
Als sich die Frage stellte, wieviel Energie die einzelnen Komponenten überhaupt aufnehmen konnten, sprang Bergmeier ein: "Wir haben die Reaktorkomponenten auf 250% Energieaufnahme getestet. Das halten die Komponenten ungefähr 15 Minuten aus. Danach versagen sie recht schnell."
"Von den ersten Anzeichen an bis zur Explosion dauerte es aber nur sechs Minuten und 10 Sekunden." merkte Waterson an, der zur Gruppe gestossen war.
"Dann wurde den Einengungsfeldern ungefähr 400% der zulässigen Energiemenge zugeführt. Das Versagen der Felder geschieht dann übergangslos.
Pearson machte sich Notizen auf ihrem Tablet: "Ok, fassen wir also zusammen. Ergebnisse des Teams Reaktortechnik: Wir haben eine sehr kurze Zeit der Reaktorüberladung mit 400% der zugelassenen Energiemenge. Der Reaktor kann diese Menge nur etwas mehr als sechs Minuten bändigen. Danach kollabieren die Einengungsfelder. Gleichzeitig wurde eine sehr große Menge Brennstoff eingespritzt, um die hohe Energiezufuhr aufrecht zu erhalten. Danach kam es zur Explosion. Wie sieht es beim Team Computersteuerung aus?"
Norwood hatte hier die Führung übernommen. Das war sein Metier. Er rief über den holografischen Projektor eine grafische Darstellung der Ereignisse auf: "Wir wissen den offiziellen Softwarestand zum Zeitpunkt der Explosion und wir kennen alle Daten, die vom Steuercomputer gerade verarbeitet wurden. In den Computerlogs der Schiffe haben wir nichts gefunden. Wir haben allerdings die Belastungskurve des Reaktors mit dem gesamten einfallenden elektromagnetischen Spektrum auf einem Zeitstrahl übereinander gelegt. Dabei haben wir zwei kleine Spitzen auf dem UKW-Frequenzband gefunden. Eine deckt sich mit dem Zeitpunkt des Beginns der Temperatursteigerung in der Brennkammer. Die zweite Spitze befindet sich wenige Sekunden vor der Explosion. Die Funksignale enthalten keinerlei feststellbare Information. Wir haben sie nach allen Regeln der Kunst zu entschlüsseln versucht. Bisher ist es nicht gelungen. Das Signal enthält keine Variation und ist mit einer Mikrosekunde Dauerton sehr kurz. Die beiden Signale gleichen sich völlig."
"Was ziehen wir für Schlüsse daraus?" fragte O'Neele die Gruppe.
Norwood lehnte sich zurück und schubste den Stift auf die Tischplatte: "Das, was ich Nick Grant auch schon von Bord der GALILEI aus gesagt habe. Hier wurde die Software kompromittiert und mit einem Funksignal absichtlich eine Schadroutine aufgerufen. Den Effekt kennen wir alle."
"Aber der Reaktor ist allein von der Hardware her gar nicht in der Lage, Funksignale zu empfangen. Ganz zu schweigen von der Software ..." warf der Software-Ingenieur Prabodhan Dattani ein.
"Der Reaktor nicht, aber die Shuttles und die GALILEI als Ganzes schon. Vielleicht sind ja auch einfach das gesamte Kommunikationsüberwachungssystem und die Reaktorsteuerung kompromittiert worden. Ein kurzes Signal, das über Funk eingeht und nicht weitergemeldet wird, kann dann gleich mal eine gefährliche Subroutine auslösen und niemand merkt es." hielt Norwood entgegen.
Dattani trug einen ungläubigen Gesichtsausdruck zur Schau: "Dann haben wir aber ein riesiges Sicherheitsproblem hier auf dem Gelände. Anarchisten und Terroristen gibt es genug, die das Projekt abwürgen wollen. Die gesamte Software wird zwar hier vor Ort erstellt, aber wenn die das Personal hier infiltriert haben ..."
Der Indien-stämmige Computerexperte sprach nicht weiter, aber alle waren sich der Konsequenzen bewußt.
"Ok, gehen wir davon aus, daß es ein Softwareproblem ist. Ob absichtlich oder zufällig ist momentan nicht so essentiell. Wie kriegen wir das in den Griff? Wir können ja wohl kaum jede einzelne Zeile Programmcode kontrollieren, und selbst das würde keine Sicherheit bieten. Oder sehe ich das falsch?" fragte Pearson.
Dattani wandte sich ihr zu: "Sie haben recht. Nicht einmal ich als Leiter der Softwareentwicklung kann alles kontrollieren. Ich muß mich zu einem sehr großen Teil auf die einzelnen Teamleiter verlassen. Auch die Teamleiter können nicht alles gegenprüfen. Dazu ist die Summe aller Softwareteile einfach zu gewaltig."
O'Neele meinte daraufhin: "Dann können wir das Problem nur an der Wurzel lösen - nämlich am Personal selbst. Das heißt eine komplette Sicherheitsüberprüfung aller Leute, die Programmierzugang zu den Computern haben. Das sind ungefähr 200 Leute. Da wir hier sehr viel internationales Personal haben, könnte das auf diplomatischer Ebene schwierig werden."
Erin Sandler schien die ganze Zeit über nachzudenken, bevor sie sich dann schließlich bemerkbar machte: "Aber was ist, wenn nur das explodierte Shuttle manipuliert worden ist? Ich meine, wenn jemand an die Computer herankommt, muss er gar nicht erst die Software auf Level des gesamten Schiffs kompromittieren. Es würde eine kleine Zusatzschaltung am Shuttle-Reaktor und eine kleine Routine im Shuttle-Computer genügen. Die Explosion verwischt dann alle Spuren. Unsere Untersuchungen würden ins Leere laufen."
"Da ist was dran." meinte Norwood um dann gleich fortzusetzen: "Trotzdem sollten wir eine Sicherheitsüberprüfung für das IT-Personal fordern."
Sandler machte sich scheinbar einige Notizen zu den Konstruktionsplänen der CF-Reaktoren. Dann blickte sie auf und suchte mit den Augen den Kernphysiker: "Dr. Waterson, ich habe eine Frage. Ist es ein Problem, wenn wir zwischen Deuteriumpumpe und Brennkammer ein elektrisch gesteuertes Sperrventil einbauen? Der Schalter würde dann am Platz des Bordingenieurs sozusagen als Not-Aus-Schalter platziert werden. Das wäre zumindest mal eine einfache und rasche Übergangslösung."
Waterson schürzte die Lippen etwas und dachte einige Sekunden nach: "Soweit ich die Pläne im Kopf habe, könnte der Ladedruck in der Leitung ein Problem werden. Wir arbeiten hier mit einer dünnen aber unter hohem Druck stehenden Zuleitung, um den Kernbrennstoff möglichst gleichmäßig in der Kammer zu verteilen. Das Ventil müßte einerseits rasch reagieren aber andererseits auch mit dem Druck von ca. 6000 bar fertig werden können."
"Oh, das ist schon eine ganze Menge, aber ich denke, das kriegen wir hin. Was haben wir für Temperaturen beim Brennstoff in den Pumpen?" fragte Sandler nach.
"Die sind gering. Das Deuterium kommt aus Tieftemperaturtanks. Die Temperaturen liegen bei ca. 300 bis 400 Grad Celsius, abhängig vom Durchsatz."
"Das ist machbar. Die Steuerleitung wird direkt an einen mechanischen Schalter an der Ingenieurskonsole auf der Brücke angeschlossen, ohne Computer dazwischen. Dann können die Saboteure mit dem Reaktor machen, was sie wollen. Es wird nichts passieren. Zusätzlich brauchen wir noch eine Rückmeldung über die Temperatur in der Reaktorkammer. Für die Zukunft könnte man das mit einem Regelkreis automatisieren. Wenn die Temperatur einen Grenzwert übersteigt, schaltet die Pumpe automatisch ab. Da braucht es gar keinen Computer dazu."
Pearson und die anderen saßen schweigend dabei und lauschten den Technik-Freaks.
"Klingt vernünftig. Ich werde das mal mit dem leitenden Ingenieur besprechen. Miamoto Shima sollte das recht problemlos umsetzen können, beziehungsweise findet er Denkfehler in solchen Konzepten sehr schnell." brachte Waterson das Thema auf den Punkt.
Pearson machte sich noch einige Notizen auf ihrem Tablet. Sie bemerkte Norwoods Blicke durchaus, auch wenn sie sich einen völlig unbedarften Anschein gab: "Ok, das technische Thema hätten wir zumindest mit einer Übergangslösung erledigt. Organisatorisch möchte ich mich aber Commander Norwood anschließen und eine Sicherheitsüberprüfung des gesamten IT-Personals vorschlagen. Irgendetwas stimmt hier nicht."
O'Neele wandte sich Pearson leicht zu, als er antwortete: "Naomi, das wird aber einigen diplomatischen Wirbel geben."
"Wenn weltweit einige Reaktoren explodieren, wird es noch viel mehr Wirbel geben, glauben sie mir." nagelte Pearson Director O'Neele fest.
"Und das hat noch gar nichts mit dem Raumfahrtprogramm zu tun." setzte Norwood nach.
"Ja, sie haben beide recht, aber das ist genau das, was mir nicht gefällt. Ok, ich werde das mit dem Minister klären. Freude habe ich keine damit."
O'Neele bemerkte sehr wohl das wortlose Einvernehmen zwischen Pearson und Norwood. Er hoffte nur, dass es sich nicht negativ auf die Arbeit der beiden auswirken würde. Sein nächstes Gespräch mit Wissenschaftsminister Broderick würde schwierig genug sein.
Washington D.C., Weißes Haus, 18.10.2099, 1000 Uhr
Minister Broderick trat seinen schweren Gang zum Präsidenten an. Die Sabotage von vor zwei Tagen und die von der Arbeitsgruppe und den ermittelnden Institutionen erarbeiteten Ergebnisse und Empfehlungen waren alles Andere als ein angenehmes Gesprächsthema. Eigentlich war die Sicherheit im Land ein Thema für das Innenministerium. Das Forschungszentrum in der Wüste von Nevada unterstand aber genauso komplett seinem Wissenschaftsministerium wie das zugehörige Raumfahrtprogramm, daher hatten sich die anderen Regierungs- und Verwaltungsinstitutionen herausgehalten. President Atkinson empfing ihn im Oval Office.
"Guten Morgen Michael. Nehmen sie doch Platz. Kaffee?"
"Guten Morgen, Mr. President. Danke gerne."
"Ich nehme an, sie haben Informationen für mich?"
"Ja, Mr. President. Sie werden ihnen aber keine Freude bereiten."
"Ok, schiessen sie los."
"Die Arbeitsgruppe ist zu dem Schluß gekommen, daß die Steuerungssoftware des Reaktors sabotiert worden ist. Wir haben eine Übergangslösung konzipiert, die derzeit in unsere Reaktoren eingebaut wird. Die Empfehlung zur Lösung des Problems ist aber, das gesamte IT-Personal des NSEC einem Security-Screening zu unterziehen."
Atkinson verzog scheinbar vor Schmerz das Gesicht: "Das sind wahrlich keine guten Nachrichten. Wissen sie was es bedeutet, so ungefähr 40 Staaten zu sagen, dass ihr IT-Personal der Sabotage verdächtigt wird?"
"Ich weiß, Sir. Aber sehen sie es mal von einer anderen Seite. Das gleiche Problem kann jederzeit mit allen anderen CF-Reaktoren auftreten. Die Auswirkungen einer solchen Explosion wären verheerend. Eine Atombombe wäre nur wenig schlimmer. Ich denke, dieses Argument wird die meisten überzeugen, denn die Reaktoren werden mittlerweile häufig eingesetzt. Ein Horrorszenario wäre wohl eine gleichzeitige Explosion aller Reaktoren weltweit. Die Kontrollsysteme der Reaktoren müssen daher verbessert werden. Bereits in Betrieb befindliche Reaktoren können nachgerüstet werden. Neu produzierte erhalten die neuen Kontrollsysteme gleich eingebaut."
"Ich nehme an, sie haben entsprechende Berichte vorbereitet?"
"Ja, Sir."
"Gut. Ich werde Sicherheitsberater, Aussen- und Verteidigungsminister hinzuziehen. Tess wird ihnen allen einen Termin für morgen Vormittag schicken. Von ihnen brauche ich eine Liste der IT-Mitarbeiter und der betroffenen Staaten. Ich fürchte nur, dass einige dabei sein werden, die mir Kopfzerbrechen bereiten werden."
"Ist alles schon auf diesem Chip gespeichert Mr. President. Ich wollte das Informationspaket aufgrund der Brisanz nicht elektronisch verschicken."
"Kluge Entscheidung Michael. Gibt es sonst noch etwas?"
"Nein, das wäre alles Mr. President."
"Gut. Und richten sie dem Expertenteam meinen Dank für die rasche Arbeit aus."
"Gern Sir."
Damit standen sie beide auf und reichten sich die Hand. Roderick verließ das Oval Office wieder. In seiner neuen Position als Minister fühlte er sich noch nicht so recht wohl, wenngleich sein Ministerium auch nicht gerade das wichtigste war. Das hatte mehrere Gründe. Einer davon war, dass er noch nicht lange im illustren Club der Regierungsmitglieder war.
Der Anruf hatte ihn vor zwei Tagen erreicht. Ein neuer Auftrag winkte. Sein Auftraggeber hatte ihm einen Bahnhof in Wien und eine Schließfachnummer dort genannt. Weitere Details würden im Schließfach zu finden sein. Daraufhin war er von Johannesburg nach Wien geflogen. Wien kannte er von zwei weiter zurückliegenden Aufträgen gut. Die Stadt gefiel ihm auch ausnehmend gut.
Als er dann am Westbahnhof in Wien eintraf, konnte er sich allerdings nicht mehr erinnern, wo genau die Schließfächer zu finden wären. Es sah einfach alles komplett anders aus. In einem Seitenteil neben dem Abgang zur Untergrundbahn wurde er dann fündig. Trotz der recht angenehmen Temperaturen trug er Handschuhe. Fingerabdrücke konnten nur allzu leicht jemanden mit seiner Profession auffliegen lassen. Scheinbar völlig in Gedanken vertieft nahm er das hellbraune Kuvert aus dem Schließfach. Es hatte sich nach Eingabe der Codenummer anstandslos geöffnet und seinen Inhalt preisgegeben. Das Kuvert steckte er in die mitgebrachte Aktentasche. Nachdem er das Schließfach wieder geschlossen hatte, verließ er den Bahnhof und machte sich auf den Weg zurück in sein Hotelzimmer.
Dort angekommen öffnete er das Kuvert und ging die Informationen auf den 18 Blättern durch. Zufrieden nahm er zur Kenntnis, daß der Ersteller des Dossiers keinen Chip hinterlassen hatte für ihn. Offenbar kannte sich da jemand in diesem Bereich aus. Sein Ziel würde ein gewisser Pavol Kajics sein - ein Systemprogrammierer slowakischer Abstammung. Als er allerdings sah, wo und für wen dieser Kajics arbeitete, zog er unwillkürlich die linke Augenbraue hoch. Er würde also nach Amerika fliegen müssen. Wie viele andere des amerikanisch-europäischen Raumfahrt- und Forschungs-programms lebte Kajics derzeit in der Nähe des Forschungszentrums.
Er fragte sich zwar, wem dieser Kajics auf die Füße getreten war, aber im Grunde war das für seinen Auftrag ihn zu beseitigen völlig belanglos. Das Angebot lag bei 6 Mio Euro. Seit dem Erstarken der Währung und der fixen Kopplung an den US Dollar war der Euro eine sehr willkommene Währung - auch in seinem Geschäft. Per Email schickte er ein einfaches "OK" an den Auftraggeber, den er nicht kannte. Das Angebot war von einer dieser Kurzzeit-Emailadressen gekommen, die nach einer frei wählbaren Zeit abliefen und automatisch gelöscht wurden.
Daraufhin buchte er einen Flug von Wien nach San Francisco und bestellte auch gleich einen Mietwagen bei einem der lokalen Anbieter am Flughafen in Frisco. Die rund 350km von Frisco nach Reno und wieder zurück würde er mit dem Auto zurücklegen.
Im Forschungszentrum selbst würde er nur schwer an sein Ziel herankommen. Da die meisten Mitarbeiter von dort aber ihre Wochenenden oft in einer der umliegenden Städte verbrachten, mußte er sich wohl oder übel mit den verschiedensten Möglichkeiten vertraut machen. Das gefiel ihm nicht, weil es sein Aktionsgebiet stark vergrößerte, was die ganze Sache natürlich verkomplizierte. Andererseits war die Gegenleistung recht ansprechend und er hatte auch schon schwierigere Aufträge gemeistert. Er war nicht umsonst einer der bestbezahlten Profikiller des Planeten.
Kajics war bei den Sicherheitsorganen des NSEC nicht aufgefallen, ansonsten wäre er schon aus dem Verkehr gezogen worden. Er ging davon aus, dass Kajics für irgend jemanden eine Kleinigkeit erledigt hatte und jetzt sozusagen der Handlanger beseitigt werden sollte. Ihm war es egal, auch wenn es ihn hin und wieder einfach interessiert hätte, warum er manche Menschen töten sollte.
Am nächsten Morgen - er hatte das Nachtleben der Stadt ausgelassen und sich ausgeschlafen - fuhr er sehr früh wieder zum Flughafen und bestieg dort kurze Zeit später den Direktflug nach San Francisco. Wenige Stunden später setzte der Passagierflieger am San Francisco International auf. Auf dem Flughafen holte er sich gleich einen dieser neuen Wagen mit Kleinstreaktor vom Vermieter ab. Eine Tankfüllung mit zwei Liter Deuterium reichte für mehrere 1000 Kilometer. Er würde also keine Probleme mit dem Treibstoff bekommen. Mit dem Wagen nahm er dann den Bayshore Freeway und fuhr vom Flughafen in South Frisco nach Norden und begann damit seinen Weg nach Reno. Laut Dossier verbrachte Kajics seine Wochenenden oft mit einem Mädchen in Reno. Er schien die Kleine wirklich gern zu haben.
Da er nicht wußte, welche Bedingungen er vorfinden würde, hatte er sich entschieden, auf alles Mögliche vorbereitet zu sein. Im Kofferraum des Mietwagens hatte er seine Ausrüstung verstaut, das zerlegte Präzisionsgewehr genauso, wie die durchschlagskräftige Automatikpistole. Weiters hatte er noch einen chemischen Kampfstoff dabei, der mittels Spritze in sehr kleinen Mengen verabreicht einen Herzinfarkt auslösen würde und so gut wie nicht nachweisbar war. Er hatte sich dafür einen schlanken Stift mit einer Nadel bauen lassen, der wie ein normaler Kugelschreiber aussah. Ansonsten beschränkte sich seine Ausrüstung auf ein leistungsfähiges Fernglas mit Nachtsichtadapter, die typisch geländefähige Kleidung eines gut ausgerüsteten Bergwanderers und Verpflegung für eine Woche. Das alles ließ sich recht praktisch in einen Rucksack verpacken, sodaß er bei allen Leuten als aktiver Wanderer durchging, der einfach in der Natur seine Entspannung suchte. In einem etwas größeren Trolly hatte er auch Businessanzug und legere Freizeitkleidung dabei.
In Reno selbst hatte er seinen Assistenten an der Adresse des Mädchens postiert. Sie wurde schon zwei Tage beschattet. Im Informationspaket waren auch die Interessen und Gebräuche des Pärchens beschrieben. An sonnigen Wochenenden wie diesem verbrachten sie die Zeit gerne am Lake Tahoe. Ihr Vater besaß dort ein Haus an der Landzunge, die die Crystal Bay von der Agate Bay trennte. An diesem Westufer der Crystal Bay hatten sich viele gut situierte Geschäftsleute niedergelassen und sich ein privates Domizil am See gebaut oder gekauft. Auch dieses Mal schienen sie dorthin unterwegs zu sein in die Gonowabie Road 418 in Incline Village. Sein Assistent hatte ihm telefonisch mitgeteilt, daß sie schon früh morgens den Wagen vollgepackt hatten und den Freeway nach Süden genommen und dann auf den Mount Rose Highway abgebogen waren. Der Mount Rose Highway war eine Bergstraße, die durch eine urwüchsige Landschaft führte. Im Winter konnte man dort schifahren. Ab dem Incline Lake ging es dann wieder talwärts bis zum Seeufer hinunter. Alles in allem waren es knappe 65km - eine gemütiche Autofahrt von knapp 90 Minuten.
Er würde etwas länger unterwegs sein, denn seine Strecke von San Francisco bis zum Haus am See betrug immerhin fast 330km. In Sacramento machte er einen Zwischenstop und genehmigte sich ein leichtes Mittagessen. Eine Stunde später war er schon wieder auf dem Eisenhower Highway unterwegs. Nach weiteren 170km verließ er den Highway und bog nach Südwesten Richtung Truckee Tahoe Airport ab. Als das Mobiltelefon läutete, wußte er sofort, wer es war.
"Ja?"
"Der Treffpunkt ist im Bite Restaurant & Bar, direkt am Tahoe Boulevard Nummer 907. Ich habe dort für 19:30 einen Tisch für sie reserviert."
"Danke Frank. Gehen sie nach Hause für heute und geniessen sie das Wochenende."
"Danke, Sir. Viel Erfolg."
Sein Assistent würde unauffällig verschwinden und wieder zurück nach Europa fliegen. Mit dem Ort war aber auch gleichzeitig die Art der Durchführung festgelegt. Er würde sich auch umziehen müssen. Der Infobildschirm des Wagens gab ihm einen Eindruck und genaue Pläne des Lokals und der Umgebung. Eingeblendet wurde alles in die Windschutzscheibe. HeadUp-Displays hatten sich mittlerweile auch in ganz normalen Autos durchgesetzt, denn Energie spielte mit den neuen kleinen Reaktoren natürlich kaum noch eine Rolle. Er würde ungefähr drei Stunden zu früh dort sein, daher beschloss er, am Weg noch ein kleines Nickerchen zu machen. Dazu suchte er sich auf der Karte des Navigationssystems eine abgelegene Straße heraus. Er würde die Lookout Road hinauffahren und kurz vor dem kleinen Parkplatz oben zwischen den Bäumen stehen bleiben und etwas schlafen. Diese Kunst des Adhoc-Schlafens hatte er sich über die Jahre angeeignet. Kaum war er oben auf der Lookout Road angekommen und hatte sich zwischen den Bäumen eingeparkt, als er auch schon einschlief. Die Automatikpistole hatte er in Reichweite, aber hier würde er sie kaum brauchen. Auf seinem Tablet hatte er die Weckfunktion akiviert. Er würde zwar von selbst aufwachen, aber man konnte nie wissen.
Kurz bevor der Wecker losging, klopfte es an die Seitenscheibe des Autos an der Fahrertür. Erschrocken fuhr er auf, beherrschte sich aber noch rechtzeitig genug, um nicht zur Waffe zu greifen. In der Abendsonne stand ein Polizist neben dem Wagen.
Er blinzelte etwas verschlafen und richtete sich auf. Dann ließ er die Scheibe runter.
"Guten Tag Officer."
"Guten Abend Sir. Alles in Ordnung?"
"Ja danke. Ich bin nur von der langen Fahrt etwas müde und dachte, ich mach hier ein Nickerchen und fahre dann weiter. Man soll ja nicht übermüdet fahren, habe ich mir sagen lassen."
"Da haben sie recht. Kann ich mal ihre Papiere sehen?"
"Gern. Einen Moment bitte. Ich muss noch meine Glieder einrenken. Ich hab die Papiere im Handschuhfach."
Elektrisch stellte er den Sitz wieder gerade und öffnete langsam das Handschuhfach. Amerikanische Polizisten waren bei Kontrollen immer etwas nervös am Abzug, daher vermied er jede schnelle Bewegung. Er griff nach der Zulassung und seinem Führerschein und reichte sie beim Fenster hinaus.
"Danke, Sir. Mr. Giovanni Ricone ... klingt italienisch."
"Ist es auch. Bin auf Dienstreise hier in den USA. Ich komme von Frisco und muss heute noch nach Fallon und morgen nach Salt Lake City rüber."
"Mit dem Auto? Warum nehmen sie da nicht den Flieger?"
"Ich habe auf der Strecke Termine mit Kunden und Kollegen."
"Na ihr Chef nimmt sie ganz schön ran."
"Ach, das Fahren macht mir nichts aus. Ich geniesse die Landschaft und fahre auch recht gerne mit dem Auto. Dafür darf ich dann noch zwei Tage auf Firmenkosten anhängen. Aber ich bin erst heute morgen mit dem Flieger herübergekommen, das war dann doch etwas viel auf einmal."
Der Polizist gab ihm die Papiere wieder zurück. Sie waren genauso gefälscht wie auch die Visitenkarten der Elektronikfirma, für die er angeblich arbeitete. Sein Tablet piepste auf einmal los.
"Oh, sie haben mich fast rechtzeitig geweckt, Officer." merkte er mit einem Lachen an.
"Na dann ... Nichts für ungut, Sir. Wir haben hier manchmal komische Gesellen, daher die Kontrolle."
"Sie machen nur ihren Job. Ist schon in Ordnung so."
"Wünsche noch eine angenehme Fahrt, Sir."
"Danke. Ihnen noch einen ruhigen Dienst."
Während er wieder seine Papiere verstaute und den Sitz wieder einrichtete, wie er ihn für die Fahrt brauchte, stieg der Polizist in seinen Streifenwagen und verschwand mit gemütlichem Tempo. Der Polizist war ein nicht zu unterschätzender Faktor. Er würde sich an sein Gesicht erinnern. Andererseits war die Begegnung kurze Routine gewesen. Er stieg aus und holte sich das Sakko aus dem Trolly. Das Bite & Bar war kein Lokal, wo man allzu leger hin ging und er wollte dort sicher nicht auffallen. Die schwarzen Halbschuhe nahm er ebenfalls mit nach vorne. Die Jeans gingen in Ordnung, er wollte es auch nicht gleich übertreiben. Wenige Minuten später setzte er den Wagen in Gang und fuhr Richtung Incline Village. Als er dort ankam, parkte er den Wagen vor dem Incline Village Cinema und ging die 150 Meter zu Fuß. In einem Halfter trug er die Automatik unter der rechten Schulter. Es war 19:30 als er das Lokal betrat. Einer der Kellner trat auf ihn zu.
"Guten Abend Sir. Kann ich ihnen behilflich sein?"
"Guten Abend. Ja, mein Assistent hat einen Tisch für mich reservieren lassen, auf den Namen Searson."
"Ja, das stimmt. Er meinte, sie hätten gerne einen ruhigeren Tisch."
"Stimmt. Guter Mann."
"Folgen sie mir bitte."
Der Kellner brachte ihn zu einem Tisch für zwei. Er bestellte ein Budweiser Bier und ein Filet Mignon. Sein Essen wurde um 19:50 Uhr serviert. Er begann zu essen um die Wartezeit totzuschlagen. Die Zielperson kam in Begleitung einer hübschen jungen Dame pünktlich um 20:00 bei der Tür herein. Sie wurden ebenfalls zu ihrem Tisch geführt. Kajic saß mit dem Rücken zu ihm. Was sie an ihm fand konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Kajic war weder attraktiv noch schien er seiner Kleidung nach sonderlich wohlhabend zu sein. Er war der typische Computerfreak.
Als Kajic aufstand, war sein Augenblick da. Er folgte ihm unauffällig auf die Toilette. In der linken Hand hielt er den unscheinbaren Injektionsstift mit dem Gift. Im Pissoir ging er hinter ihm vorbei und stach mit dem Stift blitzschnell zu. Das Gift wurde in kleinster Dosis eingespritzt. Kajic fuhr herum, denn er hatte den kleinen Pieks gespürt.
"Entschuldigen Sie. War ein Versehen." sagte der Killer zu ihm.
Das Gift lähmte den Herzmuskel. Der Sauerstoff im Blut wurde schnell verbraucht, und das Opfer bekam nach ungefähr 30 Sekunden grausame Schmerzen, konnte aber aufgrund des Sauerstoffmangels nicht mehr schreien. Kajic drehte sich nur mehr zu ihm um und sah in vorwurfsvoll an. Scheinbar hatte er gerade noch begriffen, was hier los war. Dann sackte er in sich zusammen und starb. Er setzte die Leiche in eine der WC-Kabinen, damit sie nicht gleich auffiel.
Der Killer mit dem falschen Namen Ricone verließ die Toilette. Auf dem Weg aus dem Lokal ging er an der Bar vorbei und bezahlte bar am Tresen. Der Kellner war etwas verblüfft, sagte aber nichts. Barzahlung war im 22. Jahrhundert selten geworden. Er prüfte die Scheine, doch sie erwiesen sich als echt. Sein Gast verließ das Lokal um 20:20 Uhr und fuhr dann mit dem Wagen weiter nach Reno. Im Restaurant hatte man die Leiche 10 Minuten später entdeckt und die Polizei verständigt. Das Mädchen war total aufgelöst. In den lokalen Nachrichten wurde eine kurze Meldung zum Vorfall gebracht.
In Reno am Flughafen angekommen, gab er den Wagen zurück und nahm einen Flug zurück nach San Francisco. Von dort flog er dann unter einem anderen Namen wieder weiter nach Auckland in Neuseeland, wo er auch wohnte. Vom Flugzeug aus setzte er die Erfolgsmeldung ab.
Spuren fand die Polizei keine. Selbst eine Autopsie brachte nichts Neues zu Tage. Weder der Einstich an der rechten Schulter noch Reste des Giftes wurden entdeckt. Kurz darauf wurde als Todesursache ein Herzinfarkt angegeben, obwohl das keiner so wirklich glauben wollte. Kajic war 28 Jahre alt und körperlich in bester Verfassung gewesen.
Erst als man auf dem NSEC-Forschungsgelände erfuhr, was mit Kajic geschehen war, machten sich einige Leute Gedanken. Das FBI wurde auf den Fall angesetzt. Während dessen durchsuchten Computerexperten Kajics Daten und Programme nach gefährlichen Codeteilen oder Hinweisen. Auf seinem privaten Tablet wurde der Schadcode für die Reaktorsteuerung des Shuttles gefunden, zwar sehr gut versteckt, aber nicht gut genug.
Reno County Office des FBI, 20.10.2099, 0815 Uhr
Im Reno County Office des FBI erhielt gerade Special Agent in Charge Geoffrey Frost einen Anruf, der ihm den Schlaf blitzartig aus den Augen trieb. Mit seinen 12 Dienstjahren war er beileibe kein Anfänger mehr, aber einen Anruf vom FBI-Director selbst hatte er bisher noch nie erhalten.
"Frost" meldete er sich noch etwas verschlafen. Im Umfeld von Reno war nie allzu viel los.
"Sir, Director Gardener möchte sie sprechen. Einen Moment bitte, ich stelle durch ..." hörte er die freundliche Stimme am anderen Ende. Er war auf einen Schlag hell wach. Scheiße ...“ murmelte er bei zugehaltenem Mikrofon.
"Director Gardener hier. Spreche ich mit Special Agent in Charge Geoffrey Frost?"
"Ja, Ma'm. Was kann ich für sie tun?"
"Vorgestern gab es einen rätselhaften Toten im Bite & Bar in Incline Village. Der Tote scheint im Zusammenhang mit dem Shuttle-Unfall des Raumflugprogramms zu stehen. Sie bekommen in den nächsten Minuten alles an Informationen, was wir haben. Finden sie mir den Killer und seinen Auftraggeber. Alle Polizei- und Regierungsdienststellen sind angewiesen, ihnen in jeder Hinsicht behilflich zu sein. Haben sie noch Fragen?"
"Derzeit nicht, Ma'm. Ich werde das Informationspaket erst gründlich studieren. Wer wird mein nächst höherer Kontakt sein?"
"Sie berichten täglich direkt an mich. Meine Dienstnummer finden sie im Info-Paket. Unter dieser Nummer erreichen sie mich rund um die Uhr."
Frost fluchte in sich hinein. Reno war bisher ein ruhiger Job gewesen und jetzt das. Womit hatte er das nur verdient? Ausserdem, warum kümmerte sich nicht jemand aus Carson City um die Sache? Carson war sowohl an Incline Village als auch am Forschungsgelände näher dran als Reno.
"Director, darf ich fragen warum gerade diese Dienststelle? Ich meine Carson hat mehr Personal und ehrlich gesagt auch erfahrenere Leute. Verstehen sie mich bitte nicht falsch, aber das ist eine Tatsache."
"Ich weiß, aber der einzige Agent aus Carson, der dafür geeignet wäre, liegt nach einem Freizeitunfall mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus. Er wird die nächsten acht Wochen nicht einsetzbar sein. Bis dahin will ich die Sache aber erledigt haben."
"Ok. Vielen Dank für ihr Vertrauen Director."
"Die Sache ist wichtig. Und noch etwas: strengste Geheimhaltung. Viel Erfolg Agent Frost."
Damit legte seine höchste Vorgesetzte ausser dem Präsidenten auf.
"Scheisse aber auch." fluchte er laut hörbar durch das Büro. Er leitete die Dienststelle jetzt seit zwei Jahren. Unter seinem Kommando standen acht Agents und drei Assistentinnen. Diane schaute fragend zu ihm durch die Glasfront seines Büros herüber. Er winkte sie zu sich in sein Büro.
"Diane, ich hatte gerade einen Anruf von Director Gardener persönlich. Wir haben eine sehr dringende und heikle Angelegenheit auf dem Tisch. Rufen sie mir sofort alle Agents ins Büro. Briefing von 1000 bis 1100 Uhr."
"Auch die Assistenzkräfte?"
"Ja"
"Ok, Geoff."
Die Assistenzkräfte hielten sich naturgegeben nicht an die etwas formaleren Umgangsformen der FBI-Angehörigen, und schon gar nicht im kleinen Büro von Reno.
Seine Leute fanden sich für das Briefing pünktlich ein. Sogar Melissa Parson, die normalerweise notorisch ein paar Minuten zu spät kam, war pünktlich zur Stelle. Wahrscheinlich wollte sie um keinen Preis negativ auffallen bei einem Job wie diesem. Als Geoffrey Frost den Raum betrat, drückte ihm Diane ein Tablet mit den vorbereiteten Daten in die Hand.
"Guten Morgen! Wie sie wahrscheinlich schon alle wissen, hatte ich heute zum Frühstück einen sehr ... interessanten ... Anruf. Es war Director Gardener persönlich. Auf ihren Tablets haben sie alles an Informationen, was derzeit verfügbar ist. Wir haben es hier mit zwei Problemkreisen zu tun. Erstens ist die Sache politisch brisant und zweitens scheint hier ein Profikiller am Werk gewesen zu sein. Es ist daher gut möglich, daß wir hier mit ausländischen Diensten zusammenarbeiten müssen. Alle anderen Fälle werden bis auf weiteres zurückgestellt, oder sie werden vom Büro in Carson übernommen. Fragen soweit?"
Da sich niemand meldete, setzte Frost nach einer Pause fort.
"Ich möchte, dass sie im Forschungszentrum, im Bite & Bar, bei der örtlichen Polizei und an allen Einreisepunkten mit den Nachforschungen beginnen. Suchen sie auch bei den Autovermietern. Melissa, sie übernehmen das Forschungszentrum. Sie können wahrscheinlich am besten mit den Eierköpfen. Versuchen sie auch mit NSA und Armee Kontakt zu bekommen. Frank, sie übernehmen das Bite & Bar. Ich will jeden Gast von vorgestern mit allen Daten, die sie kriegen können, auf einer Liste haben. George, sie nehmen Kontakt mit den Polizeirevieren der Umgebung auf. Listen sie mir alles auf, was irgendein Officer oder Sheriff in den 24 Stunden vor dem Tod Kajics bemerkt hat, auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist.“
Frost machte eine kurze Pause um Luft zu holen.
„Der Rest kümmert sich um Einreisepunkte und Autovermieter. Ich will jede Kleinigkeit, die euch eigenartig vorkommt, wissen. Jeder von euch nimmt sich einen zweiten Agent mit, wenn er unterwegs ist. Vier Augen sehen mehr als zwei und ich schätze bei den Ohren wird es ähnlich sein. Ausserdem könnte es gefährlich werden, wenn hier wirklich ein Profi am Werk war. Diane und Dolores werden euch von hier aus unterstützen. Ich bin rund um die Uhr telefonisch erreichbar. Wir treffen uns morgen um 0800 Uhr zu einem ersten Wissensaustausch. Los geht's Leute!"
Seine Mitarbeiter machten sich erst gemächlich, aber nach einem bösen Blick ihres Chefs mit erheblichem Nachdruck auf ihren jeweiligen Weg. Die beiden Sekretariatsdamen begannen das größte Büro als sogenannten War Room einzurichten. Computerterminals, ein Beamer, Whiteboards und alles Mögliche an Hilfsmitteln schafften sie herbei. Die Kaffeemaschine würde wohl zum wichtigsten Utensil werden in den nächsten Wochen.
Geoff selbst schnappte sich den letzten Neuzugang frisch von der FBI-Akademie. Elisabeth Madson hatte erst vor wenigen Wochen ihren Graduation Day gefeiert und absolvierte ihre 20-monatige Probephase beim Aussenbüro in Reno. Bisher hatte sich die Spätberufene, sie war erst mit knapp 34 Jahren zum FBI gekommen, sehr wissbegierig und auch clever angestellt. Er mochte sie gut leiden und war mit ihrer Leistung sehr zufrieden. Einige Minuten später waren sie in seinem Dienstwagen auf dem Weg zum Haus der Eltern von Kajics Freundin Belinda. Die 50km hatten sie in einer knappen Stunde hinter sich gebracht. Kurz darauf machte ihnen ein älterer Mann die Haustür auf, als sie läuteten.
"Mr. Sanderson?" fragte Frost.
"Ja?"
"Wir sind vom FBI. Das ist Special Agent Elisabeth Madson und ich bin Special Agent in Charge Geoffrey Frost. Wir würden gerne mit ihrer Tochter Belinda sprechen. Dürfen wir reinkommen?"
"Aber ja. Ob sie von Belinda allerdings viel erfahren werden ... das dürfte nicht so einfach sein. Sie ist noch ziemlich geschockt."
Mr. Sanderson öffnete ihnen die Tür und bat sie in das goße Wohnzimmer:"Ich hole ihnen Belinda. Macht es ihnen etwas aus, wenn ich dabei bin?"
"Ganz und gar nicht. Es ist vielleicht sogar besser für die junge Dame."
Einge Minuten später kam eine hübsche junge Frau die Treppe herunter. Frost wusste, dass sie erst 22 Jahre alt war. Laut Protokoll der Polizei schien sie Kajic geliebt zu haben und tat es wohl immer noch. Sie begrüßten sich und nahmen dann auf den Sofas Platz. Belinda machte emotional einen ziemlich angeschlagenen Eindruck. Die verschwollenen Augen sprachen Bände, aber Frost und Madson verstanden sie nur zu gut.
"Ms. Sanderson, was war Mr. Kajic für ein Mensch?" eröffnete Frost die Befragung.
"Ein echter Computerfreak. Einerseits hoch intelligent andererseits introvertiert - in sich zurückgezogen. Er war aber durchaus ein angenehmer Mensch und konnte auch sehr witzig sein, wenn er sich wohl fühlte."
"Haben sie bemerkt, dass er in letzter Zeit irgendwie anders war? Sagen wir seit ungefähr zwei Monaten?"
"Hm, gelegentlich war er mit seinen Gedanken abwesend - öfter als sonst. Ich habe ihn einmal darauf angesprochen. Er meinte nur, er habe viel zu tun, und es gehe ihm daher einiges durch Kopf."
"Seit wann kannten sie sich eigentlich?"
"Genau ein Jahr. Wir wollten unseren Jahrestag in dem Lokal feiern. Wir sind schon öfters dort gewesen."
"Ist ihnen an diesem Abend irgend etwas aufgefallen?"
"Nein. Es waren wie immer ein paar Einheimische und auch einige Fremde da. Das ist dort aber ganz normal. Als Paul auf die Toilette ging, ging auch ein anderer Mann dort hin. Ich kann mich aber nicht erinnern, wie er aussah. Er war völlig unscheinbar."
Diese Aussage machte Frost hellhörig. Sollte hier wirklich ein Mord vorliegen, dann war der Täter ein Profi. Nur Profis verstanden es, so unscheinbar aufzutreten und wieder zu verschwinden. In einem eher kleinen Ort wie Incline Village würde ein Fremder recht schnell auffallen. Er war daher hier eingetroffen, hatte den Job erledigt und war danach gleich wieder verschwunden. Da Incline Village ein beliebtes Ziel für Touristen war, würde er so nicht weiterkommen.
"Hat Mr. Kajic irgendwann einmal von Geld gesprochen? Er hat vor einigen Tagen scheinbar eine größere Summe in bar erhalten, die er dann auf sein Konto eingezahlt hat."
"Nein. Sie meinen er hat etwas Falsches getan? Das kann ich mir bei ihm nicht vorstellen."
"Es ist erwiesen, dass es so ist, Ms. Sanderson. Scheinbar will jemand die Spuren verwischen und ließ ihn deswegen töten."
"Was hat er angestellt?"
"Er hat beim NSEC als Software-Entwickler gearbeitet. Dort hat er eine Schadsoftware in die Shuttle-Software eingebaut, die eines der Kleinraumschiffe explodieren ließ. Es kam niemand zu schaden, weil der Missions-Kommandant schnell reagiert hat. Es hätte aber auch anders ausgehen können. So ein Shuttle ist aber auch nicht gerade billig."
"Aber er ist doch kein Mörder ..." antwortete Jennifer Sanderson den Tränen nahe.
"Nein, aber man hat ihm wahrscheinlich auch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Er war nur Mittel zum Zweck."
"Aber wer könnte ein friedliches Forschungsprojekt sabotieren wollen?" fragte Jennifers Vater nach.
"Da gibt es mehr Leute als man glauben möchte, Sir. Von selbsternannten Revolutionären und Gotteshütern bis zu Industriekapitänen, die sich bei der Auftragsvergabe übergangen fühlen kommen viele in Frage. Und dann gibt es noch Staaten mit Geheimdiensten, die uns einfach nicht mögen."
"Ist meine Tochter in Gefahr?"
"Nein, das ist sehr unwahrscheinlich. Die Auftraggeber wissen sicher, daß wir bereits aktiv sind. Wenn wir ins Spiel kommen, hält man sich am besten sehr bedeckt. Es kann ansonsten nur noch schlimmer kommen für die Betreffenden."
"Mr. Frost, mir ist doch etwas aufgefallen. Paul und ich sind vor dem Lokal noch eine Weile gestanden. Da ist ein Mann vom Kinocenter herübergekommen und ins Lokal reingegangen. Wir haben uns ein bißchen gewundert, warum er nicht gleich vor dem Lokal geparkt hat. Andererseits könnte er ja vorher im Kino gewesen sein."
Frost stand gemächlich auf: "Wir werden das prüfen. Es ist nicht viel, aber wer weiß ... Das war's für's erste Ms. Sanderson. Wir danken ihnen für ihre Hilfe. Sollte ihnen noch etwas einfallen, erreichen sie mich zu jeder Zeit unter dieser Nummer."
Damit schickte Frost seine Visitenkarte an ihr Tablet.
Als sie wieder im Auto saßen, fragte Frost seine Begleiterin: "Was halten sie davon?"
Madson überlegte kurz: "Kajic war Handlanger für jemand Mächtigen mit viel Geld und/oder Einfluß. Erledigt wurde er von einem Profikiller. Niemand sonst stellt sein Auto fast 200 Meter weiter weg ab, damit es nicht auffällt und so gut wie jeder andere hinterläßt im Kopf von jemandem wie Jennifer Sanderson eine Spur. Kajic hat eine Million Credits bekommen. Was bekommt ein Profikiller für einen solchen Job?"
"Naja, da können sie gleich noch einmal einige Millionen rechnen."
"Macht also in Summe sagen wir mal gute fünf Millionen, vielleicht sogar mehr. Ein Haufen Geld nur um ein leeres Shuttle zu sprengen. Gibt es Überwachungsmaterial vom Parkplatz des Kino-Centers?"
"Keine Ahnung, aber das werden wir auf dem Rückweg gleich feststellen." antwortete Frost und startete den Wagen.
Wenig später hatten sie das Kino-Center aufgesucht und die Dateien der Videokameras der letzten zwei Wochen kopiert. Auf den Chips befanden sich die Videoaufzeichnungen von mehreren Kameras mit Sicht sowohl auf den Parkplatz als auch in die Kassenhalle des Kinos. Durchgehen würden sie die Videos im Techniklabor der Station. Dazu beorderte Frost einen Techniker aus Carson City nach Reno. Es fiel ihm ein, dass er schneller in Carson sein würde als der Techniker in Reno, aber andererseits war Reno mit dem moderneren Equipment ausgestattet, da dieses Büro erst von einem Jahr zu Testzwecken neu ausgerüstet worden war. Frosts Techniker war aber derzeit irgendwo auf diesem Planeten auf Urlaub.
Als sie wieder im Büro ankamen, war der Nachmittag schon so gut wie vorbei. Die Autofahrten und die Nachforschungen erforderten doch eine gewisse Zeit. Was Frost erstaunte, war der FBI-Gleiter auf dem Landeplatz neben dem Office-Gebäude. Er befürchtete fast schon, dass Director Gardener selbst hergekommen war, aber bei genauerem Überlegen verwarf er diesen Gedanken, als er aus dem Auto stieg.
In seinem Büro wartete schon der Video-Techniker. Er hatte sein Ansuchen um rasches Erscheinen wörtlich genommen und in der Zentrale angefragt, welches Transportmittel für diesen Fall genehmigt würde. Der Einsatzgleiter war ihm dann schnell genug - etwas Schnelleres hätte es im Inventar des FBI ohnehin nicht gegeben. Dass ein Einsatzgleiter aber auch immer aussah wie ein fliegender Kampfpanzer und dass dieser Eindruck einiges Aufsehen in Incline City erregen würde, hatte ihn scheinbar nicht sonderlich gestört. Frost war es in diesem Fall egal. Ausserdem sprach die Genehmigung des Gleiters für eine solche Lapalie Bände in Bezug auf die Priorität, die Director Gardener diesem Fall gegeben hatte. Das wiederum war Frost zwar einerseits ganz recht, andererseits erhöhte es aber auch den Leistungsdruck enorm. Die Erwartungshaltung der FBI-Führung stand aus seiner Sicht nämlich in direktem Verhältnis zur Priorität.
"Guten Morgen, Sir. Ich bin Mike Thorpe. Ihre Assistentin hat mich gleich hier hereingesetzt."
"Sie haben sich ja mächtig beeilt."
"Tja, ihr Fall scheint wichtig zu sein. Ich bekam sozusagen den Sportwagen für den Trip zu ihnen bewilligt, und zwar von ganz oben. Was kann ich also für sie tun?"
"Wir haben Überwachungsvideos von einem Kino-Center mit Parkplatz. Wir wollen eine Person identifizieren, die den Parkplatz des Kinocenters zu Fuß verlassen und zum nahe gelegenen Restaurant gegangen ist. Das Zeitfenster ist nicht allzu groß meiner Ansicht nach und die Anzahl der Personen mit diesem Verhalten wird sich wahrscheinlich auch in Grenzen halten."
"Ok, das sollte kein allzu großes Problem sein. Sie sind mit den neuen Anlagen ausgestattet. Da haben wir das in einer Stunde oder so durch."
"Ok. Diane wird sie ins Labor bringen. Wenn sie irgendetwas brauchen, dann melden sie sich einfach bei Diane oder bei mir. Ich hätte gerne eine Liste aller Personen, die vorgestern zwischen 18:00 und 20:30 den Parkplatz des Kinos Richtung Restaurant verlassen haben und dann auch wieder retour gekommen sind. Machen sie auch gleich einen Identitätsabgleich, wenn die Gesichter gut genug dafür sind."
"Geht klar Sir. Die Gesichter sind meistens gut genug auf den Videos. Ich erstelle ihnen auch gleich automatisiert ein Profil der Personen und liefere die Akten dann bei Diane ab."
"Bestens. Sie können mich jederzeit am Telefon erreichen. Viel Erfolg."
Damit war Frost auch schon wieder dahin. Madson hatte er wie üblich im Schlepptau.
Melissa Parson und ihr Partner Thomas Vertino hatten sich auf den Weg zum NSEC gemacht. Forschungsleiter Steven Waterson empfing sie zusammen mit dem Team der Unglücksmission.
Sie stellten einander vor und dabei bekam Parson den Unmut der Missionsteilnehmer zu spüren.
Commander Norwood setzte sich mit unwilligem Gesichtsausdruck in den bequemen Sessel am großen Besprechungstisch: "Ms. Parson, wir haben alles schon mit allen möglichen Diensten, Sicherheitsorganisationen und Ministerien durchgekaut. Warum lesen sie nicht einfach die Akten?"
"Mr. Norwood, wir haben die Akten gelesen. Sie enthalten nichs von dem, was wir brauchen. Abgesehen davon glaube ich kaum, dass sie und ihr Team etwas zu den Ermittlungen beitragen können. Ich habe nicht um ihre Anwesenheit hier ersucht."
Damit richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Waterson: "Dr. Waterson, ich würde gerne mit Leuten sprechen, die Mr. Pavol Kajic kannten und mit ihm zu tun hatten. Interessant wären Vorgesetzte, die Leute, die ihn eingestellt haben, etc."
"Auch das ist bereits vorbereitet. Die Kollegen sind in Kürze hier Mrs. Parson. Warum interessieren sie sich gerade für Pavol Kajic?" wollte Waterson wissen.
"Ganz einfach. Kajic ist nicht zur Arbeit erschienen, richtig?"
"Ja, leider. Das ist ungewöhnlich für ihn. Er ist ein sehr zuverlässiger Mitarbeiter."
"Er kam vorgestern zu Tode."
Waterson und das Missionsteam mussten sich darauf hin erst einmal setzen.
"Dazu kommt, dass auf Kajics privatem Tablet der Source-Code für die sabotierte Reaktorsteuerung gefunden wurde. Wir gehen davon aus, dass er ermordet wurde. Seine Auftraggeber waren daran interessiert, das Shuttle zu sprengen. Kajic war ihr Handlanger. Unser Auftrag ist es, die Hintergründe zu klären und sowohl den Killer als auch die Auftraggeber zu finden."
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Prabodhan Dattani, der Leiter der Softwareentwicklung, betrat den Konferenzraum.
"Darf ich ihnen Mr. Prabodhan Dattani, den Leiter der Softwareentwicklung vorstellen? Er hat Kajic auch eingestellt." eröffnete Waterson den Reigen. Die FBI-Agents folgten bevor sich alle wieder setzten. Parson weihte ihn in Kajics Tod ein.
"Mr. Dattani, erzählen sie uns von Pavol Kajic." begann Parson.
"Hm, er war ein fast schon begnadeter Softwareentwickler mit dem Bild für das große Ganze. So etwas kommt nicht allzu oft vor, daher haben wir ihn auch eingestellt. Gleichzeitig war er aber auch ein ruhiger und angenehmer Kollege - fleißig, kreativ und höflich. Von ihm hörte man nie ein böses Wort. Er stieß vor zwei Jahren zum Team und übernahm sehr rasch auch komplexe Aufgaben und schließlich ganze Teilprojekte. Auch wenn er immer noch manche Dinge selbst programmierte, war er immer recht exakt in der Zeit mit seinen Aufgaben. Er war also der ideale Mitarbeiter. Nicht ganz billig, aber die Investition hat sich mehrfach gerechnet für das Gesamtprojekt."
"Ist ihnen an seinem Verhalten in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen?" wollte Vertino wissen.
"Er war die letzten Monate etwas ruhiger als sonst und grenzte sich etwas ab von den anderen. Andererseits lastete zu dieser Zeit auch ein hoher Arbeitsdruck auf der Mannschaft. Die Shuttle-Operationen mit den neuen Kleinraumschiffen erforderten ein komplettes Umdenken in der Software. Wir mußten die ganzen automatisierten Flugsequenzen neu erstellen, den Autopiloten und die Navigation neu programmieren. Dazu kam die neue Navigationsdatenbank, etc. etc. Sie wissen ja wie das ist, jeder reagiert anders auf solche Belastungen. Manche beginnen nervös und hektisch zu werden, andere Menschen werden sehr ruhig. Kajic schien zum zweiten Typ zu gehören."
Parson machte sich Notizen und sah dann auf: "Hat er irgendwann mal eine Bonuszahlung erhalten?"
"Unsere Leute bekommen oft Bonuszahlungen. Sie leisten hier wirklich gute Arbeit unter hohem Druck. Wenn sie möchten, lasse ich ihnen die Belege für Kajic bei der Buchhaltung ausheben, und schicke sie ihnen elektronisch zu."
"Das wäre sehr hilfreich, Sir. Dann können wir die Zahlungseingänge genau mit ihren Buchungen gegenprüfen."
So ging es dann noch eine Weile weiter mit den Fragen, aber es kam für die beiden Agents nichts Neues oder Interessantes dabei heraus. Nur die FBI-internen Buchhalter und Lohnverrechner würden Arbeit bekommen. Die beiden verabschiedeten sich dann auch wieder.
Am späten Nachmittag trafen sich alle Teams wieder zu einem Wissensaustausch im War Room. Der Videotechniker Thorpe hatte auf den Überwachungsvideos insgesamt 4 Personen ausgemacht, die zu Fuß vom Kino zum Restaurant gegangen sein mußten. Man kannte mittlerweile ihre Namen und die wichtigsten Daten. Weiters hatte Frost die Liste der Telefonanrufe im Restaurant beim Anbieter angefordert. Am fraglichen Tag hatten mehrere Gäste telefonisch einen Tisch im Bite & Bar für den Abend reserviert. Darauf hin hatte Frost von allen diesen Gästen die ausgehenden Anrufe erheben lassen und die Nummern mit den Daten der Fußgänger vor dem Kino verglichen. Kein Anrufer passte in beide Gruppen. Ein Kunde des Restaurants war ein 41-jähriger Mann namens Giovanni Ricone mit einer Mobiltelefonnummer aus Österreich. Alle anderen Fußgänger waren Inländer gewesen. Ein Rundruf bei den Polizeirevieren der Umgebung brachte vorerst nichts zutage, aber es waren aufgrund des Schichtbetriebs auch nicht immer alle Officers erreichbar.
Aus dem Video heraus hatten sie ein Fahndungsfoto erstellt und zum internationalen Fahndungsbefehl hinzugefügt. Frost war zwar sicher, dass die Fahndung nichts bringen würde, aber er wollte es zumindest nicht unversucht lassen. Die Spur des Verdächtigen konnte bis Wien zurückverfolgt werden. Von dort war er nach San Francisco gekommen. Aufzeichnungen von Überwachungskameras zeigten ihn am Vienna International Airport. Seine Ankunft konnte ebenfalls beobachtet werden, denn er hatte die Schnellbahn vom Flughafen zur Station Wien Mitte genommen. Dort verlor sich seine Spur aber in der Menge des stark frequentierten Bahnhofs.
Die Informationen zu Kajic zeichneten das Bild eines engagierten und hochintelligenten IT-Experten mit angenehmer Persönlichkeit. Die Nachforschungen auf seinem Bankkonto förderten nichts Verdächtiges zutage, ausser die Einzahlung von einer Million Credits durch ihn selbst. Diese Zahlung war das einzig verdächtige an Kajic.
Nach dem Meeting fasste Frost alle Informationen und Gedanken aller Beteiligten zusammen und schickte sie per internem Mailingsystem und stark verschlüsselt an Director Gardener. Eine halbe Stunde danach rief er Director Gardener persönlich per Videocall an, um die Daten durchzugehen.
"Gardener?"
"Guten Abend M'am. Frost aus Reno hier."
"Ah, guten Abend Mr. Frost. Ich habe ihre Daten schon gesichtet. Gute Arbeit bisher. Wir lassen ab morgen unsere Beziehungen spielen, um Ricone zu finden. Die Chancen stehen aber nicht gut. Er scheint gut zu sein, und das wird wohl kaum sein richtiger Name sein. Auch das Aussehen wird er verändert haben. Hat sich bezüglich der Hintergründe schon etwas ergeben?"
"Derzeit noch nicht M'am. Aber ich denke ohne Ricone werden wir auch schwer etwas erfahren dazu. Wir müssten die weltweiten Finanztransaktionen in einem mehrwöchigen Zeitraum überprüfen. Anders werden wir hier keine Spuren finden ohne Ricone."
"Ein heisses Thema ... ich werde das mal mit dem Sicherheitsberater des Präsidenten besprechen. Vielleicht kann man das ja auch unauffällig durchziehen, ohne gleich alle Banken aufzuscheuchen."
"Das ist auch der Grund, warum ich das nicht offiziell angefordert habe. Ohne ihre Zustimmung wollte ich so etwas Brisantes nicht anfordern."
"Guter Standpunkt in diesem Fall Mr. Frost. Ich kümmere mich darum. Machen sie weiter wie bisher. Viel Erfolg. Auf Wiedersehen."
"Danke. Auf Wiedersehen."
Damit verschwand ihr Gesicht vom Bildschirm und machte dem FBI-Logo Platz. Frost lehnte sich zurück und dachte nach. Seine linke Hand spielte dabei mit einem Kugelschreiber.
Bisher deutete alles auf einen Profi hin. Aber warum sollte jemand das Projekt wirklich torpedieren wollen? Die Erdölstaaten konnten es nicht sein, denn die Raumfahrtmission hatte nichts mit der Energiegewinnung zu tun. Im Gegenteil, die USA hatten diese Staaten sogar eingebunden in die einzelnen Teilprojekte. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten, die weltpolitische Lage war dadurch um einiges ruhiger geworden.
Frost wußte, dass es viele Gegner der Pluto-Mission gab. Umweltaktivisten, humanitäre Organisationen und Industriebosse hatten das Projekt von Anfang an kritisiert und waren in der Wahl ihrer Mittel bisher nicht gerade zimperlich gewesen. Natürlich durfte man auch die selbsternannten Propheten und ihre religiösen Eiferer nicht vergessen. Manche Staaten kooperierten nur zum Schein mit dem Projekt, manch andere waren öffentlich dagegen und wieder andere griffen es auch tatsächlich an. Er schätzte seine Chancen eher gering ein, in seinem Fall den oder die Schuldigen zu finden. Director Gardener wußte das sicher auch, daher war er sich sicher, dass auch sämtliche Geheimdienste an dem Fall dran waren.
Nun, für heute konnte er nichts mehr tun. Es war später Abend und seine Teams waren schon nach Hause gegangen. Es würde nichts bringen, in seinem Büro herumzusitzen und nachzugrübeln. Da konnte er sich gleich zuhause ausschlafen und morgen wieder fit den Dienst aufnehmen. Er war sicher, der Killer hatte das Land schon lange wieder verlassen.
Neuseeland, Auckland International Airport, 24. Juni 2051, morgens
Am Flughafen in Sidney stieg ein braungebrannter Mitdreissiger mit blondem Haar und Dreitagesbart aus dem Flieger und wechselte zum anderen Gate für den Weiterflug. Kontrollen mußte er keine mehr passieren. Australien und Neuseeland waren sehr freundschaftliche Nachbarn solange es nicht um Rugby ging. Dann konnten sich die beiden Länder gegenseitig hassen wie die Pest. Er konnte direkt an Bord gehen, denn das Boarding für seinen Anschlussflug von Sidney nach Auckland war bereits geöffnet. Am Eingang zum Transfertunnel wurde noch sein Ticket geprüft.
„Guten Flug, Mr. Olsen.“
„Danke“ gab er mit einem Lächeln zur Antwort und nahm das Ticket wieder entgegen. Er hatte Business Class gebucht, wie stets, wenn er beruflich unterwegs war. Seine Honorare ließen das locker zu. Allein gestern hatte er sechs Millionen Euro verdient, steuerfrei versteht sich. Der Aufwand dafür hatte sich mit ungefähr 25.000 Euro in Grenzen gehalten.
Auf der Landkarte sah die Entfernung von Sidney nach Auckland nicht sonderlich groß aus, aber selbst mit den neuen Überschalljets brauchte man noch gut zwei Stunden, wobei die meiste Zeit für Start und Landung verbraucht wurde. Zufrieden grinsend lehnte er sich in seinem Sessel zurück und genoss die Aussicht aus dem Fenster des Jets. Wenige Minuten später hob die Linienmaschine senkrecht vom Flugfeld ab und beschleunigte kurz darauf stark in den Nachthimmel von Sidney.
Auckland empfing den Jet mit dem für diese Jahreszeit typischen Regenwetter. Es machte ihm nichts aus, denn er würde einfach ein Taxi nehmen. Der Jet setzte neben dem Gate auf und rollte in die finale Parkposition. Der Passagiertunnel wurde heranmanövriert und mit dem Flugzeug verbunden. Die Passagiere der Business Class konnten dann als erste die Maschine verlassen.
Er hatte auf dem Hinweg seinen eigenen Wagen ganz bewußt nicht benutzt, sondern war mit dem Taxi von seinem Haus direkt zum Flughafen gefahren. Die 15 Kilometer zu seinem Haus Cape Horn Road 49 Mount Roskill brachte er also auch dieses Mal mit dem Taxi hinter sich. Trotz des Frühverkehrs war er nach 20 Minuten zuhause. Früher hatte sich hier ein Forschungsinstitut befunden, das aber vor ein paar Jahren abgesiedelt worden war. Er hatte das Anwesen gekauft und für seine Bedürfnisse umbauen lassen.
Die Zeitumstellungen machten ihm trotz der vielen Flüge, die er im Jahr absolvierte noch immer zu schaffen – vor allem wenn der Flug Richtung Osten ging. Die Flüge selbst waren seit einigen Jahren weitaus kürzer als früher, das milderte das Problem aber nur marginal.
USA, Washington D.C., gleiche Zeit
Director Gardener traf gerade im Weißen Haus ein, als auch der Director der NSA dort eintraf. Donovan Carlile hielt ihr galant die Tür auf, obwohl er genau wußte, daß seine Annäherungsversuche sinnlos waren. Sie hatte ihm das schon ein paar mal recht deutlich erklärt. Er machte sich wiederum mittlerweile einen Spaß daraus, sie trotzdem zu hofieren.
Präsident Atkinson betrat ebenfalls den kleinen Konferenzraum und bat die Anwesenden Platz zu nehmen.
„Gut, wenn alle hier sind können wir gleich anfangen. Ms. Gardener, was gibt es bei ihnen Neues?“
„Wir haben den Namen und eine Beschreibung des Täters und konnten seinen Weg vom Eintreffen in den USA bis zum Abflug aus Frisco rekonstruieren. Wir gehen aber davon aus, dass sowohl die Identität als auch das Aussehen falsch sind. Ermittlungstechnisch sind wir diesbezüglich sozusagen in einer Sackgasse. Die einzige Chance wäre eine Verfolgung der Zahlungsströme in einer gewissen Höhe während eines gewissen Zeitfensters – und das weltweit.“
„Autsch“, meinte Außenminister Martin Mearse.
„Martin?“ forderte der Präsident in auf.
„Das ist technisch natürlich möglich, aber es bleibt sicher nicht unbemerkt und wir können auch keine 100-prozentige Abdeckung garantieren.“
„Wen müßten wir einweihen?“
„Die Europäer, aber das sollte kein Problem sein. Die chinesische Zentralbank ist diplomatisch gesehen schon etwas heikler. Und die südpazifische Unionsbank ist auch nicht besser. Diese drei würden aber auch eine Abdeckung von 95% darstellen. Einige andere kleinere Banken können wir noch recht einfach dazunehmen, aber mehr als 98% erreichen wir nicht.“
Präsident Atkinson lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Mearse hatte recht. Diplomatisch gesehen, war das ein Minenfeld. Andererseits hatten sowohl die Chinesen als auch die Südpazifische Union bestehend aus Australien, Neuseeland und den meisten Inseln des Südpazifiks ihre volle Kooperation beim Projekt First Visit zugesichert und das fiel eindeutig in den Bereich des Projekts. Er hatte einmal gelesen, daß japanische Samurai nie länger als sieben Sekunden für eine Entscheidung brauchten – Atkinson hielt sich daran.
„Martin, ziehen sie das durch. Lassen sie alle Register spielen. Wir müssen wissen, wer hier versucht, uns aufzuhalten.“ gab er dann die Anweisung aus.
Carlile wandte sich ihm zu: „Gute Entscheidung Mr. President. Ich glaube nämlich nicht, dass das schon alles war. Hier meint es jemand ernst. Jemand wollte die Testcrew töten und hat es, Gott sei Dank, verpatzt. Das hätte das Projekt wohl weit zurückgeworfen.“
Diese Äußerung Carliles, der als sehr besonnen galt und immerhin Director der NSA war, ließ Atkinson eine Augenbraue hochziehen. Es würde wohl notwendig sein, eine Taskforce zu installieren, die sich um die Sicherheit des Projekts kümmern würde. Die NASA selbst hatte dafür zu wenig Sicherheitspersonal und auch zu wenig Erfahrung. Schließlich war Security auch nicht das Kerngeschäft der NASA.
„Ich werde weiters auch eine Taskforce für die Sicherheit des Projekts und des Geländes einrichten. Fiona, sie übernehmen die Planung und Umsetzung dafür. Martin, wir werden auch alle Mitarbeiter des NSEC einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Bringen sie das unseren Partnern ebenfalls schonend aber mit Bestimmtheit bei.“
Die angesprochenen Personen nickten nur. Aufgrund der aktuellen Lage hatten sie nichts Anderes erwartet. Glücklich waren sie allesamt nicht mit den Anweisungen.
„Gut. Ich danke ihnen allen“, verabschiedete Atkinson seinen Beraterstab.
Außenminister Martin Mearse machte sich an die Arbeit. Die Datenschnüffelei bei den Zentralbanken der drei großen Machtblöcke würde schwierig werden, nicht die Technik an sich, aber die Diplomatie dahinter. Die Europäer würden sich nicht dagegen sperren. Sie hatten selbst ein starkes Interesse am Erfolg der Pluto-Mission. Nicht umsonst beteiligten sie sich mit knapp 100 Milliarden Euro daran. Wenn er zurückdachte, konnte er sich nicht erinnern, wann in der Geschichte jemals ein derartiges Budget für Forschung zur Verfügung gestellt worden war.
Die Gespräche für die Rückverfolgung von Transaktionen zogen sich erstaunlicherweise kaum in die Länge. Nur die Südpazifische Unionsbank versuchte, dem Antrag irgendwie zu entkommen, doch nachdem Mearse direkt mit dem australischen Außenminister gesprochen hatte, legte sich die Bank nicht mehr allzu lange quer. Die ganze Angelegenheit hatte sich innerhalb von wenigen Stunden klären lassen.
Daraufhin übermittelte er der NSA das Go für die automatisierte Prüfung von Finanztransaktionen im Bereich von 100.000 bis zu 10 Millionen EUR über die letzten acht Wochen.
Mit ihrer auf SIGINT spezialisierten Ausrüstung und der verfügbaren Rechenleistung war die NSA geradezu prädestiniert für diese Aufgabe. Die weltweite Menge aller Finanztransaktionen im geplanten Zeitfenster und der geplanten Höhe ging in die Millionen, daher hatte die NSA aufgrund ihrer Erfahrung im Vorfeld bestimmte Suchprofile erstellt und ließ die Datensätze dadurch filtern. Übrig blieben immer noch etwas mehr als 4.000 Datensätze, aber das war bereits eine überschaubare Zahl, die man mit intelligenter Bearbeitung durch Menschen in einem sinnvollen Zeitrahmen überprüfen konnte.
Die Daten wurden so rasch wie möglich an einige wenige Experten des FBI übergeben, die sofort mit der Analyse begannen. Wiederum war Geoffrey Frost der leitende Agent des FBI. Er war nicht sonderlich erfreut darüber, denn Data Mining zählte nicht unbedingt zu seinen Lieblingsthemen. Er war noch einer der Ermittler aus der alten Schule. Aber da Director Gardener ihn beauftragt hatte, konnte er schlecht ablehnen.
Des weiteren hatte er Zugriff auf eine Datenbank mit Profikillern und den über sie bekannten Fakten erhalten. Die manuelle Rasterfahndung war schon eher nach seinem Geschmack. Oft genug übersahen Computer bei der automatisierten Rasterfahndung Details, die einem Ermittler durchaus aufgefallen wären, daher war er kein großer Fan der Automatisierung.
Was er schon tat, war die Nutzung des Computers für gezielte Abfragen oder Eingrenzungen. So schloß er zum Beispiel bei den Killern Italiener und Amerikaner aus. Er war versucht, alle Europäer auszuschließen, aber das konnte er später immer noch tun. Er grenzte die infrage kommenden Berufsmörder weiter ein um die Attribute, die sie von ihrem Killer kannten. Das waren ungefähre Größe und Alter sowie die Augenfarbe.
Außerdem war sich Frost sicher, dass der Täter Linkshänder war, denn auf jedem Video oder Foto trug er Gegenstände in der rechten Hand, um die linke frei zu halten. Die Brieftasche hatte er im Bites & Bar in der linken Innentasche des Sakkos getragen, denn scheinbar trug er rechts unter der Schulter den Halfter mit der Faustfeuerwaffe. Er analysierte die Bewegungen von Ricone und sein Eindruck verstärkte sich weiter Richtung Linkshänder. Die Bewegungsmuster hatten eindeutig eine Linkstendenz.
Von einem Officer der lokalen Polizei in Incline Village hatte er eine genaue Beschreibung erhalten. Der Polizist hatte auch ausgesagt, der Fremde hätte zwar italienisch ausgesehen, aber seine Sprache hatte keinerlei italienischen Einschlag gehabt. Er hatte auch angemerkt, dass Giovanni Ricone eher wie ein Brite geklungen hatte.
Das schränkte nach Frosts Ansicht die Möglichkeiten weiter drastisch ein. Allerdings war kein Brite mehr in der Liste vorhanden und daher spuckte die Datenbank keinen einzigen Namen aus. So ging es also nicht. Er zermarterte sich das Gehirn, kam aber nicht auf den Denkfehler, bis sein Blick über die Weltkarte an der Wand hinter ihm wanderte. Zeitgleich fiel ihm ein, daß die Briten einmal ein Weltreich beherrscht hatten. Das war zwar schon eine Weile her, aber die Nachwirkungen gab es immer noch, denn in Australien und Neuseeland wurde immer noch Englisch gesprochen, obwohl die Einheimischen eine andere Muttersprache hatten.
Australien kam wohl nicht in Frage, denn der australische Akzent klang alles andere als britisch. Er fügte demnach der geografischen Abgrenzung noch Neuseeland hinzu und ließ die Datenbank erneut durchsuchen. Bereits nach wenigen Sekunden warf der Computer die Akten von nur zwei Personen aus. Von beiden war kein richtiger Name bekannt. Fotos waren entweder von sehr schlechter Qualität oder von wahrscheinlich veränderten Gesichtern vorhanden. Andernfalls hätte man die Täter schon längst überführt. Rein statistisch sollte es nicht mehr als vier oder fünf Auftragskiller in Neuseeland geben. Daß die Datenbank nur zwei Dossiers ausspuckte, hieß noch lange nicht, dass in Neuseeland nur zwei Auftragsmörder existierten. Vielleicht waren die anderen nur noch nicht aufgefallen. Bankverbindungen wurden nicht angeführt.
Der Gesuchte mußte ein wirklicher Experte sein. Er war angekommen, hatte den Job erledigt und war wieder verschwunden. Profis in diesem Geschäft hatten meistens eine militärische Ausbildung hinter sich und sich auf wenige Tötungsarten spezialisiert. Diese Experten des Todes töteten auch nie in ihrem näheren Umfeld, denn sie konnten durch zufällige Zeugen erkannt werden.
„Ein Killer vom anderen Ende des Planeten wäre also genau der Richtige“, dachte sich Frost.
Er verfasste einen detaillierte Niederschrift seiner Gedanken und Ergebnisse und schickte sie wieder einmal als Tagesbericht an Director Gardener. Was er damit auslöste, erfuhr er erst Wochen später.
In Neuseeland ging am Abend des folgenden Tages ein Anruf beim Governor General ein. Governor General James Haggerty war etwas erstaunt, denn er wurde unter dieser Nummer nur von einem seiner Minister, dem Polizeichef oder dem Geheimdienstchef angerufen, aber selbst diese riefen nur dann so spät an, wenn es dringend war.
„Guten Abend Sir. Commisioner Stapleton hier.“
„Guten Abend Commissioner. Was kann ich für sie tun?“
„Wir haben gerade ein Amtshilfeersuchen des FBI erhalten, von Director Gardener persönlich.“
„Was wollen sie denn?“
„Sie haben aufgrund der Daten der Finanztransaktionen einen gewissen Robert Olsen als Killer identifiziert. Olsen soll einen gewissen Pavol Kajic in den USA getötet haben. Sie wollen diesen Olsen ausgeliefert haben.“
„Und Olsen lebt in Neuseeland.“
„Ja, Sir.“
„Was wissen wir über ihn?“
„Nichts Sir. Er fiel nicht einmal noch mit einem Strafzettel für falsches Parken auf. Das ist es ja gerade, was mich nachdenklich macht.“
„Ok. Schicken sie mir alles, was sie von den Amis bekommen haben. Antworten sie vorerst nicht, und finden sie alles über Olsen heraus, was irgendwie möglich ist. Aber scheuchen sie ihn um Himmels Willen nicht auf. Also keine Annäherung und keine Beschattung, ist das klar? Sonst gibt es vielleicht noch Tote.“
„Ja, Sir.“
„Gut. Ich brauche dann morgen um 08:00 ihren persönlichen Bericht. Die Innenministerin wird auch dabei sein. Dann werden wir entscheiden, was wir mit dieser Anfrage tun. Noch Fragen?“
„Danke, Sir. Nein, keine Fragen.“
„Gut. Wir sehen uns dann morgen. Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Sir“
Kaum hatte Haggerty die Leitung unterbrochen, wählte er selbst eine Nummer. Kurz darauf läutete die Gegenstelle auf einem Militärflugplatz in Whenuapai am Stadtrand von Auckland. Dort befand sich das Hauptquartier des Neuseeländischen Special Air Service. Der Kommandant des SAS Colonel Thomas Phrasier würde diese Nacht nicht mehr zum Schlafen kommen.
Tags darauf trafen sich Governor General James Haggerty, Innenministerin Alexandra Braidon, Commissioner George Stapleton und Colonel Thomas Phrasier um 08:00 Uhr in Haggertys Büro.
Der SAS unterstand zwar an sich der Armeeführung, aber der Governor General war wiederum der Oberkommandierende der Armee, daher hatte Haggerty darauf verzichtet, den Vorgesetzten von Phrasier einzubestellen. Abgesehen davon war die Angelegenheit Robert Olsen ohnehin eine im Bereich des Innenministeriums. Die neuseeländische Polizei wollte er auf einen Mann wie Olsen nicht loslassen. Das würde nur unnötiges Risiko bedeuten. Die Profis vom SAS waren da schon ganz andere Kaliber. Das Problem mit dem SAS war allerdings, dass laut Verfassung militärische Einheiten im Inland keine Aufgaben wahrnehmen durften. Die einzige Ausnahme war unter Kriegsrecht, aber wegen eines Mannes für ganz Neuseeland das Kriegsrecht auszurufen, würde nur unangenehme Folgen für die gesamte Regierung haben und auch die Nachbarländer vor den Kopf stoßen.
Haggerty eröffnete die frühmorgendliche Sitzung: „Guten Morgen. Nehmen sie bitte Platz.“
„Sie alle kennen die Anfrage der Amerikaner und die Gründe. Ich möchte sie daher um ihre Meinung ersuchen, wie wir weiter vorgehen.“
Phrasier schien seiner Sache sehr sicher zu sein: „Räuchern wir den Kerl einfach aus und befragen ihn selbst. Dann können wir ihn immer noch ausliefern.“
„An sich eine gute Idee Colonel“, antwortete Braidon. Dann setzte sie fort: „Aber der SAS darf im Inland nur unter Kriegsrecht tätig werden. Und sie wollen ja wohl kaum wegen eines Mannes das Kriegsrecht ausrufen oder? Ganz abgesehen von den Auswirkungen auf die Regierung und die diplomatischen Verwicklungen danach.“
„Warum bin ich dann hier Frau Ministerin?“ fragte Phrasier nach.
Als Haggerty Stapleton zunickte, griff dieser in seine Aktentasche und nahm seinen Tablet-Computer heraus.
„Ich schicke ihnen allen die aktuellsten Daten zu diesem Olsen. Dann verstehen sie es sicher Colonel.“
Phrasier öffnete das Dossier auf seinem eigenen Tablet und begann zu lesen. Er wurde immer blasser.
Olsen war ein Elitesoldat. Er hatte bei den US Navy SEALs gelernt und bei zahlreichen Kooperationen mit anderen Diensten wie dem englischen SAS, der russischen Speznaz und einigen anderen Eliteeinheiten auf dem Globus hervorragende Arbeit geleistet. Er war für die Amerikaner bei so gut wie jeder Krise dabei gewesen und das mit verschiedensten Aufgaben. Das reichte vom Planungsoffizier bis zum Funker, Scharfschützen, und Aufklärer. Er war mehrmals ausgezeichnet und befördert worden. Olsen hatte einen Universitätsabschluß in Yale vorzuweisen und war als Lieutenant Colonel und Kommandant eines SEAL-Teams aus dem aktiven Dienst ausgeschieden. Den Grund für den Ausstieg bei den SEALs enthielt das Dossier nicht.
„Heilige Sch... entschuldigen Sie bitte, aber jetzt verstehe ich wirklich. Klar, dass die Amis den haben wollen. Dieser Mann ist brandgefährlich. Nichts gegen die Polizei Commissioner, aber da würden sie eine Menge Leute verlieren, bevor sie den überhaupt zu Gesicht bekämen.“
Etwas frustriert nickte Stapleton: „Ich weiss, Colonel. Wir werden da auch sicher nicht mitmischen. Wir helfen ihnen gerne, wo immer es geht, aber der Typ ist eine Nummer zu groß für uns. Da würde ich unsere Leute verheizen.“
„Colonel, wieviele Leute würden sie brauchen, um Olsen festzunageln?“ wollte Braidon wissen.
„Das kann ich so nicht beantworten Frau Ministerin. Eine solche Mission ist eine planerische Herausforderung. Sie müssen sich das wie einen Spezialeinsatz gegen verbarrikadierte und zu allem entschlossene Geiselnehmer vorstellen, die noch dazu schwer bewaffnet sind und das Gebäude in und auswendig kennen. Dazu bräuchten wir möglichst genaue Fotos der Umgebung, Pläne des Gebäudes etc. Beim Zugriff brauchen wir dann Kooperation mit Kommunikationsbetreibern und Stromversorgern.“
„Ok, wie lange dauert die Planung und dann die Durchführung? Wir wollen ihn wenn möglich lebend.“
„Für die Planung würde ich ausgehend von hinreichend gutem Informationsmaterial zwei Tage veranschlagen. Die Durchführung sollte in wenigen Stunden machbar sein. Die Koordination aller Beteiligten wird aber Zeit in Anspruch nehmen. Ich gehe hier von 3 Tagen aus. Und dann brauchen wir noch eine Idee, wie wir das kleine Problem mit der Verfassung lösen.“
„Da hätte ich eine Idee“, meldete sich Stapleton.
Haggerty zog eine Augenbraue hoch: „Lassen sie hören, George.“
„Sir. Es spricht eigentlich nichts dagegen, eine komplette SAS-Einheit in den Polizeidienst zu übernehmen. Die erforderlichen Prüfungen kann man aufgrund der Ausbildung ihrer Leute bis auf die rechtsspezifischen erlassen. In körperlicher Fitness, Waffenkunde etc. können wir ihren Jungs ohnehin nichts vormachen. Die rechtlichen Prüfungen könnte man mit fingierten Tests erledigen. Da haben sie dann durch Zufall einfach die Testfragen irgendwo bekommen. Vereidigung, Ausrüstung und Eingliederung in den Dienst sind dann nur mehr Formsache. Sie bekommen dann noch eine Polizeiuniform und die Sache hat sich. Danach gliedern wir ihre Leute wieder aus dem Polizeidienst aus, als ob sie einfach den Dienst wieder quittiert hätten. Das ließe sich in drei Tagen durchziehen, parallel zu allen anderen Vorbereitungen. Ihre Leute müßten dann nur für drei Stunden in der Akademie aufkreuzen und die Rechtsprüfungen nachholen.“
„Interessanter Vorschlag George. Hätte nicht gedacht, dass so etwas von ihnen kommen würde. Sie sind doch sonst immer die Korrektheit in Person.“ meinte seine oberste Chefin die Innenministerin.
„Wissen sie Frau Ministerin, manchmal lasse auch ich 5 grade sein. Wir verletzen damit kein einziges Gesetz. Wir biegen vielleicht welche ein bißchen zurecht, aber das war es dann auch schon. Und ausserdem wäscht eine Hand die andere. Sie alle helfen mir den Typen loszuwerden, und ich bekomme auch noch die gute Presse dafür, falls es eine geben wird.“
Phrasier spitzte gleich die Ohren, als er das Wort Presse hörte: „Eher nicht Commissioner, zumindest keine Fotos. Der SAS kann keine Publicity brauchen. Das Gesicht eines meiner Jungs in der Zeitung würde schon für Probleme reichen.“
„Schade, aber ich dachte mir das ohnehin schon.“
„Das heißt aber, wir müssen ungefähr vier Tage mit Planung, Vorbereitungen und Durchführung rechnen. Sehe ich das richtig?“ wollte Haggerty wissen.
Phrasier blickte noch einmal auf sein Tablet: „Ja, Sir. Ich denke, von unserer Seite läßt sich das machen.“
Haggertys fragender Blick traf dann noch Commissioner Stapleton.
„Das kriegen wir hin, Sir.“
„Gut,dann haben sie von mir das OK für die Aktion. Alexandra, du behältst die Sache im Auge und koordinierst. Wenn du irgendetwas brauchst, dann ruf mich umgehend an. Und sie meine Herren wenden sich mit allen Themen an Ministerin Braidon, was diese Sache angeht.“
Die Innenministerin nickte: „Mach ich, James.“
Haggerty und Braidon kannten sich schon seit Jahrzehnten und er hatte die dunkelhaarige Mitvierzigerin vor 2 Jahren in die Regierung geholt, als er nach dem knappen Wahlergebnis die Amtsgeschäfte übernommen hatte. Sie hatte sich als profunde Ministerin mit großem Organisationsgeschick herausgestellt, daher konnte er ihr mit gutem Gewissen diese Aufgabe aufhalsen.
Die anderen, vor allem Phrasier waren etwas erstaunt, dass die Innenministerin eine doch eher militärisch angelegte Operation koordinieren würde. Sie legte auch gleich los: „Meine Herren, wir beginnen sofort. Täglich um 16:00 Uhr Lokalzeit will ich einen Statusbericht haben. Stapleton, sie kümmern sich wie gesagt um die polizeiliche Seite und dienen als Schnittstelle des SAS zu den notwendigen zivilen Ansprechpartnern. Colonel, die militärische Seite ist ganz ihre. Das können sie und ihre Leute besser als sonst jemand. Wenn sie Kontakt zu Zivilinstitutionen brauchen, dann erledigen wir das über Commissioner Stapleton. Alles Andere würde auffallen. Ich versorge sie mit allen Informationen, die sie brauchen. Das betrifft das Gebäude, die Umgebung, Mr. Olsen, etc. Was immer sie brauchen, sie bekommen es von mir. Fragen?“
Keiner der Beiden hatte noch eine Frage. Andererseits würde das wahrscheinlich noch kommen in den nächsten 72 Stunden.
Die Nacht war fast zur Gänze schwarz. Ganz bewußt hatte der Einsatzleiter des neuseeländischen SAS eine Uhrzeit gewählt, zu der es stockdunkel sein würde. Nur die Straßenbeleuchtung von der Zufahrt zum Mount Roskill spendete ein sehr schwaches Licht bis hinunter zur Wasseroberfläche. Da die Zufahrt einzig zum Zielobjekt am Ende der Sackgasse führte, war die Beleuchtung auch nicht sonderlich ausgeprägt. Der umgebende Wald und die Tatsache, dass das Gebäude auf einem Hügel stand, der steil zum Meer abfiel, taten ihr Übriges. Der Mond würde erst in einigen Stunden aufgehen und das Licht der Sterne konnte man getrost vernachlässigen.
Lieutenant Patrick Masterson und sein Team von acht Elitesoldaten hatten sich gründlich vorbereitet. Dieser Job würde ein schwieriger werden. Andererseits konnte er sich bisher an keinen Auftrag erinnern, der einfach gewesen wäre. Für einfache Aufträge gab es andere Einheiten in der Armee. Er wußte das und es gefiel ihm und seinen Leuten auch. Was ihn etwas störte, war die Tatsache, dass sie alle Polizeiuniformen trugen. Sie fühlten sich anders an, als die sonstigen Kampfanzüge, die sie gewohnt waren. Das konnte mitunter ein Problem werden. Den rückstrahlenden Polizeiaufrduck vorne und hinten hatten sie mit schwarzem Stoff überklebt. Sie konnten nichts weniger gebrauchen, als einen rückstrahlenden Schriftzug auf den Kampfanzügen, der von weitem sichtbar war.
Sie näherten sich der Einsatzzone per Boot. Natürlich legten sie nicht dort an, wo der Weg vom Strand zum Haus hinauf führte. Sie würden den schweren Weg nehmen müssen – den steilen Anstieg über Felsen durch Unterholz und Wald ohne ausgetretenen Weg. Der Anstieg war nicht allzu schwierig und mit ungefähr 30 Höhenmetern auch nicht sonderlich hoch. Sie mussten jedoch unbemerkt bleiben. Die Zielperson war ein ebenso gewiefter Elitesoldat wie sie selbst. Allein das Überraschungsmoment und ihre Überzahl sprachen für sie.
Ausbildung, Erfahrung und Ausrüstung von Robert Olsen schätzten Masterson und seine Leute als gleichwertig ein. Sie würden sich also auf die Überraschung verlassen müssen. Die Überzahl käme nur dann zum Tragen, wenn die ganze Geschichte eskalierte, was naturgemäß niemand wollte. Dann konnte die ganze Sache sehr schnell sehr häßlich werden, und das brachte in der Regel immer Tote mit sich.
Der Elektromotor schnurrte leise vor sich hin, und nach wenigen Minuten erreichten sie das Ufer. Sie hatten sich für den nahezu geräuschlosen Elektromotor entschieden. Der Benzinmotor war ihnen zu laut erschienen. Vor allem mußten sie keine großartigen Entfernungen zurücklegen oder hohe Geschwindigkeiten erreichen.
Masterson sprang auf den sehr schmalen Sandstreifen, den die beginnende Ebbe freigegeben hatte und vertäute das Boot an einer der Baumwurzeln. Das Team kletterte behende aus dem Boot und nahm Sicherungsposition rund um ihren Landeplatz ein. Ihre Nachtsichtgeräte hatten sie bereits über die Augen geschoben. Für die Soldaten wurde die Nacht damit fast zum Tag. Auf aktive Systeme für die Verbesserung der Sicht hatten sie verzichtet. Sie waren davon ausgegangen, dass Olsen diese bemerken würde.
Mit Handzeichen gab Masterson seine Anweisungen. Während das Team noch die Umgebung überprüfte, glitt Sergeant Caren „Ducky“ Sirren bereits schlangengleich durch das Unterholz nach oben. Sie war die erfahrenste Kletterin und kannte sich mit Stolperfallen und elektronischen Alarmanlagen am besten aus im Team. Ihr rabenschwarzes Haar musste sie nicht unter einer Mütze verbergen, ganz im Gegensatz zum hellblonden Masterson. Dass ihre Talente als Bergsteigerin sie mal das Team würde führen lassen, hätte sich die jüngste im Team auch nie gedacht, aber das Leben schrieb manchmal eben eigenartige Geschichten.
Sie benötigte für den Aufstieg ohne Hilfsmittel eine halbe Stunde. Masterson hatte ihr eingeschärft sich soviel Zeit wie nötig zu lassen und es vorsichtig anzugehen. Sie hatte den Weg erkundet und an einigen Stellen Orientierungsmarker hinterlassen, damit ihre Kameraden nicht lange nach dem besten Weg würden suchen müssen.
Oben angekommen robbte sie vorsichtig bis zum Ende des Unterholzes und blieb abwartend liegen. Vor ihr lag der geschnittene Rasen des gepflegten Gartens. Nach fünf weiteren Minuten gab sie per Klick am Funkgerät das OK zum Aufstieg des restlichen Teams. Während ihre Kameraden hochgekrochen kamen, suchten ihre Augen nach irgendwelchen Problemen für die weitere Annäherung an das Gebäude. Parallel packte sie ihre Messgeräte aus und versuchte vorhandene Lasertaster, Infrarotsensoren und andere Anzeichen für Alarmsysteme zu finden. Nach weiteren zehn Minuten hatte sie alle Tests durch. Das Haus verfügte zwar über eine Alarmanlage, aber der Aussenbereich wurde nicht automatisch überwacht. Sie gab Masterson per Handzeichen das OK.
Jeweils zwei Teammitglieder scherten nach links und rechts aus und umgingen das Gebäude. Sie würden die Fenster und Türen sichern, damit niemand entkommen konnte. Die andere Hälfte des Einsatzteams rückte weiter vor. Die elektronische Kommunikation beschränkte sich auf einfache Klicks, die durch kurzes Drücken der Sendetaste erzeugt wurden. Ansonsten gab es nur die üblichen Handzeichen.
Die vollautomatischen Railguns in den Händen glichen den Maschinenpistolen vergangener Jahrzehnte, waren aber wesentlich effektiver. Ihre elektromagnetisch beschleunigten Geschosse durchschlugen bis zu einer gewissen Entfernung so gut wie alles. Erst nach 200 Metern ungefähr wurden die kleinen Metallwürfel aufgrund der Reibungshitze in der Atmosphäre so heiss, das sie in der Luft schmolzen und glühendheisses Metall durch die Gegend spritzte. Durchschlagen wurde das Ziel dann nicht mehr, aber schwerste Verbrennungen waren die Folge. Nach etwas über 300 Metern war aber auch diese Wirkung vorbei. Da traf einen dann nur mehr ein aerodynamisch geformter Metallfladen, der üblicherweise keinen Schaden mehr anrichtete ausser vielleicht blaue Flecken.
Die Reichweite von Railguns in der Atmosphäre konnte erhöht werden, indem man hitzebeständige Materialien verwendete und die Geschosse dann auch noch aerodynamisch formte. So hatten Scharfschützengewehre einen schweren Metallkern, der von magnetischem Material ummantelt wurde. Über diesen magnetischen Mantel kam dann noch die Hitzebeschichtung. So konnten Reichweiten von drei Kilometern und mehr erreicht werden. Die kinetische Aufschlagswucht von Railgun-Geschossen hing mit dem Quadrat der Geschwindigkeit zusammen. Wurde das Geschoß um einen Faktor 2 schneller, dann vervierfachte sich die Wirkung.
Im Weltraum gab es zwar die Atmosphäre nicht, aber selbst dort trat das Problem der Reibungshitze auf, denn die Geschosse erreichten dort Geschwindigkeiten, wo sogar der Weltraum noch Reibungswiderstand bot. Im All wurden die Projektile mit nahezu Lichtgeschwindigkeit verschossen. Auf einem Planeten mit Lufthülle war das nicht möglich. Der Luftwiderstand und die Reibung würden das Geschoss sofort verglühen lassen.
Immer noch lautlos scannte Sirren das Fenster im Erdgeschoss, das sie für den Einstieg ausgewählt hatten. Auch hier schien es keine Überwachung mittels einer Alarmanlage zu geben. Sie wunderte sich einerseits, aber andererseits wäre jeder verrückt, der bei einem Elitesoldaten einbrechen wollte. Olsen schien sich also sicher zu fühlen.
Masterson selbst schob das Fenster mit Holzrahmen nach oben, nachdem er die Führung geschmiert hatte, um ein Quietschen zu verhindern. Die Fenster schienen zwar in sehr gutem Zustand zu sein, aber er wollte kein Risiko eingehen.
Vorsichtig und lautlos kletterte er hinein, während die restlichen drei die Umgebung sicherten. Drinnen angekommen, leuchtete er mit einer kleinen Infrarotlampe den Raum aus. Mit seinem Nachtsichtgerät konnte er keine Gefahr erkennen. Per Handzeichen gab er Befehl und seine Teammitglieder rückten durch das Fenster nach.
Sie waren wie geplant im Wohnraum des Erdgeschoß. Langsam und leise rückten sie vor und inspizierten alle Räumlichkeiten. An der Ostseite des Gebäudes blickte er kurz hinaus, konnte aber das andere Team nicht sehen. Zumindest auf dieser Seite schien also alles in Ordnung zu sein. Noch immer gab es keine Anzeichen von Alarmanlagen oder sonstiger Aktivitäten im Haus. Masterson beschlich trotz der Ruhe das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte.
Zur selben Zeit war Robert Olsen unterwegs zum Hauptquartier des neuseeländischen SAS. Er hatte von seinem Informanten im Innenministerium einen Tipp über die bevorstehende Aktion bekommen.
Als er den Militärflughafen in Whenuapai nahezu erreicht hatte, stellte er seinen Pickup an der Ecke Mc Kean Road und Totara Road ab und machte sich zu Fuß auf den Weg zu Colonel Phrasier. Er hatte sich von der Tarnung des Einsatzteams als normale Polizisten nicht täuschen lassen. Es war 3 Uhr morgens in Aukland, aber Phrasier würde wach und im Büro sein, wenn eines seiner Teams im Einsatz war. Und dieser spezielle Einsatz würde ihm keine ruhige Nacht bereiten. Olsen verstand ihn nur zu gut.
Als er sich in Aukland niedergelassen hatte, hatte er sich selbstverständlich um alle potentiellen Gefahren in der näheren Umgebung gekümmert und diese analysiert. Die Spezialeinheit einer Armee fiel natürlich in diese Kategorie. Der Zaun zum Militärgelände war rasch bezwungen und die Ausrüstung in seinem Rucksack behinderte ihn nicht. Er war daran gewöhnt. Den Weg zu Phrasiers Büro kannte er nur zu gut. Nicht ganz eine Viertelstunde später stand er an der Rückseite des Gebäudes. Niemand hatte ihn bisher bemerkt. Wenn sein Timing richtig war, dann war das Einsatzteam bereits in sein Haus eingedrungen und bewegte sich mit äußerster Vorsicht durch das Erdgeschoß.
Er hatte sich schon vor zwei Jahren eine Uniform der neuseeländischen Armee und Rangabzeichen eines Lieutenant Colonel besorgt. Unauffällig, als gehörte er hier her betrat er das Kommandogebäude des SAS. Vor Phrasiers Büro blieb er kurz stehen. Er hatte richtig kalkuliert. Das Büro war mitten in der Nacht hell erleuchtet. Er klopfte zweimal kurz aber deutlich an. gleichzeitig betätigte er einen kleinen Funksender in seiner Tasche. Eine Sekunde später wurde er hineingerufen. Er betrat das Büro und nahm Haltung an.
„Olsen Robert, Lieutenant Colonel, US Navy SEALS, Sir! Bin ich hier richtig bei Colonel Thomas Phrasier?“
Phrasier fielen fast die Augen aus dem Kopf. Er wollte schon zur Waffe greifen, als er bemerkte, dass Olsen gar keine Waffe in der Hand hatte.
„Ja, sie sind hier richtig.“
„Ich bin unbewaffnet, Sir.“
„Sie sind auch unbewaffnet noch gefährlich Mr. Olsen. Aber nehmen sie doch Platz.“ antwortete Phrasier gefährlich leise und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
„Mr. Olsen, warum sind sie hier?“
„Ich wollte nicht, dass mich ihre Jungs und Mädels umlegen oder mein Haus bei Mount Roskill in einer unnötigen Auseinandersetzung ruiniert wird. Ausserdem unterhalte ich mich lieber auf eine zivilisiertere Art und Weise als mit vorgehaltener Waffe. Und bei ihnen anmelden wollte ich mich ehrlich gesagt nicht, denn das wäre nur halb so interessant gewesen.“
„Geben sie mir einen Moment. Ich rufe mein Team zurück.“
„Nicht notwendig, Sir. Das Team weiß bereits, daß ich hier bin. Ich habe per Funk die Beleuchtung im ganzen Haus und die Flutlichtscheinwerfer auf dem Gelände aktiviert. Gleichzeitig läuft eine Ansage über Lautsprecher und erklärt die Lage.“
„Die Leute tragen wahrscheinlich Nachtsichtgeräte. Sie werden einige Tage nichts sehen können.“
„Ein bißchen Strafe muss sein für unberechtigtes Eindringen in mein Haus, Colonel. Ich mag es nicht besonders, wenn man mich unangemeldet besucht. Die schweren Stiefel tun den Teppichen sicher nicht gut. Was also wollen sie von mir?“
Phrasier erzählte ihm vom Auslieferungsantrag der Amerikaner. Das unterlag schließlich keiner Geheimhaltungs.
„Tja, dann ist es wohl so weit, einige Karten zu spielen ...“
Und damit begann der Auftragskiller Robert Olsen zu erzählen – gerade so viel, dass klar wurde, dass ihn sowohl die Amerikaner als auch die Neuseeländer besser in Ruhe ließen, wenn sie nicht einen handfesten diplomatischen Skandal riskieren wollten. Trotz allem konnte er sie auf die Spur des Auftraggebers bringen, ohne sich selbst damit in die Schußlinie zu bringen. Sein einträgliches Geschäft mußte er aber aufgeben.
USA, Kennedy Space Center, 13.07.2101
Über Funk kam die Anfrage der GALILEI im Kennedy Space Center an: „KSC, USS GALILEI ersucht um Startvektor für Mission Pi‑272.“
„USS GALILEI, hier KSC Flight Operations. Ihr Startvektor ist 122/34/89. Startfenster 300 Sekunden. Viel Glück da draußen.“
„Danke KSC. GALILEI meldet sich ab.“
Norwood und seine Crew waren schlußendlich doch noch als Crew für die Pluto-Mission ausgewählt worden. An sich war es nicht gerade üblich, die Test-Crew als Mission-Crew einzusetzen, aber für diese Mission hatte es eine Ausnahme gegeben.
Neben der fortlaufenden Nummer hatte jede Mission auch noch einen eigenen Namen. In diesem Fall hieß die Mission First Visit, denn es würde der erste Besuch des Kleinplanenten Pluto durch die Menschheit sein. Bisher hatte es in der Raumfahrtgeschichte zwar einige Sonden gegeben, aber eine bemannte Erkundung hatte bisher nicht stattgefunden. Der Aufwand war bisher immer zu hoch erschienen. Selbst als die Hyperfeldtechnologie entdeckt wurde und damit die Raumfahrt um vieles einfacher und günstiger wurde, konnte man sich nur deswegen zu einer solchen Mission durchringen, weil man diesen Flug als Test für die verschiedensten neuen Systeme eines Raumschiffs betrachtete. Das eigentliche Fernziel war nämlich definitiv die Reise zu einem anderen Stern.
Norwood war es egal. Er saß im modernsten Raumschiff der Menschheitsgeschichte und kommandierte diese Mission. Damit war er momentan sehr zufrieden. Er hatte sich sehr beherrschen müssen, um nicht selbst das Steuer zu übernehmen. Sein Navigationsoffizier LT Roger Sabato war allerdings ebenfalls ein ausgezeichneter Pilot, sodaß er sich um die Qualität in diesem Bereich keine Sorgen machen mußte. Vor allem auch, weil Sabato wußte, daß ein überaus fähiger Pilot ihm ständig auf die Finger sah. Den Startvektor hatte Sabato eingegeben und aktivierte auf Norwoods Befehl hin das vorbereitete Kursprogramm.
Als der Countdown Null erreichte, donnerten die Aggregate los. Die neuen Impulstriebwerke erzeugten ein blauweißes, aktinisches Leuchten in den Triebwerksöffnungen. Der Schub war enorm. Trotz der Masse von 1200 Tonnen kam das Schiff rasch auf Geschwindigkeit. Der Navigationsdeflektorschirm kam ebenfalls auf Leistung. Er schützte das Schiff vor Strahlung und kleineren Objekten, die im Weltraum herumflogen. Bei großen Brocken würden sie aber ausweichen oder diese mit den Bordwaffen zerstören.
Die mattschwarze Walze der GALILEI drehte sich langsam aus dem Orbit und beschleunigte.
Norwood blickte kurz zu seiner Chefingenieurin hinüber. Sie nickte nur als Zeichen, daß alles in Ordnung war. Danach griff er zum Sammelschalter und öffnete einen schiffsweiten Kanal. Die elfköpfige Crew würde ihn hören, egal wo sie sich gerade befand. Die eigentliche Schiffscrew war vollzählig auf der Brücke, nur die Wissenschaftler hielten sich entweder in ihren Quartieren oder an ihren Arbeitsplätzen auf.
„Norwood hier. Wir sind auf dem Weg. Wir werden jetzt die nächsten drei Stunden sachte beschleunigen und bis auf 20% Lichtgeschwindigkeit gehen. Danach werden wir ungefähr 34 Stunden Flug bis zu Pluto haben. Die Bremsphase wird ebenfalls drei Stunden in Anspruch nehmen. Wir verzichten in der Kurswahl ganz bewußt auf SwingBy-Manöver und ähnliche Dinge. Sollte euch irgendetwas auffallen, und sei es noch so eine Lapalie, meldet ihr es umgehend mir oder LT Cagliari. Das ist ein Befehl. Ab sofort tritt der Schichtplan für die Diensteinteilung in Kraft. Ich will keinen, der länger arbeitet als vorgesehen. Raumflüge sind nach wie vor gefährlich, auch wenn die neuen Systeme vieles erleichtern, daher kann ich keine übermüdete Crew gebrauchen.“
„Statusbericht aller Bereiche.“ befahl er im Anschluß.
„Engineering: alle Systeme grün.“ meldete sich Sandler.
„Navigation meldet alles im grünen Bereich.“ gab Roger Sabato als Navigationsoffizier zur Antwort.
Cagliari hatte sich mit seiner Meldung Zeit gelassen, er war eher der gemütlichere Typ: „Energieversorgung ok, Navigationsdeflektor ok, Lebenserhaltung ok.“
„Offensiv- und Defensivsysteme ok.“ meldete sich die Gefechtsoffizierin ENS Joana Travers.
Travers wußte, dass sie auf dieser Mission mehr oder weniger nur Passagier war. Niemand erwartete ernsthaft eine gefechtsmäßige Auseinandersetzung im Weltraum, umso weniger als man bisher noch keinen Beweis für die Existenz anderer Intelligenzen im Weltraum gefunden hatte. Und selbst wenn es sie wirklich gab, man würde das eigene Sonnensytem ja gar nicht verlassen. Entsprechend entspannt saß sie an ihrer Konsole und behielt ihre Anzeigen im Auge.
Als Kommunikationsoffizier war der Afroamerikaner ENS Jacob Ngabe an Bord. Travers und er waren sozusagen die Küken an Bord, da sie die Jüngsten waren und auch die wenigste Erfahrung besaßen.
„Kommunikation ok.“
Auch Ngabe wußte, daß er nur eine Statistenrolle spielen würde. Schließlich konnte er nicht mehr tun, als primitive Signale von Pluto zur Erde schicken, wie es auch schon die Voyager-Sonden des 20. Jahrhunderts getan hatten. Natürlich hatte ihr Funk mehr Leistung, aber die Zeitverzögerung von 14 Stunden aufgrund der Distanz würde eine vernünftige Unterhaltung mit Mission Control unmöglich machen.
„Bei uns ist auch alles in Ordnung“ bildete Steven Waterson als Leiter der Wissenschaftler an Bord den Abschluß. Unter seine Fittiche fiel zwar auch die Schiffsärztin, aber aus fachlicher Sicht hatte LT Dr. Michelle Summers keinen Vorgesetzten an Bord. Sie konnte sogar den Kommandanten des Kommandos entheben, wenn sie der Meinung war, er wäre nicht mehr zur Ausübung seiner Pflichten in der Lage.
Bradley Carlson war der Astronom und Astrophysiker an Bord. Er würde sich am Ziel mit dem Bereich des Sonnensystems jenseits von Pluto beschäftigen. Der Chemiker Angelo de la Costa und der Geologe Mohammed Ravshan würden sich um Pluto und seine Monde kümmern.
Waterson war der technische Experte, denn er kam aus der technischen Physik und der Nuklearphysik. Somit verstand er die Theorie der Schiffssysteme am besten. Die praktische Seite wurde von den NASA-Offizieren abgedeckt, die alle ebenfalls einen Ingenieursabschluß besaßen und sich auf verschiedenen Gebieten spezialisiert hatten. Die Planer der Mission wollten nichts dem Zufall überlassen.
Aus diesem Grund waren aus den ursprünglich geplanten zehn Personen an Bord auch elf geworden. Die NASA wollte die Aufteilung der Funktionsbereiche gleich mittesten, daher war die Kommunikationstechnik extra mit einem Offizier besetzt worden. Ursprünglich hätte das der Taktik-Offizier in Personalunion mit erledigen sollen.
Am NSEC befand sich auch ein sogenanntes Hyperfeldtriebwerk im Bau. Bisher lief alles nach Plan. Für die Pluto-Mission wurde das Hyperfeldtriebwerk nicht benötigt. Der Impulsantrieb basierte zwar auch auf Ausnutzung von Hyperfeldeffekten, erforderte aber kein Eindringen in den Hyperraum selbst. Dafür war selbst die Entfernung zu Pluto noch zu klein. Norwood war froh darüber, denn die Technik war um einiges komplexer als die jetzigen Systeme an Bord es schon waren.
Die GALILEI würde nach ihrer Rückkehr allerdings nicht mit dem Hyperfeldantrieb nachgerüstet werden. Der Umbau wäre kompliziert und teuer, daher hatte sich die NASA entschieden, gleich ein neues Schiff zu bauen.
Das Schiff nahm fast schnurgeraden Kurs auf Pluto. Die Impulstriebwerke wurden vom Autopiloten auf Leistung hochgefahren. Sie würden die gewünschten 20% Lichtgeschwindigkeit in gemächlichen drei Stunden erreichen. Die Aggregate waren weitaus leistungsfähiger, aber Norwood wollte sie nicht ausreizen.
Ziel dieser Mission war es nicht die Anlagen bis zum letzten auszuquetschen, sondern die Systemintegration zu testen. Aus diesem Grund ging es Norwood gemütlich an, vor allem auch deswegen, weil er den expliziten Befehl dazu hatte. Sollte ihnen eines der Aggregate wegen Überlastung um die Ohren fliegen, würde er ein riesen Problem haben, wenn er es denn überleben sollte.
Die Maschinen liefen gleichmäßig. Die gefürchteten Vibrationen blieben aus. Die zuletzt verbesserten Dämpfer taten ihren Dienst und schienen wie geplant zu funktionieren.
Norwood drehte sich nach rechts zu seinem XO: „Bernardo, ich leg mich hin. Sollte irgendwas passieren, dann will ich das sofort wissen. Weck mich in acht Stunden wieder.“
„Aye Captain.“ dröhnte der schmächtige Italiener mit seiner Baritonstimme und einem Grinsen im Gesicht.
Cagliari schaltete die Scanner und Sensoren auf den Gefechtsdatenverbund und aktivierte den akustischen Alarmgeber, während Norwood die Brücke verließ. Im Grunde hätte er jetzt die Beine auf seiner Konsole hochlagern und ein gutes Buch lesen können. Der Alarm würde ihm sofort jede Änderung der taktischen oder navigatorischen Situation melden, nur war er nicht der Typ dafür.
Sukzessive schaltete er die Systeme durch und prüfte deren Status. Als er damit fertig war, prüfte er die Lagerstände für Ersatzteile, Lebensmittel, Munition und allen anderen Kram, den sie so mit sich schleppten. Mit einem seiner Offizierskollegen wollte er sich nicht unterhalten. Sie waren alle so gut wie geistig abwesend. Die Automatiken würden sie warnen, falls etwas aus dem Ruder lief.
Die Shuttle-Sabotage vor ungefähr einem halben Jahr hatten sie alle schon so gut wie vergessen. Damals war der Killer, der den Saboteur getötet hatte, gefunden worden. Bei den anschließenden Ermittlungen hatte sich eine Gruppe religiöser Fanatiker als Auftraggeber herausgestellt. Sie nannten sich Kinder der Erde und schienen die Expansion der Menschheit in den Weltraum strikt abzulehnen. Dass ihre bequeme Lebensweise zum Teil auch auf Ressourcen beruhte, die genau aus diesem Weltraum gewonnen wurden, schien sie nicht zu interessieren. Die Gruppe war als Antwort für die Sabotage von einem Kommando der neu gegründeten Spezialeinheit der Spartaner heimgesucht worden. Man hatte in dem Feuergefecht die komplette Führungsriege getötet oder gefangen genommen und eine Menge Pläne für weitere Sabotageakte sichergestellt.
Unter diesen Plänen war auch einer dabei gewesen, der den Verantwortlichen der Mission First Visit den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte. Er hatte die Vernichtung der USS GALILEI während des Abflugs mit einer selbstgebauten Boden-Luft-Rakete vorgesehen. Das Geschoß hätte es den Plänen zufolge sogar schaffen können, die GALILEI zu erreichen. Der geplante Sprengkopf hätte das Schiff zwar nicht komplett zerstört, aber ein Treffer hätte die gesamte Mission um mindestens ein Jahr verzögert.
Über den Mörder von Kajic hatten sie nichts in Erfahrung gebracht. Norwood mutmaßte, dass Leute wie dieser Killer so gut wie immer zuviel wußten, als dass man sie einfach einsperren konnte. Eine Beseitigung wäre aus den gleichen Gründen wahrscheinlich auch nicht in Frage gekommen. Er hoffte nur, dass unter der Crew keine Selbstmordattentäter waren und im Schiff selbst keine Bombe oder ähnliches versteckt war.
Die Stunden tropften nur langsam vor sich hin. Schicht um Schicht absolvierte die Crew ihre technischen Wachzyklen von vier Stunden. Norwood hielt die Zyklen kurz, um die Aufmerksamkeit seiner Leute nicht abfallen zu lassen, wenn sie auf Wache waren. Nach drei Schichten stoppten sie jeweils alle Maschinen. Im freien Fall wurden die Triebwerke außer für sorgfältige Kurskorrekturen ohnehin nicht wirklich gebraucht. Eine Schicht lang wurden alle Anlagen auf Anzeichen von Problemen hin geprüft. Egal wie genau diese Prüfungen auch waren, sie fanden einfach nichts, was ihnen hätte Sorgen machen müssen.
Norwood raffte sich auf und bewegte den noch etwas müden Körper unter die Dusche. Als er dann das heiße Wasser gegen kaltes tauschte, wurde er endlich wach. Die letzten Wochen vor dem Start waren alles andere als langweilig gewesen. 30 Minuten später betrat er die Brücke des Schiffs und löste wieder einmal Cagliari ab. Es würde die letzte Ablöse sein, denn sie würden den Orbit um Pluto in weniger als zwei Stunden erreichen.
„Bericht.“
„Alle Systeme nominal. Vorrat an Katalysebrennstoff sinkt rapide aber auch wie geplant. Navigationsdeflektor stabil, Triebwerke laufen ebenfalls stabil. Waterson hat da gute Arbeit geleistet.“
„Das war nicht mein Verdienst, Lieutenant. Das Problem hat meine Assistentin Osasu Moghu erkannt“, bemerkte Steven Waterson aus dem Hintergrund. Er war ebenfalls wieder auf die Brücke gekommen.
Norwood drehte sich mit einem Lächeln kurz um: „Na dann schönen Dank auch an ihre Kollegin.“
„Ich werde es ihr ausrichten.“ antwortete Waterson lächelnd.
Als trainierter Pilot war er natürlich auf die sogenannte Situational Awareness von Kampfpiloten trainiert, aber die Tätigkeit als Testpilot erforderte zusätzliche Fähigkeiten. Er mußte keine Feindmaschinen abschiessen, sondern ein instinktives Gespür für die Systeme entwickeln. Das hatte er scheinbar gut hinbekommen, denn er machte diesen Job schon sechs Jahre und hatte noch keine einzige Maschine verloren.
Er schaltete rasch aber aufmerksam durch die Statusanzeigen. Sein geistiges Auge erfasste die Anzeigen als Muster und verglich es mit den in seinem Gehirn gespeicherten Mustern zum Sollzustand der Anzeigen. Der Bildvergleich lief automatisch in seinem Kopf ab. So konnte er einerseits die Statusberichte seiner Crew verifizieren aber auch selbst die Systeme schnell durchprüfen. Diese Fähigkeit hatte ihn schon mehrmals vor einem Crash bewahrt.
Die Crew ging nach den anfänglichen Routineprüfungen in einen standardisierten Dienstbetrieb über. Zu tun gab es nicht viel ausser das Schiff funktionsfähig zu halten und die grundlegenden Parameter des Flugs zu verfolgen. Der Besatzung wurde es recht bald zu langweilig, auf die einzelnen Bildschirme zu starren. Ausser der Brückenwache begaben sich alle früher oder später in ihre Quartiere. Die Tage nach ihrer Ankunft bei Pluto würden noch anstrengend genug werden.
Waterson lag seit einigen Stunden in seiner Kabine, als es passierte. Plötzlich blinkten die Alarmleuchten, die in jedem Raum angebracht waren, gelb und der Ortungsalarm heulte durch das ganze Schiff. Der Alarm scheuchte ihn und auch den Rest der Crew an ihre Plätze. Noch wußte niemand, was eigentlich los war, aber der militärische Drill ließ sie schnell und zielsicher reagieren. Norwoods Stimme tönte dann aus den Lautsprechern des Interkoms und informierte sie darüber, dass die Ortung zwei Objekte entdeckt hatte. Sie wurden sehr rasch als eindeutig künstlichen Ursprungs identifiziert, denn sie vollführten teilweise radikale und wiederholte Kursänderungen. Kein natürliches Phänomen konnte im freien Raum solche Manöver ohne leistungsfähigen Antrieb fliegen.
So weit sie alle wußten, sollten sich aber auf ihrem Kurs und im Raum um Pluto keine Schiffe befinden. Sie hatten keine Informationen erhalten, dass Missionen von anderen Staaten unterwegs wären.Niemand konnte sich vorstellen, was hier eigentlich los war, bis Norwood laut nachdachte: „Das sind Fremde. Diese Schiffe kommen nicht aus unserem Sonnensystem.“
Auf der Brücke machte sich plötzliche Stille breit, als man die Diagramme betrachtete. Die Frage, ob man alleine war im Universum, war mit einem Schlag geklärt, denn die Objekte waren laut Messergebnissen nicht irdischen Ursprungs. Die Materialanalyse ergab unbekannte Materialien an der Außenhülle. Die ersten Besucher hatten das Sonnensystem erreicht. Die beiden Raumschiffe drangen aber nicht weiter in das Sonnensystem vor, sondern vollführten einen eigenartigen Tanz in unmittelbarer Nähe von Pluto.
Norwood fasste sich als erster wieder: „Navigation, alle Maschinen stop. Operations, alles abschalten außer Lebenserhaltung, Ortung und Kommunikation. Kommunikation ausschließlich auf Empfang gehen, alle Sender abschalten. Alle Mann auf Gefechtsstation.“
„Captain, was ist los?“ fragte Waterson.
Norwood drehte sich zu dem Wissenschaftler um: „Die beiden tanzen den Tanz des Todes. Das ist ein Gefecht. Ich will da nicht hineingezogen werden, daher stellen wir uns tot. Und dann beten wir am besten.“
Als wenige Minuten später weit draußen auf ihrem Kurs scheinbar eine Sonne aufging, war auch allen anderen an Bord klar, was Norwood gemeint hatte. Das grelle Licht schmerzte in den Augen, bis der Bordcomputer die Panzerglasfenster automatisch abdunkelte.
„Taktik, stellen sie fest, wie weit weg das war und ob noch etwas übrig ist; aber mit minimaler Leistung der Scanner. Berechnen sie die Energiemenge der Explosion.“
„Aye, Captain.“ antwortete die junge Frau an der taktischen Konsole. Sofort begann sie in die Tasten zu hämmern. Sie stand zwar wie fast alle unter Schock, aber trotzdem befolgte sie den Befehl mit Präzision und Schnelligkeit. Der militärische Drill machte sich bezahlt.
„Captain, Entfernung ungefähr 8 Lichtminuten. Beide Objekte sind nicht mehr auffindbar. Energieentfaltung 0,8 Gigatonnen.“
„0,8 Gigatonnen?“ rief Waterson fragend und riss die Augen auf.
„Ja, kein Irrtum möglich. Ich kann es an den Gravitationswellen messen. Ein Massenäquivalent von 0,8 Gigatonnen ist aus dem Einstein-Raum durch Umwandlung in Energie verschwunden. Der Raum schwingt entsprechend nach. Die Schwingung ist harmonisch und daher einfach zurückzurechnen.“
„Danke, ich weiß. Der Wert erschien mir einfach nur sehr hoch“ antwortete Waterson. Er kannte die Mathematik von harmonisch schwingenden Gravitationswellen nur zu gut.
„Navigation, bringen sie uns so schnell wie möglich zum Stillstand. Kommunikation, melden sie den Vorfall ans Flight Operations Center und ersuchen sie um Anweisungen. Taktik und Wissenschaft, holt aus den Scannern und Sensoren alles an Daten und Fakten heraus, was ihr finden könnt. Taktik, alle taktischen Systeme aktivieren und auf den Gefechtsdatenverbund schalten.“
Waterson wollte sich einmischen: „Captain, brauchen wir wirklich die Waffensysteme?“
„Steve, überlassen sie die militärische Schiffsführung bitte mir. Das ist ab sofort leider keine Forschungsmission mehr.“
Die Triebwerke begannen wieder zu donnern, als Sabato die Verzögerung einleitete und dazu die Triebwerke brutal auf volle Leistung hochfuhr. Die Wissenschaftler und Joana Travers machten sich an die Arbeit, über den Vorfall herauszufinden, was auch immer möglich war. Die Antwort von der Erde würde mindestens 13,62 Stunden benötigen, wenn sie zuhause adhoc eine Entscheidung trafen, aber Norwood wußte, dass gerade dieser Teil, der langwierigere sein würde. Die Entfernung von 6,8 Lichtstunden hin und wieder zu ihnen zurück war bezüglich neuer Anweisungen das kleinere Problem.
Als dann nach knapp 14 Stunden eine Antwort eintraf, war er daher umso mehr überrascht. Norwood traute seinen Augen nicht, als er zu lesen begann.
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FROM: Broderick Michael, DIR NASA
TO: Commanding Officer, USS GALILEI
Subject: Mission Pi-272, Special Order G-029
Date: 21010714
Time: 0130
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Handeln sie nach eigenen Ermessen um möglichst viel Information zu erhalten.
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Er hatte alles Mögliche erwartet, aber das nicht. Mit diesem Befehl hatte er fast so etwas wie einen Freibrief erhalten zu tun, was er für richtig hielt.
Während sie auf Anweisungen hatten warten müssen, hatte die Crew versucht, alles Mögliche über die Zustände am Explosionsort herauszufinden. Die freigesetzte Energiemenge war dramatisch gewesen. Selbst die stärksten irdischen Waffensysteme waren davon weit entfernt. Waterson hatte den Verdacht geäußert, dass hier eine Antimateriewaffe eingesetzt worden war, denn nur die Schiffe selbst hatten nach Analyse der Ortungsdaten eine vergleichbare Masse gehabt. Als logischer Schluß drängte sich die fast vollständige Vernichtung durch die Rekombination von Materie und Antimaterie auf. Kein anderer Prozess würde derart viel Energie liefern. Die Folge daraus war aber auch, dass sie am Explosionsort nicht mehr viel finden würden. Vielleicht einige kleinere Trümmerteile, die im Laufe des Gefechts aus einem Schiff herausgesprengt worden waren, aber mehr würde es wohl nicht sein.
Die Ortung hatte während all der Zeit keine weiteren Kontakte mehr erfasst. Das beruhigte Norwood zwar einerseits, aber andererseits wunderte ihn diese Tatsache auch. Es waren zwei Schiffe verschwunden und niemand interessierte sich dafür? Das war etwas, was Norwood nicht verstand. Er wollte nicht mit seinem Schiff in einen Orbit um Pluto einschwenken und ein Bodenteam absetzen, um dann von einem fremden Schiff überrascht zu werden, das vielleicht bis an die Zähne bewaffnet war. Über die moralische Einstellung einer anderen Rasse zum Thema Töten wollte er noch viel weniger spekulieren. Scheinbar herrschte im Weltraum ohnehin das Faustrecht.
Da das Risiko für alle gleich war, bat er alle in den kleinen Besprechungsraum auf dem Kommandodeck. Nur Travers als Ortungsoffizierin blieb auf der Brücke, nahm aber per Interkom an der Diskussion teil.
„Ok, Leute. Wir haben die Anweisung erhalten, so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Mehr stand nicht drin, aber auch nicht weniger“, eröffnete Norwood die Besprechung. „Eure Meinungen dazu?“
„Naja, die Informationsgewinnung haben wir sozusagen befohlen bekommen. Die Frage ist, über was wir alles Informationen sammeln sollen.“ fragte Cagliari.
„Wie meinst du das, Bernardo?“
„Wir können die Explosion untersuchen, aber auch direkt hinfliegen und dort nach Trümmern suchen. Ok, und dann? Sollen wir unsere Pluto-Mission dann auch noch durchführen oder heimfliegen?“
Travers sprach an, was sich Norwood schon gedacht hatte: “Zwei Schiffe wurden hier vernichtet. Ich denke irgndwann wird sie jemand vermissen und nachsehen kommen. Wollen wir dann noch hier sein? Vielleicht müssen wir dann gegen eine ganze Flotte kämpfen, die Erfahrung im Raumkampf hat und uns waffentechnisch überlegen auch noch ist.“
Waterson lehnte sich in seinem Sessel zurück: „Das wäre noch die harmlosere Variante. Was wenn die Flotte die Erde angreift, weil sie meint, wir hätten das Schiff zerstört? So eine kleine Invasion mit einem Genozid wäre doch sehr unangenehm für uns.“
Summers sah von ihrem Tablet auf: „Sie meinen …“
„Auf der Erde sind schon Kriege wegen weniger begonnen worden. Wir kennen die Mentalitäten anderer Rassen im Weltraum nicht. Bis vor 15 Stunden wußten wir gar nicht, dass es sie überhaupt gibt. Dass auch im Weltraum nicht lange gefackelt sondern eher geschossen wird, haben wir gerade erlebt“, unterbrach Waterson die Ärztin.
Sabato räusperte sich kurz: „Dann ist es aber auch egal, ob und wie lange wir hier bleiben, denn wenn auch nur ein Schiff hierher kommt, finden sie auch die Erde. Die Energieabstrahlung unseres Planeten ist unübersehbar für ein modernes Raumschiff. Die müssten sozusagen technisch blind sein.“
„Da ist was dran“, stimmte Erin Sandler in ihrer prägnanten Art zu.
„Und die Dame und Herren Wissenschaftler?“
„Ich bin für hier bleiben“, sagte Waterson.
Mohammed Ravshan und Angelo de la Costa schlossen sich ihm an. Summers und Carlson überlegten noch eine Weile, bis sie schließlich ebenfalls zustimmten.
„Ist jemand dagegen?“ fragte Norwood zur Sicherheit noch nach. Es meldete sich niemand.
Norwood nickte langsam vor sich hin. Dann sagte er: „Gut, wir werden also vorrücken. Mit gebotener Vorsicht. Alle wieder auf ihre Posten. Wir starten in fünf Minuten.“
Nach den fünf Minuten begannen die Triebwerke wieder zu rumoren, dieses Mal aber lauter und höher in der Tonlage, denn Norwood hatte sich dafür entschieden, ohne Triebwerksleistung durch die sich langsam ausdehnende Explosionswolke zu gleiten. Dafür mussten sie vorher umso mehr beschleunigen. Für manche Dinge hatte der Weltraum durchaus Vorteile.
Er ließ auf 25% Lichtgeschwindigkeit beschleunigen und dann die Triebwerke abschalten. Die gesamte Energie wurde für die Lebenserhaltung, Navigationsdeflektor und Schutzschirme bereitgehalten. Als die 32 Minuten im freien Fall vorüber waren, erreichten sie die Grenze der Eplosionswolke. Nichts Bemerkbares geschah. Die Wolke war kugelförmig mit einer leichten Ausbuchtung Richtung Pluto. Die Schwerkraft des Kleinplaneten wirkte sich also bereits auf die leichten Teilchen aus. Mittlerweile war sie so ausgedünnt, dass sie mit freiem Auge nicht mehr festzustellen war, doch die künstlichen Augen der GALILEI ließen sich nicht so leicht täuschen.
Die Sensoren und Scanner arbeiteten unter Volllast und wurden mit nahezu schon schädlichen Energiemengen beschickt. Der Bordcomputer arbeitete an der Leistungsgrenze, um all die Daten verarbeiten zu können, die in schnell aufeinander folgenden Paketen hereinkamen.
Die chemische Analyse der Explosionswolke ergab einige fremde Legierungen bekannter Metalle und verschiedenste Gase. Die Analysatoren fanden auch organische Materie wie halb zerstörte Eiweißmoleküle, DNA-Spuren und eine Menge anderer kleiner, organischer Moleküle. Aus dem Zentrum der Explosion flogen auch eine Menge sehr kleiner metallischer Splitter nach aussen. Das größte Stück war gerade mal 20 cm lang, man konnte also durchaus von einer vollständigen Vernichtung der beiden Raumschiffe ausgehen.
Als die Ortungsanlagen keine neuen Informationen mehr lieferten, ließ Norwood das Schiff in einen Orbit um Pluto steuern. Ihre ursprüngliche Mission sah eine Erkundung Plutos und seiner Monde vor. Die NASA wollte geologische Informationen und eine chemische Analyse mehrerer Bodenproben sowie der Atmosphäre von Pluto und seinen Monden. Weiters sollte getestet werden, ob die Lösung für die Erzeugung von katalytischem Kernbrennstoff aus dem Eis von Pluto möglich wäre und wie ergiebig die Methode wäre. Nachdem sich auch im Orbit keine Neuigkeiten oder Änderungen der Situation ergaben, gab Norwood Befehl das Schiff zu landen. Ursprünglich war das nicht vorgesehen gewesen, denn für Aussenmissionen hatten sie ja die zwei Shuttles an Bord, aber Norwood wollte das Schiff nicht als leichte Zielscheibe im Orbit belassen. Am Boden würde ein fremdes Schiff die GALILEI vielleicht sogar übersehen, wenn der Kommandeur nicht gerade sehr genau den Planeten kontrollierte.
Sabato übernahm wieder den Platz des Piloten.
„Leite Landesequenz ein ... jetzt!“
In der Maschinensektion kamen einige Aggregate auf Touren und die Bremstriebwerke feuerten kurz. Die Verzögerung bewirkte, dass die GALILEI die Umlaufbahn auf ca. 3000km Höhe verließ und der Oberfläche mit wachsender Geschwindigkeit entgegenfiel.
„Navigation, gehen wir es langsam an. Macht keinen Sinn, eine Gewaltlandung zu bauen.“ befahl Norwood.
„Aye, Sir. Gleichmäßige Sinkrate 1500 Meter pro Sekunde. Verzögerung bis auf Mach 5,1. Landung in ca. 30 Minuten.“
Die Atmosphäre aus Stickstoff und Kohlenmonoxid war sehr dünn, reichte aber ungefähr 3000km in den Weltraum hinaus. Die ersten leichten Erschütterungen kamen erst nach einigen Minuten durch, wurden aber von den Systemen nahezu vollständig kompensiert. Die Trägheits- und Vibrationsdämpfer arbeiteten zuverlässig. Die geschärften Sinne der erfahrenen Crew spürten sie trotz der ausgleichenden Systeme.
Die Landung auf einem Planeten war mittlerweile nichts Besonderes mehr. Aus diesem Grund gab es auch nichts zu feiern oder großartige Reden zu schwingen. Bis auf Pluto und seine Monde, war das gesamte Sonnensystem erforscht worden. Als die fünfdimensionale Feldtheorie entdeckt worden war, hatte man die bemannten Missionen fast wie vom Fließband in den Raum geschickt. Probleme mit Antrieb, Schub oder Treibstoff gab es nicht mehr.
Norwood dachte gar nicht lange darüber nach, in welcher Reihenfolge er die Aufgaben abarbeiten ließ. Die Filteranlage für die Wassergewinnung wurde ausgebracht und machte sich automatisch auf die Suche nach dem ultimativen Rohstoff. Als sie sich dann in den Boden zu bohren begann, dauerte es nur mehr wenige Minuten, bis Wasser in die Tanks floß. Die Separationsanlage spaltete Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff auf. Der Sauerstoff wurde bis zu einer gewissen Menge für die Lebenserhaltungssysteme gespeichert. Der Wasserstoff wurde mit Neutronen beschossen und in das Isotop Deuterium umgewandelt, das dann für die Verwendung als Kernbrennstoff der Fusionsreaktoren gespeichert wurde. Der Boden gab nicht allzu viel Wasser her, aber es würde reichen, die Anlage zu testen.
Parallel machten sich de la Costa und Ravshan an die Arbeit, die Geologie und Chemie von Pluto zu erfassen und zu protokollieren. Sabato hatte sich ein Shuttle genommen und war mit den beiden Wissenschaftlern in eine weite Ebene hinausgeflogen, die 200km westlich von ihrer Position lag.
Sabato hatte eine Weile suchen müssen, bis sie eine brauchbare Ebene gefunden hatte. Ravshan war nicht leicht zufrieden zu stellen gewesen. Nach mehreren Versuchen und Abtastungen mit Oberflächenradar fanden sie schließlich die Ebene, in der sie gerade zur Landung ansetzten.
Kaum gelandet, drängten die beiden Eierköpfe, wie Sabato sie spöttisch nannte, nach draussen. Sie installierten einen Tiefenbohrer. Der Bohrer trieb in Plutos Oberfläche ein Loch von 20cm Durchmesser bis in eine Tiefe von 50 Metern. Dort würde dann eine vergleichsweise schwache Sprengladung detonieren, die Schockwellen in der Planetenkruste auslösen würde. Die Schockwellen und ihr Verlauf durch die Oberfläche des Planeten wurden dann mit seismischen Messgeräten erfasst und ausgewertet. Das geschah nach Verteilung der acht Meßgeräte auf der Ebene im Umkreis von zehn Kilometern automatisch.
Er half ihnen nicht bei ihrer Arbeit. Norwood hatte ihm noch einmal eingeschärft im Shuttle zu bleiben, damit sie bei Bedarf so rasch wie möglich verschwinden konnten. Ihr Kommandant wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Sabato hatte grundsätzlich nichts dagegen, aber sie waren rund 200km vom Mutterschiff entfernt und würden selbst bei höchster Eile und Vollgas mindestens zehn Minuten brauchen. Bis die beiden Wissenschafter eingepackt waren, das Shuttle bei der GALILEI ankam und dann noch eingeschleust war, würde es schon eine Weile dauern.
Was ihm wesentlich mehr Sorgen machte, war das künstliche Erdbeben, das Ravshan auslösen wollte. Auch die Bohrung für die Sprengung konnte schon Änderungen in der Kruste hervorrufen. Sie wußten einfach zu wenig über Pluto. Andererseits hatten de la Costa und Ravshan viel Erfahrung und mit ihren Geräten auch den Boden bis in eine Tiefe von 1000 Metern untersucht. Irgendwelche offensichtlichen Probleme hatten sie nicht entdeckt. Allerdings war die Dichte von Plutos Oberfläche wesentlich geringer als die der Erde. Der Bohrkern und die Sprengung würden zeigen warum.
An Bord der GALILEI machte sich Bradley Carlson daran, die astronomische Situation des Pluto-Systems aus vier Monden und Pluto selbst zu erkunden. Die Nähe zum Kuyper-Gürtel war ebenso ein Thema, wie das Material der Monde.
Summers wiederum hatte die Shuttle-Besatzung vor dem Abflug untersucht und fiel jetzt über die restliche Besatzung her, die sich noch an Bord befand. Der Flug hatte keine Nachwirkungen gehabt. Der wissenschaftliche Stab der NASA war sich immer noch nicht sicher, ob fünfdimensionale Felder nicht doch Auswirkungen auf den menschlichen Organismus hatten. Immerhin wurden sie für verschiedenste Zwecke an Bord verwendet und waren damit so gut wie ständig vorhanden.
„Homebase, Raider 1 hier“, meldete sich das Shuttle beim Mutterschiff.
Norwood war sofort hellwach. Er nickte dem jungen Kommunikationsoffizier zu, der daraufhin den Kanal freischaltete.
„Raider 1, Homebase hier. Was gibt es?“
„Wir sind so weit. Die Ladung ist vergraben und der Bohrkern an Bord. Wir kehren jetzt zurück und zünden von Homebase aus.“
„Gut. Lasst eure Bodenkamera mitlaufen auf dem Rückflug.“
„Wir sind in zehn Minuten an der Schleuse. Raider 1, Over.“
Als das Shuttle abgeschaltet hatte, passierte es. Der Empfänger gab ein durchdringendes, kurzes Pfeifen wieder, das sich alle 30 Sekunden wiederholte. Erst dachte Norwood, der Funker hätte irgendwie einen falschen Schalter erwischt. Er blickte zu Ngabe hinüber, der vor seiner Konsole saß. Dieser hob nur verständnislos die Hände und schaute überrascht zurück. Als das Signal dann aber regelmäßig wiederkehrte, war er überzeugt, dass hier ein fremder Sender genau auf ihrer Frequenz lag. Wie das sein konnte, verstand im Moment niemand, denn das Gespräch mit dem Shuttle war kurz gewesen. Es blieb ihnen nichts Anderes übrig, als die Tatsache als gegeben zu akzeptieren.
Norwood verengte nur kurz die Augen: „Ngabe, Lokalisierung einleiten. Befehl an Shuttle: Sie sollen stoppen und mit uns die Senderposition triangulieren. Wir müssen uns darum kümmern.“
Die Shuttle-Besatzung hörte das Funksignal ebenfalls. Sabato wartete erst gar nicht auf Norwoods Befehl, sondern stoppte das Shuttle selbst. De la Costa saß am Funk und übernahm die Messung des Winkels, während Sabato selbst die Positionsbestimmung so genau wie möglich durchführte. Als de la Costa meldete, er hätte den Einfallswinkel des Signals bestimmt, machten sie sich rasch auf den Rückweg.
Das mulmige Gefühl wurden sie alle zusammen nicht los. Die ganze Mission stand seit den letzten Testflügen unter ständigem Druck. Erst der Anschlag auf ein Shuttle, dann das Gefecht zweier fremder Rassen im Heimatsonnensystem der Menschen, als sie Pluto fast schon erreicht hatten und nun dieses fremde Funksignal genau auf ihrer Frequenz. Alle stellten sich die Frage, was da noch alles auf sie zukommen würde.
Norwood dachte über ihre Situation nach, während das Shuttle im Anflug war. Als ihm der Missionsname First Visit wieder einmal durch den Kopf ging, mußte er spöttisch grinsen. Welch eine Ironie, dass sich eine derartige Doppeldeutigkeit dieses Namens im Verlauf der Mission entwickelt hatte. An sich waren sie für die Menschheit angetreten, zum ersten Mal den Kleinplaneten Pluto zu besuchen. Stattdessen war die Menschheit das erste Mal auf eine andere Rasse gestossen. Es waren dann auch noch gleich zwei verschiedene Rassen gewesen, die einander nicht gerade wohl gesonnen waren. Sie waren die ersten menschlichen Augenzeugen eines Gefechts im Weltraum geworden. Die brutale Wirklichkeit hatte die verträumten Pazifisten des Planeten Erde mit einem Schlag wieder auf den Boden der Tatsachen geholt und ihnen eine harte Landung bereitet. Norwoods Grinsen wurde noch breiter, als er daran dachte, dass die Pazifisten es nicht einmal noch wußten. Die Regierung hatte momentan sicher andere Sorgen, als mit dieser Information an die breite Öffentlichkeit zu gehen.
Das Shuttle war kaum in der Schleuse der GALILEI angekommen, als per Interkom der Befehl an die Crew kam, sich im Besprechungsraum einzufinden. Nur Travers mußte sozusagen wieder als Wache auf der Brücke bleiben und mit den scharfen Waffen der GALILEI die Umgebung im Auge behalten.
„Ok Leute. Erst mal zu den Fakten.“ eröffnete Norwood die Besprechung.
„Wir haben ein Funksignal genau auf unserer Frequenz, das zum ersten Mal auftrat, als wir Kontakt mit unserem Shuttle hatten. Das Signal kommt von ... hier.“
Dabei zeigte Norwood auf einen Punkt 320km von ihrem Landeplatz entfernt.
„Wir haben die Position trianguliert. Die Sendeleistung beträgt gerade mal 4 Watt und ist damit zu schwach, um weiter als ungefähr 500km gehört zu werden. Das Signal enthält keinerlei Information ausser seiner Existenz. Steve, gibt es sonst noch etwas?“
„Ja Dave. Es ist ein Rechtecksignal. Das bedeutet, es muss künstlich sein, denn Rechtecksignale gibt es in der Natur nicht. Die Qualität ist erstaunlich hoch. Die angewendeten Fouriertransformationen zur Produktion des Signals haben eine erstaunliche Auflösung oder die Erbauer des Senders verwenden eine mathematische Methode, die wir noch nicht kennen. Beides ist möglich.“
Ngabe meldete sich zu Wort: „Captain, es ist ein Kurzwellensignal. Theoretisch würde es an der Ionosphäre eines Planeten gespiegelt werden. Bei Pluto funktioniert das nur in sehr bescheidenem Ausmaß, da die Atmosphäre Plutos viel dünner ist und auch weiter in den Weltraum hinausreicht aufgrund der geringen Schwerkraft.“
Waterson meldete sich noch einmal zu Wort: „Noch etwas, Dave. Das Signal ist ein Rechtecksignal und damit mit Sicherheit künstlich. Die Erbauer des Senders wissen sicher auch, dass Rechtecksignale nicht in der Natur vorkommen. Abgesehen davon tauchte das Signal erst auf, als die Funkverbindung zwischen dem Shuttle und der GALILEI beendet wurde. Damit konnte der Sender sich genau auf unsere Frequenz einstellen. Sie wollen also, daß wir ihn bergen, wollten aber unseren Funkverkehr nicht stören. Wir werden daher nicht allzu viele Schwierigkeiten haben, das Ding zu finden. Und es wird für uns ungefährlich sein.“
„Gut, danke. Das wären vorerst mal die Fakten. Von Mission Control haben wir freie Hand bzw. wissen sie nichts von dem Signal. Ich habe nicht vor, sie darüber zu informieren. Die Frage ist daher, wie wir weiter vorgehen sollen?“
„Hinfliegen und nachsehen. Was sollen wir sonst tun?“ meinte Sandler.
„Und das Risiko?“
„Das Risiko beim Start für den Rückflug abgeschossen zu werden, falls wir uns nicht darum kümmern ist genauso vorhanden. In diesem Fall könnten wir aber nichts mehr dagegen tun.“ entgegnete Sandler dem Einwurf Cagliaris.
Norwood wollte gerade etwas sagen, als sich Travers von der Brücke meldete: „ Captain, das Signal ist zum zweiten mal 1% schwächer geworden. Das Intervall der Veränderungen beträgt 1 Minute.“
„Danke, Joana. Bleiben sie wachsam.“
Norwood lehnte sich in seinem Sessel zurück: „Ok, wir haben noch maximal 98 Minuten Zeit, den Sender zu finden, bevor das Signal verschwindet. Eher kürzer, würde ich sagen.“
„Dann sollten wir wohl gleich aufbrechen oder?“ fragte Ngabe.
Norwood sah den jungen Mann mit einem feinen Grinsen an: „Du hast es eilig Jacob. Bedenke, als Experte für Kommunikationssysteme wirst du dabei sein - zusammen mit Steve und Bernardo.“
Ngabes Haut schien eine Nuance heller zu werden, als er erkannte, dass Norwood recht hatte.
Statt den Gedanken einsickern zu lassen, setzte er mit breitem Grinsen noch eins drauf: „Captain, wir können Mission Control aber trotzdem informieren. Bis die antworten sind wir doch schon längst wieder zurück. Und wir müssen rechtzeitig hin, damit wir das Ding finden oder? Die perfekte Ausrede, würde ich sagen ...“
Norwood verstand ihn nur zu gut, aber auch die anderen schienen den Gesichtern nach von der Abenteuerlust gepackt zu werden: „Ok. Dann los mit euch – Steve, Erin und Jacob. Steve mag vielleicht recht haben, aber vergesst nicht euch zu bewaffnen. Wer weiß, was ihr dort draussen findet.“
Was Norwood wurmte war, dass er an Bord bleiben mußte. Es war eine unumstößliche Regel der Flottendoktrin, daß der kommandierende Offizier das Schiff für Ausseneinsätze nicht verlassen durfte. Natürlich gab es immer wieder Kommandeure, die diese Regel mißachteten, aber diese Fälle waren selten. Das Flottenkommando kannte da nur selten Erbarmen.
Kurz nach der Besprechung war das Shuttle auch schon wieder auf dem Weg. Für einen Fußmarsch in den Raumanzügen war die Entfernung mit 320km natürlich zu weit, selbst bei der geringen Schwerkraft Plutos.
Im Tiefstflug flog Cagliari einen Viertelkreis, um den Standort des Mutterschiffes nicht zu verraten, aber er war sich keineswegs sicher, dass es auch einen Sinn hatte. Erst dann ging er auf Zielkurs.
Die Entfernung war für ein raumtaugliches Shuttle harmlos. Sie kamen trotz gemäßigter Geschwindigkeit bereits nach zehn Minuten am geplanten Landepunkt an. Dort setzte Cagliari das Shuttle auf der Eisfläche ab, und sie machten sich für den Ausstieg bereit. Die Raumanzüge waren immer noch schwerfällig. Zusätzlich schleppten sie noch Ausrüstung zur Analyse des Senders und ihre Railguns mit sich. Als Kommandant der Aussenmission hatte er mit dem Gedanken gespielt, ihre Waffen bis auf eine zurückzulassen, aber sollte etwas schief gehen, würde ihn nicht nur Norwood vierteilen.
Über das Shuttle als Relaisstation waren sie per Funk direkt mit der GALILEI verbunden. Die anderen würden also genau mitbekommen, was geschah. Er drehte sich noch einmal zu seinen beiden Begleitern um. Das OK kam per Handzeichen. Damit öffnete er die Innentür des Laderaums und sie begaben sich hinein. Kaum geschlossen startete die unabhängige Schleusensteuerung die Atmosphärenangleichung. Kurze Zeit später waren die Luft im Laderaum und ausserhalb des Shuttles gleich. Mit einem Warnton und einer grün aufleuchtenden Schaltfläche signalisierte die Schleusensteuerung , dass die Aussentür bereit war zum Öffnen.
Entschlossen drückte Cagliari die grüne Taste am kleinen Panel. Ein leichtes Zischen und ein kaum merkbares Rumpeln ging dem Aufschwingen der Laderampe voraus. Dann hatten sie freie Sicht auf die Planetenoberfläche. Cagliari ließ sich den halben Meter vom seitlichen Rand der Laderampe nach unten fallen und kam sachte unten an. Der Boden schien stabil zu sein. Jacob und Steve folgten ihm. Auf der Rampe glitt eine Transportplattform ferngesteuert hinter ihnen her. Darauf befanden sich ihre Analysegeräte.
„Wo geht’s lang Steve?“ fragte Cagliari den Wissenschaftler.
Waterson blickte kurz auf sein Peilgerät bevor er die Richtung angab: „500m in dieser Richtung. Hinter dem kleinen Hügel sollte dann der Sender liegen.“
„Ok, dann los. Wir haben nur mehr 30 Minuten Zeit, das Ding zu finden.“
Sie marschierten mit seltsam langen Schritten los, wie es auf Himmelskörpern mit geringerer Schwerkaft üblich war. Sie hatten das Shuttle in einer kleinen Mulde abgesetzt, um ausserhalb einer direkten Sichtverbindung zum vermuteten Standort des Senders zu bleiben. Auch diese Maßnahme erschien Cagliari eher sinnlos, wenn er bedachte, dass sich im Orbit von Pluto vor wenigen Stunden zwei technisch hochentwickelte Rassen bekämpft hatten. Er war sich ziemlich sicher, dass der Sender von einer der beiden Rassen stammte. Warum sie ihn auf Pluto abgesetzt hatten, konnte er sich nicht vorstellen.
Nach wenigen Minuten hatten sie die knapp 520 Meter zurückgelegt. Der Sender befand sich, wie sie vermutet hatten, am Boden eines kleinen Einschlagkraters. Die Kraterwände strahlten noch etwas Restwärme ab, die sich aber in der Kälte Plutos rasch verflüchtigte.
Das unscheinbare Gerät war eine schlichte Kugel mit einem halben Meter Durchmesser und glänzte metallisch. Sie stand auf drei kleinen Stützen und vier kleine, rechteckige Flächen leuchteten oder blinkten in verschiedenen Farben. Sie gingen noch näher heran, als der Analysator keine gefährlichen Stoffe, Strahlung oder sonstige Energien anzeigte. Erst als sie nicht einmal mehr zwei Meter von dem Objekt entfernt waren, erkannten sie einige feine Linien an der Oberfläche. An mehreren, gleichmäßig verteilten Stellen standen kurze Metallstummel aus der Kugeloberfläche. Geräusche schien das Gerät keine von sich zu geben, aber da die Atmosphäre Plutos sehr dünn war, konnte dieser Eindruck auch täuschen.
Was Waterson erstaunte, war die Tatsache, dass die Kugel trotz Aufprall und Hitze scheinbar keinen Schaden genommen hatte. Als er sich die Kraterwände allerdings genauer ansah, konnte er nicht sagen, ob sie von einem Aufschlag stammten oder von einer ordnungsgemäßen Landung mit Triebwerken. Das Eis auf Plutos Oberfläche würde auch unter der Hitze von sehr kleinen Triebwerken drastisch schnell dahinschmelzen und eine kraterähnliche Struktur bilden.
„Ok, wir sind hier und haben das Ding gefunden. Und was jetzt?“ fragte Ngabe.
„Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Ich sehe an dem Ding keine explizite Öffnungsmöglichkeit. Da wir es aber finden sollen, müßte es eigentlich einen Hinweis geben. Du bist der Kommunikationsexperte Jacob. Was meinst du?“
Als er von dem jungen Offizier keine Antwort bekam, drehte er sich zu ihm um. Hätte er durch das verspiegelte Helmvisier hineinschauen können, hätte er ein völlig ausdrucksloses Gesicht bemerkt.
Ngabe nahm seine Umgebung nicht mehr wahr. In seinem Gehirn entstanden Bilder. Erst langsam und dann wie ein Film. Er konnte sich nicht dagegen wehren, aber es war auch nicht unangenehm. Der Film zeigte, wie eine menschliche Hand mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte, leuchtende Schaltfläche an der Aussenseite der Kugel drückte. Darauf hin glitt ein kleiner Teil der Kugelschale nach innen und gab ein kleines Fach wie den Laderaum eines sehr kleinen Raumschiffes frei. Abschließend verspürte er die mentale Aufforderung, an die Kugel heranzutreten.
„Jacob ... ?“ fragte Cagliari noch einmal.
„Ich ... ich weiß was zu tun ist.“
„Woher?“
„Die Kugel hat es mir gerade gezeigt. Sie hat mir einen Film ins Gehirn projiziert.“
„Lass die dummen Scherze ...“
„Das ist kein Witz. Ich hatte eine von außen gesteuerte Vision. Die gelbe Schaltfläche ist zu drücken, dann öffnet sich ein Fach. Das Fach enthält ein kleines Gerät zur Abspielung von Speicheraufzeichnungen und einen Speicherkristall.“
„Du meinst das ernst, oder?“ fragte Cagliari noch einmal nach.
„Ja.“
„Dave, hört ihr mit? Ich bin dafür, dass Jacob der Vision folgt. Was meinst du?“
Das leise Hintergrundrauschen im Empfänger wurde von Norwoods klarer Stimme durchbrochen: “Wir haben komische Signale auf den Ortungsgeräten. Sie bewegen sich langsam in eure Richtung und erreichen euch in ungefähr fünf Minuten. Entweder ihr macht schnell und verdrückt euch oder ihr wartet ab.“
„Wir beeilen uns. Ok Jacob, dein Spiel. Aber mach schnell.“
Ngabe trat an die Kugel heran. Er mußte sich bücken, um den Schalter erreichen zu können. Entschlossen drückte er die Taste ein und wartete. Ein paar Sekunden später öffnete sich wirklich neben der Taste ein kleines Fach. Seine Hand passte trotz Raumanzug ziemlich genau hinein. Er griff sich das Projektionsgerät und die kleine Box mit dem Speicherkristall.
„Ok, ich hab alles.“
„Abrücken. Auf schnellstem Weg zurück zum Shuttle. Los jetzt.“ ordnete Cagliari an, während Ngabe die beiden Gegenstände noch in einem mitgebrachten Beutel verstaute und an seinem Anzug fixierte.
Sie nutzten die geringe Schwerkraft des Planeten und sprangen mit seltsam gleitenden Sprüngen Richtung Shuttle. Als sie ungefähr die Hälfte der Strecke erreicht hatten, brach hinter ihnen scheinbar die Hölle los. Ein grellweißer Blitz erhellte die Dunkelheit Plutos und die Kugel verglühte in einer Energiekugel. Sie wandten sich kurz um, konnten aber ausser der Leuchterscheinung nichts erkennen. Es schien eine lautlose und sehr begrenzte Explosion gewesen zu sein.
Als die Blendwirkung abklang, konnte Cagliari allerdings drei dunkle Flecken vor dem eisigen Hintergrund Plutos ausmachen, die sich in ihre Richtung bewegten. Er hatte keine Zweifel daran, dass es sich um Außerirdische handelte. Sie schienen menschenähnlich zu sein, denn sie hatten vier Gliedmassen, einen Rumpf und einen Kopf. Soviel konnte er zumindest auf die schnelle und trotz ihrer Raumanzüge erkennen. Die Fremden bewegten sich schneller als sie, denn sie schienen mehr Erfahrung zu haben. Ihre Raumanzüge schienen ebenfalls wesentlich beweglicher zu sein.
Die länglichen Gegenstände in den Händen der Fremden konnte er nicht identifizieren, aber die Haltung war typisch für Waffen. Cagliari wollte es nicht darauf ankommen lassen, die Funktion dieser Gegenstände erfahren zu müssen. Er trieb Jacob und Steven zur Eile. Als sie das Shuttle erreicht hatten sprangen sie gerade noch rechtzeitig in die offene Schleuse, als die ersten Energieblitze um sie herum einschlugen.
Cagliari entriegelte mit der Notsteuerung die Innenschleuse. Nachdem die Atmosphäre des Shuttles durch das offene Schott entwichen war, raste er noch im Raumanzug direkt ins Cockpit und fuhr die Maschinen hoch. Er pfiff auf die Checklist und das ganze andere Prozedere und knallte den Leistungsregler für den Schutzschirm bis zum Anschlag nach oben, als seine Begleiter an Bord waren. Er hoffte nur, die Waffen der Fremden wären nicht stark genug für den Schutzschirm. Die Energieblase baute sich blitzartig auf und erfasste die mittlerweile nur mehr wenige Meter entfernten Fremden. In einem Lichtblitz verdampften die drei Körper. Übrig blieben kleine Wolken, die sich in der dünnen Atmosphäre mit ihren teils kräftigen Winden schnell verflüchtigten.
Die Notenergie des CF-Reaktors hatte ausgereicht, dem Spuk ein jehes Ende zu bereiten. Aufatmend lehnte sich Cagliari zurück. In diesem Moment kamen Waterson und Ngabe ins Cockpit.
„Wo sind sie hin?“
„Im Schutzschirm verglüht.“
„Ach du Schande ...“
„Ok Leute. Wir müssen zurück, bevor noch mehr von denen auftauchen. Steve, schließ die Laderampe und setz das Shuttle wieder unter Atmosphäre. Jacob, du verstaust unsere Souvenirs im Quarantäneschrank. Der Raumanzug bleibt an. Wenn wir unter Beschuss kommen, könnte das lebensrettend sein. Start erfolgt, wenn wieder alles dicht ist.“
Er ging die Emergency-Checklist durch. Die Systeme zeigten grün bis auf die Funkanlage. Anscheinend war die Aussenantenne getroffen worden, denn der Sender und der Empfänger standen unter Strom und schienen auch zu funktionieren, aber das Testsignal vom Sender erreichte den Empfänger nicht. Zur GALILEI kamen sie per Funk auch nicht durch.
Als Steve die Verriegelung der Laderampe meldete, startete Cagliari und flog auf einem meandrierenden Kurs zurück. Er war früher nicht nur Jets geflogen sondern auch Kampfhubschrauber. Er kannte also den Konturflug aus beiden Perspektiven. Die militärisch genaue Geländeabtastung der Ortungssysteme und das in das Helmvisier eingeblendete 3D-Modell des Geländes half ihm, den Weg zurück zum Mutterschiff zu finden und dabei trotzdem möglichst in Deckung zu bleiben. Er nutzte alle Möglichkeiten der Landschaft, das Shuttle verdeckt zu halten. Die Vorsicht erwies sich aber als unnötig. Auf dem Rückweg geschah nichts. Die Crew war darüber nicht gerade unglücklich.
Als die GALILEI in Sicht kam, bemerkten sie, dass ihre Waffen scharf waren. Die Läufe der schweren Railguns richteten sich auf das Shuttle. Da wurde ihnen wieder bewußt, dass ihr Funk nicht funktionierte. Ngabe versuchte es mit dem Helmfunk des Raumanzugs. Der war zwar schwach, aber auf direkte Sichtverbindung und kurze Entfernung rechnete er sich doch einige Chancen aus.
„Homebase, Raider 1.“
„Raider 1, Homebase hier. Hören euch schwach aber gut.“
„Unser Shuttle-Funk ist tot, daher per Helmfunk. Feindkräfte neutralisiert. Bereit zum einschleusen.“
Norwood selbst war am Gerät. Er gab erst nach zwei Sekunden Antwort. Scheinbar hatte er realisiert, was Ngabe mit den neutralisierten Feindkräften gemeint hatte: „Ok Jungs, kommt rein.“
Wenige Minuten später konnten sie das Shuttle verlassen. Ihr Ausflug hatte nur knapp zwei Stunden gedauert, aber sie waren froh, wieder an Bord zu sein. Die Anspannung hinterließ ihre Spuren. Die Raumanzüge verstauten sie wieder im dafür vorgesehenen Magazin und konnten sich in ihren normalen Borduniformen und unter der künstlichen Schwerkraft der GALILEI endlich wieder normal bewegen.
Sie hatten kaum die Brücke erreicht, als Norwood begann, das Schiff wieder zum Leben zu erwecken. Die Tanks für den Katalysebrennstoff waren voll. Als erstes zog er den Sammler wieder ein. Als wieder alle Schotten dicht waren, ging er die Preflight Checklist für einen Start durch und hob die GALILEI dann von ihrem Landeplatz ab.
„Wo willst du hin, Dave?“ fragte Cagliari.
„Eure Angreifer müssen irgendwie hierher gekommen sein. Wer weiß, vielleicht sind noch mehr von denen da.“
„Und wenn du sie findest? Was tust du dann?“
„Sie fragen, ob sie nicht ganz dicht sind, einfach so auf meine Crew zu ballern. Vielleicht ist es aber auch einfach nur ein Mißverständnis.“
Sie fanden das andere Schiff recht schnell. Ihre Materiefernanalysatoren fanden die Metallansammlung fast auf Anhieb. Es war nur einige Hundert Kilometer entfernt gelandet. Besser gesagt war es eigentlich kein Schiff sondern nur ein Beiboot, das etwas größer als eines ihrer Shuttles war. Es war auch nicht gelandet sondern mehr oder weniger abgestürzt, da es scheinbar beschädigt war. Die Schäden konnten nicht von der etwas zu harten Landung sein. Das Beiboot war wahrscheinlich während des Gefechts ausgeschleust worden. Ob es wegen der Sonde gewesen war, die sie gefunden hatten, oder um der Vernichtung des Mutterschiffs zu entgehen, konnten sie nicht sagen.
Auf jeden Fall schien der Gefechtsschaden sie gezwungen zu haben, auf Pluto zu landen. An der Oberseite war die Hülle aufgerissen und einige kleinere Löcher im Rumpf zeugten von Beschuss- oder Explosionsschäden. Die etwas zu harte Landung hatte dem Raumschiff wahrscheinlich den Rest gegeben. Es würde nie wieder starten können.
„Dave, wir haben Änderungen der Energieflüsse in diesem Schiff. Ich denke, sie machen die Kanonen scharf.“
„Zielerfassung auf gegnerische Waffensysteme und Hauptreaktor. Joana, pass mir auf Raketenbeschuss auf.“
„Es öffnet sich eine Luke hinter dem Cockpit. Raketenwerfer fährt aus! Feuert! Einschlag in 5.“ berichtete die junge Taktik-Offizierin.
Das Close-In Weapons System kurz CIWS begann mit den Abwehrlasern zu feuern. Das CIWS erledigte die zwei abgefeuerten Raketen noch rechtzeitig. Die beiden Explosionen erschütterten die GALILEI leicht. Die leichte Railgun gab drei Projektile ab. Die Flugbahnen konnte man in der Atmosphäre zwar sehen, aber bis das Auge sie erfasst hatte, schlugen die Metallwürfel auch schon beim Gegner ein.
„Das kann doch nicht alles gewesen sein?“ fragte Cagliari, als beim anderen Schiff keine Reaktion mehr erfolgte.
„Es rührt sich aber nichts mehr. Raketenwerfer durch direkten Treffer der Railgun zerstört.“ gab Travers zurück.
„Grundsätzlich würde ich sagen nein, Bernardo, aber sie haben Gefechtsschäden und eine harte Landung hinter sich. Gut möglich, dass der Raketenwerfer die letzte brauchbare Bordwaffe war. Abgesehen davon krachen die Railgun-Geschosse dort drüben sicher quer durch das ganze Schiff und treten auf der anderen Seite wieder aus. Die Sekundärschäden werden beträchtlich sein. Wenn es die Würfel dann auch noch zerlegt auf ihrer Flugbahn ...“
Summers klinkte sich per Helmfunk ein, denn sie war nicht auf der Brücke sondern auf ihrer Krankenstation: „Gehen wir hinüber? Ich meine, vielleicht lebt noch jemand.“
Dave antwortete erst nach einigen Sekunden: „Müssen wir wohl. Weg können sie nicht mehr, und sie hier verrecken lassen ist für mich keine Option. Erin und Joana, ihr kommt mit. Volle Kampfausrüstung. Erin, du nimmst noch einen Laserschneider mit.“
Sie landeten nur hundert Meter vom gegnerischen Schiff entfernt. Der Schutzschirm würde wieder eingeschaltet werden, nachdem sie das Schiff verlassen hatten. Norwood wollte zumindest bei ihrer Rückfahrkarte kein Risiko eingehen.
Sie benutzten die Laderampe, denn das würde ein bequemes Ausschleusen und im Notfall ein rasches Einschleusen ermöglichen. Bis der Laderaum allerdings leergepumpt war, dauerte es eine Weile. Einige Minuten später öffnete sich die Rampe dann schließlich doch noch. Bewaffnet mit kurzläufigen Railguns und einem schweren Laserschneider machten sie sich auf den Weg zum anderen Schiff.
Erst jetzt hatten sie wirklich Zeit, das fremde Kleinraumschiff zu begutachten. Die Grundform war ein gedrungener, sechskantiger Zylinder. Es schien aus mehreren Würfeln und eckigen Zylindern zusammengesetzt zu sein. Die Sinnhaftigkeit dieser Bauweise erschloß sich ihnen nicht. Am Heck und auch auf der ihnen zugewandten Steuerbordseite war die Aussenhülle seltsam blauschwarz verfärbt und stellenweise offensichtlich eingedrückt. Landebeine waren nicht zu sehen, das Schiff schien mit dem Rumpf auf dem eisigen kleinen Plateau zu liegen.
„Gefechtsschäden und harte Landung“, sagte Norwood leise.
„Ja, definitiv.“ meldete sich Travers per Helmfunk. Ihre Nervosität schien verflogen zu sein. Norwood konnte bei der jungen Offizierin kein Anzeichen mehr dafür erkennen.
„Dem Verbrennungsmuster nach sollte auch der Rumpf betroffen sein, nur können wir den nicht sehen. Vielleicht liegen sie deswegen auf dem Bauch, anstatt dass sie auf Landebeinen stehen.“, ergänzte Travers.
Sandler hatte mittlerweile ihren Analysator auf die Schiffshülle gerichtet: „Die Hülle besteht aus hochverdichtetem Molybdenstahl. Da drin muss es unheimlich heiss gewesen sein, wenn sich die Aussenhülle so verfärbt und eindellt. Mich wundert, dass da überhaupt noch jemand lebend ausgestiegen ist.“
Norwood musterte immer noch den Schiffsrumpf: „Die Fremden haben zwar eher schlank gewirkt, aber wer weiss, was für eine Konstitution sie haben. Wir kennen ihren Heimatplaneten nicht.“
„Ok, wir arbeiten uns langsam vor. Abstand 30 Meter zur Seite. Erin links von mir, Joana rechts. Los geht’s.“
Breit auseinander gefächert marschierten sie mit vorgehaltener Waffe los. Norwood wollte sich nicht überraschen lassen. Cagliari hatte zwar schnell reagiert, als er den Schutzschirm des Shuttles aktiviert hatte, aber beim nächsten Mal konnte es auch schiefgehen. Er konnte den Schweiß im Raumanzug spüren. Darauf hatte sie niemand vorbereitet. Die Klimaanlage des Anzugs lief auf Hochtouren, um die Feuchtigkeit aus der Atemluft zu filtern.
Als sie dann nur noch zwei Meter vor dem Wrack standen, wunderte es sie nicht mehr, dass nichts passiert war. Das Schiff sah aus der Nähe noch viel schlimmer aus als vorhin aus 100 Meter Entfernung. Der Treffer aus ihrer Railgun hatte ihm wahrscheinlich nur mehr den Rest gegeben.
Sie machten sich auf die Suche nach einer Schleuse. Sandler fand dann schließlich etwas, das so ähnlich aussah und machte sich daran, den Laserschneider einzusetzen. Als Travers einfach an ihr vorbeigriff und eine verdeckte Schaltplatte an der Aussenhülle drückte, rumpelte die Metallwand aber von selbst zur Seite.
„Wir wollen doch nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen ...“ meinte die junge Gefechtsexpertin.
Norwood konnte ihr Grinsen förmlich genauso hören wie Sandlers Unmut, weil sie die Schaltung übersehen hatte. Er gab den beiden keine Chance, daraus eine Diskussion entstehen zu lassen, sondern nahm Sandler mit sich. Die Schleusenkammer fasste nur zwei von ihnen. Travers würde erst mit dem zweiten Durchgang wieder zu ihnen stoßen können.
Als sich das innere Schleusenschott nach dem Druckausgleich öffnete blickten sie zum ersten Mal in ein fremdes Raumschiff. Viele Details waren anders als sie es kannten, aber im Grunde folgte auch diese Konstruktion den physikalischen Grundgesetzen.
Sie verteilten sich im anschließenden Raum. Auch hier fanden sie erstaunliche Ähnlichkeiten zu den Anordnungen im eigenen Schiff. Hinter der Schleuse waren sie in einem Raum herausgekommen, der in Schränken Raumanzüge und diverse Ausrüstungsgegenstände für EVAs (=Extra Vehicular Activity) enthielt. Das reichte von Medkits bis zum Werkzeug. Waffen allerdings schienen auch bei den Fremden extra verwahrt zu werden, da sie in der Rüstkammer keine fanden. Das angenehme Pastellgrün der Wände schien die vorherrschende Farbe an Bord zu sein.
Sandler wollte sich schon die Raumanzüge vornehmen. Bei einer Ingenieurin mit Leib und Seele, konnte Norwood das gut verstehen, aber er winkte ab. Er wollte erst die Sicherheit haben, dass ihnen niemand in den Rücken fallen würde, solange sie an Bord waren. Ihre Ausbildung kam durch, als sie das kleine Schiff durchsuchten. Im Maschinenbereich war die Beleuchtung ausgefallen. In Cockpit, Laderaum und kleinem Aufenthaltsraum funktionierte sie noch so halbwegs. Diese Räume waren auch von Treffern verschont geblieben. In der Maschinensektion würde das anders sein, denn das Schiff lag nicht umsonst am Boden und konnte nicht mehr weg.
Nach einigen Minuten hatten sie jeden Winkel durchsucht, aber niemanden mehr gefunden. Sie nahmen das Cockpit in Augenschein. Die Pilotensitze sahen denen in den eigenen Shuttles recht ähnlich und erinnerten an die Pilotensitze in ehemaligen Kampfflugzeugen. Für die Armaturen galt das gleiche. Eine Mischung aus kleinen Bildschirmen und einigen analogen Anzeigeuhren und Schaltern drängte sich dicht an dicht auf dem Armaturenbrett. Es schien keine Cockpitscheiben für die Sicht nach draussen zu geben. Stattdessen säumten gekrümmte Bildschirme diesen Bereich.
Im Grunde machte das Cockpit zwar einen technisch hochstehenden Eindruck, schien aber mehr auf Haltbarkeit als auf technische Eleganz ausgelegt zu sein. Norwood wunderte das natürlich nicht, das war einfach eine Frage der Zweckmäßigkeit. Er war anfangs vom stylischen und ultramodernen Cockpit der ersten Entwürfe für die neuen Raumschiffe begeistert gewesen. Als er dann aber eine Weile darüber nachgedacht hatte, hatte er sich selbst rasch zu einer ähnlichen Ansicht bekehrt, wie es die Erbauer dieses kleinen Raumschiffs offensichtlich getan hatten.
Sandler sprach nach einigen Minuten aus, was sie alle dachten: „Hm, die sehen uns offensichtlich nicht nur in Raumanzügen ähnlich. Ich meine, das ganze Cockpit könnte für einen Menschen gebaut sein. Die Proportionen stimmen, die Bedienung ... einfach alles. Nur die Farben der Anzeigen variieren etwas. Rot gilt bei denen scheinbar nicht als Warnfarbe sondern Gelb.“
„Wie kommst du darauf?“ fragte Travers nach.
„Ganz einfach. Das Schiff ist ein Wrack. Die meisten Systeme sind tot und trotzdem sind die meisten Anzeigen auf diesem Statusdisplay hier auf Gelb und nicht auf Rot. Grün ist allerdings auch bei ihnen die Farbe für Alles OK.“
„Sucht nach einer Selbstzerstörung. Ich will hier nicht durch eine Bombe oder ähnliches zerlegt werden“ gab Norwood den Befehl aus.
Sandler drehte sich zu ihm um: „Macht keinen Sinn, Dave. Wenn es eine gäbe, wäre es schon passiert. Sie haben einfach nicht damit gerechnet, dass wir sie am Shuttle schlagen könnten.“
„Wahrscheinlich hast du sogar recht. Sie sind also auch ein wenig überheblich. Glaubt ihr, kriegen wir das gesamte Ding in unsere Shuttlebucht?“
„Ohne Eigenantrieb? Wir sind nur 11 Personen. Mit Muskelkraft werden wir das nicht schaffen.“ meinte Sandler sarkastisch.
„Ich dachte eher an Stahltrossen. Wir könnten es per Schwerkraftneutralisator in den freien Raum bringen und dort einfach unser Schiff drüberstülpen.“
Sandler überlegte einige Augenblicke: „Das Ding wird wahrscheinlich einfach in der Mitte auseinanderbrechen. Immerhin ist es schwer beschädigt.“
„Können wir unsere Schwerkraftneutralisatoren vielleicht so konfigurieren, dass wir das Anti-G-Feld auf das Schiff projizieren können und es an Bord holen?“
„Da muss ich erst ein paar Dinge durchrechnen Dave. Du willst doch das Ding nicht mit zur Erde nehmen oder?“
„Mach das. Wir haben keine Eile. Vorerst mal nicht, aber wir werden irgendwann Bericht erstatten müssen an Mission Control. Gut möglich, dass sie das Ding dann haben wollen.“
„Dann wirst du aber ein Shuttle hier lassen müssen, sonst passt das Ding nicht in die Dockbucht.“
„Das geht ok. Wie unsere eigenen Shuttles funktionieren und aufgebaut sind, wissen wir ja. Die nachzubauen sollte kein Problem sein. Die Technik von diesem Ding hier aber ...“
Norwood ließ den Rest ungesagt, aber jeder wußte, was ihm durch den Kopf ging. Das Beiboot einer ausserirdischen Rasse, die technisch weiter entwickelt war als die Menschheit, konnte nur von Vorteil sein.
Sie schauten sich noch eine Weile um, entdeckten aber nichts Aussergewöhnliches mehr. Die Notbeleuchtung gab nicht viel her, denn die fehlende Hauptenergie machte es unmöglich, mehr zu tun, als die Instrumente und Anlagen zu studieren und zu raten, wofür sie gut sein könnten. Für die passionierte Ingenieurin Sandler war das ein frustrierender Zustand. Schwerkraftneutralisatoren waren üblicherweise einfacher gestrickte Maschinen, daher hatte sie sich mit der Hoffnung getragen, sie reapieren zu können. Wenn allerdings der Hauptreaktor funktionsunfähig war, dann wurde die Angelegenheit gleich um einiges schwieriger.
„Andererseits vielleicht besser so. Wer weiß was passiert, wenn wir an den Knöpfen rumspielen würden.“ dachte sie insgeheim.
„Hat von euch schon mal wer auf den Analysator gesehen?“ fragte Travers in die Runde.
„Nein ... Moment, das kann nicht sein oder?“ war Norwood überrascht.
„Doch, die Anzeige dürfte stimmen. Sie haben nahezu die gleiche Atmosphäre wie wir. Der Sauerstoffanteil ist um 3% höher, aber sonst passt es. Der Luftdruck im Schiff ist um 2% höher als unserer. Wir können also die Helme abnehmen.“
Es knisterte kurz auf der Helmfunkfrequenz, als sich Dr. Summers meldete: „Ich halte das für keine so gute Idee. Wir wissen nicht, welche Erreger oder sonstigen Probleme ihr euch damit einhandelt. Sie sind uns scheinbar sehr ähnlich, da dürften ihre Bakterien und Viren auch uns angreifen können.“
Norwood war zwar an sich eher der risikofreudigere Typ, aber dieses Mal mußte er der Ärztin recht geben: „Ok, wir bleiben zugeknöpft. Andererseits ist es gut zu wissen, dass wir Atemluftreserven haben falls nötig.“
Die Erkundung des fremden Beibootes, denn um nichts anderes handelte es sich bei dem kleinen Raumschiff, war nach einer guten Stunde soweit abgeschlossen. Mehr als alles filmen, genau vermessen und dokumentieren konnten sie im Augenblick ohnehin nicht tun. Der Reaktor schien nicht mehr zu funktionieren, und eine Reparatur war ohne Kenntnisse über die fremde Technologie unmöglich. Abgesehen davon schien der Reaktor wesentlich komplexer zu sein, als ihre eigenen an Bord der Shuttles und der GALILEI.
Der Befehl zum Aufbruch kam von Norwood, als sie scheinbar nichts Neues mehr erfahren konnten, ohne an den Knöpfen und Schaltern herumzuspielen. Travers Blick schweifte noch einmal durch das enge Cockpit, als sie sich zum Gehen umdrehte. Ihr Auge erfaßte ein Stück Folie oder Papier am Boden zwischen den Fußpedalen des rechten Pilotensitzes. Umständlich zwängte sie sich im Raumanzug an der Mittelkonsole vorbei zwischen die beiden Pilotensitze. Das Bücken im sperrigen Anzug wurde zur Mühsal, aber sie wollte das Ding haben. Schließlich erreichte sie die Folie mit dem Handschuh, konnte sie aber nicht fassen. Stattdessen drückte sie darauf und zog sie mit der Hand nach vorne, um sie dann aufzuheben. Es handelte sich um eine papierähnliche Folie in Handtellergrösse. Eine Seite war in hellem Grau gehalten. Travers drehte die Folie um und erstarrte.
Erst nach gut einer Minute bemerkte sie die drängenden Rufe ihrer Teammitglieder im Helmfunk. Als sie nicht antwortete, machte Norwood kehrt und ging von der Schleuse wieder zurück ins Cockpit. Er sah Travers einfach da stehen und auf etwas starren, das sie in der Hand hielt.
„Was hast du da gefunden, Joana?“
Sie gab keine Antwort, sondern reichte ihm einfach nur die Folie. Norwood blickte darauf und konnte es nicht fassen. Er sah ein völlig menschliches, weibliches Gesicht allerdings mit hellblauer Hautfarbe. Auch ihm stand der Mund vor Staunen offen. Nach einigen Momenten fasste er sich aber wieder und gab ihr das Foto, denn um ein solches handelte es sich offenbar, zurück. Norwood machte ein Foto des Bildes bevor er es in eine kleine, durchsichtige Kunststofftasche gab und diese luftdicht verschweisste.
„Wir nehmen es mit. Und dann komm, wir gehen.“ sagte er nur zu ihr.
Irgendwie wurde ihm diese ganze Mission unheimlich. Die Abfolge der aussergewöhnlichen Ereignisse schien kein Ende zu nehmen. Er hatte eine dieser typischen Standardmissionen für Planetenerkundung erwartet und nun warf ihn die Wirklichkeit in einen Strudel aus Ereignissen hinein, den selbst er nicht erwartet und sich auch im Entferntesten nicht gewünscht hatte. Er hoffte nur, dass er die Herausforderung bewältigen konnte. So sicher war er sich dessen nämlich nicht mehr. Seine Selbstsicherheit, die alle Piloten antrainiert bekamen, zerbröselte zusehends Stück für Stück. Auf seine Crew hingegen war er stolz. Die Mannschaft hatte sich bisher sehr gut gehalten, obwohl sich wahrscheinlich jeder so seine Gedanken machte.
Als sie wieder an Bord der GALILEI waren, gab er Cagliari den Auftrag, einen vollständigen Bericht mit allen Daten zu erstellen. Das Foto ließ er ihn ebenfalls hinzufügen. Abhängig davon, was Mission Control mit dem Befehl zur Informationssammlung gemeint hatte, mussten sie mit ziemlicher Aufregung rechnen. Es konnte auch ein Kriegsgericht für sie bedeuten, allerdings war sich Norwood sicher, dass eine solche Verhandlung mit einem Freispruch enden würde. Sie waren sich sicher, dass die Antwort auf sich warten lassen würde, denn die Ereignisse waren zu überraschend und auch überstürzt eingetreten. Intensive Beratungen bis in höchste politische Kreise würden die Folge sein.
Diese Stunden nutzten sie, um ihren eigentlichen Forschungsausftrag weiter zu verfolgen. Die bereits vor dem Anflug auf den Sender vorbereitete seismische Sprengung wurde durchgeführt und das künstliche Mikroerdbeben vermessen und ausgewertet. Die bisherigen Theorien über den Aufbau Plutos wurden im Großen und Ganzen bestätigt. Nur einige Details hatten sich etwas verschoben in ihren Werten. Trotzdem waren Carlson und seine Wissenschaftler hellauf begeistert, als sie die Daten zu Gesicht bekamen.
Als der Zeitpunkt für die erste mögliche Antwort dann endlich da war, verpassten sie ihn beinahe, was aber nicht weiter tragisch erschienn, denn die Antwort von Mission Control ließ weiter auf sich warten. Sie waren alle intensivst beschäftigt und die Funküberwachung registrierte keinen Eingang. Norwood schaute dann schlußendlich auf die Uhr, sagte aber nichts. Stattdessen brummte er irgendetwas Unverständliches in seinen 3-Tage-Bart und half Carlson weiter mit der Programmierung der Auswertungsalgorithmen für die Datensammlung.
Erde, 15.07.2101
Der Bericht von der GALILEI schlug im Kennedy Space Center wie eine Bombe ein. Von einem Moment zum anderen wurde der gesamte Informationsfluß nach aussen unterbrochen. Marines besetzten das Gelände und schirmten es mit geladener Waffe ab. Niemand wurde hineingelassen und niemand konnte das Gelände verlassen.
NASA-Director O‘Neele konnte auch nichts Anderes tun, als wieder einmal zum Präsidenten zu marschieren um Bericht zu erstatten. Bestürzung zeichnete sich auf den Gesichtern ab, als er berichtete, was die GALILEI-Crew erlebt hatte.
„Mr. President, die Tatsache dass wir im Universum nicht alleine sind, war zu erwarten. Das trifft uns wohl kaum unerwartet. Dass es gerade jetzt passiert, sollte auch nicht gerade überraschen. Wir strecken das erste Mal mit wirklich potenten Raumschiffen unsere Fühler bis an die Grenze unseres Sonnensystems aus. Dass das einem aufmerksamen Raumfahrer, der vielleicht wesentlich weiter entwickelt ist als wir und zufällig vorbeikommt oder uns beobachtet, auffallen muss, ist auch logisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Regierung dafür noch keine Vorsorge getroffen hat. Was allerdings ausserordentlich erstaunlich ist, ist die Ähnlichkeit des einen Wesens auf dem Foto mit einer menschlichen Frau unseres Planeten. Nur die Hautfarbe ist eine andere.“
„Erklären sie das bitte genauer Director.“ verlangte Aussenminister Mearse.
„Gern. Wir produzieren seit über 160 Jahren Radiostrahlung in Form von Fernsehen, Radio, Funk, etc. All diese Strahlung breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus.“
„Aber je weiter weg, desto schwächer wird sie oder?“ warf Mearse ein.
„Grundsätzlich stimmt das Mr. Secretary, aber wenn man Geräte hat, die genau genug sind, dann kann man unsere Radiosignale noch in 160 Lichtjahren Entfernung bemerken. Mag sein, dass man sie nicht entziffern kann und auch nicht versteht, aber man weiß mit Sicherheit, dass sie künstlich sind. Wenn sie um die Sonne eine Kugel mit einem Radius von 160 Lichtjahren legen, dann befinden sich darin Tausende Sterne. Einige davon tragen sicher Leben, oder sind von Rassen, die weiter weg zuhause sind, kolonisiert worden. Wenn dort auch nur irgendwo ein brauchbarer Radioempfänger steht, dann wissen sie von uns. Etwas Ähnliches wie das alte Arecibo-Radioteleskop würde da mehr als ausreichen.“
„Dagegen kann man wohl nichts tun.“ merkte Mearse an.
„Nein Sir. Wir könnten ab sofort alle Strahlung einstellen und hier wieder wie in der Steinzeit leben, aber die bereits ausgesendeten Signale kann man nicht zurückholen.“
„Und wieso ist die Ähnlichkeit der Fremden mit uns so aussergewöhnlich?“ fragte Mearse nach.
„Wir haben mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die gleichen Vorfahren. Bedenken sie, dass diese Wesen aus einem anderen Sonnensystem kommen. Da wir von ihnen bisher noch nichts bemerkt haben, ist es meiner Einschätzung nach mindestens 100 Lichtjahre weit weg. Und trotzdem finden wir eine Rasse vor, die uns sehr ähnlich zu sein scheint. Eine derartige Parallelentwicklung in der Biologie ist so unwahrscheinlich, dass sie mit einer Pistole eher eine Mücke auf dem Mond treffen.“ erklärte O’Neele.
„Wieso? Sie haben ja offenbar eine ähnliche Heimatwelt. Atmosphäre und Schwerkraft müssen der Erde sehr ähnlich sein laut Norwoods Bericht.“
„Mr. Secretary, Schwerkraft und Atmosphäre sind nur zwei von hunderten Parametern, die alle Einfluss auf die Erbmasse und ihre Entwicklung über Jahrmillionen haben. Eine solche Parallelentwicklung ist so gut wie unmöglich.“
Präsident Atkinson stützte seine Unterarme auf den glänzenden Schreibtisch. Er unterbrach die fruchtlose Diskussion: „Dann bleibt also nur die Frage zu klären, was wir tun. Das Wann wurde schon von den Fremden geklärt. Sehe ich das richtig?“
Carmen Moore, die Sicherheitsberaterin des Präsidenten, pflichtete ihm bei: „Ja, ich denke wir sollten schnellstens handeln.“
„Aber alleine als USA werden wir nichts erreichen, Mr. President.“ meinte Mearse etwas verzweifelt angesichts des Eifers des Präsidenten.
„Ich weiß, auch mit unseren Verbündeten werden wir es nicht schaffen. Wir brauchen eine globale Anstrengung als menschliche Rasse. Wir müssen nämlich davon ausgehen, dass die Fremden auch als Rasse in der Galaxis auftreten und nicht als verschiedene Nationen einer Rasse.“
Seine Berater waren fassungslos ob der Vision ihres Präsidenten.
„Mr. President, das läßt sich aber nicht in zwei oder drei Jahren umsetzen – nicht einmal in zehn Jahren.“ gab Mearse zu bedenken.
„Ja, ich weiß. Wir brauchen einerseits einen Aktionsplan für die nächsten 50 oder gar 100 Jahre und andererseits einen für die notwendigsten Maßnahmen innerhalb der nächsten Monate. Weiters brauchen wir auch einen mittelfristigen Plan für sagen wir die nächsten fünf Jahre.“
In dieser Hinsicht waren sich alle einig. Als Ergebnis der Sitzung setzte Atkinson einen Krisenstab ein, der kurzfristige Notfallmaßnahmen ausarbeiten sollte. Zusätzlich sollte dieser Stab auch die mittelfristige Planung übernehmen.
Die erste Maßnahme des Krisenstabs war der Befehl an die GALILEI, das fremde Schiff zum Mond zu bringen. Die Entscheidung war innerhalb von wenigen Stunden getroffen worden, was angesichts der Brisanz des Themas sehr schnell war.
Auf der Mondrückseite wurde schon seit längerem an einer permanenten Forschungsstation gearbeitet. Der ursprüngliche Zweck hätte zwar ein anderer sein sollen, aber der Umbau der Labors und anderer Einrichtungen auf Materialwissenschaft und Engineering würde nicht allzu schwierig sein. In Windeseile wurde auf dem Mond der kleine Landeplatz für die Frachtschiffe von der Erde vergrößert, sodaß auch die GALILEI würde landen können. Zwei neue Hangars wurden neben den zwei bereits vorhandenen ebenfalls geplant. In einer Blitzaktion wurde der schon bestehende Hangar 1 zu einem Hochsicherheitstrakt umgebaut und mit entsprechenden Anlagen zur Überwachung und Zutrittskontrolle versehen. Eine Wachkompanie Marines wurde zusätzlich gleich daneben im Mannschaftsquartier untergebracht und mit allem ausgerüstet, was man für die Objektsicherung brauchte. Ein rasanter Ausbau des Stützpunkts wurde ebenfalls geplant, denn auch die Wissenschaftler und Ingenieure würden Platz brauchen.
Mittelfristig wurden die Ingenieure mit Projekten zur Konstruktion von automatisierten Plattformen für interplanetare Ortungs- und Waffensysteme beauftragt. Diese kleinen Raumstationen sollten unbemannt bleiben, aber im Sonnensystem auf der Ekliptik gleichmäßig verteilt werden. Waffensysteme für den Raumkampf waren bereits in der GALILEI verbaut worden, aber die Wirkung kannte man nur aus Waffentests. Da man den Gegner und seine Technik nicht kannte, waren diese Erkenntnisse wahrscheinlich nicht allzu viel wert.
Ein Gremium aus Diplomaten und Wissenschaftlern übernahm schließlich das Projekt United. United würde nichts Geringeres zum Ziel haben, als die Menschheit unter einer Weltregierung zu vereinen. Die erste Maßnahme der US-Regierung würde die Kontaktaufnahme mit dem UN-Generalsekretär Ludwig Bergheimer sein. Er sollte als erster die Neuigkeiten erfahren. Gemeinsam mit der UNO und dem UN-Sicherheitsrat würde man ein Konzept ausarbeiten, um die bisher größte diplomatische Herausforderung der Menschheit auf den Weg zu bringen. Das Treffen würde in den nächsten Tagen im UN-Hauptquartier in New York stattfinden. Bergheimer, der grundsätzlich Deutscher war, hatte sich mit New York als neuem Wohnsitz angefreundet und erledigte die meisten Agenden seiner Aufgabe vom Hauptquartier aus.
Tags darauf reiste Außenminister Martin Mearse inkognito als ganz normaler Geschäftsmann mit Privatjet von Washington nach New York. Der Learjet mit privater Registrierung aus dem Fundus der CIA wurde unauffällig in einem Hangar geparkt und der vorgeschriebenen Routineinspektion unterzogen. Am Privatterminal des La Guardia in New York bestieg er ein Flughafentaxi und ließ sich zum UN-Hauptquartier chauffieren. Der Fahrer erkannte ihn nicht oder es war ihm egal, wen er da als Fahrgast im Wagen hatte.
Mearse wollte schon einige Akten durchgehen, als ihm einfiel, daß die Fahrt wohl nicht allzu lange dauern würde, außer sie gerieten in einen der häufigeren Staus. Er hatte ausdrücklich um einen Termin gegen 15:00 Uhr Ortszeit ersucht, daher war die Wahrscheinlichkeit eines Staus dann doch recht gering. Zu den üblichen Stoßzeiten wäre es allerdings schwierig gewesen. Dieses Phänomen kannten so gut wie alle größeren Städte.
20 Minuten später war er vor Ort. Das UNO-Hauptquartier kannte er gut, denn er war schon öfter hier gewesen. Als er den Portier ansprach, riß dieser die Augen auf, denn es war ihm kein Besuch dieser Bedeutung angekündigt worden. Schließlich tauchte der Außenminister der USA nicht einfach so an einem Tor auf und begehrte Einlaß. Er ließ beim Generalsekretär rückfragen. Als Bergheimer dann noch anordnete, den Gast möglichst rasch in sein Büro zu bringen, blieb ihm nichts anderes übrig, als einen Mann der Wache mitzuschicken. Die Verwirrung des Portiers löste sich damit nicht auf und Mearse selbst wollte dazu auch nichts beitragen.
Mearse wurde von Bergheimer recht formlos per Handschlag empfangen. Sie kannten sich aus dem diplomatischen Dienst schon seit Jahren. Als der Wachsoldat das Büro wieder verlassen hatte, kam Bergheimer gleich zum Thema.
„Was ist so dringend, Martin? Sie waren mit Informationen ja nicht sonderlich großzügig.“
„Wie sie wissen, haben wir eine bemannte Expedition zum Pluto geschickt. Es gibt Neuigkeiten von dort, die unserer Ansicht nach die UNO als erstes wissen sollte. Ich habe ihnen eine Disk mit Video- und Datenmaterial mitgebracht. Sie sollten sich das Material ansehen.“
Bergheimer blieb stehen und blickte Mearse für einige Sekunden tief in die Augen.
„Also ist es passiert.“, stellte er dann einfach fest.
Als Mearse ihn fragend anblickte, lehnte sich Bergheimer mit einem Seufzen in seinen hochlehnigen Ledersessel zurück und setzte fort.
„Wir haben Kontakt mit Fremden, mit Ausserirdischen.“
„Ja. Die Geschichte ist zwar nicht ganz so einfach, aber die Quintessenz stimmt.“
„Werden wir Krieg im Weltraum führen?“
Mearse überlegte einige Sekunden: „Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall gibt es auch im Weltraum bewaffnete Konflikte. Die GALILEI wurde nicht hineingezogen in das Gefecht zweier Raumschiffe, konnte es aber beobachten. Wir waren also nicht daran beteiligt, aber das kann durchaus noch kommen. Und im Moment hätte die Menschheit einem Angriff von außen nichts entgegenzusetzen.“
„Ich nehme an, ihre Regierung hat sich dazu schon Gedanken gemacht?“
„Ja. Der Menschheit wird nichts Anderes übrig bleiben, als zu einer globalen Rasse zu werden. Anders sehen wir keine Chance. Auf die Befindlichkeiten einzelner Staaten kann hier keine Rücksicht mehr genommen werden, sonst sterben wir aus. Wir denken, die UNO sollte diese Aufgabe federführend in einem langfristigen Projekt in die Hand nehmen.“
Bergheimer überlegte sichtlich eine Weile: „Warum wollen die USA es nicht selbst in die Hand nehmen?“
„Wie glaubwürdig wären wir im Rest der Welt außerhalb von Nordamerika und der EU?“
„Wenig. Wohl jeder würde annehmen, dass die Amerikaner die Weltherrschaft übernehmen wollen.“
„Eben. Darum die UNO. Dazu kommt noch, dass derzeit Indien den Vorsitz im Sicherheitsrat führt, was ich in díesem Fall durchaus als positiv werte. Wir überlassen es auch der UNO, die Menschheit zu informieren. Wir helfen gern beratend, wenn das gewünscht wird, aber das war es dann auch schon.“
„Sie bürden uns damit eine unglaubliche Aufgabe auf, Martin.“
„Präsident Atkinson und seine Berater wissen das. Wir wissen aber auch, dass die Menschheit mit ihrer derzeitigen Struktur der Nationalstaaten keine Chance gegen eine außerirdische Rasse hätte. Die Raumfahrt- und Forschungsprogramme sind jetzt schon kaum noch zu finanzieren und dabei sind die USA und die EU noch die wohlhabenderen Gegenden. Ohne eine globale Regierung wird es nicht gehen. Dass dieser Prozess ein langwieriger sein wird, ist uns allen bewußt.“
„Was von dem Datenmaterial darf ich verwenden?“ fragte Bergheimer.
„Alles, wenn sie wollen. Wir werden versuchen, das fremde Kleinraumschiff zu bergen, aber wir wissen nicht, ob es das überstehen wird. Es ist im Gefecht beschädigt worden und hat eine Bruchlandung gebaut. Und wir mussten es auch beschiessen. Auch könnte immer noch ein Selbstzerstörungsmechanismus eingebaut sein. Wir wissen es einfach nicht. Die GALILEI wird nach ihrer Rückkehr auf dem Mond unter Quarantäne gestellt. Wir bereiten auf unserem neuen Stützpunkt dort gerade alles dafür vor.“
„Wann erwarten sie das Schiff zurück?“ wollte Bergheimer wissen.
„Geplant ist die Rückkehr in zwölf Tagen. Sie würden dann aber schon in elf Tagen aufbrechen. Die Frage ist, ob wir sie nicht schon früher zurückbeordern sollen. Ausserdem sind sie mit den geplanten Tätigkeiten natürlich weit im Rückstand aufgrund der Ereignisse.“
„Hm ... und wenn sie die Crew einfach alle geplanten Aktivitäten durchführen lassen? Dann kommen sie eben ein oder zwei Tage später zurück. Das läßt sich leicht begründen. Die Chance, die Gegend rund um Pluto genau zu untersuchen, sollten wir nutzen. Und wir haben etwas länger Zeit nachzudenken.“ schlug Bergheimer vor.
„Das haben wir bereits in Erwägung gezogen. Für die NASA wäre das ok und technisch spricht nichts dagegen. Wir werden es der Crew vorschlagen.“
„Haben sie bezüglich der Fremden schon etwas unternommen?“
„Ja. Präsident Atkinson hat drei Projekte starten lassen. Das erste ist ein Krisenstab, der einen Zeithorizont von sechs bis zwölf Monaten hat und die dringendsten Maßnahmen umsetzen soll. Das zweite Projekt ist die Planung und Umsetzung von Maßnahmen für die Verteidigung innerhalb der nächsten fünf Jahre. Das langfristigste Projekt ist die Vereinigung der Menschheit mit einem Horizont von 50 Jahren.“ führte Mearse aus.
„Ich fürchte, so schnell wird es mit der Menschheit nicht gehen.“ antwortete der Generalsekretär.
„Und ich fürchte, es wird so schnell gehen müssen. Wir müssen es versuchen. Ich muss sie jetzt leider wieder verlassen. Sollten sie irgendetwas brauchen, wissen sie ja, wie sie mich erreichen können. Präsident Atkinson ist ebenfalls jederzeit für sie erreichbar.“
„Vielen Dank für ihren Besuch, Martin, und auch für das Vertrauen der USA in die UNO.“
Sie schüttelten sich die Hände und dann machte sich Mearse wieder auf den Rückweg. Damit war UN-Generalsekretär Ludwig Bergheimer wieder allein. Ganz hatte er die umwälzenden Nachrichten noch nicht verdaut und es würde wahrscheinlich auch noch eine Weile dauern.
Vor drei Jahren war der letzte Golfkrieg zu Ende gegangen. Der Iran hatte versucht, den Irak zu erobern. Eine Koalition von fast allen Staaten der Erde hatte sich dem entgegen gestellt. Die Invasion hatte rasch mit einem Hinauswurf der iranischen Truppen geendet. Wenige Tage darauf waren einige iranische Generäle an verschiedensten Ursachen verstorben. Die Staatengemeinschaft hatte ein sehr deutliches Zeichen gesetzt. Separatistisch motivierte Bürgerkriege waren in den letzten 100 Jahren an der Tagesordnung gewesen. Immer wieder hatte es große Naturkatastrophen gegeben. Aufgrund der immer besser werdenden Frühwarnsysteme konnten zwar Millionen Opfer verhindert werden, aber perfekt waren diese Systeme natürlich auch nicht.
Bergheimer hatte also schon einiges miterlebt, immerhin arbeitete er seit 35 Jahren für die UNO, aber diese Situation schlug bei Weitem alles bisher Dagewesene. Noch hatte er keine Ahnung, wie er weiter vorgehen sollte. In diesem Fall vertraute er niemandem, auch nicht seiner engsten Vertrauten Camille Moinet, die ihn als Assistentin die letzten 20 Jahre ständig begleitet hatte. Zu umwälzend waren die Neuigkeiten. Stattdessen zog er in Erwägung den UN-Sicherheitsrat zu einer dringlichen Sitzung einzuberufen. Die Mitglieder würden allerdings eine Agenda erwarten, die er nicht liefern konnte, ohne das Thema gleich in die gesamte Welt hinauszuposaunen.
Eine andere Möglichkeit wäre eine Tour zu allen derzeit im Sicherheitsrat vertretenen Staatsoberhäuptern. Das würde allerdings eine Weile dauern, denn dazu mussten erst Termine und Reisepläne erstellt werden. Andererseits ließ sich diese Tour vorerst durchaus auf die aktuellen vier Machtblöcke Euro-Amerikanische Union, Asiatische Volksrepublik, Südpazifische Föderation und Vereinigte afrikanische Staaten beschränken. Die politische Situation in Mittel- und Südamerika war durch Bürger- und Drogenkriege zu verworren, sodaß hier kaum sinnvolle Gespräche geführt werden konnten. Diese Regionen waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Er beauftragte also seine Assistentin mit der Erstellung eines Reiseplans und den Terminvereinbarungen. Bergheimer stellte auch klar, dass es wichtig und dringend wäre.
„Was wird der Inhalt der Gespräche sein, Ludwig?“ fragte Moinet nach.
„Den Inhalt kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht darlegen. Sag den Leuten, es wäre streng geheim. Das wirkt meistens und im Grunde stimmt es ja auch.“
Als Moinet das Büro wieder verlassen hatte, goß sich Bergheimer einen guten irischen Scotch ein und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Er lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und ließ die Ereignisse auf sich wirken. Der Whisky erzeugte eine wohlige Wärme im Magen, die sich langsam ausbreitete. So konnte er sich etwas besser entspannen und in Folge auch besser nachdenken. Dann begann er sich erste Notizen für die Gesprächsstrategien zu machen. Jeder der vier Gesprächspartner würde eine andere Strategie im Gespräch erfordern. Da er alle vier Vertreter schon einige Jahre kannte, würde das kein Problem für ihn sein. Den australischen Premierminister als Vertreter des Ozeanischen Blocks konnte er zum Beispiel sehr direkt mit dem Problem konfrontieren. Die Asiaten waren allerdings eine andere Geschichte ...
Zwei Tage später kam seine Assistentin wieder zu ihm und legte ihm einen Reiseplan vor. Der erste Flug würde ihn nach Canberra in Australien bringen. Die Südpazifische Föderation unterhielt zwar grundsätzlich ein eher distanzierteres Verhältnis zur Euro-Amerikanischen Föderation, kam aber von der Kultur her noch am ehesten an diese heran. Kanzlerin Brenda Jackson hatte ihm einen zweistündigen Termin eingeräumt. Er war sich sicher, dass dieser Termin länger dauern würde, wenn erst mal das Thema auf dem Tisch war.
Pluto, 15.07.2101
Als die Nachricht eintraf, die Mission trotz aller Vorfälle wie geplant durchzuführen, konnte es Norwood kaum fassen.
„Was, verdammt noch mal, ist an Pluto so wichtig? Wir haben hier für die Menschheit höchst wichtige Daten und sollen uns mit der Erkundung Plutos beschäftigen? Das ist doch irre!“ brachte Sabato Norwoods Gedanken impulsiv zum Ausdruck. Der Italiener in ihm kam wieder mal zum Vorschein.
Norwood nickte: „Ich gebe dir recht Roger, aber so ist nun mal die Lage.“
Waterson meldete sich zu Wort: „Daraus folgt aber, dass wir noch ein paar Tage hier sein werden, denn wir sind mit unseren geplanten Arbeiten im Rückstand.“
„Dann gebt mal Gas, Leute.“ befahl Norwood burschikos.
„Wir werden uns beeilen.“ antwortete ihm Waterson.
„Grundsätzlich ist das ok, aber übertreibt es nicht. Mir ist lieber, wir bringen seriöse Ergebnisse mit, als dass wir ein oder zwei Tage früher aufbrechen. Wir haben keine Engpässe was Versorgungsgüter, Technik oder Fusionsbrennstoff betrifft. So gesehen macht es auch keinen Unterschied, ob wir noch eine Weile länger bleiben oder nicht.“
Die Hyperfeldtechnologie hatte auch die Versorgungsfrage im Weltraum gelöst, denn der Schub der Impulstriebwerke war so gewaltig, dass es kein Problem darstellte, an einem Raumschiff einige Tonnen mehr Gewicht zu haben oder auch nicht. Verglichen mit früheren Astronauten waren sie also bestens versorgt. Nur die psychische Belastung konnte zum Problem werden. Er würde mit Dr. Summers ein Gespräch führen müssen. Summers mochte ja eine ziemlich kratzbürstige Person sein, aber sie war trotz eines Charakters wie ein Grizzley ein Profi in ihrem Job. Norwood schickte ihr per Interkom einen Termin für den nächsten Tag und buchte den Besprechungsraum für eine Stunde am Morgen. Die anderen würden ohnehin mit den geplanten Experimenten beschäftigt sein.
Sie arbeiteten nun schon den vierten Tag wie besessen, um möglichst rasch von dieser Eiskugel namens Pluto verschwinden zu können. Nicht nur ihre Umgebung war auf gewisse Art und Weise bedrückend, sondern ihre ganze Situation.
Die Sonne war so weit entfernt, dass sie kaum Licht verbreitete. Man konnte sie nur noch mit viel gutem Willen als Scheibe erkennen. Es war also irgendwie ständig dunkel auf Pluto. Niemand wußte, ob nicht doch noch ein fremdes Raumschiff auftauchen und sie angreifen würde. Dazu kam, dass die bisherigen Ereignisse sie ziemlich gefordert hatten – nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Ihre Vorstellungswelt war mehrmals verändert worden während dieser Mission.
Bisher hatte Norwood jede Benutzung des Geräts untersagt, das sie in der kleinen Kugel gefunden hatten, aber er spürte die steigende Neugier der Crew herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Bisher hatte er es geschafft, die Crew durch Arbeit abzulenken, aber die Unruhe wurde mit jeder Stunde spürbarer. Spätestens auf dem Heimweg würde er nachgeben müssen. Ngabe hatte während seiner Vision keine Informationen über die Inhalte des Speicherkristalls erhalten, sondern nur zur Bedienung des Geräts. Er musste diese Angelegenheit in geregelte Bahnen lenken, daher rief er die Crew am fünften Tag nach dem Mittagessen zu einem Meeting im Konferenzraum zusammen.
„Ihr habt vielleicht bemerkt, dass für heute keine Arbeiten mehr geplant sind. Das hat einen guten Grund. Wir werden nach dieser Besprechung alle bis 16:00 Bordzeit eine Ruhephase einlegen. Danach werden wir uns mit dem Projektionsgerät und dem Kristall beschäftigen, die Jacob aus der kleinen Kugel geborgen hat. Wir sind ein Team und werden das auch als Team tun. Fragen oder Anmerkungen dazu?“
„Hat irgendwer eine Ahnung, was auf dem Kristall für Daten sein könnten?“ wollte Michelle wissen.
Jacob schaute sie an: „Nein. Meine Vision enthielt keine Information über die Inhalte, sondern nur zur Bedienung.“
Waterson meldete sich ebenfalls zu Wort: „Ausgehend von der Tatsache, dass die Hersteller dieses Geräts und des Kristalls höher entwickelt sind als wir, können wir mit ruhigen Gewissen annehmen, dass der Kristall wesentlich mehr Daten enthält, als wir uns vorstellen können. Wie lange wollen wir uns damit beschäftigen? Wir haben schließlich nicht ewig Zeit. Was passiert mit den Gegenständen auf dem Rückflug und was danach?“
„Wie meinst du das ... danach?“ wollte Carlson wissen.
„Was wenn darauf Daten für hochentwickelte Waffen oder ähnlich Gefährliches ist? Wem geben wir sie dann? Rücken wir sie überhaupt raus, oder wäre es besser die Daten zu vernichten?“ ergänzte Waterson die Diskussion um seine Gedanken. „Die Auswirkungen dieser Informationen werden mit Sicherheit ein politisches Erdbeben auslösen. Wie solche Erschütterungen enden können, wissen wir ja.“
Ja, die Menschheit hatte in ihrer Geschichte schon viele politische Erdbeben erlebt. Bisher waren sie aber immer von Menschen selbst ausgelöst worden und daher hatte sich immer irgendwann irgendwie eine Lösung gefunden. Wie das bei einem Einfluß von Ausserirdischen sein würde, konnte die Crew nicht abschätzen und Norwood war sich sicher, dass das auch auf der Erde selbst niemandem gelingen würde.
Die Diskussion ging noch eine Weile weiter, brachte aber kein einheitliches Stimmungsbild. Für Norwood war es trotz allem insofern interessant, weil er sich ein Bild der Crew und der Meinungen machen konnte. Schließlich verabschiedete er alle Crew-Mitglieder und schickte sie in die angekündigte Ruhepause. Er bemerkte die unterdrückte Neugier in den Augen der Besatzung. Die meisten von ihnen hätten sich nur zu gern gleich mit den Daten beschäftigt, aber Norwood hatte es anders befohlen und er würde dabei bleiben. Jetzt einen Rückzieher zu machen, würde der ganzen Mission wesentlich mehr schaden, als die Ungeduld der Crew.
Sie hatten noch zwei Stunden Zeit zur Erholung. Norwood zog sich in seine kleine Kabine zurück. Sie war genauso groß wie alle anderen Kabinen, lag allerdings direkt neben der Brücke. Im Tresor lagen der Kristall und das zugehörige Gerät. Er hatte keine Vorstellung, wie es funktionierte oder zu bedienen war. Sie waren in dieser Hinsicht auf Jacob angewiesen. Dieser war allerdings ein sehr umgänglicher Mensch und dachte wohl nicht im Traum daran, persönlichen Nutzen aus seinem einmaligen Wissen zu ziehen.
In seiner Kabine konnte er die anderen Crewmitglieder hören, als sie sich im Besprechungsraum nebenan einfanden. Sie machten irgendwie einen aufgekratzten Eindruck. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Als er mit dem kleinen Gerät und der stabilen Kunststoffbox mit dem Kristall ebenfalls in den Besprechungsraum trat. Stille breitete sich aus.
Er nickte der Crew zu und stellte das Gerät auf den runden Tisch. Die Kristallbox stellte er daneben. Scheinbar gelassen setzte er sich in den für ihn bestimmten Sessel am Tisch und wartete bis auch alle anderen Platz genommen hatten.
„Sind wir alle soweit?“ fragte Norwood dann in die Runde. Alle nickten einfach nur. Er sagte dann nur: „Jacob?“
Der Afroamerikaner stand auf und öffnete die Kristallbox. Er nahm den einzigen Kristall heraus und setzte ihn in ein kleines Fach des Geräts ein. Dann drückte er noch eine der Tasten und setzte sich wieder.
In dem Gerät summte und klickte es für einige wenige Sekunden, dann begann eine Stimme in akzentfreiem Englisch zu sprechen. Sie ließ sich keinem Geschlecht zuordnen, während ein Hologramm über dem Projektionsgerät eine simple Kugel zeigte: „Lebewesen des Planeten Erde, hört die Botschaft des Volkes der Zalden ...“
Staunen kam in der Crew auf. Nicht wegen der Sprache oder der holographischen Darstellung, denn all das gab es auf der Erde in diversen Hightech-Institutionen schon. Was sie erstaunte, war die Perfektion der englischen Sprache, die das Gerät scheinbar mühelos verwendete. Das deutete darauf hin, dass die Zalden die Menschheit schon eine ganze Weile beobachteten.
Die Stimme bezeichnete sich selbst als Szuan Chel und erzählte etwas mehr als eine halbe Stunde, dass die Menschheit bald einen Reifegrad erreichen würde, der es für andere Rassen sinnvoll erscheinen lasse, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Gleichzeitig wurde erklärt, dass die Zalden für die Menschheit ein Informationspaket auf einem Planeten eines bestimmten Sonnensystems hinterlegt hätten. Die Menschen müssten den Flug dorthin selbst schaffen, um es abholen zu können. Den Sternkonstellationen nach konnte sich Norwood keinen Reim auf das Sonnensystem machen, doch die Projektion gab die Entfernung mit 45,7 Lichtjahren an.
Norwood erschauerte bei dem Gedanken, dass ein irdisches Raumschiff diese gewaltige Distanz überwinden sollte. Scheinbar waren die Zalden allerdings bestens über die Forschungsprojekte der Menschheit informiert. Er selbst wußte zwar, dass an einem sogenannten FTL-Triebwerk gearbeitet wurde, aber mehr schon nicht.
Was sie alle vermissten, war der Grund für die Großzügigkeit der Zalden. Bisher hatte die Stimme dazu keinen Kommentar abgegeben. Als die Aufzeichnung beendet war schloß die Stimme: „Die Aufzeichnung ist nun beendet und sie können Fragen stellen.“
Norwood gebot dem Wissensdrang der Crew mit erhobener Hand Einhalt, denn er hatte eine drängende Frage, die sie alle betraf: „Wem gehörten die Schiffe, die sich im Orbit des Kleinplanenten Pluto gegenseitig vernichtet haben?“
„Ein Schiff war ein bewaffneter Aufklärer der Zalden und das zweite Schiff ein Zerstörer der Uldat.“
„Wird eine Invasionsflotte die Menschheit überfallen?“
„Die Wahrscheinlichkeit dafür beträgt 0,36%. Das Uldat-Schiff konnte noch vor einer Funkmeldung an das eigene Flottenkommando zerstört werden. Auch ein Notruf konnte verhindert werden. Der Zalden-Aufklärer hat sich dafür geopfert.“
Waterson beugte sich etwas ungeduldig vor: „Warum tun die Zalden das?“
Der Projektor antwortete: „Viele Völker in diesem Bereich der Galaxis leiden unter dem Imperium der Uldat. Die Uldat sind eurer Rasse sehr ähnlich. Die Wahrscheinlichkeit, daß eure Rasse die Uldat in die Schranken weisen kann, ist daher höher als bei anderen Rassen. Dazu muss die Menschheit aber volle Handlungsfreiheit haben.“
„Die Menschheit als Retter der halben Galaxis ... ich fasse es nicht ...“ merkte Waterson an. „Wie groß ist das Uldat-Imperium?“
„Die halbe Galaxis ist damit nicht gemeint. Das Imperium der Uldat liegt wie auch dieses Sonnensystem in der Orionspur der Galaxis. Es umfasst ungefähr 2116 Sonnensysteme mit 129 Rassen und hat die Ausdehnung einer Kugel von ungefähr 450 Lichtjahren Radius. Sie expandieren schnell und werden ihr Sonnensystem in ungefähr 70 Jahren erreichen.“ gab der Projektor zur Antwort.
„Und die Uldat würden uns dann eingliedern in ihr Reich?“ wollte Norwood wissen.
„Nein, sie würden die Menschheit vernichten. Sie vernichten alle humanoiden Rassen, die den gleichen Ursprung haben wie sie.“
„Den gleichen Ursprung?“ wollte Summers wissen.
„Ja, alle humanoiden Rassen dieser Galaxis haben den gleichen Ursprung. Die Vorfahren sind allerdings seit 300.000 Jahren ausgestorben.“
Diese Information stellte das gesamte Weltbild bezüglich der menschlichen Entwicklung auf den Kopf. Bisher war die Wissenschaft immer davon ausgegangen, dass die Menschheit sich auf der Erde entwickelt hatte.
„Und die Uldat betreiben Genozid an Brudervölkern? Warum?“
„Ja. Es sind diesem Vorgehen schon einige humanoide Rassen zum Opfer gefallen. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Wir wissen nur, dass die Uldat einen unerbittlichen Krieg gegen alle humanoiden Rassen führen.“
Stille erfüllte den Raum aufgrund der schockierenden Nachricht. Summers schien als erste ihre Fassung wiederzugewinnen. Sandler ergriff aber als nächste das Wort. Sie beugte sich etwas nach vor: „Sind in deinem Speicher technische Informationen wie Konstruktionspläne oder ähnliches enthalten?“
„Nein. Über die Aufzeichnung hinaus sind nur Daten über die politischen Verhältnisse in der bekannten Galaxis und die Koordinaten des Informationspaketes enthalten. Informationen über die Inhalte des Informationspakets sind in dieser Speichereinheit ebenfalls keine vorhanden.“
Waterson war nicht der einzige, der es nicht so einfach glauben konnte, dass hier eine Rasse so großzügig war: „Gibt es Beweise für das Vorgehen der Uldat?“
„Der Zielstern ist in den menschlichen Sternkatalogen als 18 Scorpii oder auch als HD 146233 verzeichnet. Auf dem Weg dorthin liegt etwas abseits eine ehemalige Kolonie der Kanaaer. Das ist eines der Völker, die von den Uldat ausgerottet wurden. Sie können sich dort von der Vorgehensweise der Uldat überzeugen.“
Norwood wollte es noch genauer wissen: „Enthält der Kristall detailliertere Informationen über Uldat und Zalden? Und vielleicht andere Völker?“
„Dieser Kristall enthält Basisinformationen über die Uldat und ihr Imperium. Informationen über die Zalden sind in eingeschränktem Umfang enthalten. Andere Völker sind überblicksmäßig beschrieben, sofern es zum Verständnis der Daten erforderlich ist.“
Sabato dachte wohl gerade über die Reise nach 18 Scorpii nach, als er ebenfalls fragte: „Astro-navigatorische Daten von 18 Scorpii?“
„Ich projiziere ...“ antwortete das Gerät.
Das Hologramm der Kugel wurde daraufhin durch die Projektion eines Sonnensystems ersetzt. Um einen orange-gelben Stern kreisten vier Planeten. Zwei davon schienen Gasriesen zu sein und zwei Gesteinsplaneten. Weiters wurde ein torusförmiger Ring um die Sonne angezeigt, der die Umlaufbahnen der beiden Gesteinsplaneten einschloß. Alle Planeten schienen einen oder mehrere Monde zu besitzen. Über dem dritten Planeten schwebte eine pfeilförmige Markierung und blinkte langsam.
„Beide Gesteinsplaneten liegen in der für Menschen habitablen Zone und eignen sich für eine Besiedlung. Diese wird allerdings nicht empfohlen. Der dritte Planet wird das Ziel der menschlichen Erkundungsmission sein. Das Paket bleibt für 50 Jahre verfügbar. Danach zerstört es sich von selbst.“
So ging es mit den Fragen und Antworten noch gute zwei Stunden weiter. Norwood lehnte sich zurück und beobachtete das Treiben. Die Zalden schienen willens zu sein, andere Völker zu unterstützen, einen Krieg mit den Uldat vom Zaun zu brechen. Ob die Vorgehensweise der Uldat richtig dargestellt wurde, konnte niemand wirklich sagen. Selbst der Planet mit dem Beweis dafür konnte von den Zalden selbst vernichtet worden sein, oder das Ganze war überhaupt von vorne bis hinten erfunden. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, was die Zalden damit erreichen wollen würden, aber ausschließen konnte er es nicht. Als eine kurze Pause eintrat in der Unterhaltung der Crew mit dem Info-Terminal – der Begriff Projektionsgerät erschien ihm einfach nicht mehr passend – räusperte er sich kurz, bevor er selbst eine Frage stellte: „Was erwarten die Zalden für ihr Angebot als Gegenleistung? Oder was ist der Nutzen für die Zalden?“
„Die Zalden sind sogenannte Weltraumnomaden. Sie besitzen keine Planeten oder andere natürliche Himmelskörper, sondern leben auf großen Raumschiffen. Für uns stellen die Uldat also keine akute Bedrohung dar. Es kommt aber immer wieder zu Übergriffen der Uldat auf die Schiffswelten der Zalden. Langfristig prognostizieren unsere KI-Systeme, dass auch uns eine Eingliederung in das Imperium oder die Vernichtung droht. Der errechnete Zeithorizont dafür ist ungefähr 250 Jahre.“
„Der wievielte Versuch der Zalden ist das, einer Rasse auf die Sprünge zu helfen?“ wollte Cagliari wissen.
„Es ist der 17. Versuch.“ antwortete das Info-Terminal.
„Wieviele dieser Rassen existieren noch?“
„Zwei inklusive ihrer Rasse. Alle anderen wurden bereits von den Uldat ausgelöscht.“
„Keine besondere Erfolgsquote ...“ merkte Norwood an.
„Die Erfolgswahrscheinlichkeit für die Menschheit wird von unseren Experten mit 4,52% angegeben.“ antwortete das Terminal nüchtern. Die Wahrscheinlichkeit ist in den letzten 50 Jahren allerdings signifikant gestiegen.“
„Wieso das?“ fragte Travers nach.
„Das Imperium erscheint seit einigen Jahrzehnten nur nach aussen hin sicher und kompakt. Im Inneren wächst die Unzufriedenheit. Zusätzlich wird die Flotte wird immer öfter und dauerhafter durch Angriffe aus den Tiefen der Galaxie gebunden.“
Travers setzte nach: „Das heißt es gibt einen mächtigen Feind der Uldat?“
„Die Wahrscheinlichkeit dafür ist äußerst gering. Es lassen sich aus den Angriffen verschiedener Rassen auf das Uldat-Imperium keine Anzeichen für ein koordiniertes Vorgehen ableiten. Sie sind eher in die Kategorie zufälliger, interstellarer Grenzkonflikte im üblichen Ausmaß einzureihen.“
„Von welcher Größenordnung sprechen wir bei diesen Konflikten?“
„Diese Konflikte bewegen sich in Zeiträumen von wenigen Stunden bis mehrere Monate und der Materialeinsatz kann von einfachen Schiff-Schiff-Gefechten bis zu Schlachten mit 100 und mehr Schiffen reichen. Auch Invasionen und Planetenvernichtungen hat es schon gegeben.“
Travers lehnte sich zurück und pfiff leise durch die Zähne. Norwood brummte etwas vor sich hin, als er antwortete: „Also das volle Spektrum der Skala. Wie gross ist die Kampfflotte des Imperiums?“
„Die Zalden messen Flottenstärken in Gefechtswerteinheiten. Eine Gefechtswerteinheit ist der Gefechtswert einer Einheit verglichen mit einer Zalden-Korvette bezogen auf die Anzahl der Besatzungsmitglieder. Der Gefechtswert der verfügbaren Truppentransporter und ihrer Truppen wird dabei nicht berücksichtigt. Den letzten Informationen zufolge umfaßt die Uldat-Flotte ungefähr 522.000 Gefechtswerteinheiten mit 16.640 Schiffen und verfügt über 2.196 Truppentransporter mit 2,424 Millionen ausgebildeten und voll ausgerüsteten Marineinfanteristen. Die Flotte der Menschen hat einen Gefechtswert von 41.662 Einheiten bei 1.373 Schiffen und verfügt über 36 Truppentransporter mit einer Kapazität von 49.700 Marineinfanteristen.“
„Autsch! Das sind aber sehr ungünstige Zahlen für uns.“
„Etwa 80% der Uldat-Flotte sind nahezu ständig in verschiedensten Krisenregionen gebunden. Gleiches gilt für die imperialen Bodentruppen.
„Woher wissen die Zalden so gut über die Menschen Bescheid?“ wollte Travers wissen.
„Die Zalden beobachten die Menschheit schon 196 Jahre durch Fernerkundung und Erkundungsflüge.“
„Das heisst aber auch, die ganzen UFO-Sichtungen des 20. und 21. Jahrhunderts waren echt, zumindest zu einem guten Teil.“ stellte Cagliari mit einem Grinsen fest.
„Ok, wie gehen wir weiter vor mit unserem elektronischen Freund?“ fragte Norwood nachdem es eine Weile ruhig geblieben war.
„Die enthaltenen Informationen haben schwere Konsequenzen für die gesamte Menschheit. Die Befragung fortzusetzen mag zwar intellektuell interessant sein, wird uns aber nicht weiterbringen. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als unseren Freund hier nach Hause mitzunehmen.“ meinte Waterson mit einem ironischen Seitenblick auf das Info-Terminal der Zalden.
Die anderen stimmten Waterson zu. Die Neuigkeiten waren zu wichtig, um hier ein Risiko eingehen zu können.
„Das werden wir ohnehin tun. Erin, können wir das Uldat-Shuttle irgendwie mitnehmen?“
Die Bordingenieurin blickte vom Tablet-Computer auf: „Wir können es in einem Neutralisationsfeld heben und dann mit einem Stahlseil in die Schleuse ziehen. Das wird aber ein schönes Stück Arbeit für uns alle.“
„Ok. Die Aufzeichnung und alle anderen Erkenntnisse werden wir aber vorher schon in einem Bericht an Mission Control zusammenfassen. Joana, du steuerst den taktischen Teil bei, Roger und Bradley den astronavigatorischen. Steve und ich kümmern uns um die strategische Komponente. Jacob, von dir brauche ich eine Darstellung der Vorgänge bei der Abholung des Kleincomputers aus deiner Sicht. Roger wird dir helfen. Ich brauche eure Berichte in drei Stunden. Jacob, bitte das Ding abschalten. Unser Freund hier kommt sozusagen wieder in die Kiste. Auf geht’s.“
Die Crewmitglieder erhoben sich von den bequemen Sesseln im Besprechungsraum und machten sich an die Arbeit.
Im Orbit um Pluto ...
Das fremde Schiff zog unbemerkt seine Bahn. Es hatte sich in ein Antiortungsfeld gehüllt, um nicht von den Geräten der Lebewesen auf der Oberfläche des Kleinplaneten entdeckt zu werden. Das Schiff war klein und hatte nur eine Besatzung von vier Lebewesen – zwei Piloten ein Kommunikationstechniker und ein Exo-Psychologe. Sie beobachteten die Aktivitäten auf der Oberfläche Plutos sehr genau. Natürlich konnten sie nicht in das Raumschiff der Menschen hineinsehen, aber die Innenaktivitäten ließen sich bis zu einem gewissen Grad an den Energieabstrahlungen des Schiffs ablesen. Sie erhielten auch jede Stunde ein Funksignal aus dem Schiff. Es bestand nur aus einem simplen Ton und dauerte nur eine Nanosekunde.
Das Info-Terminal arbeitete zufriedenstellend. Die Informationen waren großteils abgerufen worden und die Fragen der Mannschaft waren beeindruckend intelligent gewesen. Selbst jene Rasse, die bisher am meisten in der bekannten Galaxis herumgekommen war, konnte man noch beeindrucken. Das Video- und Audio-Protokoll der Diskussion war gerade eingegangen. Der Bordcomputer begann mit einer ersten Auswertung des Materials. Zur nächsten Stunde blieb das gewohnte Funksignal allerdings aus. Offensichtlich war der Sender entdeckt worden. Auch das sprach für die neue Rasse.
„Sie werden es schaffen.“ meinte der Kommandant und Pilot.
„Wie kommen sie zu dieser Ansicht, Kommandant?“
„Sie haben die richtigen Fragen gestellt und den Sender schon entdeckt. Sie denken strategisch, logisch und schnell. Das Datenmaterial wird auch ihre Regierung überzeugen. Vor allem auch, weil es einfach die Wahrheit ist.“
„Dazu müssen sie ihren Heimatplaneten auch wieder erreichen.“ merkte der Exo-Psychologe an.
Der Kopf des Kommandanten ruckte herum: „Wie meinst du das Vraan?“
„Einer aus der Besatzung ist psychisch labil. Er scheint unter erheblichem Stress zu stehen, obwohl die Mannschaft derzeit kaum Aktivitäten durchführt. Das abgeleitete Psychogramm deutet auf ein destruktives Vorhaben hin.“
„Aber was würde das für einen Sinn haben? Der Saboteur würde dann genauso im Raum festsitzen, wie der Rest.“
Sie waren erschöpft – und zwar ausnahmslos. Nicht nur die Ereignisse auf Pluto hatten ihren Tribut gefordert, sondern sie hatten auch noch das vor ihrem Start ausgearbeitete Forschungsprogramm komplett abgearbeitet. Mission Control würde zufrieden sein, obgleich sie alle bezweifelten, dass es angesichts der Ereignisse überhaupt irgendjemanden interessieren würde.
Norwood hatte für sich beschlossen, den Start noch um 10 Stunden zu verschieben. Die Crew inklusive ihm selbst war erschöpft. Das gesamte Forschungsprogramm war abgearbeitet worden. Das hatte es in der Geschichte der bemannten Raumfahrt noch nicht allzu oft gegeben. Wenn man bedachte, was während der Mission alles passiert war, war das eigentlich schon ein Wunder. Zusätzlich hatten sie noch das fremde Wrack in größere Teile zerlegt und mittels transportabler Trägheitsneutralisatoren in die Dockbucht befördert. Dafür hatten sie eines ihrer beiden Shuttles ausladen müssen. Sie würden es auf Pluto zurücklassen und aus sicherer Entfernung sprengen. Sie wollten niemandem die Chance geben, irdische Technologie sozusagen gratis in die Hände zu bekommen.
Mission Control war über dieses Vorgehen informiert worden und hatte keine Einwände erhoben. Seit unmißverständlich bekannt war, dass sich auch andere raumfahrende Zivilisationen in der Nähe des Sonnensystems herumtrieben, hatte eine nachhaltige Bewußtseinsänderung der Verantwortlichen auf der Erde stattgefunden. Norwood und seiner Crew konnte das nur recht sein. Der Rest der Menschheit hatte bis auf wenige Ausnahmen noch nicht die leiseste Ahnung, was noch auf sie zukommen würde. Er war sich einerseits sicher, dass sich zuhause gewiefte schon Kommunikationsexperten Konzepte ausdachten, wie man der Menschheit die umwerfenden Neuigkeiten mitteilen konnte, ohne gleich großflächig Unruhen oder ähnliches zu provozieren. Andererseits war er aber auch froh, dass er sich um dieses Thema nicht kümmern mußte. Er gestand sich selbst ein, daß ihn eine solche Aufgabe überfordern würde.
„Captain?“ sprach ihn sein Stellvertreter Cagliari an. Norwood hatte ihn nicht kommen hören.
„Seit wann so förmlich Bernardo?“ antwortete Norwood und drehte sich zu ihm herum.
„Mir war gerade danach. Wir sind fertig. Die Ladung ist vertäut und unser Shuttle vermint. Der Funkzünder ist auf ein Signal eingestellt, das deine Freigabe am Bordcomputer braucht.“
„Ok, das sind gute Neuigkeiten. Ab sofort geht die gesamte Crew bis auf eine Brückenwache für acht Stunden in die Betten. Travers und Ngabe werden jeweils für 4 Stunden zum Wachdienst eingeteilt, während der Rest sich ausruht. Die beiden werden dann während des Rückflugs schlafen können.“
„Aber sollten wir nicht gleich ...“
„Nein Bernardo. Wir sind alle müde und erschöpft. Der Start erfolgt in zehn Stunden. Wir haben es nicht eilig und werden uns jetzt am Ende der Reise keinen unnötigen Stress aufladen. Müdigkeit und Stress vertragen sich gar nicht. Da passieren die meisten Fehler.“
„Ok. Ich kläre die Leute auf. Du kannst dich schon mal aufs Ohr hauen – sozusagen als gutes Vorbild.“
Im ersten Moment wollte Norwood widersprechen, aber der Blick seines Stellvertreters ließ ihn nur mit den Schultern zucken und die Brücke verlassen. Cagliari hatte nur allzu recht, denn die letzten Tage war er kaum wirklich dazu gekommen, wie vorgesehen sieben Stunden am Stück zu schlafen. Andererseits ging es derzeit jedem an Bord so. Auf dem Weg begegnete er seinem Kommunikationsoffizier Ngabe.
„Jacob, wie geht es dir?“
„So weit ganz gut. Ich hatte ja die letzten paar Tage weniger zu tun als alle anderen.“
„Ich weiß. Das ist auch der Grund, warum ich dich und Joana für die Wache eingeteilt habe. Auf dem Rückweg werden wir euch dann ja kaum brauchen und ihr könnt euch 13 Stunden ausruhen.“
„Schon ok, Dave. Ich werde mir ein gutes Buch aus der Bordbibliothek auf mein Tablet laden und lesen. Die Ortungsautomatik ist ja sowieso schneller und besser als wir alle zusammen.“
„Nicht immer, Jacob, nicht immer.“
Eine Stunde später schien die GALILEI ein Geisterschiff zu sein. Ausser der Wache auf der Brücke bewegte sich nichts und niemand an Bord. Selbst die automatischen Lebenserhaltungssysteme schienen ihre Aktivitäten auf einen schlafähnlichen Zustand heruntergefahren zu haben. Ngabe hingegen nutzte die Gelegenheit ein Buch zu lesen, das er schon lange lesen hatte wollen, aber nie die Zeit dafür gefunden hatte.
Als er zwei Stunden später sein Tablet weglegte, rührte sich immer noch nichts an Bord. Sorgfältig schaltete er alle innenliegenden Kameras durch und überzeugte sich davon, dass die gesamte Crew in den Betten lag. Dann machte er sich auf den Weg in den Maschinenraum. Die kleine Platine in seiner Hosentasche konnte er deutlich spüren. Nervös sah er sich alle paar Meter um, ob ihn jemand bemerkt hatte. An den installierten Kameralinsen schlich er vorbei, als könnte er ihnen entkommen. Dabei hatte er die Videoaufzeichnung von der Brücke aus selbst abgestellt.
Auf dem Maschinendeck angekommen, wandte er sich dem Reaktorbereich zu und erreichte schließlich den Steuercomputer des Reaktors. An der zentralen Schnittstelle des Computers zum Reaktor öffnete er eine kleine Wartungsklappe und tauschte bei laufendem Betrieb eine kleine Platine gegen die aus seiner Hosentasche aus. Er war Techniker genug, dass er am Steuercomputer die ordnungsgemäße Funktion der Platine prüfen konnte. Anschließend löschte er die Log-Einträge, die seinem Platinentausch hätten verraten können. Zufrieden machte er sich wieder auf den Rückweg. Alles andere würde die Software auf dem neu eingebauten Chip übernehmen.
Zwei Stunden später war seine Wache vorbei und er wurde von Joana Travers abgelöst. Er nickte ihr zu und machte sich auf den Weg in sein Quartier. Joana wunderte sich kurz über die wortkarge Art ihres sonst doch sehr umgänglichen Kollegen. Dann zuckte sie mit den Schultern und nahm ihren Platz als wachhabender Offizier auf der Brücke ein. Der Platz des Kommandanten fühlte sich gut an.
Texte: Armin Regner
Bildmaterialien: Cover-Foto: Nasa - Hubble Space Telescope
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2014
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