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Das Paradies der Karotten

von Anke Nussbücker

Jeder Möhre ist es bestimmt, einen Tag lang im Paradies der Karotten, kurz „Möhrenparadies“ zu verbringen. Im Vergleich dazu ist ihr Erdenleben recht lang, und für den Tag im Paradies bemühen sich alle Karotten, zart und ebenmäßig zu wachsen. Sie vermeiden es, von Wühlmäusen und ähnlichem Getier gefressen zu werden, denn das mindert ihre einmalige Chance erheblich, ins Paradies der Karotten zu gelangen, auch wenn dieser Aufenthalt nur einen einzigen Tag lang währt.

Die Möhren flüstern und wispern sich zu, wie ihr Paradies beschaffen ist:
„Das Paradies ist eine Suppenterrine aus echtem Meissner Porzellan“, raunte Sieglinde, die schlanke, hochgewachsene, „dort werde ich schwimmen zusammen mit Fleischklößchen, Liebstöckel, Koriander, Muskatblüte, Pastinaken und Petersilienblättern.“
„Pah, dann bist nur eine Vorsuppe“, schnauzte Herta mit dem dicken Wulst an der linken Seite.“
„Es ist nicht das Schlechteste, in der Vorsuppe zu baden“, warf Heidrun, eine mittelgroße Möhre ein, „wie mir neulich ein Regenwurm erzählte, werden Möhren in der Hochzeitssuppe besonders gern von den Kindern gegessen. Und stellt euch vor, das ist wirklich so gewesen. Als der Hauptgang aufgetragen wurde, nörgelte ein Kind: ‚Ich will nicht zweimal essen!’“

Darauf lachten die Möhren in der Erde, besannen sich aber schnell und kicherten hinter vorgehaltener Hand, denn die Gefahr der Wühlmäuse war allgegenwärtig. In das stille Lächeln von Sieglinde donnerte die wulstige Herta: „Das ist das Stichwort, Möhren als Hauptgang der Mahlzeit!“
„Oh nein, so weit sind wir noch lange nicht“, widersprach die zarte Irina, „denn was wäre ein Salat ohne geriebene Möhren?“

Tag für Tag träumten die Möhren von ihrem Paradies, das Erdenleben erschien ihnen so vieltausendmal interessanter. Manchmal berichteten die Regenwürmer, was Möhrenkraut und weggeworfene Möhrenwürzelchen vom Paradies erzählten, doch die ganze Wahrheit erfuhren die Karotten niemals ganz. So beschloss Sieglinde, die schlanke, hochgewachsene, einen Ausflug in die Küche des berühmtesten Restaurants der nahe gelegenen Stadt zu machen. Gedacht, getan, legte sie sich in eine Stiege, die mit Salatköpfen gefüllt war. Die Stiege wurde in einen Transporter verladen. Los ging die Fahrt.

Der Empfang war kühl, beinahe unhöflich. „Was soll die dreckige Möhre hier?“ Mit diesen Worten warf man Sieglinde achtlos auf einen unbenutzten Arbeitstisch. ‚Gar nicht schlecht’, dachte sich die schlanke Sieglinde, ‚von hier aus kann ich alles genau beobachten.’

Natürlich gab es Hochzeitssuppe, Apfel-Möhren-Salat oder Erbsen-Möhren-Gemüse, aber wie staunte die schlanke, hochgewachsene Sieglinde, als die gekochten Möhrenstücke in einem riesigen Topf püriert wurden. Dazu gab der Küchenmeister einen guten Schuss süße Sahne, nannte das Ganze Möhren-Creme-Suppe und servierte sie mit Walnusshälften. Das hätte sich Sieglinde nicht träumen lassen: Möhrensalat mit Apfelsinenstückchen und Ingwer, dem alten Gewürz der Chinesen, oder mit Brunnenkresse oder Pimpinelle oder Kerbel. Die Konditorin zauberte eine Torte aus Möhrenteig und Marzipan-Möhren obenauf. Karottenkekse bereitete sie mit zartem Biskuitteig. Vor dem Backen hob sie Eischnee unter. Als Vorspeise wurden Möhrenstifte in hellgrünem Dip aus Avocado und Sauerampfer gereicht, als kleiner Imbiss Karotten gratiniert mit Schweizer Käse.

Unterdessen wurde Sieglinde schrumplig. Da sagte der Koch: „Die Möhre muss weg!“ Sorgsam entfernte er das Kraut und schabte sie auch ein bisschen, schnitt sie in dünne Scheiben und stupste sie in erhitztes Olivenöl. Eine Lauchstange gab er hinzu und würzte mit Salbei, Lavendel und Rosmarin. Als der Koch mit Weißwein ablöschte, jauchzte fröhlich Sieglinde, die einstmals schlanke und hochgewachsene. Auf das Gemüse bettete der Küchenmeister frisches Kabeljaufilet und ließ alles vorsichtig dünsten.

Wenige Minuten später fühlt Sieglinde auf einer Zungenspitze zart, aber noch ein wenig knackig ihr Zergehen im Paradies der Karotten.


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Tag der Veröffentlichung: 26.07.2010

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