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Anke Nussbücker

Ruhla tickt anders

Der Uhrenladen hatte noch geöffnet. Madeleine zögerte einen Moment, bevor sie weiterging. Ihre Absatzschuhe klackten auf den Betonplatten. Ein Junge in grüner Cordjacke rempelte an Madeleines linker Schulter.
Zuerst die Bankgeschäfte, dachte sie, dann der Uhrenladen. Trink den Echten und atme auf mit genuiner Kraft. Das nächste Schaufenster verspricht dicke Prozente. Do it yourself mit Hörakustik. Wieder zögerte Madeleine, kehrte zurück zum Uhrenladen, starrte auf die Goldketten und Siegelringe, Eheringe oder Ringe zur Verlobung. Sie hatte Angst, dass ihre Uhr stehen bleiben könnte. Sekunde auf Sekunde. Sie wollte keinen Fehler mehr machen. Entschlossen betrat sie den Laden.
„Ich habe ein Problem mit meiner Uhr”, sagte sie, „der Sekundenzeiger bewegt sich nicht mehr.”

Heute Abend musste Madeleine die genaue Uhrzeit wissen und die Sekunden zählen können. Die Uhrmacherin kassierte freundlich. Madeleine taumelte, blickte abwechselnd auf ihren Sekundenzeiger und auf die Leuchtreklame, setzte sich für geplante zwanzig Minuten vor die Höhensonne, aß zwei Kiwis und eine Pampelmuse, zählte die Minuten, ging unter die Dusche, zählte die Minuten.

Wenn ein Tag gut war – das heißt ohne Nachdenken, ohne Zweifel, ohne Zittern, dann der Erste. Auf dem Frühlingsfest. Madeleine fährt Autoscooter. Am Rand steht der Hirschmann, den sie von früher zu kennen glaubt. Kleine Augen, wenn er lacht, tanzen breite Krähenfüße. Madeleine dreht große Kreise. Jedes Mal, wenn eine Runde vorbei ist, blickt sie hoch, lächelt, heftet ihre Augen an seine, so lange, bis er den Kopf seitwärts neigt und sie nach links lenken muss.

Madeleine fragt ihn, was er hier macht und er sagt: „Lass uns über den Rummel gehen”, nimmt ihre Fingerspitzen und zieht ihre Hand nach oben, so dass Madeleine die Innenfläche seiner rechten Hand ansehen kann, die von einem Netz feiner Falten durchzogen ist.

Madeleine kennt schmale Hände, knochige oder dicke, behaarte Hände mit kurzen Fingern. Weiße, weiche Hände und Hände mit kleinen weißen Strichen in den Fingernägeln, grobschlächtige, raue Hände und Hände mit Sommersprossen. Hände, die festhalten wollen und zupacken, die sich festkrallen oder sich schlaff anfühlen. Hände, die nervös auf Tischplatten trommeln oder die ruhig im Schoß liegen. Madeleine liebt Holgers Hände sofort.

Später erzählt Holger, warum er auf dem Rummelplatz war, weshalb er Abschied nimmt von der Stadt. Er spricht von Ameisen, die im Einklang leben. Von Hyänen, Aasgeiern und Polizei. Von Parasiten, die sich nicht bewusst sind, dass sie ihren Wirt zerstören. Holger sagt, es gibt zu viele Menschen.

Madeleine wusste nun, er würde gehen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht in seinen Gedankengängen. Holger war kein Waschlappen. Am meisten beeindruckte sie sein Satz: „Ich habe nur Angst vor dem Nichts.” Sie drehten sich in der Gondel. Holgers Lippen kosten ihren Mund. Seine Zunge schlüpfte hinein, rhythmisch verlangend, nicht aufzuhalten. Weiche Barthaare, die nicht kitzelten, Fingerkuppen, die auf Wangen und Ohrläppchen und Hals Schlangenlinien skizzierten.

Der Hirschmann hatte sich in ihrem Kopf eingenistet. Jeder Herzschlag heißt Holger. Der Sekundenzeiger rückt weiter. Das Ticken an Madeleines rechtem Ohr beruhigt. Sollte sie schlafen gehen zur vorgesehenen Uhrzeit oder Holger darum bitten, dass er bleibt? Was war das für eine geheime Mission, einige Parasiten entfernen, die sich Menschen nannten und in ihrem Streit um ein Stück Land einen neuen Weltkrieg entfachten. Einfach zielen auf einige von denen und den anderen Angst einjagen? Benehmt euch gefälligst. Aber warum musste Holger dort sein? Wo die Minen gleichmäßig verstreut lagen auf den Feldern und die Leute bei jedem Geräusch die Kalaschnikow in Anschlag brachten.

Warum fuhr Holger dorthin, warum hat er das nicht von Anfang an gesagt. Wie konnte Madeleine ihm begreiflich machen ... . Sollte sie sich ihm an den Hals werfen, ihn festhalten?

Holger konnte die Wege der Ameisen entschlüsseln. Verschlungene Pfade, jede Richtung, die sie einschlagen. Und bald sagte er den Satz: „Was ist der Tod schon anderes als deine Abwesenheit?“ Madeleine war es leider nicht gleichgültig, wohin Holger gehen würde. Aber konnte sie ihn umstimmen? Den Sanitätssoldaten, der auf dem Rummelplatz Abschied nimmt – keine Angst davor, dass er einen Menschen treffen könnte, der es vermochte, ihn zum Zweifeln zu bringen. Unbeirrbar. Stell dir vor, sagte er, es ist ein Auslandstudium. Du hast dich dazu entschlossen. Würdest du dir das ausreden lassen?

Madeleine muss sich abfinden. Gefasst bindet sie ihre Armbanduhr um ihr linkes Handgelenk. Eine Stunde hat Holger ihr versprochen. Wäre es möglich, überlegt Madeleine – innerhalb einer Stunde? Sie möchte ein Kind, damit sie ihn niemals mehr vergisst. Madeleine fängt an zu rechnen und hofft dabei, dass sie beide die Worte vergessen, dass sie beide für einen Moment zu denken aufhören, weil dann eine besonders große Menge an Hormonen ausgeschüttet wird, weil dann das Ei springt, auch wenn der Tag nicht stimmt. ...

Fortsetzung in Storyatella Heft 2
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Tag der Veröffentlichung: 31.05.2010

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