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Anke Nussbücker
Schaukeln für Knuts Brüder

Krähen tippeln gemächlich über die Wiese. Im Birkenwäldchen läuft ein einsamer Jogger. Am Hang auf einer Schaukel sehe ich eine Frau mit langem, blondem Pferdeschwanz. Weit holt sie Schwung. Schaukelt in hohem Bogen. Ihr Pferdeschwanz wippt auf und ab im Takt der Kinderschaukel.

Ich laufe den Weg am Fuße des Hanges entlang. Hauptsache, erst mal raus. Einfach ein Stück gehen. Das hilft hoffentlich. Hole ich mir eine Schachtel Cabinet? Nein, ich bleibe eisern, rede ich mir gut zu.

Es ist ein trüber Novembertag. Als ich umkehre, sehe ich die Frau noch immer schaukeln. Welche Faszination vom Schaukeln ausgeht! Wenn man hoch schaukelt, bekommt man das Gefühl, über allem zu schweben. Beim Abwärtsschaukeln dieses Magensausen. Das könnte den Cortisol-Spiegel senken. Eine Revolution in der Medizingeschichte! Ganz pragmatisch frage ich mich: Wie oft und lange muss man schaukeln, um sein Risiko für einen Schlaganfall zu halbieren?

Plötzlich – mit einem Satz springt die Frau von der Schaukel herunter, streift den Jackenärmel hoch, blickt wohl auf ihre Uhr. Dieses Mal nehme ich meinen Weg ziemlich dicht an ihr vorbei – merke, wie sie sich umdreht zu mir.

„Hast du eine Zigarette?“, fragt sie und sieht mich mit großen grünen Augen unter ihrem Fransen-Pony an. Ich schüttele den Kopf:
„Bin gerade dabei, es mir abzugewöhnen.“
„Schade“, sagt sie, „muss ich mir eine drehen“. Sie greift in die Tasche ihrer Kunstlederjacke, die am Bund schon viele kleine Risse hat.
Schnell verabschiede ich mich, meine letzte Zigarette ist erst zehn Tage her. Dieser Tag noch, sage ich mir, dann bist du übern Berg.

Der nächste Tag ist wieder so ein trüber, regnerischer Tag, aber das ist nicht alles. Bis zum Abend muss ich den Stoff für Statistik draufhaben: Ursache, Wirkung, Zufälle, Korrelation, Wahrscheinlichkeit... Mit welcher Wahrscheinlichkeit kann der Flügelschlag eines Kolibris auf der anderen Seite der Erde einen Hurrikan auslösen?

Auf meinem Schreibtisch liegen mehrere aufgeschlagene Bücher. Lose Blätter mit Notizen und Entwürfen für Overhead-Folien stapeln sich so hoch wie mein Wasserglas. Sieht so aus, als müsste ich wieder bis Mitternacht hier sitzen und morgen früh noch schnell zum Copy-Shop...

Da sehe ich plötzlich ein Stück Blau, als ich aus dem Fenster blicke, und ich denke: Nichts wie raus! In einer Stunde wieder Wolken? Wer weiß? Und ich werde mir eine Schachtel Cabinet holen. Unparfümierte Zigaretten. Die werden meine Sucht nicht so schnell wieder anstacheln, oder?

„Hey, du, wenn du keine Zigaretten hast, willst du dann vielleicht schaukeln?“
Die Frau mit dem Pferdeschwanz steht am Wegrand, hält den erhobenen Zeigerfinger, den sie vorher angeleckt hat, in den Wind. Zielgerichtet geht sie zu einer der Schaukeln, die halbkreisförmig auf dem Hang stehen. Ich stelle mich an den Pfosten ihrer Schaukel.

„Es ist nicht egal, in welche Richtung man schaukelt?“, frage ich.
„Keinesfalls“, antwortet sie, „sondern immer mit dem Wind!“
„Und was ist, wenn man in eine andere Richtung schaukelt?“
„Das stört nicht weiter, aber es hat auch keine Wirkung.“
„Was für eine Wirkung?“
„Homöopathisch. Kleinste Änderung der Luftbewegung, große Änderung im Klima!“
„Du beeinflusst das Klima?“
„Die Erde versucht sich abzukühlen“, erklärt sie. „Es ist immer trübes Wetter, da die Luftfeuchte angestiegen ist.“
„Und du versuchst, Wind zu machen?“
„Ich versuche, den Wind zu verstärken, und gleichzeitig versuche ich, dass er gleichmäßiger weht.“
„Du kannst den Wind nivellieren?“
„Wenn Du so willst, ja. Ich möchte die erdeigenen Kräfte unterstützen, damit es im Sommer nicht mehr so schwül ist, es im Herbst weniger Hurrikans gibt, damit es im Dezember schneit und die Eisflächen am Nordpol nicht weiter abschmelzen, so dass den Eisbären ihr Lebensraum bleibt. Sie warten an einem Loch im Eis, bis eine Robbe auftaucht, um Luft zu holen. Dann schlagen Knuts Brüder zu! Doch der arktische Sommer ist viel zu lang geworden. Ihnen fehlt das Eis, die Eisbären fressen schon ihre eigenen Kinder auf.“

Daraufhin hole ich meine Schachtel Cabinet hervor. Wir rauchen schweigend.
„Eigentlich ist Rauchen auch schädlich für das Klima“, sagt sie plötzlich, „für jedes Kilo Tabak stirbt ein Baum im Regenwald.“
Ich nicke und sage: „O.k., eine Zigarette! Einmal schwach geworden, heißt nicht, dass ich die gesamte Schlacht verloren habe.“
„Ich kann nicht aufhören“, beteuert sie, „wenn ich das täte, könnte ich nicht mehr schaukeln!“

Ich schenke ihr die angebrochene Schachtel.
„Oh, dann kann ich heute noch länger schaukeln.“ Lächelnd prüft sie erneut die Windrichtung...

Fortsetzung in

Storyatella Heft 1
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Tag der Veröffentlichung: 21.03.2010

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