Reiner A. Hampusch
DRAKENLAND
Die neue Kaiserin
Teil 1 DER FEIND
Die Geadir-Saga
Episode 4
Fantastischer Roman
Reiner A. Hampusch, geboren 1949 in Leipzig, aufgewachsen in Berlin, inmitten schöngeistiger Literatur und Kunst, frei erzogen (von seinen Eltern) entdeckte er als Kind zuerst die Welt der Märchen, Sagen und fantastischen Geschichten. Die Schule musste überstanden werden, und auch die Lehre zum Tischler.
Nach einem Abendstudium der Malerei an der Kunsthochschule Weissensee in Berlin, entschloss er sich dann doch Werbekaufmann (Ökonom) zu werden. Nebenberuflich fotografierte, malte und schrieb R.H., doch literarisch blieben immer nur Fragmente liegen (1972 – 1975, Gedichte, Fragmente SiFi-Geschichten). Erst 2014 verfasste er seinen ersten Fantasieroman, "Nacht über Ralli", den er kurzfristig als e-book veröffentlichte. Da ihm aber diese Ausgabe nicht gefiel, nahm er sie wieder aus dem Angebot.
Dafür erschienen in kurzer Folge vier Liebesromane: "Grüne Augen“, 4 Romane in einem Buch: Clarisse, Clarisse 2, Therese, Anne, "Marga", "Berlin, Venedig und anderswo" und "Rheinsberg und anderswo", alles kostenlose e-books. Es waren (Originalton), sozusagen "Fingerübungen". Mit der dreiteiligen Krimireihe "Mellerts Fälle", die zwischen 2018 und 2020 entstanden, "Der Tote von Neuendorf", "Paradis perdu" und "Der weiße Wal" begab sich R.H. in das Metier des Krimischreibers; der Leser erlebt die Entwicklung der Ermittlungsarbeit der Kriminalpolizei in den Zwanziger, Dreißiger und End-Vierziger Jahren in Berlin und Preußen.
Mit diesem Roman kehrt R. A. Hampusch zurück zu den Wurzeln, der Fantasie.
Bisher als Paperback (Bod) erschienen:
DIE NEUE KAISERIN, Drakenland 4
DRAKENLAND Die neue Kaiserin, Teil 1 DER FEIND
DRAKENLAND, Die neue Kaiserin, Teil 2, KRIEG
DRAKENLAND, Die neue Kaiserin ,Teil 3, TABUBRUCH
Wer den Frieden gewinnen will,
muss zuerst den Krieg besiegen
Der fröhliche Kiekser blieb Sabu im Halse stecken. Weder sie noch ihre Freundinnen hatten an den Aufzug der Damen der Sonnengöttin gedacht, der sich gemächlich unter Gesängen und Gebeten die lange, steile Straße zur Sonnenstehle hinauf bewegte. Sabu schoss aus der Seitengasse heraus und direkt auf das Dreiergespann zu, das den langen Zug anführte. Kikoku und Yamoki konnten noch rechtzeitig abbremsen und blieben mit weit aufgerissenen Augen stehen. Doch Sabu hatte zu viel Schwung. Sie stieß mit der Nii-onee-shama Hagata Jokimi zusammen, die zum Zeichen ihrer Würde und um Rechenschaft gegenüber der Sonnengöttin abzulegen, ihren Abakus und die Jahresabrechnung des Klosters mit sich führte. Jokimi strauchelte und im Bemühen sich abzufangen, ließ sie den Abakus und die Schriftrolle los. Sabu traf die Gegenstände mit der rechten Schulter, wodurch sie in die Luft katapultiert wurden. Doch nicht genug. Auch Sabu strauchelte verständlicherweise. Sie griff nach dem erstbesten Gegenstand, den sie auf ihrem Weg zum Boden greifen konnte. Es gab ein deutliches Geräusch reißenden Stoffes. Yumiko Onemichi, die Reii-onee-shama, die Priorin des Klosters, stieß einen kurzen Fluch aus und hielt krampfhaft ihre Robe in Höhe der Brust fest. Gleichzeitig gelang es ihr durch einen kurzen Sprung nach vorn sich vor Sabu, als auch vorm Abakus, der direkt auf sie zuflog, und den Blättern der Schriftrolle, welche sich aufgelöst hatte, und die wie Herbstblätter durch die Luft segelten, in Sicherheit zu bringen. Sabu ließ den Stoff los, fiel der Länge nach hin und stieß die dritte Priorin, Hagama Asamo, von den Beinen. Beide lagen nun nebeneinander und sahen sich erstaunt an.
"Was, bei allen guten kami, soll das denn?", rief Onemichi vor Überraschung und sah Sabu streng an. Hagata Jokimi hatte die Überraschung schnell überwunden. Sie sprang ihren Schriften hinterher, um sie aufzufangen, denn der leichte Wind, der heute durch die Straße strich, wehte sie in alle Richtungen.
"Du verdammte, kleine …", Asamo, immer noch auf dem Straßenpflaster liegend, fand ebenfalls ihre Sprache wieder. Doch als eine der nachfolgenden Schwestern hysterisch rief: "Ein Krieger!", blickte sie die Straße hinauf.
Mitten auf der heiligen Straße, die nur den wahren Damen der Sonnengöttin vorbehalten war, um das Ritual der wöchentlichen Anbetung der Göttin zu befolgen, stand ein Krieger in einer prächtigen Rüstung. Er hatte die Griffe seiner beiden Schwerter fest umfasst. Grimmig betrachtete er die Ansammlung der Dragunas in ihren weißen Leinenkutten und den schlichten Sandalen. Irgendwie erinnerte ihn der Aufmarsch der Damen an eine schaumige Meeresbrandung, die hin und her wogte. Sabu, immer noch auf der Straße liegend, guckte mit großen Augen auf den Krieger. Jetzt erkannte sie ihn. Yukomi, der Heerführer des Hauses Hita! Was sucht Kenochi Yukomi hier im Kloster, dazu mitten auf der heiligen Straße?
"Zu mir, Sabu!" Yukomis Stimme hatte einen rauen, befehlend schneidenden Klang, den Sabu von ihm nicht kannte. Eher war er zu ihr äußerst höflich und zurückhaltend. Aber irgendwie reagierte sie genau auf diesen Ton. Sie sprang auf, ohne sich weiter um ihre Umgebung und die Aufregung, die sie verursacht hatte, zu kümmern und lief zu Yukomi.
"Folge mir", befahl der Heerführer und drehte sich um. Wieder dieser unerbittlich befehlende Ton, der Sabu zwang, ihren ansonsten stetig vorhandenen Widerstand gegenüber jeden und alles aufzugeben. Yukomi lief mit großen Schritten die Straße bergauf, ohne sich um Sabu zu kümmern. Sie erreichten eine Seitengasse. Sabu stöhnte innerlich auf. Nein, nicht in diese Gasse! Der Weg der großen Prüfung. Eine Gasse, die zwischen den Häusern der Damen und kahlen Felswänden auf den Berg führte. Genau einhundertzweiundsiebzig Stufen aufwärts, ohne Absätze, ohne Geländer. Genau so viel Stufen, wie ein halbes Jahr Tage hatte. Auf der anderen Seite, wenn man die Plattform zur Sonnenstehle erreicht hatte, gingen wiederum einhundertzweiundsiebzig Stufen abwärts. Durch diese Gasse stiegen die Novizinnen zur Sonnenstehle empor, wenn sie zu Damen der Sonnengöttin geweiht werden sollten. Wenn sie dann die Weihe hinter sich hatten, was länger als einen halben Tag dauerte, mussten sie auf der anderen Seite wieder zurück. Mit zitternden Beinen, hungrig und durstig, denn während der Zeremonie durften sich die Damen nicht setzen und gab es weder etwas zu trinken noch zu essen.
Doch der Heerführer interessierte sich nicht für heilige Stätten oder Wege. "Hoch mit Dir." Yukomi griff nach Sabus Hand und zog sie hinter sich her. Immer noch hörten sie die empörten Stimmen und das Geschrei der Klosterdamen sowie laute Gebete, denn Yukomi hatte ein Sakrileg begangen, wie es noch nie vorgekommen war: Der ganze Bezirk des Sonnentempels, bis auf einen kleinen Teil für die Besucher, galt als heilig. Es wird eine Weile dauern, bis die Sonnengöttin wieder beruhigt sein wird, dachte Sabu in einem Nebensatz, denn hauptsächlich beschäftigte sie sich damit, weshalb sie Yukomi auf solch spektakuläre Weise aus dem Kloster holte. Das Durcheinander, das sie und ihre Mitschülerinnen angerichtet hatten, interessierte sie jetzt nur wenig. "Liebste, gnadenvollste nyoki-daiki", murmelte Sabu leise in sich hinein, denn für ein lautes Gebet fehlte ihr die Luft, "Ich werde es wieder gutmachen. Doch zuerst sollte ich die Stufen hinter mir haben."
Yukomi zog Sabu unerbittlich hinter sich her. Und während sie schon schnaufte und kurzatmig hinter dem Heerführer hereilte, bewunderte sie die unnachgiebige Kraft ihres Führers. Erst oben, auf der Plattform, gestattete sich Yukomi eine kurze Pause. Er blieb mitten auf dem Absatz stehen und atmete tief durch.
"Wohin jetzt, Yukomi-oiyii?", fragte Sabu, immer noch atemlos.
"Zur Sonnenstehle. Dort warten unsere Drachen."
Sabu zog die Luft durch die Zähne. Ein weiteres schweres Sakrileg! Der Bereich war ebenso heilig wie die ganze Stadt. Wenn sie erwischt wurden, bedeutet das ihren sofortigen Tod, sofern die Sonnengöttin nicht schneller war. Sabu zog den Kopf ein und erwartete jeden Moment einen tödlichen Sonnenstrahl. Doch es geschah nichts. Dann seufzte sie. Die Not scheint größer als die Heiligkeit einer steinernen Plattform, dachte sie pragmatisch. Die Göttin wird es verstehen und verzeihen. Wenn alles gut geht, baue ich Dir einen Tempel, nyoki-daiki, schöner und prächtiger als jeder hier in Sini.
"Was ist geschehen, Yukomi-oiyii?"
Völlig unerwartet kniete Yukomi vor ihr nieder. "Schlimme Nachrichten, Fürstin. Darf ich nochmals um Eile bitten?"
"Ja, ja. Geht Ihr lieber vor", sagte Sabu konsterniert, "Ich folge Euch." Sabu hatte immer noch nicht begriffen. Wieso nannte Yukomi sie Fürstin? Fürst von Yukokoshima war ihr hoher Vater Hita Kenshoori, und Fürstin ihre Stiefmutter Manabu`y. Sie war nur die vierte Tochter und Schülerin im letzten Jahr im Kloster der Sonnengöttin. Was also sollte die Eile? Sie wird sowieso in einem Monat die Sonnenstadt verlassen haben, um sich in Hita auf ihre neue Stellung vorzubereiten. Als eine Dame der Sonnengöttin. Warum wollen die Götter so etwas und warum von ihr? Sie spürte nicht die geringste Neigung dazu!
Sie erreichten ein eisernes Tor, das von der Plattform auf den heiligen Bezirk führte. Einer ihrer Soldaten bewachte es. Er verneigte sich schweigend und öffnete die Pforte. Sie schlüpften hindurch. Hier oben herrschte Stille, wie auf einem Friedhof. Sabu sah nach oben. Dunkle Wolken strichen dicht über die Gipfel der benachbarten Berge und sammelten sich an den Berghängen auf der anderen Seite des weiten Tales, um dort abzuregnen. Die Luft war feucht und kalt. Die Sonnenstadt lag in dreitausend Metern Höhe auf einer spitzen Felsnase, die aus der Flanke des Kasumoyi-Berges weit herausragte. Sabu fröstelte. Ob vor Angst oder Kälte, vermochte sie nicht zu sagen. Vielleicht war es beides.
Sabu wusste, dass auf dem Plateau der Sonnengöttin die Feierlichkeiten zu Ehren von nyoki-daiki, der Göttin der Sonne und des Lichtes, des Lebens, der Pflanzen und der Weiber stattfanden. Ebenso, wie die heutige Prozession. Nur Priesterinnen und den Damen des Ordens war der Zutritt erlaubt. Sie selbst war nur einmal hier oben gewesen. Mit ihrer besten Freundin Nyoko Akemi. Schlicht aus Neugierde. Den Zugang bewachten mehrere Kriegerinnen des Ordens, die mino-ruii. Deren Bekanntschaft wollte sie nicht unbedingt wieder machen. Wie aus dem Boden gewachsen standen die Amazonen vor ihnen und brachten sie zur Priorin. Das Ergebnis ihrer Neugierde damals waren drei Tage im Karzer. Acht Stunden am Tag sollten sie zur Sonnengöttin beten und um Verzeihung bitten. Sie hatten zwar später darüber gelacht, aber es war ein beeindruckendes Erlebnis gewesen. Sabu suchte mit den Augen nach den Amazonen. Drei hockten still gegen eine niedrige Mauer gelehnt, zwei lagen auf dem Rücken, wie schlafend und rührten sich nicht. Yukomi sah ihren Blick. "Sie leben, Fürstin." Sabu atmete auf. Wenn sie schon einen Sakrileg begingen und das Sanktuarium betraten, dann wenigsten ohne Blutvergießen.
Das Plateau war eine Laune der Natur; wie eine umgedrehte spitze saru-Nase, ragte es weit ins Tal hinein. Sie war das Überbleibsel eines Bergrutsches vor vielen Tausend Jahren, bei dem ein großer Teil des Südhanges in das Tal gestürzt war. Die Felstrümmer verschlossen es und stauten einen anmutigen See auf. Übrig blieb diese Spitze, auf der wenig später die Damen der Sonnengöttin das Plateau schufen, um einen zentralen Tempel der nyoki-daiki anzulegen. Am Ende des Plateaus erhob sich die Sonnenstehle. Eine riesige nackte Draguna, die bittend ihre Arme zum Himmel reckte. In den Händen hielt sie eine stilisierte Sonne. Die Figur war vergoldet und glänzte rotgolden in der im Osten über den Horizont stehenden Sonne. Die junge Draguna blieb eine Sekunde stehen, denn nahe bei der Stele warteten zwei Drachen. Yukomis Masaru - Sieg -, grün geschuppt und riesig, mit goldgelb glühenden Augen, schlug heftig mit dem mächtigen Schwanz. Tsuyoshi, Sabus Lieblingsdrachin, besaß goldene Schuppen, war grazil und wunderschön anzusehen. Sie nickte heftig mit dem schlanken Kopf, als sie Sabu sah. Sabu hatte keine Zeit nach der Erklärung zu fragen, wie es kam, dass ihre Lieblingsdrachin hier war, sondern lief, so schnell es ging zu ihr und sprang in den Sattel.
Ein kurzer Blick über die Schulter zu ihrer Herrin genügte der Drachin. Sie hob nach einem kurzen Anlauf elegant ab. Sabu blickte noch schnell zur goldenen Statue, die wie bittend die Hände zur Sonne erhoben hatte, dann konzentrierte sie sich auf die Situation. "Flieg, Tsuyoshi!"
Mit kräftigen Schlägen ihrer mächtigen Schwingen brachte Tsuyoshi sie in kurzer Zeit in die Höhe und folgte Yukomis Drachen. Sabu schlug das Herz bis in den Hals. Beklommen hielt sie mit klammen Fingern die Zügel ihrer Drachin fest und sah zu Yukomi, der stolz in seinem Sattel saß, die rechte Faust in die Seite gestützt. Sein Soldat saß hinter dem Heerführer und hielt sich an dessen Sattel fest.
Masaru schlug etwas heftiger mit den Flügeln und stieg ein paar Fuß höher. Er stieß einen heiseren Schrei aus. In einiger Entfernung sah er eine Gruppe Drachen auf sie zukommen. Sabu ließ ihren Drachen auf seine Höhe steigen.
"Wer sind die?", rief sie herüber.
Der Heerführer zuckte mit den Schultern. Er kniff die Augen zusammen: "Wir gehen denen lieber aus dem Weg. Vielleicht sind es feindliche Späher!" Er bewegte die Zügel, worauf sich der Drache nach Westen wandte und tiefer, auf ein enges Tal zuflog.
Was der Heerführer nicht wusste, war, dass Sabu eine Kriegerin war! Im Gegensatz zu ihren Schwestern nutzte Sabu den zweijährigen Aufenthalt im Orden auch zur Ausbildung zum chikai-daito. Als kleine Draguna war sie ihren Gouvernanten entwischt und beobachtete lieber die Kämpfe der Dracs und ihrer Knappen, als sich mit irgendwelchen langweiligen Handarbeiten zu beschäftigen. Ihr Vater hatte es toleriert und sie sogar aufgemuntert an den Kampfspielen der Dragunjungen teilzunehmen. Und in der Sonnenstadt hatte sie erst vor Kurzem den Meistergrad abgelegt. Ob es ihr allerdings nutzen würde, in einem Luftkampf mit den Händen kämpfen zu können, wusste auch sie nicht. Doch sie war bereit, mit allen Mitteln ihr Leben zu verteidigen. Niemals würde sie es zulassen, dass mit ihr der Name Hita aus der Geschichte Sinis getilgt wurde.
Als sich Sabu umblickte, waren die Drachenflieger verschwunden. Sie flogen nun mit hoher Geschwindigkeit durch ein enges Tal. Rechts und links rasten die Spitzen mächtiger Tannen vorbei. Ein Wasserfall tauchte auf und verschwand, ein Bergabbruch leuchtete hell im Dämmerlicht des Tales. Die herabgefallenen Felsen hatten den Bach aufgestaut und einen hellen, klaren See geschaffen, in dem sich die Wolken spiegelten. Am Ende des Tales mussten sie ihre Drachen hochziehen. Sie überquerten einen hohen, schmalen Pass, dicht über der Schneedecke. Auf der anderen Seite öffnete sich das Tal zu einer weiten Ebene. Es zeigten sich Grasflächen, mit Strauchwerk bestanden, und Bäumen in voller Blüte. Tiere flohen vor ihnen her. Der Himmel war jetzt strahlend blau, hier und dort zogen ein paar einsame Wölkchen drüber hin. Auf den Gipfeln der hohen Berge hinter ihnen lagen Eis und Schnee und glänzten kalt in der Sonne. Yukomi und Sabu legten eine Pause für die Nacht ein.
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"Warum habt Ihr mich aus dem Kloster entführt, Yukomi-oiyii?" Diese Frage brannte, seit sie von der Felsenspitze abgeflogen waren, auf Sabus Zunge. Sie saß in der Nähe eines kleinen Sees auf dem Mantel des Heerführers. Yukomi hockt vor ihr auf den Fersen und hatte den Blick gesenkt. Dann atmete er tief ein. "Meine Fürstin …" Yukomis Verbeugung fiel tiefer aus, als sie es gewohnt war.
"Was soll das? Nun erklärt mir endlich, warum Ihr mich ständig Fürstin nennt. Was ist mit meiner Familie, mit Hita …?"
"Alles wurde vernichtet. Eure Familie ist nicht mehr. Nur Ihr seid noch da. Ihr seid die Erbin des Hauses Hita."
"Unsinn! Es muss doch jemand überlebt haben!"
"Es tut mir leid, Durchlaucht. Nur eure Zofe Mariko. Sie überbrachte auch die schlimme Nachricht." Yukomi zog umständlich den Ring hervor, den ihm Mariko überreicht hatte, und gab ihn Sabu.
Sie drehte den Ring in der Hand. "Und Ihr? Wieso seid Ihr noch am Leben?"
"Ich hatte auf Befehl Eures hohen Vaters eine Übung der Leibgarde angeordnet. Vorgestern kam Mariko völlig aufgelöst auf Eurer Drachin zu mir und berichtete vom Überfall eines Heeres auf Hita. Wenn stimmen sollte, was mir Eure Zofe berichtete, dann steht es schlimm um uns. Ich habe mich sofort von der Richtigkeit überzeugen wollen, und bin nach Hita geflogen." Der Heerführer stockte. "Wie soll ich sagen? Es ist schlimmer als ich es mir vorgestellt hatte."
"Nun sagt schon. Wie schlimm?" Sabus Herz begann zu flattern. Ihr Vater, den sie abgöttisch liebte, die Stiefmutter, die Schwestern und Brüder, die Verwandten …
"Nur noch eine schwarze, verbrannte Ebene, meine Fürstin. Eine zwei Meilen breite Schneise verbrannter Erde, die weiter nach Südwesten verläuft. Bitte verzeiht einem alten Dragun. Verzeiht, dass ich nicht dort war und Eure Familie beschützen konnte." Yukomi hatte den Kopf auf den Boden gelegt.
Sabu schwieg. Wer besaß die Macht, solch eine Zerstörung, wenn es denn stimmte, was der Heerführer berichtete, herbeizuführen. Wer hatte die Kraft, eine ganze Stadt und das Land drum herum, zu verbrennen?
"War es ein Dämon?"
Yukomi schwieg. Als er sich wieder aufrichtete, sah sie Tränen in dessen Augen. Auch seine Familie war also betroffen.
"Das kann ich Euch nicht sagen, Herrin. Es muss etwas sehr, sehr Mächtiges sein."
"Und Ihr habt Euch mit eigenen Augen davon überzeugt?"
"So ist es. Ich bin der Spur der Vernichtung gefolgt, bis ich den FEIND, so will ich ihn nennen, sehen konnte. Ein mächtiger Heereszug, der auf Somo zielt, wenn ich es recht erkannt hatte." Und Yukomi berichtete:
Einen Tag zuvor noch saß Yukomi in seinem Zelt, um zu frühstücken, als ihm Sabus Zofe Mariko gemeldet wurde. Er wunderte sich, was die Zofe zu so früher Stunde hier im Lager zu schaffen hatte. Für Hofgeschichten hatte er wahrlich keine Zeit, und wenn es etwas Wichtiges gab, so schickte man angelegentlich einen Soldaten. Noch lief die Übung und Yukomi war äußerst unzufrieden mit dem gestrigen Ergebnis. Doch als die Zofe, vor ihm auf den Knien liegend, vom Überfall berichtete, stellten sich ihm die Schuppen auf Kopf und Rücken auf. Und wenn es möglich gewesen wäre, wäre Yukomi blass geworden.
"Alle?"
"Alle, Herr. Bis auf den letzten saru. Alle sind tot, Burg und Palast dem Erdboden gleichgemacht, die Ländereien vernichtet."
Yukomis Gedanken rasten. "Und Du bist Dir sicher?"
"Ja, Herr, ich habe es gesehen, mit eigenen Augen!"
"Woher war Dir bekannt, wo die Übung stattfindet?"
"Der Herr flüsterte es mir zu und gab mir diesen Ring, bevor er starb. Ich schlich mich in dem Durcheinander zum Stall, fand dort Tsuyoshi und flog so schnell wie möglich hierher." Mariko berichtete über das Massaker an den Dragunen und den sarus. Vielleicht hatte sie deswegen überlebt, weil sie sich einen grauen Umhang übergeworfen hatte und zwischen den Feinden kaum zu unterscheiden war. Oder die Feinde hatten sie für eine mosu gehalten, so klein, wie die Zofe war. Unwillkürlich schmunzelte Yukomi. Schließlich war es dunkel und nur die Brände erleuchteten das Schlachten. Wie die Feinde ausgesehen, welche Feldzeichen sie getragen hatten, konnte Mariko nicht beschreiben, sie schüttelte nur den Kopf und berichtete, dass sie gesehen hätte, wie Blitze knallend und krachend über den Boden gefahren wären. Aber da war sie bereits in der Luft gewesen.
"Hat man Dich verfolgt?"
"Nein, Herr, ich glaube nicht."
Yukomi brummte unzufrieden. Angst hat große Augen. Er schickte Mariko fort. Sie solle sich in Ordnung bringen und zusehen, wo sie unterkäme.
Was sollte er tun? Aus einem ersten Impuls heraus wollte er zum Ort des Verbrechens fliegen! Doch was sollte er dort? Es gab wohl nichts mehr zu retten. Er glaubte Mariko. Daher musste er Sabu, die vierte Tochter und wahrscheinlich einzige Überlebende der Familie Hita, aus der Sonnenstadt holen und in Sicherheit bringen. So hoffte er, und dass der Feind nicht schneller war, denn dann hätte er einen vollständigen Sieg errungen. Er und seine Leute würden als Ehrlose weiterleben oder Selbstmord begehen müssen. Entschlossen stand er auf und befahl seinem Adjutanten Kamino, seinen Drachen und Tsuyoshi fertig zu machen. Auf dessen fragenden Blick brummte er nur, dass er jemand Wichtiges herholen müsse. Er befahl höchste Alarmbereitschaft für seine Truppen. Sie sollten eine Stellung ausbauen und sich auf Überfälle des Feindes vorbereiten. "Welchen Feind?", fragte Kamino. Doch Yukomi wedelte unbestimmt mit der Hand und befahl ihm nur, zu schweigen. Bei seiner Ehre und den kami seiner Vorfahren! Er winkte einem Soldaten aus seiner Leibgarde: "Folge mir!"
Unterwegs entschloss sich Yukomi doch einen Umweg über Hita zu fliegen, um sich selbst ein Bild zu machen. Der Schock über das, was er sah, saß immer noch in ihm. Und während des Fluges zur Sonnenstadt betete er inständig, rechtzeitig einzutreffen.
Von Weitem erblickte er das Plateau und die kolossale Statue der Sonnenanbeterin. Er landete einfach auf dem Plateau des Heiligtums, ohne sich um die Heiligkeit des Platzes zu kümmern. Die Amazonen, die das Plateau bewachten, wollten sich auf sie stürzen, doch er und sein Soldat schlugen sie nieder, fesselten sie und lehnten sie an eine Mauer.
"Du bleibst hier!", befahl er seinem Begleiter. Dann stürmte er ins Kloster.
Die Stadt hatte er des Öfteren besucht, um die Schwestern Sabus hierher zu bringen oder abzuholen. Und auch Sabu hatte er hierher gebracht. Sie tat ihm leid, denn er spürte an ihr etwas Besonderes. Sie hatte es nicht verdient, eine Dame der Sonnengöttin zu werden.
Die Hita Mädchen bewohnten immer dasselbe Gebäude. So wollte er eigentlich in der morgendlichen Dämmerung Sabu heimlich aus ihrer Klause holen. Dass es anders kam, weil er oben auf der Plattform landen musste, spielte keine Rolle mehr. Woher sollte er auch wissen, dass er dann mitten in eine Prozession platzte? Der Heerführer atmete auf. Er hatte erreicht, was er geplant hatte! Yukomi sah darin ein Werk der Vorsehung! Die Aufregung der Klosterfrauen kümmerte ihn wenig und mit den Göttern wird er sich schon einigen. Still sandte er ein Stoßgebet an den Kriegsgott An-kogo-iti.
Auf dem Rückweg zur Sonnenstele, Sabu im Schlepp, kreisten seine Gedanken um den Überfall und um die Zukunft seiner Schutzbefohlenen. Sabu war sechzehn Jahre und volljährig und mit allem Recht ihrer Geburt Fürstin von Yukokoshima, doch sie war ein Weibchen, keine Kriegerin! Und alles, was sie momentan um sich hatte, waren er, sein Stellvertreter Kamino, die Zofe Mariko und hundertfünfzig Krieger. Er musste sie alle in Sicherheit bringen. Am besten nach Somo, in die Garnison der Burg Niki. Dort konnte er auf weitere dreitausend Kämpfer rechnen. Hinzu rechnete Yukomi die Dracs der Umgebung und freie Dragune. Damit brachte er zusätzlich zehntausend Kämpfer zusammen. Leider hatte er keine Ahnung, wie mächtig der Feind war, woher er gekommen war und welches Ziel er hatte. Nach allem, was er glaubte gesehen zu haben, meinte Yukomi, dass der Gegner nach Somo ziehen wird.
„Ganz sicher wird er nicht aufhören, Euch zu suchen und zu verfolgen. Ich musste alles tun, die Familie, genauer die neue Fürstin Hita Sabu, zu schützen. Ich habe auf die Familie Hita geschworen, mich vor dem kano-i‘iyo verneigt, ich bin ein Teil der Familie. Eile war geboten!“
Ein FEIND also! Ein Dämon aus den Unterwelten, ein böser kami oder ein feindlicher Fürst, der gegen die Axiome Sinis verstoßen hatte. Nur wer kann es gewesen sein? Hikoku Asamoto, die Kasumi, die Higishis? Aber woher sollten Dragune solche Kräfte haben. Durch Zauberei?
Sie brauchte noch Zeit, all die Tatsachen, die auf sie einstürmten, zu erfassen und zu bewerten. Um sich zu beruhigen, stand sie auf und ging zu dem nahen Weiher. Am Ufer sah sie in das spiegelglatte Wasser. War sie das, was ihr als Spiegelbild entgegensah? Oder nur ein Traum, und wenn sie sich jetzt kneifen würde, wachte sie dann auf und wäre noch in der Sonnenstadt? Wie in Trance ging sie zurück zu Yukomi. Nein, es war wahr! Da stand jetzt der Heerführer, groß und mächtig und sah sie traurig und hilflos an.
"Ich danke Euch, Yukomi-oiyii. Fliegen wir weiter", sagte sie am anderen Morgen. Wohin auch immer, dachte sie, und stieg müde auf ihre Drachin. Sie hatte kaum geschlafen. Neben den Sorgen um ihre Zukunft war es das Ungewohnte, in der freien Natur zu übernachten. Außerdem fror sie unter der dünnen Decke und kuschelte sich zwischen dem Soldaten an Yukomis Rücken. Dennoch nickte sie immer nur kurz ein.
Zu Sabus Beruhigung kannte sich Yukomi in diesen Bergen aus. Sie wusste, dass der Heerführer aus niedrigen Rängen bis zu seiner jetzigen Position aufgestiegen war. Als Drachenritter, als ryuu-ooi, hatte er viele Reisen zu anderen Herrenhäusern gemacht. Er war Soldat des achtundachtzigsten Hikoshu-sham gewesen, kannte die Topografie Sinis auswendig. Es gab nicht die kleinste Stadt, die Yukomi nicht kannte und deren Lage ihm unbekannt war. Selbstsicher saß der Heerführer auf seinen Drachen. Er schien zu wissen, was er zu tun hatte und Sabu schloss sich ihm bedenkenlos an.
Die Ebene lag jetzt hinter ihnen. Wieder durchflogen sie in geringer Höhe weitere Täler, überquerten enge Pässe, glitten dicht über wilde Bergflüsse und jagten ahnungslose Wildtiere auf. Sie erreichten die Ebene von Hikoku. Hier wuchs ein dichter Wald aus riesigen Eisenbäumen. Vogelschwärme stiegen erschreckt auf. Zuletzt passierten sie die Grasebene bei ryo‘shima, die "Erfrischende" genannt, und überquerten den Hirotago, den Grenzfluss zwischen Shoushima und Yukokoshima. Im Westen lag die Hafenstadt Fuko in Yukokoshima und im Osten Sago, die zum Fürsten von Shoushima gehörte. Inzwischen war die Sonne auf Mittag gestiegen. Sabu hatte keine Augen für die sanfte Landschaft, die satten Farben des Frühjahrs und den blauen, jetzt wolkenlosen Himmel. Ihr Herz war schwer von Trauer und Sorgen um so viele Dragune. Viele hatte sie persönlich gekannt oder sie waren ihrer Familie eng verbunden - gewesen. Sie kannte ihre Namen und die Namen ihrer Vorfahren bis ins vierte Glied und konnte sich nicht vorstellen, dass sie nicht mehr waren.
"Bleibt in dieser Höhe und Richtung, Fürstin. Ich will sehen, ob Truppen nach Süden unterwegs sind." Yukomi liess seinen Drachen steigen, während Sabu etwas langsamer weiterflog. Wenig später schloss sich Yukomi wieder an. "In der Ferne sind Rauchschwaden zu erkennen. Burg Koki scheint zu brennen und auch die Stadt. Dreißig Meilen in Richtung Osten wälzt sich die gewaltige Heerschlange nach Südwest. Sie ziehen tatsächlich nach Somo!"
Sie näherten sich einem lichten Wäldchen. "Hinter dem Wald befindet sich unser Lager." Yukomi hatte wieder die Führung übernommen. Stolz sah Yukomi nach unten. Seine Leute waren in der Zwischenzeit nicht faul gewesen und hatten eine befestigte Stellung gebaut. Es war ein fünfeckiges Fort. Spitze Pfähle ragten von der Palisadenmauer nach außen, niedrige Türme beherrschten die Ecken. Sogar flache, mit Gras abgedeckte, Unterstände hatte man gegraben.
Sie landeten auf einer Wiese vor der Festung. Vier Drachen lagerten darauf. Sie drehten ihre großen Köpfe den Neuankömmlingen entgegen und schnüffelten leise. Yukomi und Sabu gingen auf das offene Tor zu. Die Soldaten hatten bereits den Heerführer und die Fürstin erkannt und nahmen Aufstellung. Jemand holte die Standarte der Leibgarde des Fürstenhauses aus dem Zelt des Heerführers.
Sabu war in ihrer Novizinnenrobe unwohl, weil sie meinte, sie sei damit fehl am Platze. Aber sie hatten keine Zeit für umständliche Zeremonien, die die Sinis überdies so lieben und mit Geduld und Genuss praktizierten. Sie flüsterte dem Soldaten, der sie bis hierher begleitet hatte, zu: "Lauft zu meiner Zofe. Sie soll sich für mich bereithalten. Und beschafft mir eine Rüstung." Der Soldat salutierte und lief unverzüglich davon. Dass sich die Fürstin persönlich an ihn gewandt hatte, erfüllte ihn mit Stolz und ehrte ihn gleichzeitig.
Sabu blieb vor der Front der Soldaten stehen. Jetzt ließ sie sich Zeit, jedem Einzelnen ins Gesicht zu sehen und es sich zugleich zu merken.
Kurz vor ihrer Landung war in ihr ein erster Plan gereift. Sabu musste den kano-i’iyo, das Gehäuse der Geister ihrer Vorfahren, aus Hita holen. Was aber, wenn der Feind den Kani gestohlen oder vernichtet hatte? Was dann? Egal! Koste es, was es wolle! Sie musste die Überreste suchen, und notfalls einen neuen kani aufstellen! Solange sie lebte und der kano-i’iyo bestand, lebte auch die Familie Hita! Und dazu brauchte sie die besten Soldaten dieser Truppe. Es war jetzt ihre Leibgarde und ihre Eliteeinheit! Langsam ging sie durch die Reihen von Mann zu Mann. Jeden fragte sie nach seinen Namen und dem seiner Familie. Ehrenhafte Familiennamen hörte sie. Familien, die seit Hunderten von Jahren treu ihrer Familie gedient hatten und stolz darauf waren. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Angehörigen den Überfall überlebt oder in Sicherheit waren.
Irgendwas musste sie den Kriegern sagen. Sie musste ihnen Mut zureden und ihnen erklären, warum sie hier war. "Last mich zu den Soldaten sprechen, Yukomi." Der Heerführer trat erstaunt beiseite. Sabu stellte sich vor die Front: "Soldaten! Jemand hat das Haus Hita feige überfallen. Man meldete mir, dass alle, die zu meiner Familie gehörten, tot, dass die Burg Hita und die Stadt vernichtet sein sollen. Tausende Dragune sind dabei dem Anschlag zum Opfer gefallen! Es können auch Mitglieder aus euren ehrenvollen Familien dabei gewesen sein." Sie sah Erschrecken in den Gesichtern ihrer Soldaten. Sie wissen nichts von dem Angriff! Mariko hatte also geschwiegen, wie der Heerführer es befohlen hatte. Soll sie weiterleben, dachte Sabu. Sie machte einen Schritt auf die Front zu und rief: "Das können wir nicht akzeptieren!" Sie holte tief Luft. Kalte Wut stieg in ihr auf. Ihre Stimme wurde hart. "Ich habe mich entschlossen, nach Hita zu ziehen und den kano-i’iyo meiner Familie aus den Händen des Feindes zu reißen! Und Rache zu nehmen! Und einige von euch sollen mir dabei helfen!"
Für einige Sekunden herrschte Stille, dann schrien die Soldaten: "Hita!" Und schlugen sich auf die Brustharnische. "Rache", war das Wort, das sie riefen, und: "Für das Haus Hita!"
Sabu drehte sich um. "Lasst wegtreten, Yukomi." Den Satz kannte sie von ihrem Vater, wenn die Krieger ihres Hauses zum Morgenappell angetreten waren.
"Herrin", flüsterte Yukomi, als die Soldaten wieder an ihre Aufgaben gegangen waren, "Wir müssen unbedingt nach Somo. Um Eurer Sicherheit willen und um die Verteidigung vorzubereiten."
"Darum, Yukomi-oiyii, kümmert Ihr Euch. Holt Truppen heran! Hebt so viel Soldaten aus, wie Ihr könnt. Lasst die Flotte den Hirotago hochfahren. Wir sammeln uns am Kasumi-See, vorausgesetzt die Zeit reicht dazu aus. Bleibt in Somo und wartet auf mein Zeichen. Alarmiert alle Garnisonen im Land."
Yukomi sah erst erstaunt auf seine Fürstin, dann verneigte er sich tief. Er begriff, dass Sabu nunmehr seine Befehlshaberin, und ein echter Spross ihrer Familie war. Ihm war, als würde Fürst Hita Kenshoori, Sabus Vater, vor ihm stehen. Er salutierte. "Ich werde unverzüglich aufbrechen."
"Nehmt alle Soldaten mit, doch überlasst mir drei der Besten."
"Danke, Herrin. Aber das schaffe ich mit meinem Drachen allein. Es ist unauffälliger und ihr braucht jeden Mann."
"Nein, Heerführer. Ihr werdet nach Somo gehen und jeden mitnehmen, der bei meiner Aktion nicht gebraucht wird. Sammelt unsere Truppen und geht einer Schlacht so weit wie möglich aus dem Weg, doch lasst den Feind nicht nach Somo hinein. Wartet, bis ich wieder zu Euch gestoßen bin. Tsuyoshi bleibt ebenfalls bei mir."
"Verstehe, Herrin. Wie Ihr befehlt." Yukomi verneigte sich tief. "Seid ihr mit meinem Adjutanten Kamino sowie Mosaru und Yolo einverstanden?"
"Ausgezeichnet. Und wie lange werdet Ihr brauchen?"
"Ich werde mit zwei Drachenreitern vorausfliegen und die Stadt alarmieren. Die Soldaten werden im Schnellmarsch folgen. Eine Woche werden sie brauchen. Ich benötige zwei Tage, um die Truppen um Somo zu alarmieren und zehn Tage, um vollständig mobilzumachen."
"Gut. Bis dahin habe ich den kano-i’iyo in meinen Händen und bin auf dem Weg nach Somo. Eilt Euch, Heerführer."
Yukomi straffte sich. "Mögen die Götter mit Euch sein, Fürstin!" Er salutierte und marschierte schweren Herzens davon. Yukomi hoffte inständig, dass Sabu nicht nur reden konnte, sondern auch Soldaten führen.
"Mögen die Götter auch mit Euch sein, Yukomi-oiyii!", flüsterte Sabu dem Heerführer hinterher. Sie hörte ihn laut Befehle geben, dann wandte sie sich an die drei Soldaten, die eben zu ihr getreten waren. "Kamino, Mosaru, Yolo. Macht euch bereit. Morgen, bei Sonnenaufgang, brechen wir auf." Sie blickte noch einmal Yukomi und ihren Kriegern nach, die sich zum Abmarsch bereit machten. Dann drehte sie sich um und ging in das Zelt des Heerführers, dass er ihr überlassen hatte.
Hier war alles auf das Praktischste eingerichtet; hinter einem Vorhang befand sich ein einfaches Feldbett. Eine dicke Wolldecke lag eingerollt am Fußende. Auf einem Hocker standen eine blecherne Schüssel und ein Krug mit Wasser. Den Raum beherrschte ein großer Tisch, auf dem die Karte der Umgebung ausgerollt lag. Ein Klappstuhl, ein Klapptisch mit den Schreibutensilien des Adjutanten stand seitlich davon. Sabu war vor der Karte stehen geblieben und betrachtete sie eingehend. Sie konnte Karten lesen, denn sie durfte bei Manövern der Truppen Hitas dabei sein. Alles, was mit dem Militärischen zu tun hatte, interessierte sie damals sehr. Sie hatte auch nicht verstanden, warum sie der Sonnengöttin geweiht sein sollte.
Der Ausschnitt, den die Karte zeigte, war nur die nähere Umgebung des Feldlagers von vielleicht zwanzig Meilen in alle Himmelsrichtungen. Sie sah sich weiter im Zelt um. In der rechten Ecke waren ein Ständer für die Waffen des Heerführers und links der für die Rüstung aufgestellt. Am Eingang zum Zelt brannte eine Feuerschale, die nachts Wärme spendete und etwas Licht. In eisernen Haltern brannten Fackeln. Vor dem Zelt standen zwei Krieger Wache.
Sabu seufzte. Nicht die Einfachheit der Unterkunft erschreckte sie, sondern der Bruch in ihrem Leben, der sie von einer Sekunde auf die andere in eine völlig neue Situation gezwungen hatte. Vor wenigen Stunden lebte sie noch in der Abgeschiedenheit der Sonnenstadt, der Göttin nyoki-daiki gewidmet, in genau festgelegten Regeln und Riten, Lernen und Gebet, Arbeit, Übungen und Meditation. Jetzt stand sie hier im Zelt eines militärischen Befehlshabers und hatte innerhalb eines Augenblicks eine unsichere, gefährliche Welt betreten. Und war die Fürstin eines großen, stolzen Volkes von Dragunen!
Sie hätte sich Yukomi anschließen und in die Sicherheit der Festung von Somo fliehen können. Doch stattdessen hatte sie entschieden, den Kano ihrer Familie zu retten und die Ehre des Hauses Hita wiederherzustellen.
Sie ging wieder zum Kartentisch und suchte eine Karte mit einem größeren Ausschnitt. "Wache?"
"Fürstin?"
"Schickt nach Kamino."
"Zu Befehl."
Es dauerte nur Augenblicke, dann stand Yukomis Adjutant im Zelt.
"Ich brauche eine größere Karte, Kamino. Eine, die ganz Sini zeigt. Haben wir eine solche?"
Kamino griff in einen Stapel Pergamentrollen und förderte eine Karte zutage. Er rollte sie auf und beschwerte die Ecken mit Steinen, die zu diesem Zweck auf dem Tisch lagen. "Es tut mir leid, Eure Gnaden, wir haben nur diese."
"Danke." Es war die Karte von Yukokoshima und einer größeren Ansicht der Länder um ihr Land herum. Im Norden lag Shoushima, das Land des Fürsten Hikoku Asamoto. Fruchtbar, wohlhabend. Fürst Asamoto galt als der zweitmächtigste Dragun in Sini. Die Landwirtschaft und Tierzucht warfen hohe Gewinne ab. Landwirtschaftliche Produkte aus Shoushima waren vor allem im Norden Sinis sehr begehrt. Im Osten grenzte Minoru an Yukokoshima. Der Fürst von Minoru, Hidaro Higishi, gehörte nicht unbedingt zu den Freunden ihrer Familie. Sabu aber konnte sich nicht vorstellen, dass sie es waren, die ihr Land überfallen hatten. Die Minorus waren Seefahrer und Fischer, wie ihr Vater etwas herablassend bemerkt hatte. Sie lebten vom Handel, einem nicht besonders angesehenem Handwerk in Sini. Doch sie schienen nicht arm, denn sie hielten sich ein großes Heer. Im Süden lebten die Akaya und die Kasumis. Von ihnen wusste Sabu nicht so viel, nur, dass sie mit den Hitas nicht verwandt waren.
"Herrin?" In der Tür stand Mariko und verneigte sich tief, in den Armen hielt sie Rüstungsteile. "Eure Rüstung, Herrin." Sie erhob sich, ging zum Ständer und begann die einzelnen Teile aufzuhängen. "Wir haben das Beste zusammengesucht, das wir angemessen für Euch fanden." Sie hing die Stücke an den Ständer.
"Gut, wenn Du fertig bist, lass mir ein Bad bereiten. Und Euch danke ich, Kamino. Geht und bereitet Euch weiter vor."
Eine Wache trat ein. Das war ungewohnt für Sabu, denn üblicherweise wurde angeklopft.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Reiner A. Hampusch
Bildmaterialien: Reiner A. Hampusch
Cover: Titelbild: Hironymus Bosh, Ausschnitt aus "Einblick in die Hölle"
Tag der Veröffentlichung: 26.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0856-7
Alle Rechte vorbehalten
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Allen Fans der fantastischen Literatur