Reiner A. Hampusch
Mellerts Fälle
Der Weiße Wal
Kriminalroman
Zu diesem Buch
Reiner A. Hampusch setzt mit diesem dritten Buch die Reihe der Mellert-Fälle fort. Wir befinden uns diesmal in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Mellert kehrt aus dem Exil, in dem er für die Amerikaner arbeitete, nach Berlin zurück. Unentschlossen, ob er bleiben soll oder nicht. Doch dann wird er "überredet", wieder auf seiner alten Position als Mordermittler in Berlin zu arbeiten. Und obwohl er in den wohlverdienten Ruhestand gehen könnte, sagt er zu und begegnet seinem alten Feind – nicht direkt, doch dessen blutige Spur zieht sich durch ganz Europa. Mellert fühlt sich wie Käpt‘n Ahab, der seinen Weißen Wal suchte und an dem er zerbrach. Doch Mellert ist anders und er hat gute Freunde.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2021 Text und Umschlag Reiner A. Hampusch
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 978-3-XXXX-XXXX-X
Für meine liebe Frau Gisela
und für Katrin, die mir die Idee geliefert hatte
INHALT
Ende Oktober 1946 - Mellert 10
September 1945 - Im alten Revier‘ 17
Der ‚Gärtner‘ 21
Sommer 1936 - eine ganz private Angelegenheit 24
Ende September 1946 - wieder auf der Flucht 28
Ein toller Plan. 35
Mitte November 1946 - Piet Langhans 41
3. November 1946 - Eine Laube in Stralsund 44
3. November 1946 - Mellert 48
Sommer 1937 - Berlin-Wilmersdorf 53
Dezember 1946 - Ein neuer Beginn 56
Juli 1942 - Russland 66
Mitte Dezember 1946 - Friesenstrasse, Polizeipräsidium 68
Dezember 1946 – Stralsund, nachts gegen drei Uhr 75
22. Dezember 1946 – Polizeipräsidium FriesenstraSSe 78
23. Dezember 1946 - Ein Lager in Spindlersfeld 83
23. Dezember 1946 - Polizeipräsidium Friesenstrasse 87
25. Dezember 1946 - Hiddensee 97
26. Dezember - Friesenstrasse 104
Am gleichen Tag in Neuendorf, ein Haus hinter den Dünen 109
28. Dezember - Spuren? 114
2. Januar – Hiddensee 118
Zwei Tage später - Kloster 127
4. Januar 1947 Berlin, FriesenstraSSe 133
Januar 1947 - mitgegangen, mitgefangen 137
Januar 1947 - Marie Mellert 143
Mitte Januar 1947 - Ick sach nüscht, Herr Kriminal! 148
Drei Tage später - Kopflos 155
England, Mitte Januar 1947 - Anna 158
Ende Januar 1947, frühmorgens - Mellert 161
Ende Januar 1947, am späten Abend - Marie 175
Anfang Februar 1947 - Reise in den Norden 177
Februar 1947 - Mellert 186
Am gleichen Tag - Kalle 191
Februar 1947 - England, Epsteiner 197
23. Februar 1947 – In Sachen Schuster-Bande 201
24. Februar 1947 – Auferstanden - ein unerwarteter Besuch 206
Ende März 1947 – Berlin, ein Zeuge 213
März 1947 – Anna, Hiddensee, Kloster 216
Ende März 1947 - Marie 221
31. März 1947 -Friesenstrasse 225
3. April 1947 - Friesenstrasse 228
3. April 1947 – Stahlnetz 233
8. April 1947 - Friesenstrasse 242
April 1947 - Anna 245
15. April 1947 Friesenstrasse 249
April - Anna, Hiddensee 253
21. April 1947 – Friesenstrasse 257
22. April 1947 - Friesenstrasse 264
22. April 1947 – Epsteiner 273
23. April – Friesenstrasse 282
23. April Untersuchungshaftanstalt Berlin-Moabit 285
Ende April 1947 - Anna – Hiddensee 291
April 1947 – Friesenstrasse 298
April 1947 - Marie 306
3. Mai 1947 - Friesenstrasse 314
2. Mai 1947 – Haus der Mellerts 318
3. Mai 1947 – Friesenstrasse 323
Am gleichen Tag spät nachmittags 331
3 Mai 1947 Spätabends, Münchmann 338
5. Mai – Haus der Mellerts 342
8. Mai 1947 – Friesenstrasse 346
Epilog 351
Nachtrag zum Epilog 359
Aus dem Protokoll der Vernehmung des Helmut Jagoda 366
Erklärung des Autors 370
dramatis personae 372
"Verdammter Wal! Hast du immer noch Kraft?"
Herman Melville – Moby Dick
Die altgediente DC2 tanzte in der Thermik wie eine wild gewordene Wespe. Sie hatten die Nordseeküste vor Rotterdam erreicht. Es war eben Ebbe. Unter ihnen breitete sich das Wattenmeer aus, durchzogen von unzähligen mäandernden Kanälchen, die das abfließende Wasser fleißig zu jeder Tide neu anlegte. Die Passagiere, wenn sie denn aus dem Fenster sahen und nicht mit dem Füllen gewisser Tüten beschäftigt waren, erkannten den großen Kanal der Maas bei Hoek van Holland vor Rotterdam, in dem sich die schon kalte Oktobersonne spiegelte. Mellert sah auf. Ihm schmerzten Hintern und Rücken von den harten Bänken, auf denen sie sitzen mussten, und der Kopf von dem sonoren Gebrumm der Flugzeugmotoren. Aber schließlich saßen sie in einer Militärmaschine, bei der es eher darauf ankam, dass sie in der Luft blieb, wenn es nötig war, und die Passagiere nur kurz in ihr verweilten. Es war das dritte Mal seit dem Ende dieses Krieges, dass er nach Deutschland reiste. Das erste Mal, im Mai 45 war er mit Epsteiner auf "Anschauungsreise" in Berlin gewesen. Das taten damals die alliierten Offiziere gerne, wenn sie es sich leisten konnten. Jeder war neugierig, wie der Hort des Bösen aussah, nachdem der ganze Nazispuk untergegangen war. Im Anschluss fuhren sie sogar zu ihrem ehemaligen Chef, Kriminalrat Gebbert, in der Hoffnung, wieder einmal ein bekanntes Gesicht zu sehen. "Kommen Sie zurück?", fragte sie Gebbert. Sie hatten nichts versprochen, sich nur angesehen und mit den Schultern gezuckt. Wer weiß, was aus diesem Trümmerhaufen wird, hatten sie unausgesprochen nur mit den Augen gesagt und waren seltsam berührt zurückgeflogen. Der eine wieder nach England, der andere, Mellert, an die belgische Grenze, zu seinem Stützpunkt. Im September 45 wurde die Abteilung ganz nach Berlin verlegt. In dieser Woche schleppte er Akten und Möbel in ein unversehrtes Haus in Zehlendorf, das die Army in Beschlag genommen hatte. Bei der Gelegenheit besuchte er ihr Haus in der Nähe und nahm es ebenfalls in Beschlag. Es stand sowieso leer, weil der zwischenzeitliche Bewohner im April 45 Selbstmord begangen hatte.
Bevor der Flieger startete, zog ihn der Pilot zur Seite und erklärte, dass sie bis Arnheim fliegen würden und von dort, nach zwei Stunden Aufenthalt, er blickte dabei stolz auf seine nagelneue Beute-Armbanduhr, weiter nach Hannover. Er müsse dann zusehen, wie er nach Berlin weiterkäme. Mellerts Drei-Sterne-General hatte breit gegrinst, ihm auf die Schulter geschlagen und gemeint, dass er es, wie er Mellert kenne, schon schaffen würde.
Colonel Mellert sah wieder aus dem Fenster. Der Flieger machte eben einen Satz, schien in der Luft zu verharren und fiel dann etliche Meter in die Tiefe, wo er sich wieder abfing. Ein paar dünne Wölkchen flogen am Fenster vorbei. Sein Gegenüber, ein Major, erbrach sich zum fünfundzwanzigsten Male in die Tüte. Mellert befürchtete, dass beim nächsten ‚Ausbruch‘ mehr als nur Magensäure in der Tüte landen würde. Der Major war schon grün im Gesicht. Zum Glück war es in der Militärmaschine so laut, dass er die unangenehmen Geräusche des Reihers nicht hören musste. Er lenkte sich ab, in dem er sich auf das konzentrierte, was von oben zu erkennen war. Und das erfreute Mellert ganz und gar nicht.
In der niedrigen Oktobersonne sah alles leicht vergoldet aus. Der Hafen von Rotterdam zog jetzt unter ihnen vorbei. Er sah Hafenanlagen, Frachter, die entladen wurden oder gerade ein- oder ausliefen. Schlepper dampften emsig auf dem Kanal und Barkassen brachten Docker und Kranführer an ihre Arbeitsplätze. Es war wieder Frieden, und es gab viel zu tun. Die Ruinen des Hafens waren beiseite geräumt, aber die Spuren der Bombardements waren immer noch zu sehen. Langsam näherten sie sich Rotterdam oder dem, was davon übrig geblieben war. Die gesamte Innenstadt war ein einziger grauer Trümmerhaufen, aus dem der mächtige Turm der Laurenskerk und das Het Schielandshuis trotzig herausragten. Mellerts Herz krampfte sich zusammen. Was er in den Wochenschauen und auf seinen Fahrten hinter der Front in Frankreich und Luxemburg gesehen hatte, sah er nun von oben in seiner ganzen Ausdehnung und Brutalität. Wie mag es erst in Deutschland und Berlin aussehen, fragte er sich und gleichzeitig, was will ich eigentlich dort? Er nahm einen Schluck Whiskey aus einem Flachmann, den er immer mit sich trug, wie sein Notizbuch und eine Leica. Er bot ihn auch seinem Gegenüber an, doch der winkte hektisch mit beiden Händen ab und kotzte ein paar Gramm Magenflüssigkeit in die Tüte. Mellert atmete auf. Dann eben nicht! Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ die letzten Jahre wie einen Film vor sich ablaufen.
Oh ja, sie hatten Glück gehabt! Einen riesigen Haufen Glück! Er und Marie und seine beiden Kinder! 1933 waren sie auf Kuba gelandet, als "Erste Klasse Passagiere". Ein "Kaufmann aus Köln" mit seiner Familie auf "Geschäftsreise". Woher die Papiere stammten, wollte Mellert gar nicht wissen, sie waren echt, nur die Personen dahinter nicht. Dann wurden sie "Erste Klasse Flüchtlinge" aus Hitlers Deutschland. Die internationalen Beziehungen Hollaenders, Maries Galeristen, halfen, sie abzuklopfen, auf die Frage, ob sie ihnen nutzen könnten. Und das taten sie dann auch. Mellert wollte irgendetwas tun und so kam er über einen Bekannten Hollaenders zur Fremdenpolizei. Er half bei der Registrierung der Flüchtlinge aus Deutschland, derer es von Tag zu Tag mehr wurden. Alles war dabei; politische und rassisch Verfolgte; Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Künstler, Wissenschaftler, Intellektuelle, Juden. Vor allem Juden, die weiterwollten in die gesegneten USA oder nach Palästina. Mellert registrierte, hörte die Geschichten, die seiner ähnlich waren, er hörte von Verfolgung und Pogromen. Und obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie der Unterdrückungsapparat lief, schätzte er sich glücklich, rechtzeitig dieses Deutschland verlassen zu haben. Es war nicht mehr sein Land, seine Heimat. Aber hin und wieder fragte er sich, was seine damaligen Kollegen jetzt wohl taten, insbesondere Gebbert. Drei Jahre arbeitete er für die Polizei Kubas, sprach endlich fließend spanisch und lernte nebenbei englisch. Marie malte, Anna-Maria und Paul verzauberten die Nachbarn, mit ihrer offenen Art, den blonden Haaren und ihrem merkwürdig witzigem Spanisch. Eines Abends, kurz vor Feierabend, klopfte es und ein Mann trat in sein Büro. Mellert hatte eben seine Utensilien im Schreibtisch verstaut und den Stapel Flüchtlingsakten bereitgelegt, um ihn an die nächste Stelle weiterzugeben. Er mochte keine Unordnung auf seinem Schreibtisch. Die kubanischen Kollegen zogen ihn gerne damit auf. Ein Deutscher eben! Und lachten freundlich und anerkennend.
"Buenas noches."
Mellert sah unkonzentriert auf. Er war nur müde und wollte nach Hause. Ein kurzer Blick genügte: Das ist kein Flüchtling! Der Mann sah viel zu satt und zufrieden aus, und er verströmte etwas von – genau! Den Typ des Geheimdienstlers, den Mellert schon in Deutschland kennengelernt hatte. Achtung signalisierte sich der Inspektor, Gefahr! "Sie wünschen?", fragte er reserviert, "Wir haben schon Büroschluss."
"Weswegen ich auch bin hier." Der Mann sprach gut Deutsch, aber mit einem starken amerikanischen Akzent. Er setzte sich auf den Stuhl vor Mellerts Schreibtisch, schlug die Beine übereinander, schob seinen Hut, dessen schlichtes grau zu dem ebenfalls in schlichtem grau gehaltenem Anzug passte, in den Nacken. Er trug eine gestreifte Krawatte, den obersten Knopf des Hemdkragens hatte er geöffnet, und einige Schweißtropfen liefen ihm über den Hals. Die Schuhe waren extrateure in einem dezenten braun. Den Typ und den Akzent hatte Mellert in den verschiedenen Restaurants und Bars, die Mellert und Marie gelegentlich besuchten, wenn sie denn Zeit und einen Babysitter hatten, kennengelernt. Es lebten viele Amerikaner in Kuba; Geschäftsleute, Outsider, windige Typen und Gangster. Und natürlich Geheimdienstleute. So viele, wie Gangster! Mellert lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Das hatte er immer so gemacht und es war gut so gewesen. Er schwieg, sah sein Gegenüber gelassen an und - wartete. Der Ventilator blies warme Luft von einer Ecke in die andere. Der Mann holte ein goldenes Zigarettenetui aus der Jacketttasche und steckte sich eine Zigarre in den Mund. "Isch darf doch?", und brannte sie umständlich an. Und dann bekam Mellert ein Angebot, von dem er gedacht hätte, dass es das nicht gibt und er nicht wusste, ob er es annehmen konnte.
"Ich muss drüber nachdenken."
"No Problem. Rufen Sie an, wenn Sie es sich haben übergelegt." Eine Visitenkarte wuchs über den Tisch.
"Du hast doch noch nicht zugesagt?", fuhr Marie ihn an.
"Nein. Noch nicht."
"Noch nicht? Und DAS willst Du nicht ernsthaft tun?"
"Ich weiß nicht, hilf mir beim Nachdenken."
So war es immer. Er wusste, dass Marie es hasste, wenn er allein eine Entscheidung traf. Nicht einmal, wenn es darum ging, Essen zu gehen oder in ein Tanzlokal oder ins Kino. Er hatte gelernt, dass es besser war, sich vorher mit Marie abzustimmen, oder noch besser, sie vorsichtig, äußerst vorsichtig auf das Ziel hinzuführen.
"Lass uns darüber schlafen." Das sagte Marie und sah ihn schräg an. "Und, nein, nicht so, wie Du denkst."
Es wurde dann doch so, wie er dachte. Sie schliefen miteinander – und danach sprachen sie über den Vorschlag. Mellert hatte den Kopf auf die Hand gestützt. "Amerika!", sagte er versonnen. "Da wollten wir doch schon immer hin." Und als Marie schnaufte, ergänzte er mit einem Lockmittel: "Dann siehst Du Anna auch wieder."
"Pah! Die sind doch schon wieder sprungbereit, um nach England zu gehen."
"Aber, sieh mal, wir, Du, ich, Annama und Paul …" Er hatte keine Argumente mehr. "Ich tue was für Deutschland", fiel ihm dann noch ein.
"Was?"
"Ich meine, für das richtige Deutschland, nicht das Hitlers."
Marie schüttelte ungläubig den Kopf. Seit wann war Mellert so politisch?
Drei Monate später waren sie in Washington. Und während Marie versuchte, es für sich und ihrer kleinen Familie bequem zu machen (mit sehr wenigen Dingen, die sie mitnehmen konnten), flog er für vier Monate in die Wüste.
"Aufwachen, Sir!" Jemand rüttelte Mellert an der Schulter. War er doch eingeschlafen!
"Sind wir da?"
"Sie müssen sich noch anschnallen, Sir. Wir landen bald."
Mellert atmete auf. Jetzt war er in Deutschland! Das, was er bei seinen kurzen Besuchen, im Mai 45 und im September gefühlt hatte, war anders gewesen. Damals fühlte er sich nicht als Deutscher, eher als Eroberer oder Sieger. Seltsam! Heute war es anders. Er kehrte zurück als Deutscher.
Hauptmeister Marotzke blieb gleich in der Tür stehen, legte die Hände auf den Rücken und sah zufrieden nach rechts und links. Er begann den ersten Rundgang in seinem alten Revier nach zehn Jahren. 1935 hatten ihn seine Vorgesetzten wegen seiner SPD-Nähe in den Süden Berlins abgeschoben. Sozusagen aus dem Schussfeld genommen. Ja, er hatte es bedauert, aber andererseits auch begrüßt. Und ja, er lebte dort unten, dicht bei Spandau wesentlich ruhiger und weniger beobachtet.
Doch jetzt war er wieder hier in seinem alten Revier! Und er war jetzt Hauptmeister. Das hatten die nun davon! Die Sonne schien, es war warm und der Himmel wolkenlos. Was wollte man mehr? Er trat vor die Tür. Viele der neuen Polizisten, die von den Alliierten eingesetzt waren, trugen noch Zivilkleidung. Marotzke hatte noch eine Jacke in seinem Kleiderschrank gefunden; ohne Hoheitsabzeichen der Nazis. Darauf war er zu Recht stolz und entsprechend wölbte er die Brust. Er steckte die rechte Hand in die Jacke. Genau zwischen dem dritten und vierten Uniformknopf. Darüber steckte sein Notizbuch, das noch aus der Zeit vor der "Machtübernahme" stammte. Gut gelaunt begann er seinen ersten Dienst in der gewohnten Runde; Aus der Reviertür drei Stufen abwärts bis auf das Trottoire, dann direkt auf die andere Straßenseite. Hier begann das Villenviertel der Reichen, der Filmstars, der Diplomaten und der Mächtigen Berlins. Jedenfalls war das damals so gewesen. Jetzt, im Spätsommer 1945 begegneten ihm amerikanische Besatzungsoffziere oder Soldaten, die die leerstehenden oder leergeräumten Villen für sich oder ihre Dienststellen bezogen hatten oder noch dabei waren, sie in Besitz zu nehmen. Sie grüßten freundlich und Marotzke sah keinen Grund, nicht ebenfalls freundlich und militärisch zurückzugrüßen. Er erinnerte sich an all die Leute, die früher hier gelebt hatten. Hauptsächlich dem Namen nach, doch manche hatte er auch persönlich gekannt. Meist nette Leute, distinguiert, vornehm, freundlich. Er hatte die Namensschilder gelesen und sich die Namen gemerkt. Aber nach 1933 standen andere Namen drauf. Solche, wie Weissenstein, Weiß, Goldberg, Rosenstrauch waren verschwunden und durch deutsch klingende ersetzt. Und auch die Bewohner hatten sich verändert. Er sah mehr und mehr Uniformen in braun und schwarz. Dann wurde er versetzt.
Er wandte sich nach rechts und ging die Reihe der Grundstücke mit den immer noch gepflegten Villen ab. Interessiert las er die Namen und Schilder an den Toren. Jetzt waren es militärische in Englisch. Irgendwelche Dienste und Institutionen, von denen er keine Ahnung hatte. Vor einigen standen streng blickende junge GI, die jeden seiner Schritte beobachteten und ihn schweigend passieren ließen. Einige der Villen lagen still und leer (Noch, dachte Marotzke), andere wurden eben bezogen. Die Villa der Lüdenscheidts, zwei Seitenstraßen weiter, er erinnerte sich an den Einbruchsversuch damals und den netten Inspektor aus der Provinz, stand leer. Er seufzte und bog um die Ecke. Drei Grundstücke weiter, vor der Nummer 43, blieb er stehen. Auf dem Rasen vor dem Haus werkelte ein Gärtner. Er harkte eben den Rasen, den er wohl geschnitten hatte. Der letzte Schnitt erinnerte sich Marotzke an eine alte Gärtnerregel. Da der Mann nicht aussah, wie ein Amerikaner, sprach er ihn an. "Tach, der Herr. Na? Fleißig am Järtnern?" Irgendwie kam er ihm bekannt vor.
"Was soll man machen. Was getan werden muss, muss halt getan werden", antwortete der Mann mit einem leicht österreichischen Akzent. Er stützte sich auf den Holzrechen und wischte sich mit der fleckigen grünen Gärtnerschürze den Schweiß von der Stirn.
"Dann sind Sie sozusagen der Gärtner?"
"Kann man so sagen, Herr…"
"Hauptmeister Marotzke. Ich bin vom hiesigen Revier. Gerade eben auf Streife", erklärte Marotzke und machte mit dem Arm eine umfassende Geste. Sollte doch jeder wissen: Er war wieder hier! Marotzke ließ gewohnheitsgemäß den Blick schweifen. Am hinteren Ende des Grundstückes sah er das Gartenhaus. Er erinnerte sich, dass es mal grün gestrichen war. Schicke weiße Gartenmöbel standen im Sommer davor. Kinder hatten hier gespielt. Soviel er sich erinnerte, gehörte die Villa einem jüdischen Bankier oder Kaufmann. Vor seiner Versetzung stand es lange leer. Das Grundstück wurde durch, Marotzke meinte, es wäre eine Buchenhecke, vom anderen Grundstück getrennt. Marotzke hatte von Gärtnern und schon gar nicht von Botanik eine Ahnung. Er lebte von klein auf in einer Hinterhauswohnung in zwei Zimmer mit Außenklo eine halbe Treppe tiefer in Spandau. Er hatte nie sein Elternhaus verlassen und als die Eltern verstorben waren, zog seinen Frau aus dem kleinen Zimmer ins Schlafzimmer ein. Die war dann 1934 an einer Lungenentzündung gestorben. Sie hatte sich immer einen Garten gewünscht. Tja. Schicksal.
Neben dem Gartenhaus war der Boden umgegraben. Frische Erde war aufgeworfen. Der Wachtmeister wies mit dem Kopf auf das Gartenhaus. "Sie legen wohl einen Gemüsegarten an? Besser isses, sollen schwere Zeiten kommen." Marotzke nickte sich selbst bestätigend zu.
"Schwerer ois jetzt wird’s wohl a net mehr wer'n, Herr Wachtmoaster." Der Mann hatte ihm nicht direkt geantwortet und auch nicht angesehen. Sein Blick irrte stetig vom Gartenhaus zu Marotzkes Tschako und zurück. Hm, wer weiß, was das für einer ist und was ihn beschäftigt. Aber ich werde ihn im Auge behalten. "Wohnen Sie hier?", fragte er dann doch noch.
"Manchmal, wenn der Herr … Direktor nicht im Hause ist."
"Ah ja. Na dann, guten Tag noch, Herr…"
Doch der Mann drehte ihm den Rücken zu. Er schulterte seinen Rechen und ging stracks zum Gartenhaus.
Marotzke zuckte mit den Schultern und ging weiter Streife. Er las im Vorbeigehen noch das Namensschild: "Deutsche Bau- und Wohn-GmbH". Darunter: "Dr. Heinz Mayer". Mehr nicht. Und Marotzke wunderte sich, dass noch keiner der Besatzer hier eingezogen war. Wer war Dr. Mayer? Wie wichtig war er für die neuen Machthaber? Als er von seiner Runde zurück im Revier war und vor einer Tasse Muckefuck saß, hatte Marotzke den Gärtner des Dr. Mayer und die dunklen Flecken auf dessen Schürze wieder vergessen.
Jagoda stapfte schwerfällig über den Rasen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, ein Schnüffler! Sah gefährlich aus, für ihn und seine Beschützer. Der Kerl sieht zu viel und fragt zu viel. Gut, dass er dessen Tschako rechtzeitig gesehen hatte. So konnte er unschuldig tun. Man sollte ihn liquidieren. Er würde es seinem Chef vorschlagen. Vorerst aber musste er sich um das Loch neben dem Gartenhaus kümmern. Gemüsegarten! Jagoda schmunzelte. Keine schlechte Idee. Wer würde schon unter einem Möhrenbeet etwas Anderes als Regenwürmer vermuten? Er stellte den Rechen an den Schuppen und griff sich eine Schaufel. Der Gärtner spuckte in die Hände und begann das Loch zu schließen. Dumpf fiel der Sand auf die alte Decke, die den Leichnam zu zwei Dritteln bedeckte und den Kopf freiließ. Der Gärtner schaufelte, wischte sich zwischendurch den Schweiß mit einem sauberen Taschentuch von der Stirn, und setzte sein Werk fort, bis die Grube gefüllt war. Es hatte nicht lange gedauert, da sie nicht besonders tief angelegt war. Er klopfte den Boden fest und legte die vorher sauber beiseitegelegten Grassoden wieder auf. Mit den Füßen stampfte er das Gras fest. Dann verteilte er den übrigen Sand zwischen die Hecken. Noch ein bisschen festtreten und fertig! Zufrieden betrachtete er sein Werk. Er sah zum Himmel. Es zogen Wolken auf. Ein paar Tage Regen und es wird nichts mehr zu sehen sein. Der ‚Gärtner‘ stellte die Schaufel an den Pavillon. Dann ging er hinüber zur Villa seines Chefs, direkt zur Doppelgarage.
Er schloss die Tür zur rechten Garage auf. Nur er hatte den Schlüssel. Seit der Chef ihn hierher geholt hatte, war sie sein Revier. Nie hatte ein Auto hier drin gestanden. Nie war ein anderer hier gewesen als er. Der ‚Gärtner‘ hatte aus der Garage eine Werkstatt gemacht, angeblich, um für Reparaturen am Haus immer bereit zu sein. Umsichtig öffnete er die Tür und trat ein. Er betätigte den Lichtschalter. Gleich an der linken Wand war auch ein Waschbecken, in dem er sich die Hände wusch. Er betrachtete nachdenklich das graue Handtuch an einem Nagel an der Wand. Ich sollte es bei Gelegenheit austauschen. Es war schon recht schmutzig, vor allem zeigten sich Flecken von Erde und Blut darauf. Trotzdem trocknete er sich die Hände damit ab. Er schloss die Garagentür von Innen und schob noch einen Riegel vor.
Der Stuhl lag noch auf dem Boden. Er hatte nur noch drei Beine. Das vierte, an dem noch Hautreste und Haare klebten, hatte er benutzt. Die Blutflecken auf dem Betonboden wird er später mit Kalk beseitigen, das Stuhlbein im Ofen verbrennen. Vorerst hatte er Dringenderes zu erledigen. Er ging hinüber zur Werkbank. Langsam stieg die schon abgeklungene Erregung wieder an. Dort lagen sie: Die Hände und Füße seines Opfers. Schlank, weiß, fein, ohne Makel, die Finger- und Fußnägel waren gepflegt und sauber. Am Ringfinger der linken Hand steckte noch ein Goldring mit einem kleinen Edelstein. Er zog ihn ab und legte ihn beiseite. Nicht vergessen, dachte er, während er die Hosen öffnete und seine Fetische fixierte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Jetzt!
Als er seine Beute ‚beerdigte‘ zitterten ihm noch die Hand und die Knie. Doch er war zufrieden. All der Druck, die furchtbaren Gedanken, Tagträume und Wünsche waren von ihm abgefallen. Er legte seine Trophäen in ein Extragrab. Das machte er immer. Es war nicht nur ein Verscharren. Es war mehr. Etwas wie … wie … etwas Besonderes.
Und als er mit frisch gewaschenen Händen sein Zimmer in der Villa aufsuchte und sich zur Ruhe begab, begann es wieder, das Warten auf das nächste Mal – auf den Moment, wenn der Druck unerträglich und die Wut nicht auszuhalten war. Wenn er wieder losziehen musste.
Edeltraut schmiegte sich an ihren Mann. "Musst Du wirklich schon zur Arbeit?", fragte sie schmollend. Natürlich wusste sie, dass er zur Arbeit musste, aber es machte ihr Spaß, die kleine unschuldige Maus zu spielen. Er strich ihr über den Kopf. "Das weißt Du doch, Kind." Er nannte sie immer "Kind". Das mochte sie nicht. Aber er ließ sich nicht davon abbringen. Sie war doch kein Kind! Sie war die Mutter zweiter süßer Kinder, eines Jungen und eines Mädchens, die sie mit in diese Ehe gebracht hatte. Damals, am Anfang ihrer Ehe, mochte sie diesen Mann, der nicht gefragt, sondern sie genommen hatte. Er war zart zu ihr gewesen und liebevoll zu den Kindern. Er verdiente gut, sehr gut, und ihm stand die Uniform. Er sah so schick darin aus. Dieses Schwarz mit den silbernen Tressen! Wenn sie über dem Kurfürstendamm gingen, hakte sie sich bei ihm ein und sah stolz auf die anderen Frauen herab, die ihr mit ihren Männern entgegenkamen. Seht hier, das ist mein Mann!
Sie drehte sich noch einmal auf die andere Seite, während er sich aus dem Bett erhob und ins Bad ging. Was genau er am Tage tat, sollte sie nicht interessieren. Nicht mehr. Sie hatte einmal gefragt, und er hatte sie nur angesehen. Ihr war kalt geworden dabei. Also fragte sie nicht. Doch, dass es wichtig und sehr geheim war, was er so tat, wusste sie genau. Sie wusste mehr, als ihm jemals lieb sein könnte. Sie lächelte heimlich ins Kopfkissen. Die Frau hörte ihren Mann im Bad wirtschaften. Dann klapperte Geschirr, wenig später roch es nach frisch gebrühtem Kaffee. Er erwartete sie nicht zum Frühstück. Das holte er in der "Firma" nach.
Oftmals holte ihn ein Wagen ab. Der Fahrer sprang aus dem Auto und hielt ihrem Mann die Tür auf. Die Nachbarn begegneten ihr auch mit dem nötigen Respekt, sicher deswegen.
"Also, bis heute Abend", sagte er, setzte die Mütze auf und verließ die Wohnung, froh, von dieser Frau für zehn Stunden verschont zu sein. Was hatte ihn nur geritten, sie zu heiraten? Edeltraut sah, wie sich die Tür leise hinter ihm schloss. Die Frau atmete tief ein. Die Kinder! Sie musste sie wecken, damit sie nicht die Schule verpassten. Heute war Zeugnisausgabe.
Vor dem Haus wartete der Wagen. Der Fahrer kam herumgeschossen, riss die Tür zum Fond auf und stand stramm. "Morjen, Obersturmbannführer!"
"Morgen, Hampel. Gut geschlafen?"
"Jut, wie immer, Obersturmbannführer!"
"Na dann los."
Der Mann setzte sich in den Fond, rückte sich zurecht und freute sich auf den heutigen Tag, so wie gestern, vorgestern und viele, viele Tage davor. Er hatte es geschafft. Vom kleinen Popel aus der Mulackstraße zum Obersturmbannführer! Na, wenn das nichts ist! Ihm stand alles offen, eine fette Zukunft, die nur durch die Tatsache ein wenig getrübt wurde, dass er im Herbst versetzt werden würde. In die Provinz. Hoffentlich nicht wieder in den Osten. Genaues wusste er noch nicht. Aber eine Beförderung war damit zu erwarten. Mensch, wat willste mehr, dachte er launig.
Der Mann sah aus dem Fenster. Berlin war festlich geschmückt. Zwischen den roten Fahnen mit dem Hakenkreuz der Bewegung wehten die Fahnen der vielen Nationen, die an der Olympiade teilnehmen würden. Der Mann war stolz Deutscher zu sein und auf Deutschland. Man war wieder wer! Die Welt hört auf uns! Und sie wird sich noch wundern, jawoll! "Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt. Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt ...", sang er leise vor sich hin. Im Originaltext hieß es statt „gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“, „hört uns …“. Aber das war Schnee von gestern! Unsereiner singt, gehört! Denn bald gehört uns wirklich die ganze Welt. Jawoll!
Draußen waren die Leute auf dem Weg zur Arbeit oder in den verdienten Feierabend. Die Sonne stand schon hoch, es würde wieder ein heißer Tag werden. In jeder Hinsicht ein heißer Tag! Er grinste zufrieden, als der Wagen vor dem Prinz-Albrecht-Palais anhielt.
"Da sin wa, Obersturm…", sagte sein Fahrer.
"Na, dann woll’n wir mal." Es standen Verhöre an. Sicher wieder verbohrte Bolschewiken. Die gaben nicht auf! Aber wir werden sie alle noch kriegen! Und ausmerzen, wie der Führer immer rief. Ausmerzen! Und er half dabei. Er stieg aus dem Wagen, und begab sich, zufrieden mit sich selbst und der Welt, zu seiner Arbeitsstelle.
Und während der Mann in den Aufzug stieg, fand Elfriede genügend Zeit, sich hinter dem Schreibtisch ihres Mannes zu setzten und eifrig Akten zu fotografieren, die sie aus dem Geheimfach des rechten Schubkastens äußerst vorsichtig entnommen hatte. Dabei lächelte sie sardonisch. Welcher Mann kann Geheimnisse vor seiner Ehefrau bewahren? Der musste erst noch geboren werden! Knips! Umblättern. Der Chef wird sich freuen. Knips.
Der Tag war noch jung, aber er konnte jetzt nicht mehr zurück. Nie mehr! Die Organisation hatte ihn sozusagen obdachlos gemacht! Eine Polizeiaktion vorzutäuschen war wohl die dämlichste Idee, die den Leuten dort eingefallen war. Hessel fühlte sich wie damals, als er aus Auschwitz fliehen musste. Zum Glück war ihm der Absprung rechtzeitig und unauffällig gelungen. Was er später gehört hatte, wie die Russen, vor allem aber die Polen, mit seinen Leuten umgegangen waren, genügte ihm vollends, und sich zu seinem Entschluss zu gratulieren. Und was heißt hier Desertion? Er hatte einen gültigen Marschbefehl in der Tasche, natürlich von sich selbst erstellt. Er war hoher SS-Offizier. Also was soll’s?
Sein Mercedes schaffte noch achtzig Kilometer durch Polens Pampa, dann soff er ab, kurz vor einem gewesenen Dorf, indem trotz allem immer noch Polen lebten. Jedenfalls ging nichts mehr. Mit seiner 08 zwang er einem Mann ein paar Zivilklamotten ab, erschoss ihn diskret und schloss sich einem der vielen Flüchtlingstrecks an, die nach Westen zogen. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde; Drei Tage später fand er einen Trupp der Waffen-SS, der ebenfalls nach Westen unterwegs war. Dem stellte er sich als Mitarbeiter des SD vor. Auf geheimer Mission natürlich. Staatsfeinde und so, sie wüssten schon. Seinen Dienstausweis hatte er behalten und als er ihnen das Ding vorwies, standen sie stramm! Ob sie auf der Flucht waren oder warum sie westwärts zogen, das war Hessel völlig egal. Sie nahmen ihn in ihrem Spähwagen bis zur Oder mit, dann bekamen sie einen anderen Befehl und verschwanden wieder nach Osten, wo schon die Artillerie der Russen grummelte.
In einem Dorf, gleich hinter der Oder konfiszierte er einen Kübel, den der Dorfälteste nur unter Protest herausrückte. Der Blick in die Mündung einer 08 und auf den Dienstausweis eines SD-Mannes ist ein überzeugendes Argument.
In Berlin-Pankow fand er nach langer Suche seinen Freund aus besseren Tagen. Sie arbeiteten damals zusammen im Hauptquartier der Gestapo im Prinz-Albrecht-Palais in der Wilhelmstraße. Der wusste eine Lösung für die Zeit nach dem Krieg, dem verlorenen Krieg, wie der Freund augenzwinkernd und süffisant lächelnd betonte. Er hatte ja verdammtes Recht und war es auch, dem es gelang, dass der Krieg, die Niederlage, der Zusammenbruch, beinahe spurlos an ihnen vorbeigezogen waren – in einem Kuhkaff, in den Bergen in Tirol. Und dort trafen sie einen, der sie in die Organisation einführte. Er hatte von Hessels Verdiensten in Berlin, Polen, Kiev, Russland, Auschwitz und so weiter gehört. Ein Oberführer war immerhin etwas! Nur musste er seine Identität ändern, was ihm nicht schwerfiel! Die Villa wurde Durchgangsstation für "alte Kameraden", die "Organisation" sorgte für die nötige Deckung. Dr. Mayer war ein guter Tarnname und irgendwer hielt die Alliierten davon ab, ihn herauszuschmeißen, wie sein Nachbarn. Hessel drehte sich auf die andere Seite.
Wie gut, dass es diesen Puff gab, in dem sich niemand dafür interessierte, wer er war. Und dass genügend Kleingeld in seiner Tasche steckte. Die Puffmutter war zufrieden mit dem Geld, dass er ihr für die eine Nacht mit diesem Mädchen gegeben hatte. Hessel glaubte nicht, dass es über achtzehn war, es war ihm auch egal. Die Nutte schnarchte leise neben ihm und schmatzte dabei mit den knallrot bemalten Lippen. Sie lag auf der Seite und zeigte ihm ihren entzückenden Hintern. Es juckte ihn, ihn zu berühren. Doch er wollte warten, bis sie wieder munter sein wird - für ihn. Wenn es hell wird, muss er zum Bahnhof, eine Karte kaufen. Er hoffte schnell nach Bayern zu gelangen und dann über die grüne Grenze ins Österreichische. Hessel blinzelte in die Dämmerung. Die roten Tapeten waren noch schwarz, der Vorhang auch, aber der alberne Schrank an der Wand gegenüber fing einen Streifen Gaslaternenlicht auf. Ein gelber, senkrechter Streifen fahlen Lichts, zeigte sich auf der Schranktür. Ihn überkam wieder eine Lust, die er nicht unterdrücken konnte. Also weckte er die Nutte und ließ sie ihn reiten. Er sah auf ihre hüpfenden Brüste und den blond behaarten Schoß und nicht das gelangweilte Gesicht. Dann kam es ihm und er stieß sie vom Bett. "Verschwinde schon! Ich muss mich fertigmachen." Die Nutte legte sich lasziv auf dem Rücken. "Mach man. Ick kieke jerne zu." Wie hatte es denn eine Berlinerin hierher geweht?
Genickschussmaschine hatte man ihn genannt. Schon lange vor Auschwitz. Sein Weg war blutig seit den zwanziger Jahren. Erst arbeitete er als Auftragsmörder für jedermann. Wie es dazu gekommen war, wusste er schon nicht mehr. Aber er spürte sogleich, dass er eine gewisse Befriedigung dabei verspürte. Zwischendurch war er Bandenchef, dann als Geldeintreiber tätig. Er genoss es, die Angst in den Augen seiner ‚Klienten’ zu sehen. Das Flackern der Augen, Händezittern, die Bitten um Gnade. Und ihm waren auch brechende Knochen ein gewisser Wohlklang. Es wurde ihm regelrecht warm ums Herz. Sein erstes richtiges Opfer war schon etwas Besonderes. "Wenn er nicht zahlen kann, dann tu etwas, das andere sehen, damit sie zahlungswilliger werden." Der Boss sog an seiner Zigarre und stieß eine mächtige Wolke in seine Richtung aus.
"Mach ich, Chef."
Zwei Tage später wusste die ganze Schuldnerschaft, dass es wirklich besser für das Gesicht war, zu zahlen. Hessel grinste in sich hinein. Die Bullen suchen bestimmt noch heute. Aber der Blick des Mannes! Dem erst zwei Ohren und dann die Nase fehlten! Als Krönung noch ein paar kleine Schnitte durch die Oberschenkelarterie. Er starb heulend und langsam auf dem Hof dieser heruntergekommenen Fabrik in einem See von Blut. Es war einfach ein unbezahlbares Gefühl! Das Schönste aber war, ihm ging einer ab, wie eine Bombe. Danach fühlte er sich entspannt, leicht und sorgenfrei. Und das passierte ihm beinahe bei jedem Mal.
Meller oder Mellert hieß doch der Bulle, dem er mit der Schrotflinte in die Brust geschossen hatte? Lange her. Hat’s überlebt! Wie ein Bullenbeißer war der hinter ihm her. In den Knast hatte er ihn gebracht! Und plötzlich war er verschwunden. Wie gut, dass er in der Untersuchungshaft jemanden kannte, der jemanden kannte. Er floh nach Schlesien, traf jemanden aus der SS und trat ihr bei. Die war damals noch recht frisch, aber ihre Ansichten gefielen ihm und er passte ins Schema. Und es machte Spaß; eine schicke Uniform, Pistole, Dolch, Disziplin und Respekt und Leute, die beinahe so waren wie er. Respekt verschaffte er sich auch in der Truppe! Seine Chefs wussten von ihm, dass er besondere Aufgaben gerne erledigte, diskret und je nach Wunsch unauffällig oder deutlich sichtbar. Der politische Kram war ihm egal. Nur wenn es notwendig war, für die Karriere. In wenigen Jahren war er es, der die Befehle gab. Für Hessel war es nur wichtig, dass er zur Elite gehörte. Das tat ihm gut.
Zwei Jahre später war er Sturmbannführer und dafür bekannt, keine Kompromisse zu machen. Dann Adjutant bei Brigadeführer Fleischhauer, der den militärischen Zweig der SS im Osten führte. 1939 erhielt er sein eigenes Kommando. Erst in Ostpolen. Schwerstarbeit für ihn und seine Leute. Ab zweitausend liquidierter Juden zählte er nicht mehr mit, überließ diese Arbeit seinem Schreiber und erhielt das erste Eiserne Kreuz. Dann Schwenk nach Westen, eher langweilig. Ein paar Résistance-Leute, die er ‚verhörte‘. Einmal holländische Partisanen. Die es überlebten kamen an die Wand – und fertig! Zwischendurch immer mal in Berlin, Vorbereitungen auf den "Fall Barbarossa". 1942 Ukraine, Weißrussland, Russland. Endlich! Es war hart und er ging bis an seine Erschöpfung. Sie waren jeden Tag voll wie die Haubitzen, anders hätten sie es nicht durchgestanden. Hessel wurde wieder befördert, man hing ihm das Ritterkreuz zum EK um den Hals. Wieder ein paar Tausend Juden, Kommissare, Partisanen, Russen. Frauen, Kinder, Alte, Verdächtige und vielleicht ein paar Schuldige darunter. Wieder eine lange Blutspur. 1943 schickte man ihn, wegen seiner besonderen Fähigkeiten, nach Majdanek ins KZ. Die Häftlinge nannten es Vorhof zur Hölle. Nun, er sah es anders, er war ja auf der anderen Seite. Und von hier an erschoss er seine Opfer von vorn. Er ließ fünf oder zehn antreten und schoss ihnen in den Kopf. Er ließ sich Zeit dabei und beobachtete mit nahezu wissenschaftlichem Interesse die Gesichter seiner Opfer. Er wollte ein Buch darüber schreiben. Aber, es fehlte an Zeit. Der Kommandant lobte ihn weg, nach Auschwitz-Birkenau. Er wurde wieder befördert und bekam das nächste EK mit Eichenlaub und Schwertern. Das gefiel ihm und Auschwitz! Er entschied, welche Juden zur Arbeit geschickt wurden und kassierte kräftig dabei. In Dollar, Gold, Schmuck! Die anderen, an denen nichts zu verdienen war, kamen ins Gas. Er sah es ihnen schon an, wenn sie aus den Güterwagen stiegen.
Dann rückte die Front näher und er hörte schon den Geschützdonner und sah Flugzeuge mit rotem Stern auf den Tragflächen auftauchten. Das falsche Hoheitszeichen! Wo waren Görings versprochene Stukas? Jedenfalls, Zeit zu gehen, dachte sich Hessel. Er bereitete sich vor und fand in letzter Minute einen Citroen des SD und den Absprung. Doch jetzt war er hier in einem muffig riechenden Puff.
Er sah in den Spiegel. Immer noch smart. Geht doch, Hessel! Am Waschbecken fand er einen Rasierapparat und schabte sich den Menjoubart aus dem Gesicht. Im Spiegel sah er die Nutte liegen, die ihn beobachtete. Sie hatte die Arme hinter den Kopf gelegt und die Beine leicht gespreizt. Sein Glied pochte schon wieder und richtete sich auf. Er wischte den Schaum aus dem Gesicht und ging zurück zum Bett. Wer weiß, wann ich wieder dazu komme. Damals im KZ war es billiger. Er bestieg sie. Sie stöhnte treu und brav und zerkratzte ihm die Schultern. Dafür bekam sie eine gewaltige Schelle. "Au, wat solln det?" Er schwieg und zeigte ihr, was sie zu tun hatte. Sie ‚durfte‘ ihn mit der Hand befriedigen. Sah ihn ängstlich dabei an und er mochte es so. Besser, als wenn sie getan hätte, dass es ihr gefiel. Nachdem er fertig war, gab er ihr noch eine.
"Du spinnst wohl?" Sie ging zum Waschbecken.
"Nee", knurrte er, stand auf und zog sich an. Er kramte aus der Hosentasche einen Fünfzigmarkschein. "Da, für Dich."
"Gehst Du schon?", fragte das Mädchen uninteressiert.
"Sicher."
"Dann mach’s gut. Und komm ja nich wieda." Ein amerikanischer GI gab mehr als nur Geld. Was bekam sie schon für fünfzig Mark? Hessel hob die Schultern. Berliner Kodderschnauze! Am liebsten hätte er ihr ein Kopfkissen auf das Gesicht gedrückt, bis sie hin war. Sie wäre nicht die Erste, bei der er das gemacht hatte. Damals wäre sie im KZ verschwunden – in seinem.
Nein, man würde sie finden, auch wenn es keine Spur mehr von ihm gab.
Bevor er das Zimmer verließ, klopfte er sein Jackett ab. Alles da, Brieftasche, Pistole, Schalldämpfer. Er hatte schließlich noch ein wichtiges Treffen mit offenem Ausgang. "Adieu." Er hüllte sich in seinen Mantel, stülpte sich den Hut auf den Kopf und verschwand aus dem Puff. Auf der Straße sah er sich kurz um und lief, mit tief in den Manteltaschen versteckten Händen, die Straße hoch. Dann bog er ab zur Ruine des Potsdamer Bahnhofs.
"Jibt jleich wat Warmet!", rief der Hausherr seinen fünf Freunden zu. Die saßen um den Tisch, qualmten "Lucky Strike" und schwiegen sich an. Was sollte man auch sagen? Einige hatten seit Tagen nichts Warmes mehr im Magen gehabt. Es wurde Zeit, dass sich Kalle was einfallen ließ. Auf dem Tisch standen eine halb volle Flasche Wodka, Gläser dazu und echte Teetassen aus Porzellan. An der Wand des Kellers hielt sich noch eine Aufschrift in Fraktur aus den Kriegszeiten: "Luftschutzraum für 12 Personen".
Das Haus, oder das, was davon übrig geblieben war, nach der Bombennacht vom 25. März 1944, lag außerhalb der wenigen Gaslaternen, die versuchten, das Dunkel der eiskalten Nacht zu durchdringen. Die Außenwände standen noch, doch innen war es hohl, wie ein alter Zahn. Man hatte die Trümmer, die über dem Kellereingang gelegen hatten, ein wenig beiseite geräumt, um die erstickten und halb verbrannten Leichen der Bewohner, die in dem Keller Schutz gesucht hatten, zu bergen. So war es geblieben, bis in den Oktober 1945. Kalle, bürgerlich Karl Schuster, sechzehn Jahre alt und Chef einer Bande aus sechs Jungen zwischen vierzehn und sechzehn, hatte den Eingang entdeckt und den Keller für sich und seine Bande in Beschlag genommen. Vorher waren sie irgendwo untergekrochen. In Lauben, Lagerhäusern, Ruinen und sogar im U-Bahntunnel. Immer wieder wurden sie vertrieben.
Hier residierte er mit seinem Freund, Heinz Stubnitz, genannt Inge. Sie waren schon als Pimpfe im Jungvolk und in der Schule und spätere Flakhelfer immer zusammen. Heinz erhielt seinen Spitznamen von dem Obergefreiten verpasst, der ihre Gruppe bei der Flak anführte, weil er trotz der Vorschriften die blonden Haare auf dem Schopf und im Nacken lang trug und auch ein wenig mädchenhaft aussah. Der Obergefreite übrigens fand rechtzeitig einen Zeitpunkt, um sich abzusetzen und die Jungen ihrem Schicksal zu überlassen. Die russischen Soldaten, denen sie sich ergaben, schickten sie nach Hause. "Krieg kaputt. Chitler kapuutt". Ihren Obergefreiten fanden sie auf dem Heimweg an einer Laterne. Er hing dort, ein Schild um den Hals. "Ich habe den Führer verraten", stand darauf. Die Jungen sahen sich den Mann interessiert an. Sie hatten schon genug Tote gesehen, einen Erhängten noch nicht. Sie waren Waise, oder glaubten Waise zu sein. Schweigend zogen sie weiter, irgendwohin, nach einem Zuhause, das sie erst finden mussten, und fanden auf einem ihrer Streifzüge diesen Keller.
Sie hatten es sich gemütlich gemacht; gute Einrichtungsgegenstände gab es mehr oder weniger zuhauf. Man musste nur wissen, wo sie zu finden waren. Der Keller bestand aus einem Wohn- und Schlafraum sowie einem Verschlag, den die Jungen zu einer Küche umfunktioniert hatten. Ein dicker Teppich zierte den Wohnbereich mit Tisch, Stühlen, zwei mächtigen Sesseln, einem riesigen Buffet und einer Anrichte, auf der ein Volksempfänger thronte. Die Stubenlampe, die Kalle irgendwo im Westen in einer der Ruinen gefunden hatte, spendete fünfarmig Licht. Der Strom dazu kam aus dem Nebenhaus, wo er ein Kabel an einem der Verteilerkästen angeschlossen hatte. Niemand hatte es bisher entdeckt und Kalle hoffte, dass es noch ein Weilchen so bleiben möge. Ein Glasschrank voller Bücher, von denen keiner der Jungen noch keines je auch nur angesehen hatte, komplettierte die Einrichtung, nahe bei einem Kanonenöfchen, dem es kaum gelang, Wärme in das Gelass zu transportieren. Auf dem Boden lagen Matratzen für die anderen Bandenmitglieder. Die Bettwäsche war militärisch exakt zusammengelegt. Eine Bedingung Kalles, der viel Wert auf Ordnung und Sauberkeit hielt. Sein Credo: "Ordnung muss sin!" Die Küche war weniger spektakulär; der Küchenschrank bestand aus einer Munitionskiste aus Beständen der Roten Armee und war gleichzeitig Vorratsschrank, darauf ein Spirituskocher – immerhin zweiflammig – daneben war noch Platz für eine Abwaschschüssel. In der Ecke bullerte eine sogenannte Kochmaschine, ein Zwischending zwischen Kohle- und Gasherd, dessen Ofenrohr mit der einzig erhaltenen Esse der Ruine verbunden war und verhinderte, dass der Rauch den heimlichen Standort der Bande sofort verriet. Gas war zwar nicht vorhanden, doch der Kohleherd, in dem Holz brannte, spendete Wärme und erhitze einen Kessel, in dem eben das Wasser begann, zu sprudeln. Kalle nahm den Kessel vom Herd und goss das kochende Wasser in einen Aluminiumkrug, der noch das Hoheitsabzeichen Nazi-Deutschlands trug. Der Duft teuren schwarzen Tees, eingetauscht auf einem der Schwarzmärkte, verteilte sich im Raum. Herbert Warndtke, Finger genannt, ein schmächtiger Junge mit Segelohren, einer langen Nase und dünnem Hals, beendete die Stille: "Wat hast’n vor, Kalle?"
"Kannst nich warten?"
"Kann ick! Muss ick aber nich, oder?", fragte Finger-Herbert grinsend zurück, und erwartete von seinen Kumpanen Beifall. Doch die waren mit sich selbst beschäftigt. Es war viel zu kalt, um sich aufzuregen. Also sackte Finger-Herbert wieder in sich zusammen und steckte die Hände in die Ärmel seiner Joppe. "Denn ebend nich", murmelte er verdrossen.
Kalle kam um die Ecke aus der Küche, wuchtete die volle Teekanne auf den Tisch. Er war der älteste der Jungen und sah wie ein achtzehnjähriger aus. Zuviel hatten sie erlebt und das hatte sie gezeichnet. "Manno, habt ihr wieder gequalmt!" Er setzte sich auf seinen Stuhl. Kalle war der Einzige in der ganzen Bande, der nicht rauchte. Er hatte es noch nie versucht und auch kein Interesse daran. "Schenk mal ein, Finger. Denn tuste mal wat Jutet."
Die Jungs hielten ihre Tassen hoch und warteten darauf, eingeschenkt zu bekommen. Kalle goss indessen eine Runde Wodka in die Gläser. Als er damit fertig war, sah er in die Runde. "Also, wir drehen übermorgen een Ding in Wilmersdorf."
"Warum so weit weg?", meldete sich Pfaffe zu Wort und zog ein Gesicht, wie ein englischer Butler, dem man befohlen hatte, einen Pferdeapfel mit der bloßen Hand aufzuheben.
"Weilet da wat zu holen jibt, Doofkopp?" Kalle sah giftig zum Pfaffen hinüber, der schon wieder versonnen seinen Tee schlürfte. Im Grunde war es dem Pfaffen gleich, wo und wann. Aber er hatte generell erst einmal, zum Ärger seiner Kumpel, irgendeine Frage auf der Zunge, die Zweifel oder Ungemach ausdrückte. Kalle knallte eine Handzeichnung auf den Tisch. "Hier, det isset. Der Eijentümer ist vor een paar Tage vaschwunden, die Amis haben ihn abjeholt."
Gerhard Heller, Dussel, meldete sich zu Wort: "Szur Entnazifizierung?"
"Nee, da muss mehr dahinter stecken!" Kalle senkte die Stimme. "Soll’n hohet Tier bei die Nazis jewesen sein und nen falschen Namen anjejeben haben. Nen Joldfasan oder höha wara jewesen. Und nu steht die Villa leer. Jenau det richtije für uns."
"Und wieso?", Dussel sah seine Freunde an.
"Weiler, wie alle die jroßen Nazis, Dreck am Stecken jejabt habt. Soll ne Menge Juden uffn Jewissen haben."
"Na und?" Dussel hatte noch immer nicht begriffen.
In diesem Moment klinkte sich Werner Thieß ein: "Man merkt, dass Du verschüttet warst, Dussel", sprach er in einem etwas geschraubten Deutsch, "Die haben die Juden beklaut. Ich möchte nicht wissen, was der alles in seiner Bude angehäuft hat."
"Woher willst‘n dis wissen, he?"
"Stand in der Zeitung und außerdem …"
"Propaganda, sach ick nur, Propaganda!"
"Nein. Das ist erwiesen!"
"Wer sacht denn det?", Dussel schnaufte empört durch die Nase.
"Das sagt mein Chef."
"Der Ami?"
"Genau der. Der untersucht nämlich …"
"Jenuch jetze! Und deswejen steijen wir morjen Nacht bei dem ein und eruieren die Sore. Vor allem den Kella!" Kalle war jetzt Feuer und Flamme und auch den Jungen wurde es wärmer, was nicht nur am Wodka und dem Tee lag, sondern auch an der Vorstellung eine gute Beute zu machen. Kalle zeigte mit seinem leeren Wodkaglas auf Thieß: "Du beschaffst een kleen Lastwagen, Greifer. Papiere haste ja noch." Thieß nickte bestätigend und klopfte auf seine linke Brust, wo sich die Papiere für die freie Durchfahrt durch die Besatzungszonen befanden. Finger hob den Zeigefinger der rechten Hand, wie in der Schule. "Brauchen wa Werchzeuchs?"
"Na klar, du Doof. Oder denkste, et steht allet offen?", Dussel schien aufgewacht und bei der Sache.
"Denn is allet klar. Ihr könnt hierbleiben. Pfaffe jeht morjen wat zu Essen besorjen, wir bereiten allet vor. Noch Fragen?" Alle schüttelten den Kopf. Sie würden sowieso nur ihrem Chef folgen. "Und wat is mit Waffen?" Es war Dussel, der verspätet die wichtige Frage einwarf.
"Wat solln sein? Haste Deine nich mehr?"
"Doch. Ick meente och nur, ob wa die mitnehmen?"
"Klar doch, Dussel."
Über Nacht hatte es gefroren, doch schaffte es der alte Kutter, das dünne Eis zu brechen. Piet Langhans fuhr zu einem neuen Fangplatz. Heute war das Wetter so, dass er hoffte, nein, dass er inständig betete, dass sein Netz mal so richtig voll wird.
Kurz nach Sonnenaufgang war er von Neuendorf ausgelaufen. Der alte Diesel plöpperte seinen Herzschlagrhythmus und trieb den Kutter sachte voran. Der Himmel war klar, die Luft kalt und der Bodden lag spiegelglatt. Blieb nur zu hoffen, dass das Wetter sich hielt.
Piet steuerte nach Norden. Er korrigierte um ein paar Striche, um im Fahrwasser zu bleiben. Der Bodden war tückisch flach, weswegen Piet sich genau an die betonnte Fahrrinne hielt. Besser so. Als er es in jungen Jahren einmal nebenher versucht hatte, war er aufgelaufen und hatte Stunden gebraucht, bis er wieder frei war. Das sollte ihn nie wieder passieren! Und obwohl er den Schaproder und den Vitter Bodden kannte, wie seine Westentasche, war er vorsichtig. Er passierte die Enge zwischen der Fährinsel und dem Stolper Haken. Vitte lag in der Sonne und über Kloster erhob sich der siebzig Meter hohe Dornbusch. Unterhalb des Dornbusches strahlte der Hafen von Kloster um die Wette mit Vitte. Er fuhr in den Vitter Bodden ein, immer noch in der Fahrrinne. Das Eis knackte und brach knirschend am Bug des Kutters. Hier in der Fahrrinne war es noch dünn und Piet befürchtete, dass sein Fangplatz bereits stärker vereist war. Er kniff die Augen zusammen und starrt direkt nach Norden. Nein, er konnte die Eisdicke über diese Entfernung nicht abschätzen. Die Sonne blendete auf der schneeweißen Fläche. Na gut, dachte er, fahren wir erst einmal, wir werden ja sehen. Piet nahm jetzt direkt Kurs auf die Griebener Bucht, die aus dem Alt-Bessin und dem Ufer des Örtchens Grieben gebildet wurde. Dort wollte er sein Netz auslegen.
Kloster lag verschlafen in der Morgensonne des frühen Novembers. Piet sah ein paar Fischer auf der Pier stehen. Einer winkte, Piet winkte zurück. Man kannte sich auf Hiddensee und Piets Kutter besonders. In einem Anfall von Wahnsinn, wie Karl Thießen, sein Freund und Konkurrent einmal bei einem Köm, unterstrichen durch eine Fingergeste zur Stirn, gesagt hatte, strich Langhans seinen Kutter knallrot. Das war im Frühjahr 1942 gewesen. Seitdem wusste jeder in der Gegend, dass es Piet ist, der gerade über den Bodden dümpelte.
Am Ziegenort, der früher Schaf Ort genannt wurde, einer spitz in die Griebener Bucht hineinragenden Landzunge hielt Piet an. Der Kutter lag sofort still am Eis. Der Fischer legte die Hände auf dem Rücken und sah auf das gleißend Weiß, aus dem im Osten der Alt- und Neu-Bessin knapp herausragten, zu erkennen am Schilf, das die beiden Ansandungen umwuchs.
Trotz seiner siebzig Jahre hatte Piet noch Augen wie ein Adler. Und trotz des grellen Lichts im flachen Sonnenschein sah er eine verdächtige Erhebung auf dem Alt-Bessin. Er wandte sich ab. Vielleicht ein totes Schaf. Es kam öfter vor, dass die Tiere ausbrachen und sich verliefen. Piet ging ins Steuerhaus. Erst mal einen Tee brühen! Es war noch früh am Morgen. Und während der Tee zog und neben dem Emailbecher eine Flasche Rum wartete, um den Geschmack des Tees wesentlich zu verbessern, griff Piet nach dem Feldstecher. Er drehte ihn unentschlossen in den schwieligen Händen. Sollte er, oder nicht? Mit dem Feldstecher war ein Ereignis verbunden, an das er nicht gerne erinnert werden wollte; Als die Russen die Insel ‚eroberten‘, stöberten sie natürlich überall auf der Suche nach Konterbande herum. Piet meinte eher nach Beute. Sie kamen auch auf seinen Kutter und einer der Soldaten entdeckte den Feldstecher. Es entspann sich ein heftiger Streit zwischen ihm und dem Soldaten, der dann seinen Karabiner hob. Erst durch den Unteroffizier der Gruppe wurde der Streit geschlichtet. Piet behielt seinen Feldstecher, weil der Unteroffizier auch Fischer gewesen war, bevor er zur Armee musste, um sich mit den Deutschen anzulegen, wie er es nannte. Am Ende waren Piet, der Unteroffizier und alle Soldaten des Trupps besoffen und sangen schwermütige Lieder. Drei leere Flaschen Wodka sowie eine Rumflasche schepperten am Ende des Streits und der anschließenden Versöhnung auf dem Schiffsboden, wenn der Kutter sich leicht in den Wellen wiegte. Am nächsten Tag zogen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Reiner A. Hampusch
Bildmaterialien: Karl Hampusch, Reiner A. Hampusch
Cover: Reiner A. Hampusch
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2019
ISBN: 978-3-7487-2062-1
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