Reiner A. Hampusch
Mellerts Fälle
2. Paradis perdu
Kriminalroman
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© 2018/2021 Reiner A. Hampusch
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 978-3-XXXX-XXXX-X
Für Gisela, Kathrin und meine treuen Lesern und Leserinnen.
»Ich wolle sie nicht umbringen. Ich wollte nur,
dass sie endlich aufhören, zu heulen!«
Der Serienmörder Thieße bei seinem Geständnis
vor Inspektor Mellert
»Maammie!« Anna-Maria Mellert rannte auf ihren kurzen Beinchen, so schnell sie konnte, auf ihre Mutter zu. Marie war in die Hocke gegangen und breitete die Arme aus. Aber klein Anna-Maria stolperte über ihre eigenen Füßchen, plumpste auf den Bauch, rappelte sich so schnell wie möglich wieder auf und fiel mit einem Jauchzen ihrer Mutter um den Hals. »Mammie! Hundi spielt!«, rief sie aufgeregt.
Marie war aufgestanden, ihre Tochter auf dem Arm. »Mellert! Was hast Du mit unserer Tochter gemacht?«, fragte sie streng.
»Nüchs. Wir sind nur ein wenig spazieren gegangen und da war ein Hund …«
»Ein Hund?«
»Und Annama wollte mit ihm spielen.«
»Ach ja?«
Mellert überhörte die Drohung in Maries Stimme. »Aber, Annama war Sieger!« Stolz klang mit und auch ein bisschen Angst.
»Mannomann! Wenn ich Dich schon mal mit unserem Kind gehen lasse.« Inzwischen war Marie mit Annama auf dem Arm und Mellert im Haus angekommen. Maria gab Anna-Maria, aus Bequemlichkeit, und weil es kürzer war, Annama gerufen, einen Klaps auf den mit Windeln dick bepackten Hintern. »Ab ins Bad. Wir müssen dich waschen, Schmutzfink.« Und Annama lief lachend und hüpfend über das Parkett des Flurs und verschwand im Bad. Marie gab Mellert einen flüchtigen Kuss auf die Wange, schmierte etwas zinnoberrote Ölfarbe von ihren Fingern dazu und lief ihrer Tochter hinterher. Mellert verfolgte seine beiden Frauen mit unbändig stolzen Blicken. Er fand, dass Marie von Jahr zu Jahr schöner wurde, und trotz oder gerade wegen ihrer gegenwärtigen Schwangerschaft (in zwei Monaten ist es so weit) noch begehrenswerter war. Er seufzte kurz auf und begab sich zur Terrasse. Dort wartete eine Sitzgruppe aus weißen Korbsesseln und einem niedrigen Tisch. Er setzte sich in seinen Lieblingssessel und sah sich zufrieden um. Ihr Grundstück grenzte an einen lichten Kiefernwald. Die Nachbarn wohnten in Villen aus der Jahrhundertwende, während ihr Haus in seinem unverkennbaren Bauhausstil wie ein Fremdkörper wirkte. Marie hatte schon für den Nachmittag gedeckt. Und wie es aussah, erwarteten sie Besuch. Maries Eltern? Nette Leute, die Mellert sofort und ohne Wenn und Aber in ihre Familie aufgenommen hatten. Sie lebten von ihrem Reichtum, den sie aus dem Verkauf der Maschinenbaufabrik, die Maries Großvater großgemacht hatte und dem Erbe ihrer Mutter. Mellert nannte sie für sich die Buddenbrooks, obwohl sie nicht so waren. Eher bescheidene Leute ohne Allüren. Mellert freute sich jedes Mal, wenn sie, was selten vorkam, zu Besuch kamen. Es war auch kein Wunder, denn das Ehepaar war viel auf Reisen. Aber sie wussten jede Menge zu erzählen. Und Maries Mutter war eine Meisterin des Erzählens. Er liebte es, wenn sie als alte Hamburgerin über den »spitzen Stein stolperte«.
Mellert griff nach einer bereitliegenden Broschüre und schlug sie an der Stelle auf, in der ein Lesezeichen steckte. Es handelte sich um eine Abhandlung über Verhörtechnik. Ab und zu musste er lächeln. Sein Eindruck über den Autoren war, dass dieser zwar psychologisch gebildet war, aber noch nicht an vielen Verhören teilgenommen hatte. Als er sich mit Marie drüber unterhielt, meinte sie nur trocken: »Dann schreib Du doch darüber.« Und Mellert dachte immer noch über diesen Vorschlag nach. Warum nicht? Doch erst musste er zu Ende lesen - wenn er dazu kam. Er hob den Kopf, legte die Broschüre zur Seite und stand auf. Über den Rasen stapften Anna und Aaron auf ihn zu. »Anna, Epsteiner!«, rief er, »Wie immer pünktlich zu Kaffee.«
Sie umarmten sich. »Bei Dir ist er am billigsten«, grinste Aaron, während Mellert Anna einen schmatzenden Kuss auf die Lippen gab. »Hm, Du schmeckst einfach zu gut.« Er hielt sie an den Hüften von sich und sah ihr ins Gesicht. »Schickes Kleid!«
»Mehr gibt’s nicht! Weder zu sehen noch zu schmecken, Mellert. Wo steckt Marie?«
»Im Bad. Sie versucht, unsere Tochter zu säubern - irgendwie.«
»Ah, dann warst Du heute mit Annama aus?«
»Jep«, verkündete Mellert stolz.
Anna verschwand im Haus und Mellert sah Epsteiner genauer an. »Was ist? Warum so ernst?«, fragte er.
»Wir sollen gleich morgen zum Dienstbeginn bei Gebbert erscheinen.«
»Weißt Du warum?« Sie setzten sich. »Cognac?«
Aaron nickte. Dann schüttelte er den Kopf. »Zu Erstens, ja. Zweitens: keine Ahnung. Er hat nur eine Nachricht hinterlassen.« Epsteiner legte ein A5-Blatt, einfach aus einem Notizbuch gerissen, auf den Tisch. »Mellert, Epsteiner. Morgen, acht Uhr bei mir. Gebbert« stand handschriftlich in großen Buchstaben geschrieben. Oben rechts prangte der Polizeistern Berlins. Das war alles. Mellert drehte und wendete das Blatt hin und her. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Wenn Gebbert so kurz war, brannte irgendwo die Luft, und er sowie Epsteiner sollten irgendwelche Kastanien aus dem Feuer holen.
»Wie war die Fahrt?«, lenkte er ab.
»Anstrengend. Wieder Demonstrationen und Straßenschlachten. Die armen Schutzpolizisten, die dazwischen halten müssen.« Mellert schwieg dazu. Er besaß eine eigene Meinung, die er aber gegenüber Epsteiner, dem Superdemokraten, nicht äußern wollte. Außerdem war es früher Sonntagnachmittag, und sie waren zu Kaffee und Kuchen verabredet und nicht zu einem politischen Zirkel.
»Marie hat jetzt ein paar Schülerinnen und außerdem eine Dozentenstelle an der Kunstschule«, lenkte er ab.
»Endlich. Da ist sie sicher glücklich.«
»Und wie. Und nun noch die Schwangerschaft. Sie ist richtig aufgeblüht.«
»Und Hiddensee?«
»Muss warten. Vielleicht im Herbst. Im Oktober soll es dort noch schöner sein …«
»Schöner als im Sommer? Kann ich mir kaum vorstellen!«
»Ehrlich? Ich auch nicht. Aber wat dem een sin Nachtigall, ist dem annern sin Uhl.« Sie tranken sich zu. »Im nächsten Jahr will sie für ein paar Monate mit ihren Schülern ›rüber.«
»Ontel Aro!« Annama plumpste auf die Terrasse, stand umständlich wieder auf und wischte sich die Hände an ihrem Kleidchen ab. Dann kam sie etwas vorsichtiger zu Aaron getrippelt. Sie blieb dicht vor ihm stehen, legte die Hände auf den Rücken, streckte ihr Bäuchlein heraus. »Tach!«
»Tach, Du kleiner Räuber.« Aaron zog sie zu sich heran und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. In diesem Augenblick traten Marie und Anna auf die Terrasse. Sofort duftete es nach Kaffee und Kuchen. Ein schöner, ruhiger und bürgerlicher Sommer-Sonntagnachmittag konnte beginnen. Fernab von den politischen Wirren und Auseinandersetzungen im Deutschland.
»Na dann greift zu!«
Und setzte sich fort am Juli-Montag des Jahres 1932; mit Sonnenschein und Temperaturen um fünfundzwanzig Grad schon am frühen Morgen. Doch Kriminaldirektor Gebbert interessiert sich nicht fürs Wetter. Gebbert stand unter Druck - der Innenminister und der Polizeipräsident machten ihn. Der politischen Entwicklung und der Gerüchte wegen, die durch die »Rote Burg« schwirrten. Man munkelte hinter vorgehaltener Hand, dass sich bald etwas ändern würde. Gebbert verschloss seine Augen und Ohren. Er war Beamter. Was sollte ihm schon passieren. Aber die Gedanken konnte er nicht aussperren.
Das war aber nicht der Grund, weshalb er Mellert und Epsteiner zu sich bestellt hatte. In der Provinz lief es wieder einmal nicht, wie gewünscht. Er hatte sie in den großen Beratungsraum, in dem die wöchentlichen Rapporte der Direktoren und Besprechungen stattfanden, zitiert. Sie saßen sich an dem riesigen ovalen Tisch aus geschwärztem Eichenholz gegenüber. »Bis nach Berlin ist es noch nicht gedrungen«, begann Gebbert. Er klopfte auf einen niedrigen Stapel Akten. »Die Journaille hat hier andere Sorgen, als sich damit«, er warf einen Packen Zeitungen über den Tisch, »zu beschäftigen.« Mellert las die Überschriften: »Das vierte Opfer«, »Hiddensee! Mysteriöse Frauenmorde auf der Künstlerinsel!«, »Denkes und Harmanns Nachfolger – mysteriöse Morde …« Er schob die Zeitungen zu Epsteiner und sah Gebbert gespannt an.
»Die vierte Tote in einer Woche! Immer dasselbe Muster.« Gebbert schob angewidert vier Fotos vor die Kriminalisten. »Sehen Sie sich das an!« Ein Aktendeckel kam über den Beratungstisch hinterhergeflogen und landete haarscharf vor dem Inspektor. »Mellert, jetzt sind Sie an der Reihe!«
Der nahm die Akten gelassen auf, blätterte die spärlichen Papiere oberflächlich durch, und stieß einen leisen Pfiff aus. Dann nahm er Bild für Bild in die Hand, sah es lange und genau an und reichte es an Epsteiner weiter. Der wurde blass bei dem, was er da sah. Er ahnte, was jetzt kommen musste.
Und so kam es auch: Gebbert sah in seinen Kalender. »Genau, Mellert. Also: Heute ist der Vierzehnte. Morgen reisen Sie ab.«
»Ist nicht Stralsund zuständig?«
»Natürlich. Die geballte Inkompetenz! Es interessiert mich nicht, was die da denken. Die Flaschen da oben sind nicht in der Lage, überhaupt Spuren aufzunehmen.« Er wusste, dass Mellert absolut nicht begeistert war. »Mellert, Sie sind der Chef der Mordkommission und der Mann der Stunde«, schmeichelte er, »und darum übergebe ich Ihnen offiziell den Fall. Gennat weiß Bescheid, er hat es abgenickt. Legen Sie los, machen Sie denen von mir aus Dampf unterm Arsch.« Und bevor Mellert noch etwas sagen konnte, donnerte er: »Nehmen Sie sich, wen Sie wollen oder denken zu brauchen, meinetwegen auch Epsteiner. Ohne den können Sie ja auch nicht.« Gebbert sah Mellert scharf an. »Und Ihre Mordkommission arbeitet ja auch, wenn Sie nicht hier sind. Machen Sie Fränzel oder Müller zu Ihrem Vertreter in Berlin.« Er dachte einen Moment nach. »Besser den Fränzel.« Er breitete die Arme aus und lachte, wenn auch etwas hämisch. »Ich erwarte Erfolg, schnellen Erfolg, der Innenminister und der Polizeipräsident ebenso. Ganz zu schweigen von der öffentlichen Meinung.«
Mellert seufzte. Nicht, dass er nicht gerne wieder in die alte Heimat gereist wäre. In den Urlaub! Aber nicht, um dort zu arbeiten!
»Dann dürfen wir uns verabschieden, Herr Direktor?« Der sah die beiden nicht mehr an, sondern tat so, als sei er in ein wichtiges Schriftstück vertieft. Mit der Hand machte er eine Bewegung, wie wenn er eine Fliege verscheuche. Mellert nahm Gebberts Ausbruch nicht übel. Er wusste, wie sehr sein Chef unter Druck stand. In Berlin war es schlimm genug, und nun kam auch noch die Provinz dazu. Mellert wusste von Gerüchten und den Querelen in der Regierung der Weimarer Republik. So etwas wirkt sich immer auch auf die Polizei aus. Doch egal, was es ist, es gab also noch eine Menge zu tun, bevor sie in den Norden fahren konnten. Er machte eine Bewegung mit den Augen. Epsteiner verstand und sammelte still die Fotos und Akten ein.
1924, nach der Aufklärung des Mordes an Hausmann, alias Schmitz alias Bergander, bezog Mellert das Büro von Gebbert und erbte sogar dessen Einrichtung. Gebbert residierte jetzt etwas weiter vorn. Auch wenn ihnen Hessel, der Chef der Mantelbande und ihr Hauptverdächtiger, durch die Lappen gegangen war, waren die Ermittlungen insgesamt erfolgreich gewesen. Und Mellert war überzeugt, dass er sich diesen Hessel immer noch greifen konnte. Sein Verdacht war, dass jemand aus der Stralsunder Polizei Hessel bei der Flucht kräftig geholfen hatte. Aber er konnte nichts beweisen.
In Vorzimmer saß Fräulein Hertel und sah ihn erwartungsvoll an. »Geht gleich los, Hertelchen«, sagte er im Vorbeigehen und ging in sein Büro. Im anderen Zimmer saß neben Epsteiner, der sich seit vier Jahren Kommissar nennen durfte, ein gewisser Hergert Müller, auch Kommissar seit dem vergangenen Jahr. Epsteiners Ernennung hatte sich immer wieder verschoben. Den Grund kannte weder Mellert noch Gebbert und auch Gennat wunderte sich immer wieder. »Ich frage nach«, brummte der Buddha und dabei blieb es.
Zur Kommission gehörten weitere Kriminalisten, die ein paar Türen weiter in den Büros arbeiteten, und die bei Bedarf hinzugezogen wurden; Fränzel und Schmittchen, die allerdings zwei schwere Morde im Scheunenviertel untersuchten. Meist waren sie jedoch mit Todesfällen beschäftigt, die sich in den seltensten Fällen als Mord oder Totschlag herausstellten; Sie waren sich sicher, dass es für ihren Fall politische Motive gab, aber Mellert winkte ab: »Mord ist Mord. Schnappen Sie sich den oder die Kerle, woher auch immer sie kommen.« Politik interessierte Mellert immer noch nicht, auch wenn die Zeiten alles andere waren, als dass man unpolitisch hätte sein können. Darüber sprachen Marie und Epsteiner auch immer wieder. Aber Mellert winkte ab. »Meine Abteilung nennt sich Mordkommission!«, darauf bestand er. Mord war Mord aus welchen Motiven auch immer. Und wenn die Provinzinspektionen nicht mehr weiterkamen, waren ja sie, die Berliner, da. Deswegen prangte seit einiger Zeit ein Messingschild: »Kriminalabteilung A, Mordkommission f. Preußen« neben der Tür zu Mellerts Büro.
Der Inspektor rauschte grußlos an Müller vorbei, der eben im Sekretariat stand und mit Fräulein Hertel geschäkert hatte, ins Büro, das durch eine Holzwand mit raumhohen Fenstern von den anderen abgetrennt war. Müller sah Epsteiner an und machte ein fragendes Gesicht. Doch Epsteiner winkte ab. »Es geht in die Provinz, Müller.« Sie gingen in ihr Büro. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und begann Akten und Unterlagen zu sortieren. »Mehrere Morde im Norden«, fügte er noch hinzu. Das musste als Erklärung reichen!
Mellert wuchtete sich auf seinen Drehstuhl und griff nach dem Telefonhörer. Er wählte die Zentrale. »Ja? Mellert hier! Verbinden sie mich mit meiner Frau. Danke, ich warte.« Natürlich wussten die Telefonistinnen, wer Mellert war und mussten nicht nachfragen. Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte einen unruhigen Rhythmus.
»Ja? Hallo? Ah, Marie!« Er lauschte. »Nein, nichts Schlimmes. Wir haben wieder einmal auf Rügen zu tun. Wann?« Er sah zum Wandkalender. »Eigentlich morgen, aber es wird sicher einen Tag später.« Er lauschte. »Du kommst mit? Fein. Freut mich! Dann bis heute Abend.« Er winkte Epsteiner durchs Fenster, zu ihm zu kommen. »Ja, Liebes. Küsschen!«
»Danke, zu viel der Ehre.«
»Du doch nicht, Aaron.«
»Schade. Ich hatte schon gehofft.« Er stand jetzt neben Mellerts Schreibtisch. »Was gibt’s?«
»Gute Nachricht für Dich. Wir fahren erst übermorgen nach Bergen. Na, was sagen Sie, Herr Kommissar?«
»Und der Haken?«
»Keiner. Wir untersuchen nur einen Serienmord.«
»Gott stehe uns bei.«
»Ich denke, Du bist Atheist?«
Epsteiner war schon an der Tür. »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. In unserem Beruf sollte man sich nach allen Seiten absichern.
»Manchmal ist es besser so.« Mellert winkte ab.
»Ich geh dann mal packen.«
»Nicht so eilig. Morgen stecken wir die Köpfe zusammen und legen einen Plan fest. Was hast Du gerade in Arbeit?«
»Todesfall im U-Bahnschacht am Wittenbergplatz.«
»Übergib ihn dem Müller.«
»Und dann noch die alte Dame im Stadtpark. Raubmord.«
»Kann auch der Müller machen. Ach ja - äh, Marie kommt mit. Wie sieht’s mit Anna aus?«
»Ich denke, sie hat zu tun. Mit diesem Nobelpreisträger. Soll ich sie fragen?«
»Ich denke schon.«
»Wann fahren wir?«
»Sechs Uhr dreißig, Stettiner Bahnhof, wie immer. Kümmerst Du Dich um die Fahrkarten? Heute noch. Und sag Anna, es täte mir leid, wenn sie nicht mitkäme.«
»Das kostet eine Flasche Champagner, Chefchen.«
»Raus! Und schickt den Müller rein.«
»Haben Sie’s mitbekommen, Müller?« Mellert konnte Müller partout nicht leiden. Der hatte etwas Renitentes, etwas Sperriges an sich, mit dem der Inspektor nicht klarkam. Außerdem sagte Müller ständig ›der Jude‹ statt ›Epsteiner‹. Das ärgerte Mellert. Vor allem, seit dieser Müller in SA-Uniform erschienen war, kurz nach dem das Verbot dieser Organisation im Juni wieder aufgehoben worden war. Sie waren Beamte! Da mussten Politik oder andere Befindlichkeiten draußen bleiben. Er schickte ihn nach Hause, um sich umzuziehen. Zweimal musste er Müller nochmals zurechtweisen, doch der zuckte nur mit den Schultern und drehte ihm den Rücken zu. Vielleicht lag Mellerts Aversion auch daran, dass Müller ein entfernter Verwandter des Polizeipräsidenten war oder dass er ihn bei einer Veranstaltung einer SPD-nahen Organisation gesehen hatte. Als SA-Mann auf der Gegenseite.
»Nein, worum geht es denn?«
»Epsteiner und ich fahren nach Rügen. Nicht um dort Sommerurlaub zu machen, wie Sie sicher vermuten, sondern um ein paar Morde aufzuklären. Sie halten hier die Stellung und sich für uns in Bereitschaft.«
»Sehr wohl, Herr Inspektor.«
»Die Leitung der MK in Berlin übernimmt derweil Kommissar Fränzel.«
»Is recht, Herr Inspektor.«
Mellert stutzte. Was ist denn nun passiert? Und eben diese Frage stellte er Müller.
»Nö, nichts, Herr Inspektor. Es ist nur so, dass ich um Versetzung gebeten habe.«
»Hm. Darf man fragen, wohin?«
»Zur Sitte.«
Mellert atmete auf. »Na dann, viel Erfolg. Und, wie hat man entschieden?«
»Es steht noch aus.«
Mellert wunderte sich, dass ihn Gebbert nicht vom Antrag in Kenntnis gesetzt, beziehungsweise nichts erwähnt hatte. Er befürwortete jedenfalls eine Versetzung. »Na gut, Sie wissen Bescheid. Noch ein paar Telefonate mit der Provinz, dann gehe ich nach Hause, packen. Bestellen Sie die Kollegen Fränzel und Schmittchen sowie die Spurensicherung auf morgen um zehn hierher.« Er war schon fast aus dem Büro, als ihm etwas einfiel. »Machen Sie Kopien von diesen Akten. Zweimal.« Er gab Müller den Aktendeckel. »Wir sehen uns morgen früh. Bis dann.« Er ging auf den Flur und atmete tief aus.
… und wieder tief ein, als er in die Straße zu seinem Haus einbog. Er stieg aus dem Wagen, öffnete das Tor. Für einen Moment verhoffte er und sah sich um. Hier war es still, bis auf das Gezwitscher der Spatzen ringsum. Die Bäume am Straßenrand standen im vollen Saft. Rechts und links, die Villen der vornehmen Zehlendorfer lagen ruhig und im tiefen Frieden. Auf dem Fußweg kam ihm eine Amme mit den Zwillingen des Nachbarn auf dem Arm entgegen. »Guten Abend, Herr Mellert.« Sie lächelte ihn freundlich an. Mellert staunte. Woher wusste sie seinen Namen. »N‹ Abend!«
»Na, kommst Du heute noch?«, rief Marie vom Balkon ihres Ateliers. Mellert winkte, sprang ins Auto und fuhr auf das Grundstück. Mit großen Schritten sprang er, gleich zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe in den ersten Stock hinauf.
Marie erwartete ihn, in ihrem ehemals weißen, nunmehr buntfleckigen Kittel, an der Staffelei, auf der eine Stadtansicht von Berlin stand. An der Stelle, wo ihr Bauch vorstand, klaffte der Kittel weit auf.
»Unser Baby wird frieren.« Er streichelte den Bauch seiner Frau. Sie küssten sich lange und innig. Der Inspektor spürte das Bäuchlein seiner Frau an seinem Bauch und Bewegung drinnen. Er hielt mit dem Küssen inne. »Das da hat mich getreten«; beschwerte er sich.
Marie ließ ihren Mann los. Sie knöpfte schweigend den Kittel auf, und trug nichts weiter darunter als ein Höschen. »Lass uns nach nebenan gehen«, flüsterte sie Mellert ins Ohr, nachdem sie meinte, dass er sich sattgesehen hatte.
»Und Annama?«
»Schläft schon«, erklärte sie auf dem Weg ins Schlafzimmer, das auf der gleichen Ebene lag, »Sie hat den ganzen Tag draußen gespielt.«
»Ja geht denn das?«
»Wenn ich es sage …«
Beim Abendessen sprach Mellert von seiner neuen Aufgabe. Nur andeutungsweise, denn er befürchtete, dass sich die schlimmen Nachrichten auf das Ungeborene auswirken würden. Dass Marie sofort bereit war, mit nach Hiddensee zu reisen, freute ihn. Er hoffte, dass es Marie ›besser‹, geht, wenn sie wieder die geliebte Insel besucht. Manchmal sah er sie vor der Staffelei oder im Sessel nachdenklich ins Leere schauen. »Und wenn das Kind kommt?«
»Dann wird es ein echtes Hiddenseekind. Ist doch schön, oder?«
Kaum saßen sie im Zug, schlief Epsteiner ein. Marie und Anna werden ihnen am nächsten Tag folgen; Anna musste das Porträt des Nobelpreisträgers vollenden und Marie wollte aus Solidarität so lange warten. Mellert war es nur recht. So konnte er seinen Gedanken in Ruhe nachhängen und musste die Damen nicht unterhalten. Gestern, nach der Sitzung seiner Abteilung war er noch kurz zu Direktor Gebbert gegangen, nachdem er die Kopien der Akten bei Müller abgeholt hatte. Müller saß immer noch kleinlaut an seinem Schreibtisch. Mellert fand, ohne jeden Grund. Die Kopien waren insgesamt ordentlich in Aktenheftern, wie sie bei ihnen üblich waren, abgelegt. Und was Zuverlässigkeit und Genauigkeit, Beobachtungsgabe und Kombinationsfähigkeit betraf, war Mellert von Müller des Lobes voll. Es war nur die Herablassung anderen gegenüber, die Mellert nicht gefiel. Soll er bei der Sitte glücklich werden!
Gebbert teilte ihm dagegen mit, dass Müller mitnichten zur Sitte, sondern zur politischen Polizei gehen würde. Und zwar in genau drei Wochen. Und, ja, er würde einen Ersatz für Müller bekommen.
»Ihr Wort in Gottes Gehörgang, Herr Kriminaldirektor.«
»Werden Sie mal nicht frech, Mellert.« Doch der Direktor schmunzelte. »Ich verspreche Ihnen einen fähigen Ersatz.« Er war aufgestanden und reichte Mellert die Hand. »Ich wünsche Erfolg. Solche Typen, wie Denke und Haarmann können wir uns einfach nicht noch einmal leisten.«
Im Zug nahm er sich die Unterlagen über »Denke, Harmann und andere« vor. Mellert rekapitulierte kurz, was er von Denke und Haarmann, dazu gehörte noch ein gewisser Großmann, wusste und fand es in den Unterlagen bestätigt. Die Männer waren in den zwanziger Jahren als Massenmörder bekannt geworden, las er. Karl Großmann aus Berlin ermordete mindestens 20 Menschen, um sie zu verspeisen. Er erhängte sich 1921 in Untersuchungshaft, bevor die Hauptverhandlung gegen ihn abgeschlossen werden konnte. In Münsterberg ermordete Karl Denke nachweislich 31 Menschen, ebenfalls um sie zu essen oder als Fleisch zu verkaufen. Auch Denke erhängte sich, nachdem er verhaftet worden war. Und zu guter – oder – schlechter Letzt, dachte Mellert, ein besonders ekliger Fall: Friedrich Haarmann, der Schlächter von Hannover. Angeblich biss er von 1918 an bis zu seiner Ergreifung 1924 mehr als zwanzig jungen Männern die Kehle durch. Er zerstückelte die Leichen mit einem Beil und bot das Fleisch zum Verkauf an. Automatisch sang Mellert in Gedanken diesen Gassenhauer:
»Warte, warte nur ein Weilchen,
bald kommt Haarmann auch zu dir,
mit dem kleinen Hackebeilchen,
macht er Schabefleisch aus dir.
Aus den Augen macht er Sülze,
aus dem Hintern macht er Speck,
aus den Därmen macht er Würste
und den Rest, den schmeißt er weg ...«
Gut, dass er sich auch darüber Unterlagen mitgenommen hatte. Er wollte sie gestern Abend gelesen haben, aber Marie nahm ihn in Beschlag und hatte vor Vorfreude geschwätzt, was das Zeug hielt. Mit wem sie sich treffen wolle, und ob noch alle da wären, und ob sie zu Kruses gehen sollte, was der Kaufmann macht? Gibt’s den überhaupt noch? Ach ja, und der Gellen. Den musste sie unbedingt noch sehen, und auf den Leuchtturm, und da war doch das entzückende Café – Du weißt doch noch, Mellert? …
Epsteiner und er hatten ganz schön zu schleppen! Mellert stand auf. Er griff in die Gepäckablage, öffnete seine Aktentasche und fischte die Akte »Mordsache Hiddensee« heraus. Übrigens ein Titel, der von Müller stammte.
›Mordsache Hiddensee‹. Er wollte sie noch einmal durchlesen, bevor sie Stralsund erreicht hatten. Ein Fall, den Mellert bisher in dieser Art und diesem Umfang noch nicht gehabt hatte. Mit Denke, Haarmann und Großmann waren andere Kollegen beschäftigt gewesen, sogar Gennat war eine Zeit lang involviert. Und es hatte jedes Mal junge Männer betroffen. Diesmal waren die Opfer aber junge Frauen!
Was war passiert? In der Akte stand, dass in den letzten drei Monaten südlich von Neuendorf/Plogshagen, mitten auf dem freien Land, vier unbekleidete, nicht identifizierbare weibliche Leichen entdeckt worden waren. Also nicht in einer Woche! Was mögen das für Frauen gewesen sein? Prostituierte, wie die Opfer von Jack, the Ripper? Einfache Mädchen, jemand aus der Hiddenseer Gesellschaft oder sogar der High Society? Gab es Verbindungen? Und warum wurden sie dort, bei Neuendorf, abgelegt? Man fand keine Papiere bei den Leichen. Weil sie nackt waren!, dachte Mellert empört. Wo soll man auch seine Papiere hinstecken, wenn man nackt ist? Hat sich denn keiner die Fotos angesehen, geschweige denn, die Leichen? Die Fingerabdrücke von den Leichen, wo das Abnehmen noch möglich war, haben nichts ergeben. Die greifbaren Vermisstenanzeigen stimmten nicht mit den gefundenen Personen überein. Haben die überhaupt verglichen?, zweifelte er. Mellert wandte sich der Fundortbeschreibung zu. Oberflächlich, ungenau! Lediglich eine schlampig dahingeworfene Skizze lag dabei, eher eine Kritzelei aus der man alles Mögliche lesen konnte, nur keinen Fund- oder Tatort lokalisieren! Mellert ärgerte sich. Jetzt verstand er Direktor Gebbert!
Interessant war, dass der leitende Untersuchungsbeamte nicht Piper aus Bergen, sondern ein Kommissar Sulzheimer aus Stralsund war. Seltsam. Warum Stralsund und Sulzheimer und nicht Bergen und Piper? Sulzheimer? Doch nicht der Sulzheimer, mit dem er auf der Polizeiakademie in München gewesen war? Wir werden sehen. Der Inspektor blätterte die Fotos durch. Es war das Einzige in den Unterlagen, mit dem er einverstanden war; Sehr detailgenau, umfangreich sowie gut ausgeleuchtet und dokumentiert.
Alle Opfer lagen in Fötusposition auf der linken Seite im Dreck, mit abgeschnittenen Händen und Füßen, die zu Kopf der Toten lagen. Dem Mörder schien zu gefallen, seine Opfer in dieser Weise zu verstümmeln und zu präsentieren. Abgelegt, in aller Öffentlichkeit! Eine Frau, circa vierzig Jahre alt, eine um die dreißig, zwei um die zwanzig. Eine zur Fülle neigend, die anderen schlank. Jedes Opfer unterschied sich vom anderen grundsätzlich. Nur die Art ihres Todes war, laut Totenbeschau - also keine Autopsie? - bei jeder dieselbe gewesen. Der oder die Mörder hatten sie vergewaltigt, geschlagen und gefoltert, bis die Ärmsten an ihren Verletzungen starben. Nur die Füllige war, bevor sie wie die anderen innerlich verblutete, durch ein Herzversagen dahingerafft worden. Oder erlöst? Mellert schüttelte es. Er musste sich konzentrieren. Aus der Entfernung sahen sie ganz friedlich aus, wie schlafend. Doch die Nahaufnahmen gaben ein anderes Bild. Mellert kannte die Bilder von Toten und am schlimmsten, dachte er bisher, waren die von bei lebendigem Leibe Verbrannten. Heute erkannte er, dass in den Gesichtern der Frauen, auch nach ihrem Tode, die nackte Angst geblieben war. Was hatte man ihnen getan? Warum und wer?
Nachdenklich klappte er den Aktenhefter zu und legte ihn auf das winzige Tischchen am Fenster. Die Landschaft Brandenburgs jagte an ihnen vorbei. Tock, tocktock, sangen die Räder des Waggons. Weite Felder, Wälder, Dörfer. Die Sonne stand schon hoch. Es sah alles so friedlich, so sauber und geordnet aus. Sie näherten sich Neubrandenburg. Hier halfen sie vor einiger Zeit, eine Einbruchserie aufzuklären, weil der letzte Einbruch mit einem Totschlag geendet hatte. Und sie waren gerufen worden, weil das Opfer ein hoher Vertreter der Provinzverwaltung war.
In Stralsund stiegen sie aus. Ein Taxi brachte sie zur Polizeiinspektion. »Warten Sie hier«, wies Mellert den Fahrer an. »Es wird nicht lange dauern.«
Sie erstiegen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Reiner A. Hampusch
Bildmaterialien: Reiner A. Hampusch
Cover: Reiner A. Hampusch
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2018
ISBN: 978-3-7438-7030-7
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