Cover

Titel

 

 

 

 

Reiner A. Hampusch

 

Mellerts Fälle

Der Tote von Neuendorf

 

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Danksagung

 

Ich danke meiner lieben Nachbarin Katrin für die Idee, die sie mir während eines Kurzurlaubs in Vitte auf Hiddensee in die Ohren blies. Danach war ich für meine Mitreisenden kaum noch zu sprechen. Ich entschuldige mich dafür und werde es gutmachen, indem sie die Ersten sind, die das fertige Werk erhalten.

 

 

 

 

 

 

 

Zahlreich sind die Fragen,

Antworten gibt es nur wenige.

Konfuzius(?)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Berlin, Dezember 1919

 

Vier Männer verließen zur Polizeistunde die Kneipe »Mulackritze« in der Mulackstraße Ecke Alte Schönhauser Straße in Berlin-Mitte. »Nacht, Jungs«, rief der Wirt den Männern nach und schloss hinter ihnen die Tür ab. Die vier gingen nach links, tiefer in die Mulackstraße hinein, wo es dunkler war. Ihr Ziel war nicht der billige Puff in der Nummer 11, drei Häuser weiter, sondern die Nummer vierzehn, zweiter Hinterhof. Mulackstraße: Hier wohnten die Armen, die Ausgestoßenen und die, die sich im Gewühl der Häuserreihen und Hinterhäuser verstecken wollten oder mussten. Die vier Männer schlüpften durch das angelehnte Tor des Vorderhauses. Die Gasfunzel der Tordurchfahrt pfiff aus dem letzten Loch und gab gerade so viel Licht, das sie den Weg eben noch erkennen konnten. Es war still in Berlin, daher hallten die Schritte der schweren Männerstiefel besonders laut. Im zweiten Hof bogen sie zum Seitenflügel ab, verschwanden durch die windschiefe Haustür und stiegen so leise, wie es ging in den dritten Stock. Erstaunlicherweise hatte der Treppenflur schon elektrisches Licht. Der Anführer der Gruppe klopfte an die Wohnungstür, eine einfache Holztür ohne den üblichen Schnickschnack der Gründerjahre. Sie hörten es schlurfen und fluchen. »Wer iss’n da?«, fragte nach einer gewissen Zeit eine verschlafene Stimme.

»Wir sind’s, zum Teufel.«

Vorsichtig öffnete der Inhaber der Wohnung die Eingangstür. »Na mach schon«, zischte der Anführer der vier. Er schob grob die Tür auf und die Männer huschten hinein. »Mannomann! Wat soll der Scheiß? Du weeßt doch, det wa komm’n.« Ohne sich weiter aufzuhalten, gingen sie den Flur hinunter, bis sie in die 'gute' Stube traten. Kommentarlos setzten sie sich um den runden Tisch. »Haste Bier?«; fragte einer den Gastgeber. Unwillig machte er kehrt. »Jaja«, murrte er.

Peter Halske, der Planer, führte die Gruppe an. Seine Biografie bestand aus Knastaufenthalten mit kurzzeitigen Einsätzen in der Freiheit, die alle in die Hose gegangen waren. Schlüssel-Ede, bürgerlich Eduard Schultze, ein so genannter Schränker, Mariam Kaslowski, der Spezialist für Türen und Tore und Hans Schleppke, ein Kleinkrimineller aus Schlesien gehörten noch dazu, und der Gastgeber, Fritz Marunke. Was sie gemeinsam auszeichnete, war ein Ring, den jeder am Finger trug. Er kennzeichnete sie dazugehörig, zu einer Gemeinschaft krimineller Taten und Treue, Verschwiegenheit und gegenseitiger Hilfe; die fünf gehörten dem Ringverein namens »Sport und Freundschaft Germania e.V.« an. Einer von vielen in Berlin.

Marunke kam mit fünf Bierflaschen aus der Küche zurück, knallte sie auf den Tisch und setzte sich dazu. »Und?«, fragte er.

»Hört zu. Det is wirklich een lohnender Coup. Für jeden von uns tausend Mark uffe Hand.« Halske langte in die Seitentasche seiner Jacke und holte einen zusammengefalteten Zettel hervor. Er entfaltete ihn umständlich und strich ihn auf der Tischplatte glatt. Es war der Grundrissplan eines Gebäudes.

»Tausend Mäuse auf die Hand?« Marunke schob die Unterlippe vor. »Könnte reichen, um von hier zu verschwinden.«

»Wieso das? Sind die Schnüffler hinter dir her?«

»Weiß man’s?« Marunke hob die Schultern und grinste breit.

»Ejal jetze. Hört zu.« Halske drehte die Zeichnung so, dass alle draufsehen konnten. »Wir steijen hier in …«

 

Berlin bei Nacht – die Stadt, die niemals schläft. Doch 1919, im tiefen Winter war es anders, ruhiger. Und es war drei Stunden nach Mitternacht. Zeit der Nachtschwärmer und Diebe.

Ein Auto wartete leise tuckernd in der Kleinen Präsidentenstraße, nahe der Friedrichbrücke. Es stand im Dunkeln zwischen zwei Gaslaternen. Ein Mann saß am Steuer, sicher der Fahrer einer wichtigen Person, denn er trug Livree. Hier stand der mächtige Block der Börse, und die Herren des Geldes arbeiteten auch manchmal nachts. Dann waren sie allein. Und wenn 'Damens' dabei waren – naja, denne eben aners aabeeten. Aber wat jeht mir det an? So dachte der Schutzmann, der seine übliche Runde machte. Er kümmerte sich nicht weiter um das Fahrzeug, sondern sah diskret weg und ging gelassen um die Ecke in die Neue Friedrichstraße zur Spandauer Vorstadt. Schleppke atmete tief durch und drehte den Hals aus den engen Kragen der Livree. Leise trommelte er mit den Fingern aufs Lenkrad. Er stand hier schon geschlagene dreißig Minuten. Was dauerte da nur so lange?

Er blickte auf die andere Seite der Spree, wo die Nationalgalerie dunkel die Kolonnade am Spreeufer überragte. Schräg gegenüber lag der Berliner Dom und geradezu, über die Linden hinweg, sah er das Berliner Stadtschloss, in dem immer noch einige Fenster hell erleuchtet waren.

Die Gaskandelaber auf der Brücke beleuchteten nur unzureichend die Umgebung. Ein einsames Gespann überquerte klappernd die Brücke zum Alten Museum. Endlich! Über die Friedrichbrücke, die die Spandauer Vorstadt mit der Museumsinsel verband, liefen drei Gestalten, tief geduckt. Schleppke rückte sich zurecht. Sie mussten schnell verschwinden können, weshalb der Motor des Wagens lief. Schon bald erreichten die Männer den Wagen. Die Tür im Fond wurde aufgerissen und die drei stiegen ein. Aus dem Torbogen eines Hauses löste sich eine weitere Gestalt, überquerte mit schnellen Schritten die Straße, und setzte sich neben Schleppke. »So, wech von hier«, befahl Halske.

Schleppke schaltete und gab Gas. »Und? Hat’s geklappt?«

»Klar doch, Mann. Fahr man zu. Wir müssen noch heute in Potsdam sin. Also, mach hin.«

Schleppke brummte: »Klar doch, mach ick ja schon.« Er bog in die Oranienburger Straße ein und beschleunigte.

 

Wie auf dem Präsentierteller lagen auf dem Ziegelboden der Scheune vier Männer nebeneinander in ihrem Blut. Bei zweien war die Kugel direkt in die Stirn gegangen, einer war mitten ins Herz getroffen und der vierte brauchte drei Treffer in den Unterleib, bevor er langsam starb. Der Täter hatte sie schön nebeneinandergelegt. Die Kleidung der Toten ließ darauf schließen, dass sie nicht zu den wohlhabendsten der Bevölkerung gehörten. Kommissar Meyer stand, die Hände auf den Rücken gelegt, vor den Leichen, und wippte auf den Fersen. Dabei stieß er weiße Atemwolken in die eiskalte Luft der Scheune. Er beobachtete seine Leute und den Doktor, der sich die Opfer genauer ansah. Was sollte er sonst tun, außer sich ärgern. Nun hatte es auch seine Stadt erwischt! Seine Stadt! Und was ihn besonders in Wut brachte, dass das Verbrechen zu Weihnachten geschehen war. Zu Hause wartete der Putenbraten in der Röhre und er stand hier in der Kälte und besah sich vier Leichen. Schönen Dank auch!

»Paulsen!« Assistent Paulsen, kam um die Ecke geschossen. »Herr Kommissar?«

»Wie weit sind sie mit dem Bauern?«

»Fertig, Herr Kommissar. Alles notiert!«

»Dann machen sie noch Fotos. Sammeln sie die Beweise zusammen. Und denken Sie auch an die Spuren an der Scheunenwand. Und dann lassen sie die Toten nach Berlin an die Charité bringen. Der Chefpathologe ist ein Freund von mir. Ich habe seine Zusage, sich darum zu kümmern.«

Und du?, dachte Paulsen.

»Wir sehen uns am Montag. Ich erwarte dann ihren Bericht. Frohe Weihnachten noch.«

 

Halske saß, wie jeden Abend in seiner Lieblingskneipe, der 'Mulackritze'. Sein neuer Bekannter hörte mehr oder weniger aufmerksam zu, wie Halske über seinen erfolgreichen Coup prahlte. Natürlich nur durch die Blume. Aber er erkannte die Hochachtung in den Augen seines Gegenübers. Der trug, wie er einigermaßen in seinem Jumm erkannte, auch einen Ring. »Von welchen Verein bist’n eijentlich.« Er winkte ab. Is ja ejal. »Noch 'n Gedeck?« Halske winkte. Der Wirt schob je einen Stamper Korn und ein Bier über den Tresen. »Der Letzte«, murmelte er, worauf Halske abwinkte. Sie tranken sich zu.

»Und denn jeht’s ab, nach Amerika. Ja, ja.« Er nickte tiefsinnig. »Ick nehme die Anna mit.«

»Anna?«

»Naja«, lallte Halske, »Die Nutte aus der Elf.« Er gähnte herzhaft. »Ick werd' dann mal.« Er stand schwankend auf. »Schreib's an.« Dann torkelte er aus der Kneipe, bog in den Hausflur gleich nebenan und stieg in den zweiten Stock, wo seine Wohnung lag.

 

 

Berlin, Januar 1920

 

Es gibt Dinge, die nicht in aller Öffentlichkeit getan werden sollten. Davon war auch Peter Halske überzeugt. Allein schon aufgrund seiner schlechten Erfahrungen und der sehr, sehr empfindlichen Beute wegen. Er hatte gelernt! Wozu war man sonst im Knast gewesen? Um zu lernen!

Der Treffpunkt war ganz bewusst so gewählt, dass er allein die Kontrolle besaß. Jedenfalls war er überzeugt davon, dass er sie hatte. Das Grundstück lag einsam am Rande bewohnter Gebiete und gehörte einer Maschinenbau AG, die sozusagen am Frieden 1918 Pleite gegangen war. Zuletzt wurden hier Waffen hergestellt. Die Fabrik befand sich in der Nähe der Spree zwischen Treptow und Köpenick, wo sich nach und nach immer mehr Industrie ansiedelte. Aber noch trafen sich hier Fuchs und Hase und Halske mit seinen Auftraggebern. Die Chose, Beute, Sore, wie auch immer man das Ergebnis des Coups nennen wollte, befand sich an einer Stelle, die nur er kannte, und er würde den Standort erst preisgeben, wenn er das Geld in der Hand hielt. Das war sein Plan.

Er saß auf einer Holzkiste in der Dunkelheit einer Nische, die früher einmal für irgendein Aggregat in die Wand eingelassen war. Aus dem schmutzigen Betonfußboden ragten vier rostige Gewindestangen. Er sah auf die Taschenuhr, deren Zifferblatt er nur deswegen erkennen konnte, weil ein Streifen Mondlicht durch die Schrägfenster im Dach der Fabrikhalle bis dicht vor die Nische fiel. Noch zehn Minuten.

Es war noch Zeit, also ließ er die Gedanken schweifen. Gestern war er bei Anna, wie sie sich nannte, gewesen. Die hübscheste Nutte in dem ganzen Puff hatte es ihm angetan und er bildete sich ein, dass auch sie etwas von ihm wollte. Sie stammte aus Polen oder Russland. Er wollte sie fragen, ob sie mit ihm nach Amerika rübermachen würde. Das wollte er sie eigentlich schon längst gefragt haben, vergaß es jedoch immer wieder. Doch nun, als bald reicher Mann, wäre es doch eine Leichtigkeit, von hier zu verschwinden. Über Bremen direkt nach New York oder Boston. Ihr Lude wird sie dort wohl am Allerwenigsten vermuten.

Als er in ihr winziges Zimmerchen trat, lag sie in dem diffusen Licht einer abgedeckten Nachttischlampe auf dem Bett. Fast nackt, nur mit einem Korsett, das die Brust und den glattrasierten Schoß freiließ, bekleidet.

»Zieh dich aus«, gurrte sie und stieg lasziv vom Bett. Sie half ihm beim Entkleiden, bis er nackt war, und zog Halske zum Waschbecken.

»Waschen«, kommandierte sie, und tat es gründlich mit seinem Geschlecht. Bei der Erinnerung daran stieg Halske das Blut im Schritt. Sie schob ihn zum Bett, stieß ihn gegen die Brust, dass er rücklinks zum Liegen kam. Dann stieg sie auf ihn. Er konnte ihr zusehen, ihren wunderschönen, wogenden Busen bewundern und anfassen. Und als er kam, tat sie so, als käme es ihr auch. Halske gab ihr noch zehn Mark, dass sie ihn mit dem Mund und anschließend mit der Hand befriedigte. Er hatte die Hände hinter dem Kopf, sah zu und stellte sich vor, dass er in Amerika einen Puff aufmachen würde. Mit Anna als Zugpferd! Und dann sah er ihr zu, wie sie sich wusch und die schönen, weißen Zähne putzte. Anna warf ihm seine Sachen zu. »Du nun musst gähen.«

Und als er draußen stand, und während ein dicker Mann sich an ihm vorbei in ihr Zimmer zwängte, erinnerte er sich daran, dass er sie fragen wollte. Mist! Das musste er heute noch, wenn das Geschäft abgewickelt war, nachholen.

Halske hörte ein leises Huschen. Sicher eine Ratte, dachte er und lehnte sich zurück. Zufrieden mit sich und der Welt grinste er über das ganze Gesicht, griff nach hinten, in den Bund seiner Hose. Dort steckten eine Pistole, ein sogenannter Nagant und ein Revolver. Mit dem Revolver hatte er dafür gesorgt, dass er die versprochenen fünftausend Mark nicht teilen musste. Es war ganz einfach. Sie waren so überrascht, dass sie keinen Widerstand leisteten. Sie sahen ihn nur mit großen Augen an, wie damals im Krieg die Franzmänner, wenn er ihnen mit dem Bajonett in den Bauch stieß und beobachtete, wie das Seitengewehr in den Körper eindrang. Halske glaubte, dass seine toten Kumpane, wenn überhaupt, in Frühjahr gefunden werden würden. Blieb genug Zeit für ihn, mit Anna zu verschwinden, bevor ihr Lude und die Bullen in Berlin oder Potsdam in Aufruhr gerieten.

Er hörte leise Schritte knirschen. Das werden sie sein. Sie hatten ein Stichwort vereinbart, mit dem sie sich erkennen geben sollten. Und da hörte er es schon: »Hallo? Stiefmütterchen?«

Stiefmütterchen war Halskes Idee. Wer kam schon darauf, mitten im Winter Stiefmütterchen zu kaufen oder zu suchen. Halske fand die Idee genial!

»Stiefmütterchen kommen am Mittwoch.«. Das war die richtige Antwort von ihm.

»Wo sind Sie?«

Halske ließ sein Feuerzeug schnippen. An der Flamme zündete er eine Kerze in einer Laterne an und stellte sie auf den Boden. »Hier. Komm se näher ran.« Er zog den Revolver aus dem Hosenbund und entsicherte ihn, doch achtete er darauf, dass er nicht auf dem ersten Blick zu sehen war.

Im diffusen Licht der Laterne tauchten zwei Männer in schwarzen Mänteln auf. Der eine schien ein wahrer Hüne zu sein, wogegen sein Partner einen Kopf kleiner, aber athletischer war. Ihre Hüte hatten sie tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Taschen ihrer Mäntel versteckt. Ob sie Pistolen dabei haben, fragte sich Halske. Der Hüne trug eine Aktentasche unterm Arm. Sie blieben ein paar Schritte vor ihm stehen. »Haben Sie’s?«

»Jo. Und ihr?«

»Wie meinen?«

»Ob Sie det Jeld dabeihaben.«

»Ach, das Geld meinen Sie?«

»Jenau. Wat sonst?«

»Selbstverständlich. Haben wir. Was denken Sie denn?«

»Naja, ick wees nich.«

Nach längerem Schweigen: »Also?«

»Erst det Jeld. Denn sach ick Sie wo die Sore liecht. Fünf Pakete, wie vasprochen.«

Der eine der Schwarzbemäntelten sah den anderen an. »Was denken Sie?«

»Können wir so machen, Herr …«

»Pscht!«

Der Hüne trat einen halben Schritt vor. Er öffnete die Tasche und hielt sie so, dass Licht hineinfiel und Halske den Inhalt erkennen konnte. »Wie vereinbart, der Herr. Fünftausend.« Er sprach unverkennbar berliner Dialekt, den er jedoch versuchte durch Hochdeutsch zu vertuschen.

»Jut, stell de Tasche hin, wo de stehst und denn vier Schritte rückwärts, bitte.«

Der Mann tat es. »Und nun?«

»Passen se uff. Ick nehm jetzt die Tasche, jehe nach links, ja? Und denn sach ick Sie, wo se die Beute finden.«

»Was meinen Sie?«, fragte der eine den anderen Mantelträger.

»Gut. Machen wir so, Herr …«

»Pscht!«

Halske trat aus seiner Nische. Er griff nach der Tasche. Schwer! Fünftausend Mark schwer! Halske griente über das ganze Gesicht. Jeschafft! Er lief mit der Tasche in der Hand zu einem Nebenausgang. »Nun?«, fragte einer der Mantelträger.

»Jleich rechts neben der Nische is noch eene. Da sind die Pakete drin. Vielen Dank ooch. Gerne imma wieda.« Er erreichte eine Nebentür, die wohlweislich nur angelehnt war. Er schob sie auf und betrat den ehemaligen Werkhof.

Den Schlag auf dem Hinterkopf registrierte er noch verwundert, dann sank er zu Boden. Er roch Beton und Öl und etwas Warmes floss über sein Gesicht. Er wunderte sich sehr, warum sein Bett so hart und kalt war. Anna? Dann verstarb er.

Jemand trat neben Halske, stieß ihn mit dem Fuß an und leuchtete mit einer Dynamolampe in das tote Gesicht.

»Der is hin, meine Herren.«

»Pscht! Nicht so laut.«

Die Tasche mit den fünftausend Mark wurde aufgehoben. Jemand strich den Schmutz davon ab.

»Hier sind nur vier Pakete!«, kam eine Stimme aus der Nische.

»Egal, wir müssen weg. Um das fünfte kümmern wir uns noch, Herr…«

»Pscht…!«

Die Schritte von drei Männern entfernten sich knirschend. Wenig später hörte man ein Auto anfahren und sich entfernen.

In der Zwischenzeit hatte sich eine dunkle Gestalt von einer Wand gelöst, und verschwand lautlos in der Dunkelheit. Wenn es nicht so finster gewesen wäre, hätte man gesehen, dass der Mann leise lächelte. Unter dem Arm trug er ein längliches Paket in einem Zuckersack.

Der Ford hatte ganz schön zu tun, dem Auto der Mantelträger zu folgen. Sie rasten nach Westen, in die Villengegend in Schlachtensee. Hier wohnte der neureiche Geldadel, der durch den Krieg Millionen gemacht hatte, neben hohen Staatsbediensteten und solchen, die meinten, dass sie dazugehören müssten.

Der Wagen vor ihm bog in eine Seitenstraße und hielt vor einer schönen Jungendstilvilla. Die Männer stiegen aus, unter dem Arm ihre Beute und die Aktentasche mit den fünftausend Mark in der Hand. Schmitz hielt ein paar Meter weiter in der Straße. Er sah die Männer eben das Grundstück betreten und schlich hinterher. Der Zaun, der das Grundstück von der Straße abgrenzte, trug oben scharfe Spitzen. Dennoch stieg er an einer dunklen Stelle zwischen zwei Gaslaternen darüber. Im ersten Stockwerk brannte Licht. Von einem Strauch verdeckt, beobachtete Schmitz das Fenster, das gerade jemand von innen öffnete. Er hörte Stimmen. »… morgen fahren wir nach Bergen.« »Bergen? Welches Bergen?« »Auf Rügen. Dort warten auf uns …« Leider wurde das Fenster wieder geschlossen. Doch das Gehörte genügte Schmitz bereits. Er würde warten und folgen.

 

 

Berlin, Ende Januar 1920

 

»Das müssen Sie mir näher erklären.« Direktor Niemeyer, siebenundfünfzig, Erbe eines Bankhauses, Hauptaktionär der Preußisch-Pommerschen Provincial Assekuranz, verheiratet, mittelgroß und beinahe ebenso breit, drei Kinder, eine Villa in Wilmersdorf bei Berlin, fläzte hinter seinem riesigen, dunkel gebeizten Eichen-Schreibtisch. Ebenso riesig war das moderne Telefon mit Wählscheibe, das Schreibset aus schwarzem Marmor und massivem Gold, die Tischlampe, eine nackte Frauenfigur aus Messing, die den Schirm hielt, und das Porträt hinter ihm, das einen ernst blickenden Herrn darstellte. Der Besucher war keineswegs erschüttert oder beeindruckt. Aufmerksam, aber nicht unterwürfig, saß er vor dem großen Director und lächelte freundlich. »Das ist ganz einfach. Um in diese Kreise zu gelangen, muss man sich eine – Legende - zulegen.«

Der Dicke hinter dem Schreibtisch grinste breit. »Naja, aber kleinkriminell? Mensch, das haben Sie doch gar nicht nötig.«

»Ich war aber der Bande nach ihrem Coup direkt auf den Fersen. Dass es in Mord ausartet, hätte ich nicht geahnt.«

»Und nun?«

»Die Mantelträger sind von ganz anderem Format. Wissen Sie, was ein Ringverein ist?«

»Nee.«

»Nun, das sind besondere«, Schmitz malte mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft, »Vereine, in denen Kriminelle und ehemalige Knastis, organisiert sind. Sie sind gefährlich und kennen keine Skrupel.«

»Wie alle Kunstdiebe, nicht wahr.«

»So ungefähr und schlimmer. Sie beschäftigen sich mit allem, was illegal ist. Vom einfachen Einbruch, Raub, Erpressung bis zum bezahlten Mord. Andererseits kümmern sie sich um Entlassene, Ehemalige und deren Familien. Ich muss Sie um Geduld bitten.«

Niemeyers Besucher merkte, dass sein Gesprächspartner keine Vorstellung besaß. »Wie auch immer, Herr Niemeyer. Die Spur führt nach Rügen. Bis dahin konnte ich den Männern folgen. Ich nehme an, dass sie erst einmal abtauchen wollten, bevor sie die Bilder in Holland, Amerika oder England anbieten. Und einen Trumpf habe ich noch in der Hand.«

»Ach ja? Und der währe?«

»Tut mir leid, Niemeyer, aber darüber muss ich gegenüber jedermann schweigen.«

»Auch mir gegenüber? Mann oh Mann!«

»Jedem gegenüber. Das ist nichts Persönliches, Herr Director. Rein berufliche Risikominimierung.«

Niemeyer schwieg beleidigt. Doch wenn er es sich recht überdachte, war es wohl besser so. Wenn er auch nicht alles mit seiner Frau besprach, aber so manches Geschäftliche ist ihm schon seiner – Mätresse? – gegenüber entfleucht, worüber er sich hernach sehr ärgerte. Doch was nutzte es?

»Also gut. Machen Sie weiter. Und berichten Sie mir regelmäßig. Die verdammten Museumsleute gehen mir schon auf die Nerven. Sie wollen Geld.«

»Frage mich, was sie damit wollen. Die Bilder sind weg – vorläufig. Aber ich werde sie wiederbeschaffen. Es wird nur dauern.« Der Besucher erhob sich. »Wenn sie gestatten? Ich empfehle mich.« Er nickte dem Dicken freundlich zu und ging.

Niemeyer griff nach dem Hörer seines modernen Telefons. Er wählte eine dreistellige Nummer. »Hermann? Rufen Sie die Nationalgalerie an. Verklickern Sie den Herren, dass Sie noch warten müssen – Was? – Finden Sie einen Grund. Dazu sind Sie ja da. Wiederhörn!«

 

 

 

Neuendorf, zehnter November 1922, in tiefer Nacht


Der Wind nahm wieder zu, und entwickelte sich zu einem Sturm. Schneeregen gesellte sich dazu. Ein Ruderboot kämpfte sich durch die kurzen, harten Wellen des Schaproder Boddens. Gischt schlug den beiden Männern auf den Rücken, und trotz ihrer Südwester waren sie bereits bis auf die Knochen durchnässt. Fluchend ruderten sie mit voller Kraft gegen den Wind und kamen dennoch nur langsam voran. Ihr Ziel war eine flache Stelle am Boddenufer südlich von Neuendorf. Diese Männer waren keine Fischer. Sie transportierten etwas, dass ihre Auftraggeber unbedingt loswerden wollten, und zwar so, dass es nie wiederentdeckt werden konnte. Deshalb waren sie im Dunkeln unterwegs, um das lange, schwere Paket auf dieser Insel zu verstecken.

Trotz des Sturmes, des Schneeregens und der Kälte erreichten die beiden endlich das Ufer. Sie durchstießen das Schilf und ruderten, bis sie festsaßen. Einige Sekunden verschnauften sie, dann sprangen sie aus dem Kahn, griffen nach dem Paket und schleppten es auf den Schultern durch unwegsames, offenes Gelände zur Westseite der Insel, die hier vielleicht zweihundert Meter breit war. Die Einheimischen nannten das Gebiet Sjambök. Rechts von ihnen lag Plogshagen. Es bestand aus ein paar reetgedeckten Fischerkaten, deren Bewohner noch tief schliefen. Ein paarmal traten sie in Wasserlöcher oder rutschten an glatten Stellen aus. Sie fluchten, verwünschten ihre Auftraggeber und sich selbst. Da sie aber den Job übernommen hatten, setzten sie unbeirrt ihren Weg fort, denn sie wussten, ihre Auftraggeber verziehen keinen Fehler. Und hundert Mark für jeden – versprochen – waren nicht zu verachten. Damit kam man länger als einen Monat über die Runden. Kurz vor dem Ziel, die Dünen von Plogshagen am Ufer der Ostsee, stolperte der Vordere und stürzte hin. Das Paket fiel auf den Boden, die Verpackung platzte auf und der Inhalt rollte in das nasse Gras.

Sturm bei Neuendorf, Reiner A. Hampusch, Bleistift

»Scheiße!«, rief der Zweite, als er sah, was sie da transportierten. Der Erste rappelte sich auf und trat herzu. »Dammichter Schietenkroam, dammichter! Dat hat uns man groad gefählt! Los, lass uns verschwinden!«

»Nee. Dat do mutt ierst ma wech! Mach schnell, dor op.«

Sie griffen beherzt zu, schleppten das Paket zur Düne und begannen mit den Händen eine flache Grube auszuheben. Ihre Feldspaten lagen noch im Boot. Sie hatten sie einfach vergessen. Die Männer legten das Paket in die Kuhle, schoben Sand darüber und verschwanden in der Dunkelheit. Bis zum Morgen deckte der Schnee das flache Grab ab und verwischte jede Spur der nächtlichen Arbeit.

Neun Tage später fand man am Strand bei Suhrendorf auf Ummanz zwei unbekannte Männer, die offensichtlich beim Angeln vom Sturm überrascht worden waren. Das Boot war gekentert und die Männer waren ertrunken. Sie hatten weder Ausweispapiere bei sich noch etwas anderes, mit dem man sie hätte identifizieren können. Ihr Schiff lag kieloben wenige Hundert Meter weiter südlich. Man fand weder die Riemen und auch nicht die Angelausrüstung, von der die Ermittler annahmen, dass sie von Einheimischen gestohlen worden war. Die Leichen wurden nach Bergen gebracht, man machte sie aktenkundig und begrub sie in einer Ecke am Rande des Bergener Friedhofs. Vielleicht würde sich jemand melden, der sie vermisste. Dass die Männer einem Verbrechen zum Opfer gefallen waren, konnte man damals noch nicht erkennen, denn die Körper waren durch das Salzwasser schon zu sehr angegriffen, um die feinen Spuren einer Klaviersaite um die Hälse der beiden Toten zu erkennen.



Kloster, elfter November 1922

 

Von dem Sturm, der mit Stärke sechs bis sieben über die Ostsee fegte, und eisige Luft und Schnee mit sich brachte, spürte man im Hause Anna-Luise Meisers nichts. Im kleinen Ofen der Stube bullerten ein paar Hartholzstücke und verbreiteten wohlige Wärme. Auf dem Tisch blakte eine Petroleumlampe, und ein fünfarmiger Kandelaber auf der schlichten Anrichte spendete genügend Licht. Anna, so nannten ihre Freunde und Freundinnen Anna-Luise, saß mit angezogenen Beinen auf ihrem Lieblingsplatz, dem Ohrensessel, ein Erbstück ihrer Großmutter selig, in der Nähe des Öfchens und hielt gedankenverloren ihr Skizzenbuch vom Sommer des Jahres in der Hand. Im Winter, wenn es Draußen zu kalt war, um an der Staffelei zu stehen und zu malen, arbeitete sie sie auf; Sie liebte es, in den Skizzen zu blättern, sich zu erinnern, in Gedanken ein Bild zu malen oder Farben den meist Kohle- oder Tuschezeichnungen zuzuordnen. Sie wollte sie sich ansehen, solange Hieronymus noch nicht hier war. Anna seufzte, sah zur Wanduhr. Es war bereits sieben Uhr. Er hatte ihr in die Hand versprochen, pünktlich zum Tee, das wäre vor zwei Stunden gewesen, zu erscheinen. Es war nicht das erste Mal, dass er sie sitzen ließ. Aber es waren immer plausible Gründe gewesen. Doch diesmal – es war schließlich November! - da waren nur noch die Einheimischen und ein paar Künstler auf der Insel. Und bei dem Wetter blieben alle lieber im Haus. Aber Hieronymus? Es konnte doch kein wichtiges Gespräch mit einem Verleger stattfinden, oder einem Mäzen, nicht einmal mit einem potenziellen Leser.

Anna stammte aus Berlin. Damals aber, als sie geboren wurde, noch in Pankow, einem Dörfchen im Norden bei Berlin, das umgeben war von stinkenden Rieselfeldern, Landwirtschaft und Schwermaschinenbaufabriken, wie 'Bergmann-Borsig', aber dessen Straßen und Wohngebiete sich nach Berlin ausdehnten wie Krakenarme. Vater war Beamter und tolerierte Annas Drang zur Malerei. Er schickte sie auf die Kunstgewerbeschule, wo sie einen Teil ihres malerischen Handwerkes erlernte.

Anna-Louise stierte in den roten Feuerschein, der durch die halb offene Ofenklappe flackerte, sich in ihren schönen hellbraunen Augen spiegelte und ihre Haare rötlich flammte. Anna galt als schöne Frau, hier auf der Insel und auch in Berlin, an der Friedrich-Wilhelm-Akademie. Sie war sehr gefragt, die Kollegen bemühten sich um sie, und mancher hätte gern eine oder mehrere Nächte mit ihr verbracht. Doch Anna hielt Abstand. Sie hatte schon zuviel gehört und auch gesehen - wie es war, mit den Kollegenbeziehungen. Sie endeten viel zu oft tragisch. Nein, sie wollte nichts mit einem der Ihren zu tun haben. Deshalb war sie mit Hieronymus liiert. Es war eine Freundschaft aus tiefer Zuneigung und verhaltenem Sex. Marie wollte sich nicht binden oder eingestehen, dass es auch Liebe sein könnte.

Sie trug dicke Socken über ihre Strümpfe, denn der Dielenboden des Hauses war kalt. War er immer, sogar im Sommer. Aber im Winter war es unangenehm. Sie bekam schnell kalte Füße. Ansonsten genügte ihr am Abend ein himmelblauer Hausanzug aus Satinseide, in die Rosenmotive eingewebt waren. Ihr wunderschönes volles mittelbraunes Haar, das in leichten Wellen bis auf den Rücken fiel, trug sie offen. Wenn sie malte, hielt ein Stirnband oder Kopftuch die Haarpracht zurück. Draußen, in Gottes freier Natur, vor der Staffelei, trug sie einen Männerhut mit breiter Krempe gegen die Sonne. Des Morgens kämmte sie sich dieses Haar stundenlang im Bad mit einer Drahtbürste und bewunderte dabei ihren schönen Körper. Ja, stellte sie fest, ich bin schön! Makellos schön! Sie drehte sich vor dem großen Spiegel, an dem sich schon blinde Stellen am Rahmen zeigten. Und auch von hinten und von der Seite war sie schön. Die Haut war rein und fleckenlos braun, ihre Figur genau richtig, sogar mit ihrem Busen war sie zufrieden. Ihre Freundin, Marie, mit der sie im Sommer am Nacktbadestrand war, wo sie sich gegenseitig zeichneten oder fotografierten, bestätigte es ihr auch immer wieder. Sie nickte sich zufrieden zu.

 

Wo blieb Hieronymus? Der Sturm blies jetzt heftiger durch den Kirchweg. Unwillig legte Anna das Skizzenbuch zur Seite. Sie stand auf und ging zum Fenster. Eine einsame Laterne schaukelte im Wind und die letzten Blätter, vermischt mit Schneeregen, flogen waagerecht vorbei in die Dunkelheit. Jemand klopfte.

»Is auf!«, rief Anna.

»Puh, hier ist’s schön warm!« Marie Schulze-Bergen, eine erfolgreiche Malerin und Grafikerin aus Berlin und Tochter reicher Eltern, die eine riesengroße vornehme Wohnung im Berliner Westen bewohnten, schüttelte sich den Regen aus den Haaren. Sie zog die dicke Wolljacke aus, wickelte sich aus dem Strickschal, den sie auch um den Kopf getragen hatte, und zog ihren Pullover aus. »Hier kann man’s aushalten!« Ungefragt setzte sie sich in Annas Ohrensessel, schlug die Beine übereinander und sah ihre Freundin an. »Und, wo isser, Bergander?«, berlinerte sie.

Marie trug eine rot karierte Bluse mit einem dunkelblauen Tuch, einen ebenso dunkelblauen Wollrock und dunkelblaue Wollstrümpfe. Die Halbstiefel hatte sie schon an der Tür ausgezogen und dicht an den Ofen gestellt. Sie wohnte ein paar Häuser weiter, oberhalb der Kirchstraße – möbliert, und preiswert. Sie war zwar wohlhabend, durch Eltern und eigene Leistung – sie zeichnete Illustrationen für wissenschaftliche Bücher und Kinderbücher, die wirklich gut gingen - und hätte sich ein eigenes Haus bauen lassen können. Marie genoss aber den Vorteil, von ihrer Vermieterin, einer herzensguten Witwe, deren Mann im Ersten Weltkrieg auf See geblieben war, wie man so schön sagte, von hinten bis vorne bemuttert zu werden. Auf See geblieben! Die alte Dame knurrte auf Platt: »Abgesoffen is hej, abgesoffen! Mit’n Uuu-Booet.« Und dann schüttelte sie den Kopf und sah auf das Hochzeitsbild, das sie und einen stolzen Seemann der Kriegsmarine zeigte. Schon vergilbt und mit etlichen Wasserflecken versehen. Marie vermutete, dass es Tränen gewesen waren, was die Dame aber heftig bestritt.

Anna sah nach draußen. Sie glaubte, Gerhard Hauptmann vorbeigehen zu sehen. Unsinn! Nicht bei diesem Wetter und schon gar nicht im Spätherbst. Dann war es wohl nur der Pfarrer. Aber Bergander blieb weg.

»Was hast Du heute gemalt, Liebste?« Marie griff nach dem Skizzenbuch auf dem Tisch und blätterte darin. Sie versuchte, ein Gespräch zu beginnen. Und was passte besser zu zwei Berufskolleginnen, wie sie es waren, als ein Gespräch über die Kunst, der eigenen sowie der der anderen.

»Nichts. Ich habe die Leinwand angestarrt.«

»Ich sag’s ja, der Kerl is nüscht für Dich! Er lenkt Dich nur ab.«

»Unsinn. Es ist das Wetter. Soll ich uns einen Tee machen?«

»Wenn Du Rum hast!« Marie prustete. »Wetter! Klar doch.« Sie stand auf. Während Anna einen Kessel auf den Ofen stellte, holte Marie eine Teekanne und ein Stövchen aus der Anrichte.

»Schwarzer Tee? Und ich sage Dir, er ist schuld. Seine verdammte Unzuverlässigkeit! Und sag nicht: Künstler!«

»Sag ich ja gar nicht«, gestand Anna. »Und natürlich ist er so ein Typ. Aber unzuverlässig? Nein.«

»Du kannst ihn Dir nicht zurechtbiegen. Das kannst Du nicht. Du bist zu nachgiebig, lässt ihm zu viel Freiraum. »

»Aber Du kannst es?«, fragte Anna empört. Und Marie lehnte sich zurück, grinste süffisant und meinte: »Vielleicht?«

»Bah!« Anna stellte zwei chinesische Teetassen auf den Tisch. Dann goss sie das heiße Wasser in die Teekanne, in der bereits ein Tee-Ei steckte. »Drei Minuten.«

»Und wo ist der Rum?« Anna zeigte mit der Hand zum Schrank. »Unten.«

Die beiden Frauen nippten am Tee und schwiegen, und jede dachte das Gleiche: Wo steckt Bergander?

 

 

Kloster, zwölfter November 1922


Die Hand, die auf Annas Brust lag, gehörte definitiv nicht zu Hieronymus. Sie war schmaler, leichter und kühler. Und zarter! Annas Bewusstsein begann wieder zu arbeiten und sie erinnerte sich sogar an die vierte Tasse Tee, in der allerdings mehr Rum war als Tee. Dann waren wohl noch mehr Tassen gefolgt, ohne Tee, dafür aber mit Rum. Sie kicherten, stellten sich vor, Bergander wäre da, und sie hätten ihm die Leviten gelesen. Und dann fand Marie, dass sie unbedingt ihre Kleider tauschen müssten, und Anna fand es wohl auch so. Sie torkelten kichernd und eng umarmt ins Schlafzimmer. Der Kleidertausch, erinnerte sich Anna nebulös, war ein Desaster. Sie lachten, versuchten schwankend aus den Kleidungsstücken zu kommen, was mit vielem Hallo und gegenseitiger Hilfe gelang, und mit geringem Erfolg wieder hinein. Doch zum Ende ihrer Bemühungen trug Anna einen Strumpf von Marie und deren Pullover, Marie die Jacke des Hausanzuges. Mehr nicht. Sie lachten, bis ihnen die Seiten wehtaten, und mit Tränen in den Augen auf Annas Bett landeten. Dann war sie wohl eingeschlafen.

Vorsichtig hob Anna das Deckbett an. Sie trug immer noch den Strumpf, bis knapp über das Knie heruntergerutscht, ansonsten nichts. Wie ihre Freundin und Nebenbuhle, die Ihre Brüste an Annas Rücken presste und ihr den Atem in den Nacken blies.

»Tee?«, fragte Anna in den Raum. Marie nickte brummend und rührte sich nicht einen Millimeter. Vorsichtig löste Anna Maries Hand von ihrer Brust. »Schade«, murmelte ihre Freundin. »Hast Du Aspirin?«, und drehte sich auf die andere Seite. Anna setzte sich auf die Bettkante, wartete, bis der Schwindel im Kopf nachließ. Warum auch immer, zog sie den Strumpf hoch, erhob sich und ging zur Küche, um Holz auf die noch immer vorhandene Glut aufzulegen. Barfuß schlurfte sie zum Ausgussbecken, stolperte über die leere Rumflasche, die quer durch die Küche rollte. Sie drehte den Wasserhahn auf und füllte den Wasserkessel auf. Das tat sie langsam, denn Kopfschmerz und diverse Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Es beschäftigten sie die Fragen, warum Bergander, der Schuft, gestern nicht gekommen war und ob Marie nicht doch lesbisch war und wo fand sie eigentlich das Aspirin? Bisher war sie der Meinung, zwischen ihnen herrsche Freundschaft, wie Frauen sie pflegten. Und, wie Anna so war, fragte sie direkt danach, einfach um die Sachlage ein für alle Mal zu klären: »Sag mal, bist Du lesbisch?«

Aus den Kissen drang ein Brummen, das wohl ablehnend klingen sollte. Dann schälte sich Marie aus den Decken. Sie setzte sich im Schneideritz auf und stemmte die Fäuste in die Seite. Sie blinzelte mit ihren blaugrauen Augen. »Was denkst Du denn von mir?«

Obwohl Anna bei Maries Anblick die Luft ausblieb, konnte sie noch antworten. »N-nichts Böses, Süße. War nur so 'ne Frage.«

»So möchte ich Dich malen.« Und Marie nickte: »Machen wir im Sommer. Jetzt ist es zu kalt.« Mit der Frage: »Wo sind eigentlich meine Sachen?«, blickte sie sich suchend um. Sie kletterte vom Bett und klaubte auf dem Weg zur Küche über dem kurzen Flur hier und da Kleidungsstücke zusammen. »Ich bin mich dann mal waschen. Und meinen Strumpf brauche ich auch noch.« Anna warf ihn ihr hinterher.

Der Kessel summte. Anna hörte Marie im Bad singen. Sie goss den Tee auf und setzte sich auf den Küchenstuhl. Sie musste eh' noch warten, bis sie ins Bad durfte. »Kannst schon kommen. Ich bin gleich fertig«, rief Marie.

„Ja ja!“ Anna buck auf dem Küchenofen zwei Brötchen von gestern auf. Es duftete verführerisch nach schwarzem Tee und frisch Gebackenem. Draußen dämmerte ein grauer Morgen. Die beiden Frauen griffen herzhaft zu. Sanddornmarmelade und Schinken, Salami, darunter dick gesalzene Butter.

»Nachher fragen wir uns mal durch den Ort, ob wer Hieronymus gesehen hat.«

»Brr. Es sieht kalt aus. Sieh mal, es hat geschneit! Wir gehen zum Kaufmann und danach zur Polizei nach Vitte.« Anna nickte.

Sie führten einen gemeinsamen Haushalt bei Anna und lebten auch mehr oder weniger zusammen. Doch wenn es um die Arbeit ging, war jede für sich allein. Anna war sich nur nicht sicher, ob das auch die Beziehungen zu Bergander betraf.

Wie gesagt, sicher war sie sich ihrer Zuneigung zu Bergander immer noch nicht. Für Anna war Liebe etwas außerordentlich Tiefes, Echtes und Wahres. In ihrem Leben gab es einige Jünglinge und Männer. Alles nur vorübergehende Beziehungen für ein paar Monate – wenn es lange dauerte. Mit Bergander war das anders. Er war still. Nicht solch ein Angeber, der wer weiß was, konnte und wusste und tat. Anna fand, dass er Talent besaß, dass das, was er schrieb, gute Literatur war. Aber, er konnte sich nicht verkaufen. Ihr erging es ähnlich. Alle in ihrer Umgebung lobten sie, ordneten sie einem Stil zu, oder mehreren, manche nannten sie die letzte Impressionistin. Andere sprachen von 'expressiv'. Aber sie fand keinen Galeristen. Ihre Bilder hatte sie zuletzt vor fünf Jahren verkauft. Seitdem lebte sie von Gelegenheitsaufträgen, die ein wenig Geld einbrachten; Mal ein Porträt, mal eine Landschaft. Natürlich Hiddensee, natürlich Kloster oder Vitte und außerdem vom Geld ihrer Freundin Marie.

Sie hatten beide Bergander gemalt. Um die Wette; als Portrait, als Akt am Strand, im Garten, stolz in einem hellen Anzug und mit Hut, auf dem Dornbusch sinnend stehend. Er war ein schöner Mann. Mittelgroß, ein kantiges, schmales Gesicht, das aber nicht hart erschien, eine beinahe athletische Figur. Und ein Knackarsch, würde Marie jetzt ergänzen. Er sah aber immer ein bisschen gehetzt aus. Anna schrieb es seiner Introvertiertheit zu.

Bergander schrieb Gedichte und lange Romane. Seine Poesie kam an. In den Künstlerzirkeln in Kloster wurden sie freundlich bis frenetisch beklatscht. Aber seine Romane gingen nicht. Sie waren – zu düster.

Anna und Marie hatten keine Ahnung, wo Bergander herkam, wer seine Eltern waren, wer seine Verwandten. Ja, nicht einmal wo er wohnte. Eines Tages war Bergander auf der Insel aufgetaucht, in der Blauen Scheune in Vitte, bei Henni Lehmann. Er trug Gedichte vor und eroberte Annas Herz.

Natürlich hatten sie zusammen geschlafen. Und es war schön gewesen. So unaufgeregt und still, wie Bergander nun einmal war. Und wenn sie mehr wollte, dass er heftiger, fordernder wurde, blieb er still, feinsinnig, zärtlich. Nach dem Frühstück liefen Anna und Marie durch den Ort und bis nach Vitte. Niemand hatte Bergander gesehen, niemand mit ihm gesprochen. Bergander blieb verschwunden. »Ja, vorgestern …!« Langsam begannen die beiden Frauen, sich Sorgen zu machen.



Kloster, dreizehnter November, abends


Der Sturm nahm an Stärke zu. Sie waren in Mariens »Atelier«, dem größten Zimmer im Haus mit Nordlicht, das Maler bevorzugen. Marie stand an der Staffelei, Anna saß Modell und fror. Die alte Dame bereitete ihnen Sanddorntee und stellte Kekse auf den winzigen Tisch. Anna brachte den passenden Rum mit. Draußen war es jetzt stockdunkel, der Wind tobte lautstark ums Haus, rüttelte an den Fensterläden und brachte noch mehr Schnee mit. Ungewöhnlich viel Schnee und ungewöhnliche Kälte. Marie arbeitete an Annas Bildnis, dass sie ja erst im Sommer erschaffen wollte, aber sie meinte, der Sommer wäre noch lang hin und ein Bildnis könne sowohl im Sommer wie im Winter erstellt werden. Das Gaslicht zischte leise, im Kachelofen bullerten Holzscheite.

»Und die Gänsehaut?«, grinste Anna und zeigte auf ihren Arm. Marie stand hinter ihrer Staffelei, sah kritisch auf ihr Gemaltes und dann auf Anna, schob die Unterlippe vor und meinte: »Setz Dich anders hin.«

»Wie denn?«

»Ein Bein angezogen, leg die Arme drum herum. Ja, so. Noch ein bisschen nach rechts. Mehr Brust, bitte.«

»Das tut weh!«

»Interessiert keinen. Mach's einfach.«

Marie vertrat die Gruppe der »Neuen Sachlichkeit«, ein Malstil, der gerade im Entstehen war. Auch hier auf der Insel. Ihre Bilder unterwarfen sich dem Diktat der Komposition, manchmal auch der Konstruktion, ohne den Gegenstand an sich zu verfremden. Der Strich war klar, die Farben rein, die Komposition kühl, sachlich. Sie verkaufte gut. Ihr Galerist riss ihr förmlich die Bilder aus der Hand und verteilte gute Ratschläge, was sie alles noch malen müsste. Doch Marie ließ sich nicht drängen. Sie war reich genug, um das zu malen, wozu sie Lust hatte.

»Morgen gehen wir zur Polizei«, sagte Anna in den Raum und in die Stille hinein, die nur durch den Wind von draußen unterbrochen wurde.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Reiner A. Hampusch
Bildmaterialien: Reiner A. Hampusch
Cover: Reiner A. Hampusch
Tag der Veröffentlichung: 12.03.2018
ISBN: 978-3-7438-6110-7

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /