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Rheinsberg und anderswo

 

 

 

Meiner Frau gewidmet.

Hommage a Kurt Tucholsky

 

 

 

Sonntag

Es ist noch Früh,

Ich seh‘ Dir zu.

Der Morgen steigt

Am Horizont.

Die Sonne streichelt

Deine Haut, so samten.

 

Reiner A. Hampusch

 

 

 

Der Bus hält schnaufend am Kirchplatz. Wir springen aus der Tür. „Aha“, sagt die Prinzessin. Und indem sie sich um sich dreht: „Nebel und Nieselregen. Wie bestellt.“ Sie sieht zufrieden aus.

„Aha“, sage ich. Sie gibt mir einen Klaps auf den Hinterkopf. „Aha, sage ich. Das ist mein Text.“ Sie drückt mir die Reisetasche in die Hand. „Seh dir lieba um. Allet üm Neebel. Und wo is nu dis Hotel?“ Die Prinzessin spricht jetzt brandenburgisch. Das tut man hier, um nicht als Tourist erkannt zu werden. Die Prinzessin ist nicht gerne als Tourist angesehen. Sie will, wie sie behauptet, sich unter dem Volk mischen. Ihm uff‘t Maul kieken.

Es hupt hinter uns. Wir springen (auf dem Fußweg) beiseite. Berliner Angewohnheit: Spring zur Seite, wenn es hinter dir hupt oder klingelt, egal, wo du dich gerade befindest. Wir drehen uns um. Ein Benz, wie mein geübtes Auge erkennt, wahrscheinlich C200. Oder mehr. Aus dem Seitenfenster des Wagens lacht ein Gesicht. Horst! Birthes Horst. Und es hupt noch einmal. Die Hupe wird betätigt von - Birthe. Leibhaftig! Die Fahrertür kracht auf. Birthe fliegt aus dem Auto – bildlich gesprochen – und auf uns zu. „Da reist man einmal in die Einsamkeit der Welt“, sie hängt mir am Hals, knallt einen mächtig nassen, himbeerigen Kuss auf meine Lippen, „in den hohen Norden“, fährt sie fort, ohne Luft zu holen. Sie schwebt unnachahmlich zu Mariele, „und trifft, neben Eisbären, Robben, Tölpeln und Pinguinen“, Mariele verschwindet unter Armen, fliegenden Haaren und einem furchtbar teuren Kaschmirmantel, „seine liebsten Freunde!“ (Ich bitte um Entschuldigung wegen der vielen Kommas. Aber es geht nicht anders. So ist nun einmal Birthe.)

„Tölpel!?“, protestiere ich.

Mariele taucht wieder auf. Sie sieht zu mir herüber. Zuckt mit den Schultern. „Wer sind diese Leute?“, fragt sie pikiert.

„Kenn‘ ich auch nicht.“

Wir schütteln uns die Hände, Horst und ich.

„Na, Alter?“

„Na, Alter?“

Schweigen. Die Mädels umarmen sich wieder. Offenbar kennen sie sich doch, kommen eng umarmt auf uns zu.

Eine Polizeistreife hält vor dem Benz. Natürlich! Das gibt Ärger!

Aus der Beifahrerseite schält sich eine Polizistin, richtet ihre Kleidung und die Mütze und marschiert zielgerichtet auf mich zu. Auch klar! So war und ist es immer. Wenn meine Schulfreunde Äpfel klauen waren, ich wurde erwischt! Hatte wer abgeschrieben – ach lassen wir das.

„Ist das ihr Wagen?“ Die Reisetasche steht neben mir. Seh ich aus wie einer, der auf offener Straße mit Reisetasche aus einem Auto steigt und dann in der Gegend herumsteht? Nur, um die Polizei anzulocken? Die Frage liegt mir auf der Zunge. Ich verschlucke sie. Sie reiht sich ein in die Datei der verschluckten Fragen und Antworten, einem besonderen Bereich des Langzeitgedächtnisses mit automatischer Löschfunktion.

„Is‘ meins, fahr gleich weg.“ Birthe antwortet für mich, eher zerstreut. Sie schnattert noch mit ihrer Freundin. Das Gesicht der Polizistin verhärtet sich. Etwas an Birthe scheint ihn nicht zu gefallen. Etwa der Pelzkragen aus Biber, streng verpönt? Ihr Kollege kommt näher, die Hand an der Pistolentasche. Ich sehe ihn an. Mein Blick sagt: ‚Aber Hallo!‘ Seine Verkrampfung löst sich. „Sie stehen im absoluten Halteverbot“, spricht er mich an! Mich! Ich hebe die Schultern. „Steht man in Rheinsberg immer“, ergänze ich meine Geste, und erhalte einen verweisenden Blick von Mariele. Ich zucke nochmals mit den Schultern und erkläre: „Deshalb sind wir auch mit dem Bus gekommen.“ Der Polizist blinzelt irritiert.

Horst schreitet ein. Ich höre seine tiefe, beruhigende Stimme. Die Polizistin entspannt sich sichtlich, während Birthe mit ihrem Kollegen zum Auto geht – Arm in Arm. Sie redet auf ihn ein, drückt sich an ihn (wie frech!). Wie schaffen die beiden das nur? Horst kommt zurück. „Wo wohnt ihr?“

„Im Hotel?“

„Wir auch. Und wo ist euer Wagen?“

„Eben wechgefahren. Der große gelbe …“

Horst blickt mich an, als sei ihm leibhaftig ein Rhinozeros begegnet. „Ihr seid mit den Öffentlichen …?“ Erst ringt er sichtbar um Haltung, doch dann richtet er sich auf. Stolz ist jetzt in seinem Blick, unendliches Wohlwollen. Er zerfließt regelrecht vor Gönnerschaft. „Ihr seid die Retter der Menschheit! Schützer unserer Umwelt, mein Freund!“ Seine Hand liegt auf meiner Schulter. „Ihr macht mich so unendlich stolz.“ So sieht er sich auch um, doch keiner nimmt Notiz von uns Dreien. „Whiskey drauf?“

„Sicher.“ Ich schnappe mir unsere Reisetasche, sehe, wie Birthe in die Straße zum Hotel einbiegt und die Polizisten eben abrauschen. „Sag nicht, dass ihr auch …?“

„Sag ich nicht.“ Er hielt Mariele den Arm hin. „Darf ich Euch geleiten, Prinzessin?“ Die strahlte meinen Nebenbuhlerfreund an.

„Es ist mir eine Ehre, Durchlaucht.“ Sie spazieren vor mir her, ich schleppe Koffer, Taschen, Kästchen, Köfferchen!

Was es alles gibt, denke ich. Da fährt man im Oktober, in der zweitromantischsten Zeit des Jahres in die Pampa, oh sorry, Ferne und trifft seine liebsten Freunde. Zufall?

Also, Pampa! Kann man so nicht sagen! Brandenburg! Ist nicht immer nur Braaaandenburg. Setzt euch ins Auto oder aufs Motorrad oder benutzt zur Abwechslung mal den Zug. Mit dem Fahrrad geht es natürlich auch. Was seht ihr? Brandenburg: eine liebliche Landschaft, die in allen Farben des Aquarellkastens leuchten kann. Aber nicht grell, wie die Provence, sondern zart und weich. Manchmal flach, wie ein Teller, manchmal hügelig. Felder, Wälder, Seen, nette Dörfer, kleine alte Städte, die nach einem tiefen Dornröschenschlaf wieder aufgewacht sind. Sich die Seiten kratzen und in den Spiegel sehen. Nanu? Das sind wir? Tja, im Gegensatz zum Menschen werden Städte zwar auch älter, bekommen aber keine Falten!

Und Rheinsberg? Es war ein Ackerbauernstädtchen und ist es geblieben. Mehr nicht und nicht weniger. Geehrt und aufgehübscht von Jung-Friedrich, dem späteren König von Preußen und der Zweite seines Namens. Er verbrachte hier nach der Unterwerfung unter seinen despotischen Vater wohl die beste Zeit seines Lebens. Preußisches Elysium für ein paar magere Jahre. Der Große wurde er erst nach etlichen Kriegen und Feldzügen gegen Österreich.

Doch Rheinsberg profitiert immer noch von der Zeit des jungen Friedrich, dem Flötenspieler, dem Antimachiavellisten - sogar zu Zeiten des zickenbärtigen Maurermeisters und Kleinkönigs aus Sachsen. Und während ich mir diese Gedanken mache, und versuche im Nebel das Schloss auszumachen – es steht als Schemen zwischen Bäumen und Sträuchern - erreichen wir das Hotel.

Ich lasse einchecken. Das tut meine Mariele. Das tut sie gerne und sie fragt auch immer – das vergisst sie nie – nach einem Rabatt, und erhält selten einen, aber sie erhält! Hier allerdings nicht. Na gut, dann … Ich bewaffne mich mit unserer Tasche und folge ergeben der Prinzessin.

„Sehen wir uns?“, fragt Horst unnötigerweise.

„Klar doch.“

„O.K. In ‘ner Stunde im Café. Wo steckt eigentlich Birthe?“

Wir lassen Horst mit seiner Frage allein. Sie werden sich schon finden.

 

Im Zimmer dann, Mariele: „Wer hätte das gedacht!“

Ich aber hänge, seit wir über dem Flur gegangen sind, einem Gedanken nach. Nämlich dem, dass dies ganz und gar nicht ein Zufall gewesen sein könnte. Mein intrigantes Weib hatte seine Finger im Spiel. Ich weiß es ganz genau und sage es gegen das Fenster.

Schweigen.

Dann: „Du sollst doch nichs immer – buhbuh.“

„Was soll ich nicht immer?“

„Denkens!“

Ich drehe mich um, versuche nicht zu grinsen, hebe den Finger, doch Mariele lässt mich nicht zu Worte kommen. „Dat bekommt Dir nich. Det jibt Falten“, sagt sie auf brandenburgisch. „Da wollte icke Dia nen Jefallen tun. Und Du tust nur - buh!“ Sie steht jetzt ganz dicht vor mir. Ich sehe zu ihr herunter. Auf ein empörtes Gesicht. Da nehme ich sie lieber in den Arm. Mariele fühlt sich gut an, so weich, wie ihre Lippen, auf die ich die meinen drücke. „Is ja gut“, murmele ich zwischen zwei Küssen. „Aber wieso Gefallen tun?“

Sie springt von mir. „Schön machen“, ruft sie in den Raum. Warum sollte sie auch antworten? Warum auch? Sie ist Mariele.

„Wir gehen dennieren!“

„Dinieren“, korrigiere ich.

„Gut, dann gehe ich essen!“

„Dann tu’s“, ich gebe auf. Sie hört’s eh nicht, steht schon unter der Dusche.

Warum steigen Frauen immer unter die Dusche? Wir waren doch nur ein paar Stunden unterwegs! Ich werde Mariele fragen. Sie ist eine Frau. Sie muss es wissen.

„Prinzessin?“ Ich sehe einen Berg Schaum, der sich irritierend bewegt. Aus dem Berg tönt der Prinzessin Stimme: „Wölfchen?“

Wölfchen? Ah ja! Mariele spielt Rheinsberg! Aber da ist sie nicht die Prinzessin, die Sekretärin mit der tiefen Stimme. In Rheinsberg ist sie die Claire!

„Ähm. Warum duscht sich Claire?“

„Weil Claire sich schmutzig fühlt, dummes Wölfchen!“ Ein starker Strahl aus dem Duschkopf lässt den Schaumberg in sich zusammensinken. Hervor glänzt die Prinzessin. Nass. Verführerisch nass. „Würdest Du mir den Rücken abgetrocknet gehabs habs?“ Ich würde auch mehr, aber das wird mir verwehrt.

 

Unten erwarten uns - Horst. „Birthe?“, frage ich vorsichtig.

„Kommt gleich. Sie zieht sich nur um. Mich hatte man als Vorhut vorausgeschickt.“

Und dann schwebt SIE ein. „Mach’s Maul zu, Wolf“, flüstert Claire.

Ich klappe hörbar ein. Wie kann jemand innerhalb von zweieinhalb Jahren noch schöner werden? Ängstlich sehe ich zu Mariele. Und sehe, wie zum ersten Mal, wie schön sie ist. Ja, sie IST schön! Nur die Gewohnheit, der tägliche Umgang mit dem Schönen macht es zum Gewöhnlichen. Es ist einfach da und wir sehen es kaum noch. Erst wenn wir es vermissen oder, schlimmer noch, verloren haben, erkennen wir die Schönheit des Verlorenen. Manchmal hilft es auch, einfach genauer hinzusehen. Den Blick neu kalibrieren.

Ich tue es. Und siehe: Es entfleucht mir ein: „Claire …“ Zusammen mit einem Seufzer und einem Händedruck, der nur meiner Frau gilt. Ihr erst irritierter Blick wandelt sich in Verstehen. Es bedarf keiner Worte. Nur ein Blick, ein Händedruck, eine Berührung genügt. Ich liebe Dich. Mehr sagt es nicht und mehr ist nicht nötig. Die Claire lehnt ihren duftenden Kopf an meine Schulter.

 

Das Essen nahmen wir schweigend zu uns. Ist ja auch korrekt: Während des Essens spricht man nicht – hieß es früher. Ja damals war’s! Nein, es war eher so, als dass wir uns abtasteten. Mehr als zwei Jahre hatten wir uns nicht gesehen. War einfach so. Die Frauen schrieben sich Mails oder skypten fröhlich durch die Gegend. Horst arbeitete an seine Karriere. Er ist jetzt Chefarzt. Glück gehabt, sagte er, dass sein Vorgänger unerwartet für alle in Frührente gegangen war. Jetzt schreibt er Postkarten (!) aus allen besuchbaren Ländern der Erde. Ob Schadenfreude dahintersteckt?

Nach dem Essen, sozusagen zur Verdauung: das Schloss! Wir haben Glück, denn ab dem nächsten Monat wäre es nur noch von außen zu besichtigen gewesen. Horst läuft vor uns her, die Hände auf dem Rücken verschränkt, durchgeistigt. „Er operiert schon wieder“, flüstert Birthe, die sich links eingehakt hat. Claire-Mariele-Prinzessin okkupiert meinen rechten Arm. „Er muss morgen wieder zurück. Zuviel erkrankte Schwestern und Ärzte auf der Station.“ Nanu? Eine Grippewelle im Herbst? Birthe sieht auf Horst. „Der Ärmste.“ Sie bedauert ihn wirklich.

„Aber Freitagnachmittag bin ich wieder hier!“ Er hat es gehört.

Meine Gedanken verrate ich nicht. Aber die Aussicht, mit zwei schönen Frauen vier Tage allein verbringen zu dürfen, jagt mir einen wohligen Schauer über den Rücken. Mein Mitleid hält sich sozusagen in Grenzen. Und einen Vorgeschmack auf die nächsten Tage bekomme ich ja jetzt schon.

Wir bezahlen den Eintritt und treten ein. Irgendwie verändert sich im ersten Moment die Körperhaltung. Man richtet sich auf, strafft den Körper, betritt nicht nur historischen Boden. Hier treten ein: Ihro Gnaden, der Besucher, der Beschauer, der Stauner. Hier also hat er gelebt! Der Friedrich, der Kronprinz, der zukünftige König, mit seiner ungeliebten Anvertrauten, der zukünftigen Königin. Und einer illustren Männergesellschaft, zu der er sich mehr hingezogen fühlte, als zu seiner angeheirateten Frau.

Das Schloss öffnet sich dem geneigten Besucher mit barocker Eleganz. Friedrichs Bruder, der kunstsinnige Heinrich bezog sechzehn Jahre später mit seiner Frau das Schloss und erweiterte unter anderem den Garten. Wir bewundern die Raumaufteilung, den Schmuck. Die Fußböden, die Tapeten, die Bilder. Darüber vergeht Zeit, die wir genießen, sogar Horst. Er ist teils immer noch im OP, ich sehe es ihm an, doch das ist der Kopf. Andererseits befindet er sich auch im Jetzigen. Der Körper ist entspannt. Das wird ihm guttun. Wir entscheiden: Den Garten nehmen wir uns später vor, wenn, wie vorausgesagt, die Sonne scheinen soll. Wobei, erwähne ich, ein Garten auch im Nebel romantisch sein kann. Ich ernte Spott. Romantiker ist das Harmloseste, was ich zu hören bekomme.

Wir gehen nebeneinanderher durch Rheinsberg. Das sauber geputzte Städtchen präsentiert sich gastfreundlich. Der Nieselregen, den wir im Schloss umgehen konnten, zog sich in seine Gefilde zurück, zurück blieb wieder leichter Nebel, durch den man zart die Sonne erkennen konnte. Goldener Oktober. Morgen wird er seinem Namen alle Ehre machen.

„Wölfchen?“

„Claire?“

„Ist es nicht schön, seine Freunde um sich zu haben?“

„Wohl.“

„Wölfchen?“

„Ja, Claire?“

„Und morgen machen wir was Schönes, nä?“

„Was denkst Du?“

„Na, was Schönes eben.“

Das ist typisch. Mariele, genannt Claire, spielt ihre Rolle. Die angehende Medizinerin – ach, das wussten Sie noch nicht? Jaja. Mariele arbeitet nicht mehr bei uns. Sie hatte es geschafft und endlich ihren Studienplatz erobert. Konkurrenz für Horst? Nein, nein. Noch träumt Mariele von einer eigenen Praxis. Und es sind ja noch ein paar Jahre hin.

Also, die angehende Medizinerin hat Spaß daran, eine Claire zu spielen. Die Claire! Und es erinnert mich an ein wunderschönes Buch von Tucholsky.

Die beiden Frauen gehen jetzt hinter uns und ratschen über - Frauensachen. Bei aller Emanzipation, es gibt Frauen- und Männersachen. Klingt komisch, ist aber so! Wir Männer haben da auch so unsere Sachen. Männersachen eben, die Frauen zu Tode langweilen. Fußball zum Beispiel. Aber bei diesem Thema bin ich auch Frau. Horst schweigt. Er sieht in die Auslagen der Läden, guckt sich sogar Frauenschuhe an, aber ich merke, er ist nicht bei uns.

„Na“, spreche ich in seine Richtung, „was ist das Problem?“

Er versteht sofort. „Eine Niere. Oder besser, zwei.“

„Magst Du drüber reden, oder stößt Du an die Grenze der ärztlichen Schweigepflicht?“

„Das ist es nicht. Die Patientin erhält Ersatz. Natürlich nur eine. Aber die alten müssen raus. Wir haben nicht die Zeit, erst eine auszutauschen und später die andere zu entnehmen.“

Wir fachsimpeln. Ich, das medizinische Genie (Haha!) gebe Ratschläge. Doch Horst grinst jetzt entspannt. Natürlich habe ich keine Ahnung, und das ist auch gut so, denn Horst kann sich daran aufrichten. Er kann darüber sprechen und seine Gedanken in eine bestimmte Richtung lenken. Morgen wird er im OP stehen und mit dem Skalpell drohen. Und siehe: Wieder ein Leben retten. Sein Platz im Himmel, nahe beim Herrn, ist bereits gebucht. Ich lache innerlich, denn ich bin überzeugter Atheist und Agnostiker.

„Kaffee! Wölfchen! Bittöö!“ Die Claire.

Ein gemütliches Café nimmt uns auf. Es ist noch etwas früh, weshalb wir problemlos Platz am Fenster finden. Die Frauen haben rote Wangen und strahlen Zufriedenheit aus. Sie sind noch mit ihren Frauendingen beschäftigt und setzen ihr Gespräch fort. Es geht um – wie bitte? – Dessous.

„Ich hab‘s da nämlich noch so ein Spitzending.“ Claire zeigt, an welche Stelle das Spitzending gehört. Ich frage mich, ob ich das Spitzending schon gesehen habe. „Knallrot“, fährt Claire fort, „und“, jetzt flüstert sie, „sowas von sexy!“ Ich muss die Ohren spitzen.

„Hast Du‘s bei?“ Auch Birthe flüstert jetzt.

Die Antwort kann ich nicht verstehen, aber den Blick in meine Richtung sehe ich schon. Betont unauffällig schlürfe ich an meiner Kaffeetasse, suche nach einem Gesprächsthema.

„Man tut nicht schlürfen tun, Wölfchen.“ Ich empfange einen tadelnden Blick von Claire und einen spöttischen von Birthe. Nur Horst kaut vollkommen durchgeistigt an seinem Tortenstück. Nicht stören, läuft als Laufschrift über seine Stirn. Ich erkläre: „In Asien schon, Claire, in Asien schon! Es gilt als unhöflich gegen über dem Gastgeber …“

„Wir sind aber, Wolf, nicht in Asien. Sind wir nicht!“

Birthe amüsiert sich köstlich. Ich sehe mich um.

„Tatsächlich. Das Claire hat Recht.“

Wir sehen nach draußen. Dämmerung kommt auf. Wir verlassen auf einen Rundgang das Café.

„Clairchen müde.“ Claire hängt jetzt an meinem Arm. „Und Wölfchen auch!“, fügt sie noch hinzu. Wie Recht sie hat! Ich bin wirklich müde und bettschwer. Doch das Abendessen müssen wir mit einer amüsierten Birthe und einem abwesenden bei uns sitzenden Horst verbringen. Und einer Flasche guten Rotweins, gesponsert von Horst, dem guten!

 

 

Montag


Nach dem Frühstück verabschieden wir uns von Horst. Der lebt auf einen anderen Planeten, irrt durch die Lobby und fuchtelt mit den Händen durch die Luft.

„Das Horst.“ Claire ahmt Horsts Bewegung nach.

„Ich denke, wir drücken ihm ein Skalpell in die Hand.“

„Viel zu gefährlich. Nachher extrahiert es sich seinen eigenen Blinddarm.“

Der Kollege, der ihn abholen soll, kommt. Horst winkt, wir atmen auf. Mit einem Geist zusammen sein, ist schon nicht leicht!

Claire hüpft vor uns herum. „Was tun wir heute?“

„Sehen uns an: Keine Ahnung“, sage ich. Wir stehend grübelnd in der Gegend herum. Draußen scheint schon, wie versprochen, die Sonne. Kühl, herbstlich blass. Wölkchen schweben leise über den Himmel. Mir fällt etwas ein. „Wartet hier.“

Die Dame an der Rezeption weiß Bescheid. Sie greift zum Telefon, spricht mit Jemanden. „Um zehn?“ Sie sieht fragend auf. Ich sehe auf die Uhr hinter ihr. Eine viertel Stunde noch. Könnte klappen. Ich nickte.


Birthe nickt. Die Claire protestiert. „Das schaffe ich nie nich! Mein Visagist brauch ‘ne Stunde bis hierher und das Abendkleid …“

„… lassen wir heute weg, Clairechen. Husch, husch. Warm anziehen, wir bewegen uns in frischer Luft.“

„Buhbuh!“ Claire bleibt stehen. „Bewegen?“


Im Zimmer dann: „Sah mah, Wölfschen?“

„Wölfchen?“

„Ne, solls du nichs sagens. Du solls sagen, was du vorhast.“

Ich hebe die Hand, währen Claire ihre Hosen hochzieht, und beginne aufzuzählen. „Ersten Boxershorts, Zweitens dann …“

„Will Claire gaa nich nich wissen, nä? Claire will -“ Ich stehe hinter ihr und halte ihr die Hand über den Mund. „Claire will sich endlich anziehen.“

Sie dreht den Kopf halb zu mir herum. „Wirckslich? Willsu das?“

Ich nickte bestimmend. „Wolf will!“ Und flüstere ihr ins Ohr: „Jedenfalls jetzt.“


Ich gehe vor. In der Lounge herrscht herbstlich Stille. Wir sind ziemlich allein. Die Aufzugtür öffnet sich. Birthe! Wow, was für eine Frau! Selbst der Concierge bleibt der Mund offenstehen. Es ist nicht die Kleidung, es ist Birthe selbst, die mit unnachahmlicher Eleganz aus der Tür tritt. Um den Hals ein dunkelrotes Wolltuch, eine braune Tweedjacke, dunkelbraune Hosen und furchtbar hohe Schuhe, schwebt sie auf uns zu. Das Licht des Aufzuges beleuchtet sie von hinten, so dass ihr dunkelbraunes Haar wie von einem Heiligenschein umgeben leuchtet. Ich beginne mich langsam vom Boden abzuheben und krache wieder zu Boden, denn die Claire tritt auf. Das ist abgesprochen! Das kann nur mit weiblichem Hintersinn ausgesponnen sein! In eben derselben Kleidung wie Birthe tritt Claire auf, blond, strahlen, frisch! Die Dame am Tresen atmet hörbar aus, ich ein. Dann stehen die beiden vor mir und fragen, fast unisono: „Und?“

„Ihr seht einfach umwerfend aus.“

„Das wissen wir“, sagt die Claire arrogant. „Was geht?“

„Äh, ja.“ Mir fehlt, trotz tiefen Einatmens die Luft. Der Duft, der von beiden ausgeht, macht schwindelig. „Wir – da – draußen.“ Ich zeige mit dem Daumen zur Tür.

„Nein!“ Wieder unisono. „Das ist sowas von genial!“ Weiterhin unisono. Vor dem Eingang stehen nichts weiter, als zwei Pferde, eine Kutsche und die zuständige Aufsichtsperson, der Kutscher. Dieser lüpft seinen Hut und macht, mit Blick auf die beiden Damen, eine einladende Geste.

„Du bischa ‘ne Perle.“ Ich erhalte von Claire einen Kuss auf die Wange. Birthe ignoriert mich, nur einen kurzen Seitenblick hat sie übrig, stolziert duftend an mir vorbei und lässt sich vom Kutscher in das hohe Gefährt heben. Habe ich seine Hand auf ihrem Hintern gesehen? Wohl doch nicht. Glück gehabt! Die Claire hakt sich ein. „Hilft Er mir?“

ER verneigt sich leicht. „Gräfin? Euern Arm.“ Ich geleite die Dame aus dem Hotel, hebe sie ins Gefährt und streichle heimlich über ihren Po. Und bekomme eins auf die Finger. „Was erlaubt er sich, Er Bube!“ Dann sitzen wir nebeneinander. Der Kutscher deckt uns mit Decken und einem leicht muffig riechenden Fell ab. Dann schwingt er sich auf seinen Bock, schnalzt mit der Zunge. Die Gäule setzen sich langsam in Bewegung.

Wir fahren auf der Hauptstraße nach Norden. Die Pferde wedeln mit den Schwänzen. Das Klacken ihrer Hufe hallt zwischen den Häuserreihen. Autos überholen uns. Manche hupen neidisch-verhalten. Die meisten ignorieren uns – neidisch brummend. Der Markt liegt unter herbstlich bunt gefärbten Bäumen. Es duftet nach Laub, kalter Luft und Herbstsonne. Die Frauen kuscheln sich an mich. „Bissu auch schöön waam“, flüstert mir die Claire ins Ohr. Birthe sagt nichts, ihre Hand liegt auf meinem Oberschenkel, die Schulter reibt an meiner. Kein Wunder, dass mir warm ist.

Die Königsstraße glänzt mit kleinen Läden, Cafés und Restaurants. Das Städtchen hat sich herausgeputzt. Bald kommt der Winter. Dann ist Dunkeltuten im Ort. Aber bis dahin … landet Claires Hand auf meinem Oberschenkel. Gut, dass ich zwei davon habe, sonst gäbe es Streit.

„Wenn’s ihnen szu kalt is, ha‘e ick ne Teekanne bei.“ Der Kutscher sitzt halb umgedreht und sieht mich neidisch an. In seinen Augen glänzt die Frage, wer von den Damen zu mir gehört. Ich antworte, ebenfalls mit den Augen: Beide! Wir danken höflichst, später …

Schlagartig ändert sich die Umgebung. Gärten, niedrige Wohnhäuser. Wir verlassen Rheinsberg. Und noch mehr: Der Kutscher biegt in einen Waldweg ab. Sogleich wird es kühler. Umständlich suche ich unter den Decken nach dem Flachmann mit Whiskey. Irischer diesmal! Wir trinken. Fragen den Kutscher, ob er auch Bedarf hätte. Hat er und nimmt einen kräftigen Schluck. „Ah! Juter Stoff, det.“ Er kramt unter dem Nebensitz, zaubert die Thermoskanne mit Tee hervor. „Na, wie sieht et?“ Et sieht. Wir wärmen uns Hände und Nase an der starken, dunklen und nach Kräutertee schmeckenden Flüssigkeit.

Die Kutsche schaukelt uns über die Forstwege. Unter den Decken spielen unsere Hände ein übermütiges Spiel aus Berührungen und Streicheln. Märkischer Wald marschiert an uns vorbei. Stramm ausgerichtet, in preußischer Schlachtordnung: Kiefern. Der Lebensbaum Brandenburg-Preußens. Doch es riecht nicht nach Leder, Pulver und Schweiß, sondern nach frischer Luft, Herbstluft. Und dem Schweiß der Pferde, die unsere Kalesche ziehen.

Mitten im Wald halten wir an einem Haus. ‚Waldschänke‘, steht in Fraktur auf dem Schild über der Eingangstür, eingerahmt von zwei röhrenden Hirschen.

„Wölfchen?“

„Claire?“

„Sag, gübs hier auch Bären?“

„Ja. Beeren gibt es hier viel.“

„Ich meine doch nicht die süßen. Die braunen meine ich, Wölfchen.“

„Hä?“

„Na, weil doch da auf dem Schild zwei Bärens brüllen.“

„Das, liebste Claire“, doziere ich, „sind Hirsche!“

„Und beissens die?“ Ich sehe, wie Birthe innerlich vor Lachen platzt.

„Nur Claires, die dämli...“

„Nunu!“

Unser Kutscher hatte die Einladung höflich abgewiesen und auf sein Stullenpaket gezeigt. „Wenn ick damit zu Hause komme, jibt et wat mitte Kuchenrolle.“ Wir grinsen verstehend.

Der Gastraum ist warm und dunkel und irgendwie anheimelnd, es riecht nach Bier und Essen. Gemütlich sieht es aus. Wir finden Platz in einer Ecke auf einer Bank. Wanderer sitzen hier und Radfahrer. Die Wanderer tragen Stiefel und grobe Kleidung, trinken Bier und essen Goulasch. Die Radfahrer bunte Trikots, enge Hosen und Fahrradschuhe, in denen man kaum laufen kann. Man trinkt Radler (was sonst) und kaut an Salaten. Klischee? Ja, aber es passt gut. Anderes übersehe ich großzügig. Der Raum brummt von den Gesprächen der Leute. Eine nicht mehr junge Frau mit freundlichem Gesicht bringt uns die Speisekarte. „Wünschen Sie schon was zu trinken?“ Wir wünschen und sprechen unsere Wünsche aus. Glühwein und Bier. Und dann beginnt eine Diskussion ums Essen. Es geht nicht ums Essen an sich, sondern um Philosophie, Medizin, um Grundsätzliches. „Aber, das kann man - ist viel zu fett - wie soll das gehen - schon Doktor Sauerbruch …“ Ich höre weg und freue mich bereits auf das Eisbein mit viel Erbspüree und noch mehr Senf! Muss sein! Alltags gibt es das nicht. Die Damen entscheiden sich für Salat (?) mit French Dressing. Wir bekommen mürrisch von einer jungen Dame das Gewünschte. Erst die Getränke und nach dem zweiten Bier, ich beginne schläfrig zu werden, mürrisch das Essen. „Guten Appetit“, sage ich laut, mit Blick auf Dame Mürrisch, die davon unberührt von dannen schwebt. Im Stillen philosophiere ich über Arbeit und die Freude daran und warum es Leute gibt, die Arbeiten annehmen, die sie nicht wollen und schlimmer noch, nicht können. Aber wenn sie müssen …?

Satt und um einige Euro leichter besteigen wir das hohe Gefährt. Diesmal bin ich schneller und helfe Claire und Birthe mit Genuss auf den Wagen. Und bekomme was auf die Finger. Jeweils von beiden. Aber anders wäre es doch nicht gegangen!

Claire haucht mir einen winzigen Kuss auf die Wange und Birthe tut es. „Lass uns nach Hause fahren lassen“, haucht die Claire. Ihre Wangen sind rot, die Pupillen weit und tief. Ich nicke. „Ja, nach Hause“, flüstert Birthe.

Wir bedanken uns artig bei unserem schweigsamen Kutscher, und hinterlassen bei ihm ein Trinkgeld für die Pferde.



Dienstag


Mir tut der Rücken weh und hinter der Stirn dräut weiterer Schmerz. Ich hinterfrage mein Gehirn nach Erinnerungen und Ursachen. Richtig! Die dritte Flasche Wein nahmen wir auf unser Zimmer mit. Und Birthe auch. Etwas in mir fragte, ob das gut gehen möge. Das Andere in mir meinte, es wäre verdammt gut und würde auch gutgehen.

Es ging gut. Wir alberten schon leicht angeheitert herum: Claire, Birthe und Wölfchen. Es ist wahnsinnig entspannend, zu spielen. Soviel Ernstes und Beängstigendes gibt es auf der Welt. Doch kein Mensch kann ewig nur mit gerunzelter Stirn über den Erdkreis wandeln. Hoffen, ist die eine Sache, tun, die andere. Und zwischendurch Kind sein. Und siehe, die Welt wird leichter und erträglicher! Bis uns dann der Ernst des Lebens wieder aufnimmt, mit seinen Freuden und Sorgen. Und während wir spielen und so tun, als seien wir (ungezogene) Kinder unseres Kurt, denke ich daran, wie gut es uns geht, und genieße jede Sekunde.

Zuletzt lande ich auf dem Sofa, weil Claire und Billy „Dringens zu besprechen haben“. „Davon mussu nüchs wissen, kleiner Wolf.“

Daher die Rücken-, Kopf- und Gliederschmerzen. Schließlich ist das Sofa knapp zu kurz oder ich bin zu lang. Ich setze mich auf und luge ins Nebenzimmer. Außer einem Haufen Kissen (unter denen ich gelegen haben könnte) ist nichts zu sehen. Ich erhebe mich schwerfällig, schleiche auf Zehenspitzen zur Tür. Vier Augen sehen mich an.

„Da isser ja“, stellt Claire richtig fest.

Und Birthe ergänzt: „Ja, und ihm ist kalt, siessu?“

„Jo.“

Ein Deckbett wird aufgeschlagen. Claires. „Na komm schon, Wölfchen.“

Dann, eingekuschelt: „Wölfchen?“

„Claire?“ (Birthes Hand auf meinem Oberschenkel lenkt mich ab)

„Sach mah.“

“Was den, Claire?” (Meine Stimme ist etwas rau.)

Dann schweigen wir. Die Wärme macht uns – nicht schläfrig, falsch! Aber es war ja nichts. Nur Spiel. Wirklich! Bis nahe ans Unerlaubte. Dafür bekam ich einen Kuss. Zwei – einer von rechts, der andere von links.

„Aufstehen“, rief die Claire - und blieb liegen. Birthe auch und ich. Wir mussten ‚abklingen‘ lassen.

Und während ich vor dem Spiegel stehe, denke ich an Horst, der mit dem Skalpell bewaffnet im OP-Saal steht, und Leben rettet. Schuft! Ich!


Ein sonniger Tag! Wie der Gestrige. Sonnig und duftend. Das Boot schaukelt leicht, weil Birthe einen Riemen verloren hat.

„Ach guck mah, Wölfchen!“

„Was soll ich gucken, Claire?“

„Lauter Wassers! Und wir ganz allein auf dem hohen Meer.“

„Und?“

„Und Birthe!“

Birthe ist anderweitig beschäftigt. Sie ist aufgestanden und hangelt mit dem übriggebliebenen Riemen nach dem Verlorenen. Ich versuche verzweifelt die Schwingungen des Schiffchens auszugleichen.

„Ein berühmter russischer Forscher hat einmal gesagt – hörst Du überhaupt zu, Wolf?“

„Ja, Claire, ich höre“, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„- hat gesagt, dass ein Schiff, welches um mehr als fünfzehn Grad kränkt, kentert. Ja, kann man sich das vorstellen?“ Ich kann es mir vorstellen. Wir nähern uns unserem Ziel in Superzeitlupe, der Kahn kippelt immer mehr. Claire! Sie schaukelt und lacht dabei! Weiß sie denn nicht … „Weißt Du, wie kalt das Wasser ist?“ Claire lacht: »Nee!«.

Gerettet! Ich übernehme die Schwerarbeit. Birthe schwitzt. Claires Lachen steckt an. Wir lachen alle. Und während wir lachen, kommen wir dem Ufer näher. Das Schloss steht stolz und zweitürmig auf der anderen Seite und sieht uns ernsthaft hinterher. Ob es sich Sorgen macht? Ich frage die Passagiere.

„Nö. Machs Du Dir nur keine Sorgens nichs, Wölfchen.“ Claire fährt herum. „Seh ma! Das steht wer!“

Eine Skulptur erhebt sich über die Sträucher.
Birthe flüstert geheimnisvoll: “Der weiße Mann.“

Claire: „Der is nackisch!“ Sie setzt sich wieder auf die Bank. „Das erinnert mich an Anatomie.“ Jetzt sieht sie mich an. „Wölfchen!“

Ich fahre zusammen.

„Kannsu da anlegen?“

„Warum, Claire?“

„Na, das is sooo.“ Claire holt tief Luft. Sehr tief. Ihr Busen hebt sich in beängstigende Höhe. Birthe stößt mich an: „Gleich platzt se.“ Doch die Claire lässt den Überschuss wieder ab. „Ich frage mich“, sagt sie mit ernster Miene, „Ich frage mich, ob der Schniedel …“ Jetzt platzen wir alle drei. Mehr geht nicht, unser so lange unterdrücktes Lachen muss heraus. Aber wir legen verbotener nicht Weise an. Aus medizinischen Gründen.

Mariele ist wieder aufgestanden, beschattet ihre Augen. „Nee, ist nen ganzer komischer Schniedel“, stellt sie fest und setzt sich empört auf ihren Platz. Sie zeigt mit den Fingern wie komisch. „Weiter.“


Mittwoch


Die Nacht verbringe ich mit Claire allein. Es war nicht nur die Kahnfahrt, sondern die anschließende Wanderung durch den Garten, die uns so geschafft hatte. Wir sind ehrlich müde und erholt. Geht das? Ja, das geht und ist so! Wie ein langer Skilauf bei minus sechs Grad durch den Schwarzwald. Beim Abendessen ist man so angenehm schläfrig, möchte sich endlich hinlegen und den Tag Revue passieren lassen. Wir tun das. Verabschieden uns artig von Birthe, die ausgiebig gähnt und ausgiebig küsst. Ich spüre ihre Zungenspitze an meinen Lippen.

„Wölfchen?“

„Claire?“ Ich liege auf dem Rücken, die Hände über dem Bauch gefaltet. Es ist warm, es ist still. Nur Claires Stimme klingt nach.

„Fandsten den Tag heute?“

Was für eine Frage. Ich fand ihn in wundervoll! Ich sage es gegen die Decke. Und dann kommt die typische Clairefrage: „Warum?

Warum? Weil schönes Wetter war. Sonne, frische Luft. Kahnfahrt, Spaziergang und zwei wunderschöne Frauen. Ich sage es, bis auf ‚wunderschöne Frauen‘

„Und zwei schönen Frauen?“ Woher weiß Claire das? Was wissen Frauen von Männern mehr als Männer von Frauen. Fragt mich wer, wie ist deine Frau, was sage ich? Hebe die Schultern bis zu den Ohren, und muss lange nachdenken. Wie ist meine Frau? Was ich an ihr mag, kann ich sagen. Sowas Physisches, wie Figur, Busen, Hintern und so. Und ihre tollen Augen! Die duftenden Haare und die zarte Frauenhaut. Wie sie ist? Genau? Ja, genau! Sie hinterfragt eine Sache, bis sie es verstanden hat. Warum, ist ein Standardwort. Sie ist sauber. Das scheint normal. Nein, ist es nicht! Nicht jede Frau ist so sauber, wie meine. Phantasie? Soviel! Sie ist keine Künstlerin, will es aber werden: eine Künstlerin der Medizin. Deshalb studiert sie wie verrückt. Und braucht man dazu Phantasie? Ja, sage ich mir, man braucht sie dazu.

Ich seufze. Ihre Hand schleicht sich unter meine Decke und sucht meine. Wir drücken uns zärtlich. „Nacht, Wölfchen“, sagt sie und dreht sich umständlich um. Und rüttelt sich zurecht, wie ein Vögelchen auf dem Ei. Ein Seufzer, tief und lange und dann schnarcht sie leise. Mein Herz macht einen Hüpfer. Ich liebe sie so. So, wie sie ist.


Jemand zerzaust mir mein Haar. Es ist hell. Der nächste Tag beginnt. Mittwoch, beinahe Ende Oktober. Jetzt kribbeln Finger über meinen Rücken. Lieber Gott, lass es dauern! Lange!

„Wölfchen?“

„Claire?“

„Was ziehe ich zum Frühstück an? Das kleine Schwarze oder das lange Rote?“

„Das lange Schwarze?“

„Buhu! Du nimmst mich nicht ernst.“ Sie springt aus dem Bett, marschiert drumherum und stellt sich mit in die Seiten gestemmten Fäusten vor mir auf. „Ich will ihnen mal was gesags gehabs habs! Ich bin nicht solch eine. Ne! Eine solche bin ich nicht! Was die Müllersche auch immer tratscht, diese Person!“

Jetzt bin ich munter. Was tut ein Mann mit einer empörten, nackten Frau. Er schweigt besser – und genießt. Claire schwingt herum, stolziert zurück. „Dann ebbes das Weiße, so!“

Ich versuche, zu protestieren. „Ich meine …“ Doch eine Frau, die erst einmal in Fahrt gekommen ist, kann man nicht unterbrechen. Jetzt beginnt sie zu murmeln und zu murren, stößt laut einige Worte hervor, die weder Sinn ergeben noch miteinander zu tun haben: „… Mann! … dunkelbraun … in diesem Hotel!“ Kleidungsstücke flattern auf, und landen kraftlos auf dem Bett. „Rot, genau!“

„Hä?“

Frau verschwindet.

„Wölfchen?“, klingt es aus dem Bad.

„Ja, Claire?“

„Frühstücken wir hier? Frühstück im Bett! Ja? Bittö!“ Claire schwebt im T-Shirt an mir vorbei und steigt ins Bett. Dort sitzt sie aufrecht und gespannt und lächelt mich an. „Daanke!“ Ich habe doch gar nichts gesagt.

„Hm.“

„Dann sag es Birthe und dem Zimmerservice. Ich will zwei Eier. Zwei!“ Pause. „Hörst du, Mann!“

Ich höre, bestelle Birthe und anschließend drei Frühstücke aufs Zimmer. Und je zwei Eier. Ja, weich, bitte.

Ich hatte nicht ja gesagt. Und wie ich eben Luft hole, um zu erklären, zu begründen, zu beweisen, klopft es. Der Zimmerservice! „Ja, bitte!“

Es ist Birthe. Hinter ihr der Zimmerservice mit einem Wägelchen. Birthe schiebt mich zur Seite und strebt in unser Zimmer. Die junge Dame des Service räuspert sich, schaut etwas irritiert. Doch dann gewinnt Professionalität die Oberhand über ihre Gesichtszüge. Wer weiß, was sie alles schon gesehen hat!

Ich übernehme und quittiere. Da ist Birthe auch schon unter der Decke und sieht mich ebenso gespannt an, wie Claire.

„Wenn du im Bett frühstücken willst, schlaf in der Küche“, zitiere ich einen Spruch. „Und wenn du Krümel im Bett haben willst, frühstücke darin“, murmle ich ergänzend. Sofort ernte ich Protest. „Sags Du noch mal Krümel szu mia!«, murrt sie, und dann ganz die Dame vom dritten Hinterhof: »Ich bin eine anständige Frau! Sie ohnverschömte Person, Sö!“ Ich versuche irgendwie die Teller und Tassen so zu arrangieren, dass wir drei gleichzeitig essen können. Dann setzte ich mich zu den Frauen. Und werde genötigt: „Zwischen uns!“ Klopf, klopf.

Und es werden noch mehr Forderungen gestellt, die nach kurzer Diskussion dazu führen, dass die Claire, Birthe und ich nur noch im T-Shirt – zugedeckt! – im dem Bett sitzen. Warum?

„Gerechtigkeit“, klärt mich Birthe auf. „Wegen der Wärme unter der Decke“, erhalte ich die wissenschaftliche Begründung von Claire, der angehenden Medizinerin.


Trotz meines anfänglichen Widerwillens gegen Krümel im Bett stellte ich fest, dass es eine Variante der Verlangsamung darstellt. Der Morgen wird länger! Oder wirkt es nur so? Erst nach geraumer Zeit und Blick auf die Uhr stellen wir fest, dass es gleich Mittag ist.

„Und nun?“

Birthe transportiert die Frühstücksreste zum Wägelchen. „Seh nicht immer dahin“, tadelt Claire. Ich versuche es, möchte mir einen Kuss abholen und schiele immer noch nach Birthes nackten Hintern. „Sie hat bestimmt Krümel am …“

„Habe ich nicht!“ Sie zeigt auf ihren Bauch. Stimmt, keine Krümel! Weder auf dem Shirt noch auf dem Bauch, der wieder bedeckt ist, noch darunter. Sie steigt wieder zu uns, streckt sich aus und legt die Hände hinter den Kopf. „Ah, das wollte ich schon immer mal. Aber Horst will ja keine Krümel im Bett.“

„Weil er unter Dir liegt“, mutmaßt Claire und ich bekomme rote Ohren.

„Du auch?“ Birthe dreht den Kopf zu mir. Sie grinst, das Biest, auch weil die Claire sich schnurrend an mich kuschelt.

„Jetzt nicht.“ Ich versuche, mich zu retten …



Wenn Frauen sich etwas in den Kopf gesetzt haben – Es stellt sich die Frage, ob ich hier weiterschreiben darf, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Egal. Nur Mut und weiter: Es ist doch so! Sie wollen etwas haben oder machen und dann bestehen sie drauf! Keine Chance es abzubiegen. Keine! Sie (als Mann) lächeln verstehend und als Frau wissend? Genau! So vielfältige Tricks haben sie auf Lager, wie es ein Mann, das leichtgestrickte Wesen, sich nicht vorstellen kann. Und sie sind auch nicht so dämlich und benutzen zweimal die gleiche Methode. Nein, der Variantenreichtum ist unglaublich groß und nahezu unbegrenzt. Das Mindeste ist Schmollen, eine Steigerungsform davon Tränen und die höchste Stufe – na, wissen sie‘s? Genau!

Aber der Dank, wenn sie‘s gleich oder denn endlich erreicht, bekommen, gekauft haben, entschädigt uns für all die Selbstzweifel, Schmerzen und leeren Konten. Es gibt nichts Schöneres als eine glückliche, zufriedene Frau! Und noch etwas: Sie lieben dich wirklich und wahrhaftig. Mit ganzer Seele und vollem Herzen. Verspiele es nicht, indem Du dich stur stellst und ‚Nein‘ sagst. Und geh nicht fremd. Nein, Freund, tu das nicht! Ich kenne keinen schlimmeren Feind, als eine betrogene und schwer enttäuschte Frau!

Deshalb beschreibe ich die obere Szene nicht weiter. Nur so viel: Claire bekam ihren Willen. Und Birthe schlich sich diskret aus dem Zimmer.

Genug davon.


Der Schlossgarten, links vom Schloss, wurde in den Neunzigern wiederaufgefrischt. Es wurde auch Zeit. Man betritt ihn von der Stadt oder geht gelassen, wie die Friedrichs vom Schloss aus über die Billardbrücke zur Hauptallee. Die Damen haben sich bei mir eingehakt, und schreiten stolz erhobenen Hauptes, ihren Kavalier zwischen sich, den Kiesweg entlang. Sie haben auf Hochhackiges verzichtet, denn auch so schaffen sie es, den Catwalk zu gehen. Ihr Kavalier dazwischen ist ebenso stolz, nur catwalkt er nicht. Ihnen begegnen Spaziergänger, etwas müde, denn sie haben den Weg schon hinter sich, wollen nur noch eines: Kaffee trinken und Kuchen essen. Es sei ihnen unbenommen! Doch wir sind noch Neugierde. Das Orangerierondell nimmt uns auf. Es weitete sich, Spaliere grenzen es ab, bilden einen seltsam hohen und durchsichtigen Dom. „Stell dir mal vor, Wölfchen“, beginnt die Claire. Ich stelle mich vor, mache einen Diener. „Nee, Twatsch! Stell dir mal vor, Wölfschen, wenn die Orangen blühen …“ Und fügt hinten an, typisch Brandenburg: „… tun!“

„Ich stelle es mir vor. Aber wir haben Oktober. Da fallen die …“

„Weiß ich doch schon lange, Wolf. Da fallen die Orangen zu Boden und viele fleißige Hände sammeln sie auf. Siehste!“ Ich gebe auf. „Und wir haben sie zum Frühstück auf dem Teller.“ Birthe lacht. So kannte sie Claire, also Mariele, noch nicht. So verspielt und entspannt. „Ich freue mich für Mariele“, flüstert sie mir ins Ohr. Leider bekommt das die Nebenbuhlerin mit. „Was hat Sie mit Ihm zu flüstern, Sie Person?“ Sie stemmt die Fäuste in die Seiten, blitzt ihre Freundin an. „Sie soll mich gehört haben, soll sie! Ich habe es ihrem Herrn Vater gesagt: Er soll ihr gesagt haben sollen, dass Sie, Sie Person, mit diesem – was hat Sie da zu lachen?“ Birthe hält sich an mir fest, kann kaum noch. Claire wendet sich empört ab, schreitet – nicht, geht – nach links. „Ph!“, hören wir noch und gehen hinterher, was vor Lachen nicht leicht ist. Vor der Pyramide bleiben wir stehen. Das Grabmal Prinz Heinrichs. Friedrichs jüngerer Bruder ist hier beigesetzt. Es war Heinrichs Wunsch. Claire hängt wieder an meinem Arm. „Romantisch“, sagt sie, „und traurig.“ Und wir nicken, gehen weiter. Es ist still. Kein Wind, kein Vogel zwitschert. Unsere Schritte knirschen im Sand. Viele Bäume und Sträucher tragen noch Laub. Braun oder bunt, manche sogar grün. Die Natur begibt sich zur Ruhe. Wir wollen sie nicht stören und gehen auf wie auf Zehenspitzen weiter. Wolken sind aufgezogen, noch ist es trocken. Über Wege, von Buchenhecken flankiert, empfängt uns der „Salon“. Er sieht aus, wie ein achteckiger Tempel, an den Ecken dorische Säulen. Acht Wege führen zu seinem Zentrum und vier allegorischen Figuren stehen schweigend, sehen irgendwohin, in eine Welt, die uns modernen Menschen verschlossen ist. Wir haben es nicht gelernt, Allegorien zu verstehen. Einige wenige kennen das Geheimnis, wir geben uns zufrieden mit der Schönheit und Eleganz des ausgehenden Barock.

Der Weg führt uns weiter, zur Feldsteingrotte, die herbstlich, festliches rot trägt. Der See davor glänzt hellgrau. Ein Zeichen für den Wetterwechsel. Wir gehen weiter. Der Weg macht einen Bogen nach links.

Die Grotte der Egeria spiegelt sich in einem winzigen Teich. Schon kurz nach Heinrichs Tod kümmerte sich niemand mehr darum und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts war sie verfallen. Vor nicht so langer Zeit wieder aus dem Vergessen der mehr als hundert Jahre zurückgeholt, fehlt die Nymphe gänzlich. Die Grotte strahlt wieder in Feldgestein. Aber die Nymphe? Man weiß aus Beschreibungen, dass sie trauert, um Numa Pompilius, dem zweiten König von Rom, dem Geliebten und Ratfolgenden? Und was dachte Wilhelm? Fühlte er sich als Numa? Wir hören, dass man einen Fuß und den Kopf der Dame im Teich davor gefunden hätte. Sie seien in der Schlossküche zu besichtigen. Das haben wir verpasst. Schade.

Der Obelisk zieht uns an. Wir gehen eine Schleife und kommen nun von der Seite. Und stehen davor.

Der Obelisk, eingerahmt durch einen knallgrün gestrichenen gusseisernen Zaun mit goldenen Spitzen und aufgesetzten goldenen Helmen, dient nicht nur dem Andenken August Wilhelms, sondern gedenkt der vielen Schlachtenlenker der friderizianischen Kriege, insbesondere des Siebenjährigen. Berühmte Namen tauchen auf: Leopold von Sachsen-Anhalt, Tauentzien (hier geschrieben: Tauenzien), von Keith, von Schwerin, von Seydlitz, von Kleist und so weiter. Namen, die man aus den Befreiungskriegen kennt. Und von denen einige hundertfünfzig Jahre später wieder auftauchen. Nur weniger ruhmreich, denn sie hatten sich Adolf dem Teppichbeißer verschworen und Schuld auf sich geladen.

„A l’eternelle memoire d‘Auguste Guillaume, Prince de Prusse, second fils du roi Frédéric Guillaume“. Birthe übersetzt uns das soeben Vorgelesene ins Deutsche: „Dem ewigen Andenken an August Wilhelm, preußischer Prinz, zweiter Sohn König Friedrich Wilhelms.“

„Aha“, sagen wir im Chor und sehen über uns den Umriss des Bildnisses des Prinzen in einer Kartusche schweben. Das Gesicht, von der Seite, glänzt wie die Nymphe durch Abwesenheit. Sicher nur zur Überarbeitung.

Vom Weinberg sieht man über Schilf und See das Schloss. Da steht es orangerot in der sich neigenden Sonne, die die letzte Chance ergreift, die Szene zu verschönen. Es spiegelt sich im spiegelglatten Wasser. Zwei Schlösser! Die Wolkenwand ist aufgerückt und bildet einen bedrohlich finsteren Hintergrund. Wir wandeln Hand in Hand heimwärts. Ein Abendbrot erwartet uns und ein Abend im bequemen Sessel bei geistvollen Getränken und Gesprächen. Sicher kommen auch Kurt T. und Fontane darin vor.


Mittwoch in Berlin


Mit einem satten Klatschen landen die Handschuhe im Mülleimer. Horst verlieh seiner Enttäuschung Ausdruck. „Sie hätten nichts Anderes tun können, Horst.“ Er verspürte den sanften Druck von Angelas Hand auf seiner Schulter. Die Anästhesistin war die erste aus der Crew, die ihm gefolgt war. Er hörte das Klappern der Instrumente und die leisen Gespräche der Kollegen. „Sind Sie so lieb, und lassen ihn in die Pathologie bringen?“

„Verstehe, Horst. Selbstverständlich.“

Er warf den Kittel, die Kappe und die Maske in den Wäschebehälter. „Ich fahre nach Hause. Wir sehen uns Morgen.“ Horst ging, so wie er war aus dem OP und schnurstracks zum Ausgang. Ohne seine Umgebung wahrzunehmen, lief er über den langen Flur zum Hauptausgang. Es war schon dunkel. Horst atmete tief die frische, kalte Luft ein. Für einen kurzen Moment blieb er stehen, sah zum wolkenlosen Himmel. Trotz des Lichts rundherum erkannte er eine Menge Sterne. „Herr, warum?“, flüsterte er. Horst ist nicht gläubig. Aber manchmal benötig man jemanden, dem man die Schuld in die Schuhe schieben kann oder wenigstens fragen, warum. Auf dem Weg nach Hause stellte er sich immer und immer wieder diese eine Frage: Warum?

Die Operation war gut verlaufen. Horst setze den ersten Schnitt, alles O.K.! Er machte weiter, wie geplant. Das Team funktionierte wie ein Uhrwerk, bis auf den Moment, als er die Hände hob und sagte: “Gut. Zunähen.“ In eben diesen spielten die Instrumente verrückt. Er spürte mehr, als dass er es sah; sein Patient ging ihm verloren. Alles, was sie auch versuchten, die Vitalfunktionen brachen zusammen, der Kreislauf kollabierte. Und dann war nur noch der durchgehende Piepton im Raum. Und diese Hilflosigkeit.

Die Nacht verbrachte Horst auf dem Sofa. Er hatte ein Glas Cognac getrunken und war einfach eingeschlafen. Er wachte auf, als es bereits hell war und er in der Klinik hätte sein müssen.


„Gehen wir“, sagte der Professor zur ‚weißen Wolke‘, die sich submissest in Bewegung setzte. Voran, die Oberschwester, zwei Assistenzärzte, der Stationsarzt und am Ende Professor Mellor und Horst, der knapp eine halbe Stunde zu spät eingetrudelt war. Der Professor hatte ihn nur angesehen, genickt und war aufgestanden.

Bisher hatte noch niemand etwas zum gestrigen Tag gesagt. Die Visite verlief ruhig, professionell und der Professor hielt sich, wie es seine Art war, im Hintergrund. Hin und wieder sah er sich einen Patienten intensiver an, sagte aber nichts Medizinisches. Das überließ er seinen Ärzten. Er sprach mit den Patienten über ihr Befinden oder über die Familie. Manchmal beruhigte er auch. Er verströmte Vertrauen.

„Kaffee?“

Horst nickte. Er hatte noch nichts zu sich genommen. Nur schnell einen Schluck Orangensaft aus dem Tetrapack. „Wenn Sie drüber reden wollen, Horst, ich bin ganz Ohr.“ Doch Horst schüttelte den Kopf. „Erst nach der Autopsie. Ich muss Klarheit haben, ob es ein Fehler war oder …“

„Es war sicher kein Fehler. Dazu kenne ich sie zu genau.“ Der Professor legte seine Karte auf den Tresen. Der Betrag wurde abgebucht. „Aber Sie haben Recht. Ich habe angeordnet, dass der Fall sofort untersucht wird. Schließlich verliert man nicht jeden Tag einen Vierzehnjährigen.“ Er sah Horst an. „Stimmt, es ist ihr erstes Mal.“ Er schüttelte den Kopf. Worüber konnte Horst nicht erkennen. Wegen des unerwarteten Todes des Patienten oder der Tatsache geschuldet, dass Horst bei einer Operation noch nie einen Patienten ‚verloren‘ hatte.

Lustlos kaute er auf seinem Brötchen, ohne Genuss. Innerlich rekapitulierte er noch einmal seine Handlungen, prüfte die Reihenfolge. Nichts war anders, als bei anderen OPs. Was also war falsch gelaufen.

Der Professor lehnte sich zurück. „Sehen Sie, Horst, ich stamme einer langen Linie von Operateuren ab. Meine Vorfahren waren schon zu Friedrichs Zeiten Feldschäre und deren Nachfahren Ärzte in der Charité. Mein Urgroßvater hat noch mit Professor Sauerbruch zusammengearbeitet. Mein Vater hatte die Ehre, den Vorgänger dieser Klinik aus Kriegstrümmern aufbauen zu dürfen. Alle waren sie Chirurgen und Operateure aus Überzeugung.“ Er schlürfte leise aus seiner Tasse. Noch nie hatte Mellor so lange mit Horst gesprochen. Er erkannte, dass es auch dem Professor naheging. „Jeder von ihnen hat Patienten verloren. Vielleicht, weil das Wissen damals noch nicht so weit war, die Technik, die uns heute unterstützt, nicht vorhanden. Die Voruntersuchungen! Denken Sie nur, was wir heutzutage alles im Vorfeld zu klären haben und wissen wollen! Damals, als ich angefangen hatte, da hieß es: Tumor! Unters Messer, raus damit! Heute glauben wir, alles über den Patienten zu wissen. Aber ehrlich, was wissen wir denn? Wir kennen die Medizin, wie ein guter Ingenieur die Technik, setzen voraus, dass alles zu lösen ist. Und siehe da, manchmal geht etwas schief.“

Horst seufzte. „In Ordnung. Gehen sie nach Hause, Horst. Ich lasse Sie verständigen, wenn die Autopsie vorliegt.“

„Aber …“

„Kein aber!“ Mellor stutzte. „Haben Sie nicht noch Urlaub?“

„Ja.“

„Dann hauen Sie ab. Wir sehen uns am Montag.“ Mellor erhob sich. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich melde mich persönlich bei Ihnen. Und nun, auf Wiedersehen.“




Donnerstag


Auf der linken Seite aufwachen, bedeutet Claires Hinterkopf zu sehen oder ihr schlafendes Gesicht. Heute nicht. Sie ist munter.

„Wölfchen?“

„Hmhm.“

„Bist du munter?“

„Nnnnn.“ Meine Hand kriecht unter ihre Bettdecke. Sie hat so schöne glatte Haut. Ihre Hand zieht an der Meinen. „Naa, komm schon.“

Das ist schön. Morgens Erwachen und in das Gesicht der Geliebten sehen. Es ist ungeschminkt und ehrlich, verschlafen und etwas zerknittert. Aber es ist schön! Weil es so selten vorkommt. Wenn alles gut geht, sieht man es am Wochenende, vorausgesetzt, keiner hat Schichtdienst. Im Urlaub klappt es vielleicht. Aber haben Sie auch den Eindruck, dass, gerade dann, wenn man es könnte, der Andere schon aufgestanden ist und im Bad herumwirtschaftet oder in der Küche? Das Leben ist ungerecht.

Aber hier klappt es. Wir kuscheln uns aneinander, sehen uns in die Augen - Claires Gesicht ist unscharf – wir streicheln uns. Nur um zu zeigen, ich liebe dich. Mehr bedarf es nicht.


Heute benutzen wir Birthes Wagen. Birthe fährt. Damit ich meine Ruhe habe, gibt ihr das Navi die Richtung vor. Die Frauen sitzen vorn, ich hinten, die Fahrt genießend. Es geht in den Norden, immer der Nase nach, ohne besonders Ziel. Nur die grobe Richtung: Anklam.

Das Navi gehorcht meinen Wünschen. Es gibt da so eine Einstellung. Wir schleichen über Landstraßen dritten Grades, die oftmals besser sind als Bundesstraßen oder genau das sind, was man erwartet: Kopfsteinpflaster aus der Zeit Friedrich des Großen. „U-und ü-ü-über d-dies-s-e Ru-rumpel-stra-straße mussten F-fritzens So-soldaten marsch-marsch-schi-ieren?“ Birthe klammert sich am Lenkrad fest.

„I-ist n-nur ein ku-kurzes S-stück. D-dann ist d-das N-nest zu-zu-zuende!“ Stottere ich solidarisch.

„Go-ott sei D-dank i-i-im Hi-himmel!“

Hups. Das Auto darf wieder gleiten. Außerhalb des Dorfes ist der Landkreis zuständig. Und innerhalb des Dorfes wollen es die Dörfler wohl so. Eine bunte Landschaft zieht am Fenster vorbei. Hin und wieder vergoldet die Sonne die abgeernteten Felder. Auf den Weiden versammeln sich die Kühe an den Tränken, hier und da stehen Pferde und sehen uns nachdenklich hinterher.

Wieder ein Dorf. Fachwerkhäuser, Katen und Neubauten mischen sich zu einem bunten Konglomerat aus Wohnbauten. Ein ehemaliger Dorfkonsum – es steht immer noch über der blauen Tür. Ein Traktor unter Waffen nähert sich, wir kriechen verschüchtert zur Seite, dicht an den Straßengraben. Der Trecker ist einfach größer, und sein bedrohliches Pflugzeug droht an den Seiten. Wir winken freundlich und tun harmlos. Das wird anerkannt, und man – Mann – winkt zurück. Ich sehe, er hat nur meine beiden Schönen im Auge. Wusch, ist er vorbei. Aufatmen.

Herbstwald. In diesem Jahr herbsteln die Bäume später. Die Buchen scheinen noch im vollen Saft zu stehen. Nur die Birken am Waldesrand stehen blattlos in der Gegend herum und wundern sich. Auch Eschen beginnen Farbe anzunehmen und der Ahorn gelbt mächtig. Und auch das Gras am Waldrand liegt jahresmüde zu Boden. Ob es Pilze gibt? Ich frage lieber nicht, denn wenn ich den Frauen diesen Wurm ins Ohr setzte, halten sie hier an und beginnen zu suchen. Und was mache ich dann?

Und wieder Felder, Weiden, weites Land. Flach. Es ist dieses Mittwoch-Land. Man sieht am Mittwoch, wenn jemand am Sonnabend zu Kaffee kommt. Weitsicht.

Wir ignorieren die Umfahrung und suchen das Zentrum von Anklam. Leider bekam Anklam viermal eine volle Breitseite von anglo-amerikanischen Bombern ab. Zum Ende, am 29. April 45, waren es deutsche Bomber, die der Hansestadt den Rest gaben. Hauptsächlich Brandbomben verheerten die Holzstadt und ließen achtzig Prozent der Altstadt verschwinden. Sie wollten der Roten Armee wohl die Freude an ihrem Sieg vergällen. Und was zählten schon Menschenleben?

Das sollte man wissen, wenn wir heute die Stadt besuchen, und uns freuen, dass noch einiges zu erkennen ist. Die dem Krieg folgenden Generationen haben der Stadt ihr heutiges Erscheinungsbild gegeben: Erst mal etwas zum Wohnen haben, dann sehen wir weiter. Man tut wieder was. Es wird nicht leicht werden.

Lilienthal hat hier seine ersten Hüpfer unter Flügeln getan. Hier hat er gelernt, was Fliegen ist, und ist in Berlin abgestürzt und gestorben. Aber er war der erste wirkliche Flugpionier. Wir gehen hin und her, trinken einen Kaffee zum Kuchen und fahren zurück.



Donnerstag Nachmittag


So kommt es, das Horst plötzlich und unerwartet in der Hotellobby sitzt, als wir aus dem hohen Norden zurückkehren. „Horst!“ Birthe fliegt ihrem Geliebten um den Hals. Mir gibt es einen Stich ins Herz. Zum Glück kann ich Halt an Claire finden. „Solch eine Freude! Der Horst.“ Überzeugend klingt das nicht. Naja. Claire sieht zu mir auf, und schüttelt leise den Kopf. Ich erkenne: Horst ist not amused. Da ist was schiefgegangen, denke ich. Während wir zum Restaurant gehen, erzählt er die ganze Geschichte, die ich gewissenhaft und natürlich literarisch ausgeschmückt, vordem wiedergeben habe. Whow, denke ich. Das ist der Horst, genau der, der auch meinen Vorstellungen entspricht. Ich sehe ihm seine Qual an. „Weißt du“, und ein tiefer Seufzer entfleucht ihm, „Der Junge hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, zu leben. Geht einfach so dahin.“ Sein Handy meldet sich. Horst klopft sich die Taschen ab, dabei liegt es neben ihm auf dem Tisch. Ich nehme es auf.

„Hier.“

Abwesend greift er danach. „Ja?“ Seine Gesichtszüge sind düster. „Ich höre – ja – ach – hmhm – also … ach so, ich verstehe.“ Horst entspannt sich. „Mach ich, Herr Professor. Also bis Montag.“ Aufatmen. Ein schwaches Lächeln.

„Und“, frage ich. Birthe und Claire lehnen sich herüber und sehen genauso neugierig aus. „Uuund?“

„Keine Chance. Medizinisch gesehen.“ Dann erklärt er uns warum, und wie, und weshalb, und weswegen deswegen. Wir nicken interessiert und verstehen – wenig. Aber Horst muss sich die Seele frei reden, und das tut er auch. In allen Ärztesprachen und nur eine gibt es, die ihn versteht – Mariele. Nach einer viertel Stunde sagt er den letzten Satz des Abends, seufzt tief auf und ergibt sich schweigend dem Cognac. Nanu? Kein Whiskey?

Zum Abschied fragt er noch: „Und, was machen wir morgen?“ Nimmt seine Birthe in den Arm und schwebt mit ihr davon.



Freitag


Wir fahren ein Stück nach Norden, vor Zechliner Hütte biegen wir rechts ab. Ein Schild verspricht Viersterne-Essen. Das werden wir auf dem Rückweg prüfen. Das Auto stellen wir ab, bereiten uns auf einen Rundgang um den Bikowsee vor. Unsere Freunde gehen Arm in Arm vor uns her. Horst behauptet, er kenne sich hier aus. Gut, wenn dem so ist! Wir verlassen uns auf Horst und das Gelände, als Claire stehen bleibt.

„Wölfchen?“ (Horst sieht zurück).

„Claire?“ (Horst hebt eine Augenbraue).

„Was machen wir, wenn wir vom Wilden Mann überfallen werden?“ Sie zeigt auf den Wald, zu dem unser Weg führen wird.

„Und ausgeraubt?“ (Horst grinst).

„Und ausgeraubt!“ (Horst dreht sich zu uns um). Claire stampft mit dem Fuß auf. „Ich will aber …“

„Was willst DU denn, Claire?“

„Ich will nicht ausgeraubs gewerds werds!“

„Sondern?“

Claire dreht sich genant um die Hüfte. „Nö, sach ich nichs.“ (Horst kommt mit Birthe am Arm zu uns zurück).

„Ich kann Dich beruhigen, Klärchen.“ Er spricht dieses Klärchen so aus, wie wenn man ein kleines Mädchen zu trösten hat, weil ihrer Puppe ein Arm abgerissen wurde. „Hier gibt es keinen Schwarzen Mann.“ Er macht eine umfassende Geste. „Dies ist ein friedliches Land.“ Er nimmt Claire unter dem Arm, führt sie von uns weg. „Siehst Du, Kleines. Die Bäume tragen Farbe, die Vöglein zwitschern und die Rehlein springen durch den Forst.“

Birthe hat sich bei mir eingehakt. „Komm, folgen wir dem verliebten Paar.“ Und wir folgen und hören:

„Und Wildschweine?“

„Höchstens Drachen. Aber die sind harmlos.“ Sie marschieren weiter, Claire schmiegt sich angstvoll an Horst. „Aber Du beschützt mich, nicht wahr?“

„Aber sicher.“ Mariele fällt ihm um den Hals und küsst ihn. Dabei sieht sie zu mir, ihre Augen lachen. Ach Mariele!

Er bleibt stehen, wartet auf uns. „Es geht die Sage, dass hier, nicht weit entfernt, auf einer Insel nahe bei Rheinsberg, Remus, einer der Begründer Roms begraben sein soll.“ Wir rücken näher auf, Birthe geht jetzt in der Mitte, zwischen Horst und mir. Und er erzählt die Geschichte von der Entdeckung eines Grabes auf der Remusinsel mitten im Rheinsberger See. Und er spricht von Fontane, der in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ Rheinsberg erwähnt, und man die Bücher unbedingt gelesen haben sollte. Und dass Rheinsberg eigentlich Remusburg oder -berg, und der Rhin nicht Rhin, sondern Rem geheißen habe. Was allerdings nicht von Fontane stamme, sondern von einem gewissen Temme. Und überhaupt, die Geschichte. Wir hören mit offenem Mund zu und staunen pflichtschuldigst. Das ist neu für mich und für Birthe sowieso, die sich an mich klammert. Was hat sie?

„Was hast Du?“, frage ich ihr ins Ohr. Doch sie schüttelt den Kopf, wie jemand, der nicht sagen will, was ihm ist oder wie.

„Wölfschen?“

„Ja, Claire?“

Sie lässt Horst los, kommt zu mir und hakt sich rechts ein. „Hast du zugehört, Junge?“ Jetzt hat sie den Ton einer alten Gouvernante angenommen. „Es gibs hier gar keine Räubers nich.“ (Beleidigte Leberwurst) „Es gibs nur alte Rörmers, gibs hier.“ (kleines enttäuschtes Mädchen – wer hat ihr die Puppe weggenommen?) Ich vermute ein wenig Eifersucht auf ihre Freundin. Denn wenn die Claire eines hat, als angehende Medizinerin, dann ein Gefühl für gewisse Spannungen. Ich entschließe mich, Birthe in einem günstigen Moment abzupassen. Wenn Claire nicht schneller ist.

Wir gehen jetzt am Campingplatz vorbei, still ist es hier, und auf Zehenspitzen, um den Schlaf der verbliebenen Dauercamper nicht zu stören. Weiter: Zwischen dem Unterholz glänzt der See. Das Wetter meint es gut mit uns; es herrscht durchsichtiger Hochnebel, durch den die Herbstsonne matt schimmert. Es ist nicht grau aber auch nicht sonnig. Es ist etwas dazwischen. Es ist auch nicht kalt, wie im Winter. Es ist später Spätsommer, bevor die Herbstwinde mit Nieselregen und dunkelgrauen Wolken über das Land streichen. Aber es ist ein anderes Wetter als in Hamburg oder Köln. Es ist – anders. Sie müssen es selbst erleben. Wir erleben es.

Horst hüllt sich nach seinem Vortrag in Schweigen. Die Hände auf dem Rücken läuft er über den Sandweg, sieht zu Boden. Mit den Gedanken in einer anderen Welt. Dort, wo es nach Desinfektion riecht, wichtige Menschen in weißen Kitteln über die Gänge laufen. Und Menschen überleben, weil sie überleben müssen oder wollen, weil sie krank sind oder ihnen ein Unfall widerfahren war oder die Natur einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. ‚Die Chirurgen seins …‘, zitiere ich ein böses Lied und verwerfe schuldbewusst sofort jedweden hinterlistigen Gedanken. Im Stillen verneige ich mich vor ihm, dass er so in seinem Beruf aufgeht. Er hat sich verändert. Ist ernster geworden und stiller. Wir drei marschieren hinterher, die Damen wärmen meine Seiten, denn sie kuscheln sich an mich, und mich wärmen meine Gedanken dabei.


Dann, im Bett kuschelt sich Mariele an mich. „Wölfchen?“

„Ja, Claire?“

„Was hat Birthe?“

„Weiß nicht. Weißt Du es denn nicht. Immerhin …“

„… immerhin bin ich eine Frau?“

Ich spüre es natürlich. Ihren warmen, weichen Körper, die samtene Haut. Ihre Brust, die gegen meinen Oberarm drückt. Ich spüre sogar ihren Herzschlag. Er ist ruhig, Bum bumbum, bum bumbum. „Ich mein“, sage ich, „Sprecht ihr nicht miteinander? So über eure Männer?“

„Birthe nicht. Nicht über Horst.“

„Du meinst, dass er die Ursache ist?“

Claire nickt. Ich sehe es nicht, spüre es. „Dann frage sie doch.“

„Kannst Du das nicht?“

„Iiich? Wie soll das gehen?“

„Na, einfach so. Frag sie. Du kannst doch sowas. Denke an Christine.“

Christine. Wie mag es ihr gehen? Sie hatte uns kurz nach dem Schwedenurlaub verlassen. Und dann Mariele. Wir drei Männer haben immer noch keinen adäquaten Ersatz gefunden. Für keine von den beiden. Zum Glück zehren wir noch von den alten Aufträgen. Aber es muss sich bald etwas ändern. Nach Rheinsberg, nehme ich mir vor. Und denke darüber nach, wie ich an Birthe herankomme. Aber nicht lange. Claire/Mariele lenkt mich ab. Erst ihr Küsse, dann ihre Hände.

Mariele richtet sich auf, macht Licht an (das auf den Nachttischen), und setzt sich auf mich. Sie lächelt, stützt ihre Hände auf meine Brust. „Ich liebe Dich“, sagt sie leise und ich wiederhole die drei Worte, die Frauen so gerne hören.

Und dann liegt sie noch lange auf mir, ihr Atem wird ruhiger, ihre Haare bedecken mein Gesicht und duften, und Mariele duftet, und ich drücke sie an mich. Ich will sie nie verlieren. Jedenfalls jetzt nicht und auch nicht in naher Zukunft und auch, wenn wir alt sind - darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Nur darüber, dass wir alles tun, was uns zusammenhält und verhindern, was uns trennt. Das ist nicht so einfach. Leicht gerät man in Zorn wegen einer Kleinigkeit. Es genügt wenig, eine heruntergefallene Tasse. Oder ein verpasster Treff. Kleinigkeiten!

Ich hatte nicht gemerkt, dass ich eingeschlafen war. Es ist noch dunkel und ich versuche, die Uhrzeit auf dem Radiowecker zu erkennen. Drei Uhr?!

Ein heller Streifen teilt das Zimmer in zwei Teile. Durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen scheint der Mond. Es ist Vollmond. Neben mir liegt meine unsterbliche Geliebte auf dem Rücken und schläft tief und fest. Beim Einatmen schnarcht sie leise. Ich muss grinsen. Sie kann auch mehr, doch das stört mich nicht. Sie hat die Bettdecke von ihren Beinen gestrampelt, nun geht der Mondscheinlichtstrahl quer über ihre Oberschenkel. Ich decke sie zu. Vorher jedoch gebe ich ihr auf jeden einen leisen Kuss. Mariele seufzt, dreht sich zur Seite und schnarcht weiter. Zum Einschlafen mache ich mir Gedanken, wie ich an Birthe herankomme. Das zweite Mal heute. Und komme zu keinem Ergebnis. Und bevor ich wieder abtauche in Morpheus Reich, denke ich noch: Lass es auf dich zukommen.


Samstag


Der Morgen begrüßt uns mit Sonnenschein. Die Vorhänge hat Mariele schon beiseitegeschoben und das Fenster geöffnet. Kalte frische Oktoberluft dringt ins Zimmer. Es blendet. Ich krieche tiefer unter die Bettdecke. Dumpf klingen Geräusche aus dem Bad an mein Ohr. Glas klappert, Wasser rauscht. Nein, ich habe heute keine Lust auszustehen. Nein! Leider werde ich nicht gefragt. Eine kalte Hand kriecht unter mein Deckbett und legt sich auf meinen Bauch. Ich reiße mich zusammen, kann aber Frierpickel nicht verhindern. Das ist der Moment, wo sie die Bettdecke wegzieht und sich an dem Anblick der Gänsehaut ergötzt. Ich sehe vor mir ihr schönes Gesicht. Sie beugt sich weiter vor, so dass ihr Haare mein Gesicht kitzeln. Ihre Brüste berühren mich. Da greife ich nach ihr, ziehe sie ins Bett. Ihre Haut ist kühl, sie rutscht an mich heran. „Du bist so schön warm“, flüstert sie in mein Ohr, und dann sind wir eine Weile beschäftigt, und stehen dann doch auf, und gehen unter die Dusche.


Birthe sitzt am Frühstückstisch. Allein. Sie hat bereits gefrühstückt und sieht uns erwartungsvoll entgegen. „Horst ist nach Hause“, sagt sie sachlich. Wir fragen nicht nach dem Warum. Das wird Birthe erzählen, wenn sie es will. „Kaffee?“

„Danke, erst nach dem Essen.“

Nach dem Essen ist vor dem Essen. Damit wir gut verdauen und für ein Mittagsmahl – später dann – auch bereit sind, beschließen wir, den See zu umrunden. Wir hoffen, dass es einen Weg gibt. Ein Blick auf die Karte sagt aber, dass es nicht geht. Claire sieht, dass man mit dem Dampfer – „Claire, es heißt nicht Dampfer!“ – bis zum Flecken Zechlin fahren kann. Wir müssen uns beeilen. Nun doch!

In letzte Sekunde erreichen wir die Gangway. Es sind nicht viele Leute, die zusteigen. Überwiegend Rentiers, was Birthe zu der Frage reizt: „Jo hoats denn hiea g‘schneit?“ Böse Birthe. Dann sitzen wir oben und frieren. Und dann bringt man uns Sitzkissen und den guten Rat aus jener Kiste - man deutet mit der Hand auf einen weißen Metallkasten – Decken zu entnehmen. Wir – Ich tue es, die Damen wickeln sich ein. Der Fahrtwind kühlt, die Sonne wärmt. Der See vor Rheinsberg heißt übrigens Grienericksee und nicht Rheinsberger See. Klingt komisch, ist aber so. Das Wasser duftet anders als im Sommer. Nach Wasser, der Geruch nach toten Fisch und Algen fehlt. Der See ist spiegelglatt. Wir sehen doppelt Schloss und Rheinsberg und die Uferbewaldung. Das eine steht aufrecht, das andere Kopf.

Der Dampfer macht gute Fahrt, aus dem Lautsprecher tönt eine Stimme, die zu erklären versucht, was wir sehen. Wir verstehen kein Wort und Claire beginnt zu übersetzen: „Rechts sehen sie das Schloss Gustav des Pelzigen. Daneben, das Haus mit dem roten Dach, bewohnte George Lucas, und schrieb hier das Buch zum Film. Also, das Filmbuch.“ Sieh an! Wir sehen interessiert auf das Beschriebene. „Aha!“, sagt Birthe und sage ich. „Auf der anderen Seite, meine Damen und Herren, befindet sich die Orangerie Friedrich des Bärtigen mit dem großen Zeiger der Sonnenuhr, die Edgar Begas extra für ihn aus einem Stück Basalt geschnitzt hatte. Dreißig Jahre soll es gedauert haben.“ Die Rentner um uns herum schütteln ihre Cephalocereus senilii oder lächeln still, in Erinnerungen schwelgend, in sich hinein. Sie waren, jung gewesen, auch so oder ähnlich. Und mancher oder manche erinnern sich an ihren Partner, der zu früh gegangen war. Deshalb machen wir unseren Spaß, für uns und für sie.

Links zieht Wald, rechts Rheinsberg vorbei. Eine Marina, leer, die Boote liegen sicher und trocken im Bootshaus oder wurden gewissenhaft in Planen eingewickelt. Weitere Bootshäuser und dann beginnt der Schlabornkanal. „So genannt“, doziert Claire, die jetzt wie eine gestrenge Professorin aussieht und auf uns herabsieht, „nach einem gewissen Schlaborn, seines Zeichen Ingenieur unter Albrecht dem Bären, der Vierzehnhundert-nnnn-zig mit eigener Hand den Kanal graben lies, damit Albrecht seine Geliebte in Zechlin besuchen konnte, ohne laufen zu müssen. Genial, wah?“ Sie stutzt. „Aber warum Zechlin Flecken heißt, weeß ick ooch nich.“

Claire sieht uns an. „Ich muß mal“, stellt sie fest, zwinkert mir zu – das geht, denn Birthe hat den Kopf über die Reling gehangen und starrt auf das Wasser. Sie verschwindet, die Gelegenheit mit Birthe alleine …

„Du brauchst nicht fragen.“ Birthe sieht mich an. Sie hat solch schöne, traurige Augen. Etwas Wasser steht darinnen, beinahe ertrinke ich und im Schritt zieht es seltsam. Ich rufe mich zur Ordnung! „Ja“, setzt Birthe fort, „Wir haben uns gestritten.“ Ich schweige. Mir tut es leid, sehr leid. Und komischerweise um Birthe.

Sie lehnt sich gegen meine Schulter. Ich greife um sie herum, drücke sie ein wenig, es soll trösten. Tut es aber nicht. „Lass mich raten, du hast angefangen?“

Sie nickt, eine Träne tropft auf die Decke und hinterlässt auf dem grauen Gewebe einen dunklen Fleck. Das dicht bewaldete Ufer zieht vorbei. Ich sehe auf die bunten Bäume, Blätter treiben im Wasser und schaukeln in der Bugwelle unseres Schiffes. Wir passieren den Kanal und fahren in den Rheinsberger See ein. Die Dächer des Hafendorfes Rheinsberg, schon außerhalb der Stadt, ragen über den Uferbewuchs. Und da ist sie, die Remusinsel! Hier soll Remus, einer der sagenhaften Könige Roms, begraben liegen. Claire treibt sich noch unten im Schiff herum. Ob sie Kaffee bestellt?

„Ich habe ihm vorgeworfen“, beginn Birthe, „nur an seine Arbeit zu denken und mich …“ Birthe schluchzt auf. Wie süß! Das ist genau das, was ich zu vermeiden suche. Arbeit ist wichtig! Ja klar. Aber sie dient dazu, mich zu ernähren. Dass ich mir was Schönes kaufen kann und mir meine Mariele leisten. Noch, denn irgendwann wird sie so viel Geld verdienen, dass sie mich ernährt. Hofft sie. Mir ist es egal. Ich teile gerne mein bisschen Geld mit ihr.

„Ich hätte es nicht tun sollen. Ich weiß doch, wie er an seiner Chirurgie hängt.“

Meine Hand kriecht unter ihre Decke. Ich streichle ihr den Oberschenkel. Sie sieht mich an. So von unten. Das kann so hilflos aussehen. Und das ist sie wahrscheinlich auch.

„Na, ihr beiden? Habt ihr euch gelangweilt, so ohne mich?“ Claire! Sie hält ein Tablett in den Händen. Drei mit einer dunkelroten Flüssigkeit gefüllte Gläser stehen dampfend darauf. „Glühwein“, verkündet Claire stolz. „Medizinisch gesehen zu empfehlen zur Vorbeugung gegen die Einnahme von Aspirin und anderen fiebersenkenden Medikamenten.“ Was für ein kluges Mädchen! Wir wärmen unsere Hände an den Gläsern und die Seelen am Inhalt. Kein Alkohol ist auch keine Lösung, denke ich und sehe Birthe an. Sie ist schon wieder in ihrer Frauenwelt bei Horst.

Ich frage: „War er sauer?“

„Nein. Ich. Er hat mir übers Haar gestrichen und gesagt: Danke. Dann ist er gegangen.“ Sie zuckt mit den Schultern. Meine kluge Claire hat gleich begriffen, worum es geht. Sie muss nicht fragen. Nur ihre Freundin ansehen und begreifen. „Ach Baby, Baby. Es tut mir so leid!“ Und was machen Frauen nach solch einem Satz? Sie umarmen sich! Lange und ausgiebig und verströmen ein paar Tränen.

„He, seht mal, die Insel!“

„Wölfchen?“ Claire ist es, die sich am ehesten fängt.

„Claire.“

„Das stimmt doch nich, oda?“

„Doch, doch. Ich glaub‘ schon.“

„Schon Franz der Weitgereiste beschrieb im Jahre fünfzehnhundertdreiunddreißig die Insel, die durch eine Brücke verbunden war, mit ebenjener Halbinsel dort rechts, und behauptete, dass es zwar ein Grab, jedoch keine Leiche gegeben habe.“

„Darf ich mitspielen?“ Birthe sieht uns beide an.

„Schon“, sage ich, „Nur, als was?“

„Als Lokomotive!“, schlägt Claire vor. Birthe schiebt die Unterlippe vor. Gleich weint sie.

Mir fällt etwas ein: „Die Studentin?“

„Studentin?“, fragen beide unisono.

„Na, die, die Claire und Wolf in ihrem Boot mitnehmen.“

Wir zergrübelten sichtbar unsere Gehirne. Jaja, da war eine gewesen, eine Studentin.

„Züricher!“

„Quatsch!“

„Hamburger?“

„Nee. Das war ein ganzer, ein anderer Name.“

„Aachener! Sie hieß Aachener.“ Birthe hüpft vor Freude auf der Bank hin und her.

„Aachener. Ja, die Aachener! Studentin der Medizinwissenschaften“, wie Claire/Mariele. „Einen Glühwein drauf!“ Die Forderung wird erhört, weil zufällig ein Besatzungsmitglied in der Nähe steht. Man schnappt sich das Tablett und nach angemessener Zeit erscheint man wieder. Mit dampfenden Gläsern, aus denen es süß, und weinig duftet. „Bitte schön, die Damen.“ Ich werde ignoriert. Schon wieder! Und nun stoßen die ‚Damen‘ auch noch an. „Ach, Du bist ja auch noch da.“ Fräulein Aachener zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. „Und wo pflegen Sie angelegentlich ihr Ruder abzustellen?“ Sie schnappt nach Luft. Was hat der Tresen dem Getränk noch beigemischt? Mir schmeckt es. „Wie mein Vater, der weise Greis, zu sagen pflegte: Kindchen – damit meinte er mich, der Gute – Kindchen, es ist schließlich etwas ganz Andreas, als wie die Spatzen von den Dächern sungen.“ Aha. Claire pflegte gerne etwas völlig Sinnleeres in ein Gespräch einzufügen. Ich spüre, den Herrn hinter mir, wie er zuckt, und oberlehrerhaft den Zeigefinger erhoben hat.

„Aber“, fährt Claire ihrerseits mit erhobener Stimme fort, „Er war ja nicht nur ein erfahrener Greis, sondern auch Studienrat, was ihm zum Verhängnis wurde.“

„Ach, ja?“

Claire schweigt - mit Bedeutung. Der alte Herr hinter mir zerspringt vor Spannung.

„Und?“

„Seh mal, Wolf!“ Wir lassen den Oberlehrer mit seiner Spannung allein und beschauen den nächsten Kanal, in den wir eben einfahren. Er ist eingefasst in brandenburgische Bäume und Sträucher. Ein Angler sitzt am Ufer und wartet, dass jemand anbeißt. Blessrallen eilen unserem Schiff voraus und ein Graureiher steht ernst und weise auf einem Bein. Er nimmt von nichts Notiz.

Wir erfahren über Lautsprecher, dass wir in den Schlabornsee einfahren. „Schlaborn, Schlaborn“, sinniert Claire. Fräulein Aachener hebt die Hand. Es wäre wohl erwiesen, sprach sie näselnd, dass die alten Märker den Namen des Sees sozusagen verschliffen hätten. Vielleicht habe er andres geheißen. Schließlich sei das Land umherum von anderen Völkern bereits bewohnt gewesen. Wir nickten verstehend. „Dort!“ Claire.

Flecken Zechlin, erklärt der Lautsprecher, und dass wir bald anlegen werden. Claire zahlt die Glühweine. „Is ja schließlich so, dass wir Frauen ja auch … und überhaupt, Fräulein Aachener, haben Sie das schon bemerkt, dass die Männer sich aushalten lassen? Also meiner …“

Und nun haben wir Hunger. Wir finden ein Restaurant, dass die Damen ästimieret und essen! Und Fräulein Aachners Handy summt. Nach Frauenart hat sie das Gerät sofort zur Hand, nicht wie wir Männer, die nach dem Ding suchen müssen. Sie liest sie Nachricht, sie kommt von Horst. „Es geht ihm gut und er sehnt sich nach mir.“ Sie sagt es scheinbar gleichgültig. „Er holt mich morgen früh ab.“ Und: „Kommt ihr mit?“

„Hast Du Angst?“

„Nee, ich schäme mich.“

„Wir kommen mit. Ist ja schließlich bequemer als mit Bus und Bahn.“


Wir verpassen die Rückfahrt. Ich befrage die Serviererin, ob es hier in Zechlin eine Droschke gäbe. Sie bejaht und schlägt vor, sich darum zu kümmern.

„Woher soll ich denn wissen, dass sie das wörtlich genommen hat?“, versuche ich zu erklären. Denn vor der Tür wartet eine Droschke! Wahrhaftig. Claire hüpft vor Freude und schlägt die Hände zusammen. „Standesgemäß, wie es unsereinem zusteht“, erklärt Fräulein Aachener. Die Droschke ist wahrhaftig solch ein hochbeiniges Ding, schwarz und gut gefedert. Der Kutscher sitzt auf dem Bock, er wartet geduldig, zieht an seiner Pfeife und stößt eine gewaltige Rauchwolke aus. Vorn wartet ein Pferd, schwarz, hochbeinig wie die Kutsche. „Nach Rheinsberg, die Herrschaften?“

Wir steigen ein, decken uns mit den Decken zu, die nach Pferd und ein wenig nach Leder und Holz riechen. „Hm“, sagt Fräulein Aachener, „duftet gut.“

„Standesgemäß.“

Wie herrlich. Wir sitzen im Fond, warm eingedeckt. Die Droschke hat Hartgummiräder. Leicht rollen sie über den Asphalt, die Kutsche schaukelt, wir werden schläfrig. Das Klacken der Hufe klingt auf der waldgesäumten Straße wie das Zusammenschlagen von Kokosnusshälften. Wir genießen eng aneinandergerückt die langsame Fahrt. Eine Gruppe Motorradfahrer überholt uns. Sie winken und wir winken zurück. Das Pferd stellt die Ohren nach hinten. Weiter keine Gefahr. Wolken ziehen auf. Es wird kühl, doch unter den Decken ist es warm genug. Claire ist eingenickt, Birthe streichelt meinen Oberschenkel, dabei sieht sie ins Nirgendwo. Ich denke, sie sieht Horst, der einsam und allein daheim in sich hineinweint. Der Autoverkehr nimmt auf Feierabenddichte zu. Doch es stört uns nicht. Wir sind weit in die Geschichte zurückgereist. Und bis zur Gegenwart sind es noch ein paar Kilometer.


Birthe zahlt die Tour. Sie ist billig. Deshalb fällt das Trinkgeld für den Kutscher und sein Pferd großzügig aus. Und für die Serviererin! Ja, er werde es übergeben, sagt der Kutscher. Und gerne wieder.

Und schon ist es Zeit zum Abendessen. Doch vorher gehen wir noch einmal durch die Stadt, sehen uns die Auslagen der Geschäfte an, gucken in dieses und jenes Lokal. Beim „Alten Fritz“ trinken wir zwei Biere, gehen noch ein Stück zur „Tucholsky Buchhandlung“.


„Und nu?“ Fräulein Aachener lehnt sich gesättigt zurück.

„Urlaub alle.“ Sagt die Claire, wird wieder zur Mariele.

„Jo, schade“, sagt Birthe, das ehemalige Fräulein Aachener. Ich lehne mich vor. „Der Swimmingpool ist ab halb zwölf für uns reserviert.“ Die Damen ziehen interessiert die Augenbrauen hoch. „Na dann …“ Mariele sieht mich sehr intensiv an. Und ich sage unschuldig zu Birthe: „Wir treffen uns dort.“ Und: „Bademantel genügt.“

Wir haben noch Zeit, rekapitulieren die Woche. Draußen beginnt es, zu regnen. Erst leise und dünn, dann heftig. Und Wind kommt auf. „Die wollen uns hier nicht mehr.“

Ich glaube es nicht. Rheinsberg ist gut für Leute, die Ruhe suchen und Kultur und wenig Unterhaltung. Unser Gespräch plätschert vor sich hin. Wir reden über Gartenbau im Barock und dem Klassizismus. Birthe erweist sich als Fachfrau. „Und Du kennst Fürst Pückler persönlich, nehme ich an.“ Nicht sehr höflich merke ich. „Ich meine, ich wollte sagen …“, stottere ich. Aber Birthe ist generös. „Natürlich“, sagt sie, „Jedoch nur durch die Schriften über ihn und über den Park Branitz.“

„Branitz, waren wir schon einmal in Branitz?“ Claire sieht mich mit schräg gelegtem Kopf an.

„Nee“, sage ich.

„Müssen wir hin!“ Und gehen über, zu Friedrich dem noch nicht Großen, ergänzen unser Wissen über ihn.

„Mensch!“ Birthe springt auf. „Ich hätt‘s beinahe vergessen!“

„Was denn, um Gottes Willen?“, schrecke ich auf.

„Die Konzertkarten für die Musikakademie.“

„Hä?“

Birthe sieht auf die Uhr. „In ‘ner halben Stunde! Los, macht euch stadtfein. Wir schaffen das noch.“


Friedrichs Flötenkonzert klingt noch nach und Quantz Werke, dem gestrengen Lehrer und Berater, der sich angeblich mit seinem Herrn heftig streiten konnte – über Musik. „In einer halben Stunde.“ Ich ziehe Mariele hinter mir her.

„Halbe Stunde?“

„Swimmingpool“, erinnere ich Birthe.


Tatsächlich. Der Pool ist beleuchtet. Wir öffnen die Tür. Feuchte, warme, feuchte Luft, die nach Chlor riecht, schlägt uns entgegen. Birthe lümmelt in einer der Relaxliegen. Mein Gott, was für eine schöne Frau!

„Ich höre, was Du denkst.“ Mariele lächelt mich mephistophelisch an. Sie gleitet an den Poolrand. Mit dem Fuß prüft sie die Temperatur. „Geht“, stellt sie fest. Und plötzlich wird sie zur Diva. Sie knickst wie ein Hollywoodstar, schlägt die Hände vor den Mund: „Oh mein Gott! Birthe! Sie hier?“

Die Angerufene spielt mit, erhebt sich anmutig aus der Liege. „Oh mein Gott! Mariele! Zurück aus Paris?“ Ihr Bademantel steht offen, ein höchst entzückender Anblick für mich.

„Stell Dir vor meine Liebe! Eine Woche Paris! Wie wonderfull! Ach ja, die alte Welt.“ Man umarmt sich.

„Was machen Sie hier, Liiiebste?“

„Ich warte auf George. Er bringt den Fünfmillionen-Vertrag.“

„Nein! Hach, wenn ich nicht schon reich genug … was macht eigentlich ihre Yacht?“

„Ist baden gegangen, wie ich jetzt.“ Birthe lacht, lässt den Bademantel fallen und stürzt sich ins Wasser. Und Mariele? Wirft mir ihren Mantel zu. Der flattert auf und verdeckt mir die Sicht, indem er auf meinem Kopf landet. Biest! Und während ich mich von dem und meinem Kleidungsstück befreie, höre ich wie die Damen schnaufen und prusten. Sie ziehen Bahn. Also hinterher!

Aber schneller bin ich nicht. Ich bin überhaupt kein guter Schwimmer. Sicher mache ich was falsch. Ich liege zu tief, atme falsch, bewege mich, wie eine bleierne Ente. Sagt Mariele. Und scheinbar hat sie recht, denn sie zieht an mir vorbei und ich verschlucke mich an ihrer Bugwelle. Da warte ich lieber am Beckenrand. Ich lege die Arme auf die Kante und erwarte die Schwimmerinnen. Da sind sie. Gefährlich schnaubend und prustend. Mariele taucht ab und kommt direkt vor mir wieder an die Oberfläche. „Na?“, fragt sie. „Na?“, sage ich und werde umarmt. Natürlich nutze ich die Gelegenheit und wärme mich an ihrem Körper. Und dann kommt Birthe, bremst kurz vor uns und fragt: „Na?“ Was für ein interessantes Gespräch! Sie hält sich an Mariele fest. Und weil ihr das nicht genügt, legt sie die linke auf meine Schulter.

Was ist das? In Schweden war es schon so. Diese Frau ist wie ein kurz vor dem Ausbruch stehender Vulkan. Oder bin ich das? Und Birthe ist nur die Ursache, der Anlass. Oder Mariele, die sich an mich schmiegt und mir ihren Atem in die Ohren bläst. Ich muss tief durchatmen vor Glück. Ja, wirklich vor Glück! Ich greif um uns und ziehe Birthe heran. Heiß!

Wir schwimmen noch ein paar Runden, das heißt, ich hinterher, und während Mariele und Birthe bereits auf dem Rückweg sind, arbeite ich mich noch auf der ersten Bahn ab. Ach was soll‘s? Im Vorbeischwimmen werde ich untergetaucht. Ich tauche weiter ab, spiele toter Mann. Es klappt! Man rettet mich, zieh mich an Land.

„Mund-zu-Mund-Beatmung“, schlägt Birthe vor.

Mariele beginnt, schnappt nach Luft, und versucht durch Küsse, den Toten aufzuwecken. Ich zähle mit. Bei zehn öffne ich die Augen. „Da isser“, stellt Mariele fest. Ohnmacht. Küsse. Birthes Lippen. Jaja, ich kann sie unterscheiden. Birthes sind ein wenig härter. Augen auf. „Gepriesen sei der Allmächtige!“ Birthe atmet tief ein und klopf mir auf die Finger. Ich nehme die Hand von ihrem Hintern.

„Er scheint schon sehr lebendig. Was meinen Sie, Frau Doktor.“

„Da wäre noch ein Tropfen Medizin.“ Ich bekomme ihn, ein bisschen Zunge und dann werde ich hochgezogen. „Genug! Ihm geht es wieder gut. Erhebe Er sich, Er Similant!“

„Simulant“, korrigiere ich.

„Er korrigiert Dich, also lebt er“, sagt Birthe und Mariele tobt: „Was weiß Er denn? Wer ist Er denn, dass Er sich erlauben kann, eine Doctor med. zu berichtigen. Frechheit das!“

Wir laufen zu unseren Bademänteln. Ich darf aufhalten. Erst Birthes. Mariele macht mich wuschig, mit dem, was sie mit ihren Händen tut. Dann meiner unsterblichen Geliebten, die unnachahmlich in den Mantel schlüpft und zuletzt darf ich. Allein, denn Mariele und Birthe sind schon unterwegs. „Komm schon! Typisch – Mann! Immer zu spät.“

Auf dem Gang verabschieden wir uns von Birthe. Ihre warmen, vollen Lippen auf meinen verwirren mich. Ihr Blick auch. Doch Mariele zieht mich von der Mausefalle weg. „Komm, Bettchen wartet auf klein Wölfchen.“


Mariele muss sich erst die Haare richten. Der Föhn pfeift aus dem wahrscheinlich letzten Loch. Es klingt so. Ich sehe mir vor Langeweile Nachrichten an. Zappe weiter. Oppla! Bezahlkanal! Ja, was tut man denn da? Der Föhn klopft. Klopft? Ah, die Tür. Wer mag da klopfen? Zimmerservice habe ich nicht bestellt. Der Bademeister? Haben wir etwas falsch gemacht? Ich stehe auf, öffne sie einen Spalt. Birthe! „Birthe?“ Was für eine Frage.

„Du hast mich erkannt?“ Sie schiebt mich beiseite. Geht schnurstracks zu UNSEREM – Marieles und meinem – Bett, wirft den Bademantel zu Boden und schlüpft unter die Decke. Auf Marieles Seite. „Ich kann heute nicht allein sein“, gesteht sie. Und ihr Augenaufschlag! „Schicken Schlafanzug hast Du.“

„Nicht wahr? Echt Joop! Oder war es Klööckner?“

„Mit wem sprichst Du da?“, fragt es aus dem Bad. Der Föhn hat seine Schuldigkeit getan. Jetzt klappert Mariele mit Gegenständen. Ein Spray zischt. Dann steht sie in der Badtür. Ihre Augen werden riesengroß. „Du hast Besuch, Wölfchen?“

„Deiner, meine Liebe, Dein Besuch.“ Ich liege neben Birthe, die Hände auf der Bettdecke.

„Rutsch mal.“ Damit bin ich gemeint. Ich rutsche submissest. Mariele schlüpf neben mich, richtet sich ein wenig auf und fragt: “Was ist, Liebes?“ Oh je. Wenn Frauen Frauen so etwas fragen!


Sonntag


Heute gibt es Sonne. Sie steht schon hoch und scheint mir ins Gesicht. Durch die geschlossenen Lider ist alles rot. Ich denke Musik: „In mir drin ist alles rot, das Gegenteil von tot …“ Silly. Mein Arm umfasst Mariele, ich fühle ihr Bäuchlein, streichle ihn ein wenig. Birthe schmiegt sich an meinen Rücken. Der rechte Arm liegt über uns beide.

„Das Du nicht redest“, flüstert sie mir ins Ohr. Ich bekomme Gänsehaut, Mariele seufzt tief auf.

„Schon heute?“, fragt sie verschlafen.

„Leider.“

Mariele dreht sich um. „Huch! Ein Gespenst geht um in Rheinsberg.“ Sie meint nicht mich, sie meint Birthe. „Kommst Du?“ Ich werde wieder ignoriert. Sie gehen ins Bad. Frauen! Ich höre sie flüstern, die Tür steht halb offen. Wasser rauscht, Gläser klappern. Ich stelle mir lieber nicht vor was dort vor sich geht – und stelle es mir doch vor.


Birthe leiht sich Marieles Hotellatschen und schleicht im Bademantel zu ihrem Zimmer. Um elf will Horst kommen, um sie abzuholen. Es ist zehn. Ich habe kein gutes Gewissen, wenn ich an Horst denke und entschuldige mich damit, dass ich „verführt“ wurde. Verführt! Nana! Es gehören immer zwei dazu. Oder drei. Ich wollte verführt werden. Und die Mädels? Nun ja, die Stimmung im Pool war schon intim. Und dann? Birthe drehte sich zu mir. Ich sah in ihre Augen, die Pupillen waren riesengroß. Und weil Mariele anfing, mir den Bauch zu streicheln und tiefer und Birthe ihren Arm um mich und Mariele gelegt hatte, wurde ich weich – sozusagen. Ich sah zu Mariele, die die Augen geschlossen hielt, denn ich war nicht untätig. Und Birthe … Und dann wurde alles intensiver und die Deckbetten flogen zu Boden, bis wir dann schwitzend und keuchend auf den Rücken fielen. Dann sah ich zu Mariele, die leise lächelte und zu Birthe, die still und gelöst neben mir lag.

Da war sie wieder, die Frage: Geht denn das. Das geht! Obwohl man ja nicht wollte. Verstandesgemäß. Aber was kann der Verstand ausrichten, wenn die kleinen Teufelchen pochen.

„Na“, sagt die Mariele. „Willst Du dich wohl waschen, Ferkelchen!“ Sie ist immer noch nicht angezogen und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Ihre Brüste schweben dicht vor meinem Gesicht.

Ich gehe dennoch und denke beim Zähneputzen weiter. Das funktioniert.



München


Welche Frau kann sich im Gehen ihr Kleid ausziehen, wie Mariele? Keine, behaupte ich.

Wenn wir Essen waren oder im Theater oder Tanzen, was selten genug vorkommt, nehmen wir uns ein Taxi für die Heimfahrt. Schon wegen des Null-Promille Prinzips, was so viel heißt, als dass wir hoffen, dass der Taxifahrer nüchtern ist. Wir sind es nicht, aber auch nicht betrunken. Angetüdert, so kann man es nennen. Mehr nicht. Wir helfen uns lachend die Treppe nach oben und betreten die Wohnung. Die hat einen langen Flur. Sehr lang.

Mariele schlüpft mir unter dem Arm durch, das macht sie gerne. Und dann … dann schreitet sie im Catwalk wie eine Profi über das Parkett. Ich schließe leise die Tür und beobachte.

Sie greif nach hinten, zieht den Reißverschluss langsam nach unten. Ssssst, macht es. Dann streift sie das Kleid über Schultern und Hüften und lässt es (zwei Schritte) über Po und Beine nach unten gleiten. Da liegt es nun, als kleines Stoffhäufchen, über das die Dame drüber schwebt. Der BH wird geöffnet und landet, wie ihr Kleid, auf dem Boden. Doch wie sie das tut, ist unnachahmlich. Sie nimmt diesen corpus delicati mit zwei Fingern, hebt den Arm auf Schulterhöhe und lässt los. Es ist ein leichter Stoff. Also segelt er wie ein Herbstblatt zu Boden und gesellt sich zum Kleid. Dann ist da noch eines: Versuchen Sie einmal, im Gehen ihre Unterhosen herunterzulassen. Geht nicht? Richtig! Mariele aber kann das. Das winzige Ding, dass lediglich knapp ihre Vorderseite bedeckt, landet wenige Meter später ebenfalls auf dem Parket. Manchmal, wenn angekündigt wird, dass es abends kühler wird, hat sie Stümpfe an. Heute nicht. Schade. Dann biegt Mariele ins Bad ab. Ich atme tief durch. Sie meint, sie müsse sich den Geruch nach Küche und Gesottenem vom Körper spülen. Das Gefühl habe ich auch, meist, nachdem ich einen Döner verputzt habe. Komisch? Ist aber so! Langsam gehe ich hinterher und sammle ein. Eine Hand taucht auf, ein Paar High Heels fallen klackend auf den Flurboden. Wenn das so ist, werde ich also das tun, was die Dame von mir erwartet. Ich folge ihr ins Ritual: Rücken schrubben. Geduld hat sie schon. Ich muss schließlich auch erst aus den Sachen ‘raus. Das Wasser rauscht. Aber wie ich ins Bad komme, streckt sie mir schon die Bürste entgegen. Das Wasser strömt aus dem Duschkopf mit starkem Strahl über ihren Körper.

„Was guggst Du?“ Mariele lallt ein wenig. Drei große Gläser Rotwein haben es nun mal so in sich.

„Ich gugge nicht, wie gnä‘ Frau meinen, ich nehme Maß.“

Sie dreht mir den Rücken zu, deutet mit dem Daumen auf die entscheidende Stelle: „Dort. Und es muss zu spüren sein, Johann.“

„Wie Ihro Gnaden wünschen.“ Mariele bückt sich, und dann beginne ich das Geschäft, bei dem Mariele stöhnt und seufzt und, „weiter, weiter“, sagt. Bis ihr Rücken knallrot leuchtet. Dann teilt sie mir gleich aus. Den Schmerz bekämpfen wir damit, dass wir uns gegenseitig einseifen und anschließend abtrocknen. Tja, und dann sitzen wir, Nüsse kauend und in Bademäntel gehüllt, auf dem Sofa und sehen in die Röhre – äh, LED-Dingsbums.

Warum ich das erzähle? Weil ich glaube, das bestimmte Rituale von größter Bedeutung für eine Beziehung sind. Es ist zum Beispiel der Kuss bei der Begrüßung oder beim Abschied, auch wenn du nur zur Arbeit gehst. Es ist ein Streicheln vor dem Einschlafen, das Lächeln beim Erwachen. Die Tür aufhalten. Ein nettes Wort und vor allem festzustellen, dass Liebling beim Friseur war. War sie gar nicht? Egal. ‚Du siehst entzückend aus, Liebling.‘

Es ist: Aufmerksamkeit. Für uns sind all diese winzigen, unwichtig erscheinenden Kleinigkeiten bedeutsame Rituale über die man nicht spricht. Man muss sie tun, um zu sagen: Da bin ich. Für Dich da. Und dazu gehören Spaßrituale, wie gemeinsames Duschen (oder Baden), wo die Berührung wichtig ist.

Principessa geruht, die Füße auf den Couchtisch liegend, zu verkünden, dass Ihro Durchlaucht Hunger haben. Untertänigst murrend erhebe ich mich von meinem Platz, um den Tisch zu decken. Es abendbrotet. Auch ein Ritual, dass wir versuchen einzuhalten. Fragt sich wie lange noch, denn wenn Frau Doktor erst Frau Doktor ist, wer weiß? Madame verlangen, indem sie sich noch bequemer zurechtrüttelt, dass ich gefälligst ohne Bademantel – und das wünscht sie sich? Ich tu‘s und frage mich, was sie davon hat.

„Feddich“, verkünde ich. Mariele öffnet die Arme und empfängt mich zu einer Umarmung. Doch bevor es zu einem Tet’a‘tete kommt, schiebt sie mich von sich.

„Warum bist Du immer noch nicht angezogen? Ungezogener Junge.“ Sie schwebt ins Schlafzimmer, ich tappe hinterher. Um mich anzuziehen und die Dame bei ihrer Toilette zu beobachten.

Es klingelt. Mariele verdreht die Augen. „Wer, zum Teufel, stört. Gehe ER“, sie wedelt mit der Hand, „Er Bube, er! Und sehe Er nach der Tür.“ Umständlich wickele ich mich wieder in den immer noch feuchten Bademantel.

Ich sehe. Und staune.

Birthe!

„Und? Willst Du mich nicht einlassen?“

„Ich will“, sage ich, trete zur Seite. Sie rauscht birtheduftend an mir vorbei. „Mariele?“, ruft sie in den Raum.

„Komme!“

Das klingt nach Ungemach. Ich gehe in die Küche, suche nach Rotwein. Den guten!


Kein Ungemach! Wir erhalten die Mitteilung, dass Birthe und Horst nach München ziehen werden. In einem Monat schon. Horst soll Chefarzt in einem dortigen Krankenhaus werden, Birthe studiert in München weiter und hat schon Kontakt zu einer Kanzlei aufgenommen. Ich gebe ehrlich zu, dass ich das zutiefst bedaure. Wir hatten unsere Freundschaft gerade eben aufgefrischt. Aber so ist das Leben. Natürlich werden wir ihnen helfen und gerne nach München kommen. So oft es geht und umgekehrt. Und wo ist Horst? Was für eine Frage!


Wir überholen den Möbelwagen. Alles von oben bis unten voll, sogar der Hänger. Horst erzählt von seiner neuen Arbeitsstelle und dass er sich freut und der Professor, und überhaupt. Es ist eine Privatklinik. Ich verkneife mir eine entsprechende Bemerkung, sehe die wohlhabende Münchener Witwe, wie sie meinen Freund anhimmelt und über Brustverkleinerung schwafelt. Horst lacht. Nein, das seien wirklich nur kranke Leute.

Am Hermsdorfer Kreuz herrscht Stau. „Ich habe es doch gesagt“, sage ich. Im Stau voraussagen bin ich gut.

„Du sollst nicht immer unken!“

Tu ich nicht. Ich weiß es eben immer im Voraus. Und dass sich der Knoten irgendwann auflöst. „Ich hab‘s doch gesagt!“


Der Aufzug bringt uns nach oben, bis kurz unters Dach. Dort hat Birthe eine Wohnung mit Alpenblick. Bei klarem Wetter. München und Berlin streiten sich seit ihrem Bestehen um die meisten Sonnentage. Mal gewinnt Berlin, mal München. Leider fehlt Berlin der Alpenblick. Wir warten auf den Möbelwagen, trinken Kaffee. Horst ist im Krankenhaus, wo sonst.

Es ist warm. Wenn ich auf die Terrasse trete, sehe ich in der Ferne die Alpen. Sehr hellblau. So hellblau, wie Marieles Augen. Doch die Hand, die sich auf meine Schulter legt, gehört Birthe. „Schön, nicht?“

„Ja, schön.“ Ich rühre mich nicht. „Es macht Fernweh.“

Birthe lehnt an meinem Rücken. „Ja“, haucht sie.

„Mariele?“

„Sie ist in der Küche. Macht irgendwas zu essen.“

„Ach?“

„Ja, ich konnte sie nicht überreden, einen Lieferservice anzurufen.“ Birthe schwingt um mich herum, kann mir nun in die Augen sehen. Ganz dicht steht sie jetzt vor mir. Ich spüre und rieche sie. „Manchmal möchte ich schon mit Dir …“, singt sie leise.

Und ich setze fort: „Ich verlier‘ den Freund, du verlierst den Mann.“

„Essen“, tönt es von innen. Wir gehen hinein.

Bratkartoffeln! Marieles Bratkartoffeln sind ein Gedicht. Selbst hier in München. Birthes Handy meldet sich. Horst kommt gleich. Und noch einmal: Der Möbelwagen ist eben im München einfahren. In einer Stunde – Wunderbar!


Die Möbel und all das andere Zeug, dass nicht unterkommt in dieser Wohnung, landet in einem Speicher. Horst und die Möbelpacker werden den Job machen, denn Mariele und Birthe liegen nahezu bewusstlos auf dem Sofa. Mir geht es nicht weniger besser, nur Horst ist das blühende Leben.

„Sag mal, was hat Du geraucht?“

Mein Nebenbuhlerfreund sieht mich verständnislos an. „Geraucht?“

Ich winke ab. „Lass es.“ Und verschwunden ist er. Birthe und Mariele auch. Sie lassen Wasser laufen im Badesaal. Ich höre sie miteinander reden, verstehe aber kein Wort. Was soll‘s. Ich genieße die plötzliche Ruhe, mache die Beine lang. Die Flasche Bier ist leer. Der Gedanke, aufstehen zu müssen, um Nachschlag zu holen, ist zu abwegig, um ausgeführt zu werden. Also bleibe ich sitzen und schließe die Augen.

„Jetzt bist Du dran.“ Marieles Stimme ist weich, ihr warmer Atem kitzelt im Nacken. Und im Schritt. Ich möchte ins Hotel. Jetzt und schnell. Ich sage es, leise, in Marieles Ohr.

„Nichts da! Ihr bleibt über Nacht“, ruft Birthe. Was haben Frauen für feine Ohren! Und gibt mir einen Kuss auf die Wange: „Bitte, bitte.“ Und: „Ich hole Dir auch ein Bier!“ Und schon ist sie weg.


An alles haben wir gedacht, nur nicht daran, auch etwas zum Essen im Kühlschrank zu haben. Weder für den Abend, noch für morgen. Birthe kennt jemanden, der jemanden kennt, und bestellt Plätze in einem Lokal. Wir lassen uns zum Abendessen fahren.

Der Pinguin am Eingang verneigt sich. Er erkennt Birthe, das sieht man. „Gnä‘ Frau. Die Herrschaften.“ Höfliches Nicken mit einem Touch von Arroganz. Er winkt einem Kellner, der eilfertig herbeispringt. „Tisch siebzehn“, verkündet Pinguin hochnäsig. Wir danken untertänigst, und folgen Pinguin zwei. Ein schöner Platz am großen Fenster. München pulsiert vorbei, zu Fuss, mit dem Fahrrad und Auto. Wir studieren die Menükarte. Es gibt drei Menüs, keines unter hundert Euro. Keinen Appetit.

„Komm schon, du Muffel. Es trifft keine Armen und ihr habt es euch verdient.“ Ich entsinne mich. Aber Currywurst hätte auch genügt. Na gut, dann eben nicht. Birthe sieht mich sehr, sehr beleidigt an. Und Mariele tut das Gleiche. Ja, sie sind Freundinnen. Ich sollte es nicht vergessen! „War nur ein Scherz“, sage ich schnell und bestelle das teuerste, was sie auf der Karte haben. Nur Horst bekommt nichts mit. Er lächelt durchgeistigt. Sein Blick geht in die Ferne. Nein, das hat nichts mit Sex zu tun! „Horst? Currywurst?“

„Jaja. Gerne. Äh, was?“ Er erwacht. „T’schuldigung.“ Nur widerwillig wendet er sich unseren Gesprächen zu.

Na, ich jedenfalls bin gesättigt. Wer hätte das gedacht!


Die Frauen haben sich von uns getrennt. „Geht ihr mal ruhig.“ Mariele schiebt mich zu Horst. „Nun geht schon. Wir haben Weibersachen zu machen.“

„Pinakothek?“, frage ich Horst. Nicken. Also, wenn ich schon mal in München bin, dann muss ich in die Pinakothek. Muss ich!

Horst geht neben mir her. Ich beobachte ihn aus dem Augenwinkel. Sehr konzentriert setzt er Schritt vor Schritt. Dabei ist das Pflaster hier gar nicht so übel. Besser als in Berlin. Und Hundehäufchen sind auch nicht zu befürchten.

Wir nehmen die Straßenbahn. Man gönnt sich ja sonst nichts! Das alte, elegante München rumpelt an uns vorbei, ich sehe aus dem Fenster. Ein bisschen neidisch, weil wir so etwas in Berlin nicht haben. Jedenfalls nicht so geballt. Königlicher Glanz und Gloria. Nicht preußischer Pragmatismus, dem sich selbst die „Linden“ unterwerfen. Und außerdem ist die Straße seit 1990 Dauerbaustelle. Werden die Berliner nie fertig? Nein! Da gibt es immer jemanden, der etwas zu bauen findet. Nur nicht zu Ruhe kommen lassen, diese zu schöne Konkurrenz zum Ku’damm! Aber wir wollen ja niemanden etwas unterstellen.

Zurück nach München: Wir steigen aus, gehen hinüber zur „Alten Pinakothek“. Da breitet sie sich vor uns aus. Der ehemals repräsentative Haupteingang wurde nach dem Krieg durch eine so genannte Plombe geschlossen. Intention war wohl, deutlich zu machen, was Krieg anrichtet.

Innen treffen wir alte Bekannte. Wir sehen sie diesmal im Original: da Vinci, Albrecht Dürer, Tizian, Altdorfer, Greco, Rubens, Rembrandt van Rijn. All die großen „Alten“ der Malerei. Auch Horst taut auf, beschäftigt sich mit den Bildern. „Sieh, hier im Hintergrund.“ Ich sehe genauer hin. Das Leben im Mittelalter. Bauern zu Fuß oder auf hochbeladenen Heuwagen. Landsknechte, die langen Lanzen geschultert, marschieren durch das Tor einer Burg. Ein Reiter, ein feiner Herr, Frauen die Wäsche waschen. Ein Pärchen. Auch damals haben die Leute gelebt. Es war keine dunkle, graue Zeit. Es war das pralle Leben mit all seinen Freuden und Ängsten.

Schmunzelnd stoßen wir uns an. Brouchers „Ruhendes Mädchen“. Wer mag sich das Bild einmal in seine Wohnung gehangen haben? Ludwig der Sonnige? Henry der Geile? Das ist die blanke barocke Lebenslust! Da liegt es, das Mädchen: Auf den Chaiselongue lasziv auf dem Bauch hingesteckt, schaut es nach links. Ihr Körper ruht auf weißem Satin. Der Oberkörper liegt auf die Lehne des Chaiselongues. Braune und beige Farbtöne bilden einen ruhigen Kontrast zu der weißen und rosafarbenen Haut. Man spürt die Lust des Malers den barock-propperen Körper des Mädchens zu zeigen. Eine wenig voyeuristisch, ein wenig unkeusch und schön. In der Nähe „Madame de Pombadur“. Selbstsicher, überlegen, vornehm, mächtig. Eine Frau die Macht hat und ausübt. Die hohen Säle tragen die Bilder der alten Meister mit Eleganz: leichte und schwere, religiöse und ganz private Kost. Wir lassen uns Zeit. Schweigen. Man kann sich setzen, sich in die Bildnisse versenken. Wir tun es ausgiebig, lassen die Frauen ihre Frauensachen besprechen.

München hat jede Mange schöner Kneipen. Horst kennt sich schon aus, wir kehren ein. „Hier soll’s prima sein.“

Es ist prima, das Bier schmeckt, weil es fließt. Nein, es ist nicht voll. Gut besucht ist es. Vor allen von Eingeborenen. Sie sitzen vor ihrem Weißbier oder einem Massss! Das Literglas heißt so: Maß. Aber man spricht nicht Maß sondern, Masss! Mit vielen S hinten dran. Hacksen gibt es und Händ‘l, Weißwurscht und Wurstsalat und Brotzeit. Ich entscheide mich für Weißwurst und freue mich auf das Zutscheln. Horst nimmt die Brotzeit. Sein Fehler. Ich weiß, dass er sie nicht aufessen wird.

Dann wird es aber auch Zeit. Nach dem dritten Massss schaukeln wir nach Hause. Mit der Straßenbahn! Nach dem Aussteigen stellen wir fest, dass wir schwarz gefahren sind und lachen schadenfroh. Sicher wird eines der Vorstände der Verkehrsbetriebe morgen und immerdar am Hungertuch nagen.

Die Damen erwarten uns bereits. Auch ihre Augen glänzen und sie lachen über Dinge, über die ein nüchterner Mensch nie lachen würde. Wir versuchen ein kulturvolles Gespräch, schweifen ab und landen beim „Ruhenden Mädchen“. Horst beschreibt es bildhaft, Mariele grinst versonnen, Birthe schmutzig.

„Nein“, erkläre ich den Damen, „ihr könnt uns nicht verführen. Ihr nicht!“ Diese Aussage ruft unverständliche Heiterkeit hervor und den Vorschlag das „ruhende Mädchen“ nachzustellen. „Geht nicht“, werfe ich ein.

„Warum?“

„Mädchen …?“

„Ha!“, ruft Birthe in den Raum. „Wir werden es euch zeigen.“

Sie zeigen.

Frauen haben doch so oft Recht.




Noch ein Tag in München


Wir besuchen Horst in der Klinik. Ich erschrecke etwas über die Größe. Meinen beiden Frauen (Verzeihung, Horst) geht es ebenso. „Oh Mann!“. Die freundliche Dame an der Rezeption weist uns den Weg. Wir begeben uns auf die Wanderschaft über endlos scheinende Gänge und mit unzähligen Aufzügen. Es ist ein hübsches Krankenhaus, aber es ist eins. Der Geruch nach Desinfektion ist dezenter, die Schwestern und Pfleger, die uns begegnen lächeln freundlich und grüßen: „Grüß Gott.“ Das mache die Herren und Damen in den besseren weißen Kitteln ebenfalls. Eine weiße Wolke begegnet uns. Sie entsteigt einem Zimmer, schwebt schweigend und duftend an uns vorbei und verschwindet im nächsten Raum. „Grüß Gott…“, hören wir, dann schließt sich Tür dezent hinter den Göttern. Es gibt auch Patienten. Aber es sieht alles etwas privater aus, gepflegter, ruhiger. Die Wände, die Bilder daran, selbst der Handlauf und die Beschilderung. Jetzt weiß ich, warum ich solch hohe Beiträge bezahle.

In der Chirurgie werden wir erwartet. „Herr Doktor kommt sogleich“, flötet Schwester Samanta. Steht auf dem Schild auf ihrer Brust, die sich mir ausladend und wenig verpackt entgegenreckt. Samanta hat weiße Haut auf der ein silbernes Kruzifix an einer dünnen Kette klebt. Sie zeigt auf ein paar Lederbänke. Mariele sieht sich um. „Aha! Ein Automat. Wer will Kaffee?“

„Alle“, sagt Birthe.

Dann kommt er, der Herr Chirurgius. „Birthe, Mariele! Ich freue mich.“ Er küsst ihnen die Wangen. „Und, Du hier? Im unbeliebtestem Gebäude der Welt – nach Deiner Sicht?“

Ich grinse, schüttle seine weichen Hände. „Was soll man tun.“

Horst setzt sich zu uns, nachdem er sich ebenfalls einen Kaffee geholt hatte. Er beschreibt mit glänzenden Augen seine Station. Lobt die Ärzte und Schwestern. „Ich fühle mich hier pudelwohl, glaubt ihr mir?“

Wir glauben. Berichten von unseren Heldentaten und dass die Wohnung nun wieder bewohnbar wäre.

„Ihr glaubt gar nicht, wie mich das freut.“ Horst sieht sich um, als erwarte er einen Ruf. Und da kommt er schon: „Doktor? Wir sind bereit.“

Eine dringende OP. Abgelenkt verabschiedet sich Doktor Horst. Er winkt noch kurz, und ist weg.

„Tja“, sagt Birthe leise. „Gehen wir. Es ist ja auch schon Mittag.“



Sommerszeit

 

Einmal wissen dieses bleibt für immer
ist nicht Rausch der schon die Nacht verklagt
ist nicht Farbenschmelz noch Kerzenschimmer
von dem Grau des Morgen längst verjagt

City

 

 

Sonntags, am späten Nachmittag

 

Wie freundlich! Die Ostsee treckt sanft aufs Ufer. Ein ablandiger warmer Wind streicht über unsere Haut. Zwischen den Zehen dringt trockener, feiner weißer Sand. Die Küste gönnt uns: Sommer.

Mariele hängt an meinem Arm, den Kopf gegen meine Schulter gelehnt. „Wie schön.“ Sie flüstert, als wenn sie die Wellen beim Leiserauschen stören würde. „Aber noch ganz schön belebt.“

Nun ja. So dicht am Ort ist das halt so. Morgen sind wir weiter rechts, dort, wo wir auch wohnen.

Die Semesterferien wollte Mariele an der Ostsee verbringen. Gerne, warum nicht? Die letzte Insel Deutschlands im Nordosten ist von Berlin aus am ehesten zu erreichen. Und angeblich soll es hier mehr Sonnentage geben als in Berlin.

Wir fahren über die Kaiserbäder weiter bis hinter Koserow. Als Schlechtwettervariante habe ich diverse Museen und Ausstellungen auf meiner – neudeutsch – Agenda. Doch der Wetterfrosch versprach noch gestern durchgehendes schönes Wetter. Mariele sprang durch unsere Wohnung. Sie zeigte mir Kleider, T-Shirts, Hosen, Unterwäsche und Bademode. Wie süß - Mariele kann sich freuen, wie ein kleines Mädchen. Hat sie sich auch verdient. Alle Klausuren und Zwischenprüfungen mit eins oder besser. Langsam bekomme ich mehr als nur Respekt. „Pack ’s ein“, nickte ich ergeben. Und dachte: Brauchste eh nicht. Und um ihr ein wenig entgegen zu kommen, ergänze ich: „Du bist auch in Sack und Lumpen schön. Aus dir wird nie ‘ne ordentlich Berberin.“

„Tzs!“ Und packt.

 

Jetzt aber stehen wir am Strand und sehen auf das Meer. „Die alte Frau und der Meermann.“ Mariele sieht zu mir auf. Sie grinst mich zufrieden an. „Ich freue mich auf morgen.“ Ich auch. Ich freue mich auch schon jetzt. Eine warme, weiche Mariele an meiner Seite, ein Abendessen zu zweit, eine Nacht bei milder Ostseeluft. Am Strand?

Yaeh! Wir tun es! Die Sonne geht unter. Knallrot. Sie färbt den Himmel von leuchtend Zinnober über orange, gelb bis grün. Die dünnen Wolkenstreifen nehmen die Farben auf. Weiter im Osten sind sie fast schwarz. Alles das findet sich im spiegelglatten Meer wieder. Noch leuchtet der Sand hellgelb, der Dünenwald dahinter ist bereits dunkelblau. Ein paar Möwen streiten sich lauthals über einen toten Fisch. Ich sitze, Mariele liegt auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Sie atmet tief ein und aus. Ihre ganze Körperhaltung drückt tiefste Zufriedenheit aus. Hat sie auch allen Grund dazu, meine Mariele. Etwas in mir bewegt mich. Es ist ein Kribbeln im Bauch. Kann Liebe sich so schmerzhaft angenehm anfühlen? Ein Pärchen geht vorbei. Eng umschlungen ziehen sie dem Sonnenuntergang entgegen. Sie trägt zwei Gläser in der Hand, er eine Sektflasche. Es erinnert mich an unsere Mitbringsel. Die Gläser drücke ich in den Sand, bis sie einen festen Untergrund haben. „Ein Gläschen Roten?“, frage ich Mariele, die langsam die Augen aufschlägt. Sie kommt aus einer ganz besonderen Frauenwelt zurück. Eine Welt, von der weder ich, noch andere Männer etwas verstehen. Mariele nickt, richtet sich auf. „Das war schön, eben“, stellt sie fest.

„Was?“

„Das. Das Liegen, die Ruhe …“

„… und ich habe Dich gestört.“

Sie streichelt mir über die Wange. Etwas Sand bleibt haften. „Nicht doch, Lieber.“ Sie nimmt das Glas entgegen, sieht durch die dunkelrote Flüssigkeit in die untergehende Sonne. „Rot, alles rot.“

„So müsste es immer sein. Warm, leicht, ein ewiger Sonnenuntergang, und Du an meiner Seite. Rotwein trinkend.“

„Und unendliche Langeweile.“

„Stimmt.“

Wir küssen uns lange. Hinter uns sagt jemand: „Pause.“ Doch es klingt gemütlich, weshalb der Pause-Rufer ignoriert wird. An Marieles Armen spüre ich Gänsehaut. „Ist Dir kalt?“, frage ich in einer Kusspause. Kopfschütteln. Dann muss es etwas Anderes sein. „Nach Hause?“ Kopfnicken. Wir gehen. Langsam. Eng umarmt. Sie sollte nicht diese Shirts tragen. Man sieht ja alles. Man sind schon einer zuviel! Es genügt, wenn ich es sehe.

 

Montag


Ein Sonnenstrahl dringt durch den Spalt in den Vorhängen. Es ist warm, ich liege oben auf dem Deckbett. Faul drehe ich mich nach rechts. Da liegt Mariele. Ebenfalls auf dem Federbett. Im Dämmerlicht leuchtet ihre Haut. Sie duftet verführerisch. Ich rolle zu ihr – und wieder zurück. Schweiß. Ich habe sofort einen Schweißausbruch. Das kann ich uns nicht zumuten. Als ich das Fenster weiter öffne, höre ich hinter mir eine verschlafene Stimme. „Claire noch müde. Und klein Claire will noch gaanich aufstehs.“ Ich muss grinsen. „Aber klein Wölfchen ist schon aufgestanden“, stellt sie fest. Welches Wölfchen meint sie jetzt? Ach so! Klein Wölfchen! Mariele liegt auf dem Rücken, die Arme weit geöffnet. Ich nehme die Einladung an, lege mich neben sie.

„Weissu was?“

„Nö.“

„Ich will gaanich an S-trand.“

„Und warum nicht, Mariechen?“

„Du solls nich immer Mariechen gesags habs. Also, ich will nich an S-trand.“

„Ich habe es gehört.“

„Weil, ich habe so weiße Haut, weissu.“

„Aber deswegen gehen wir ja an den Strand.“

„Wegen der weißen Haut?“

„Ja, äh, nein, doch.“

„Also, weissu“, sie streichelt Klein Wölfchen. Ich werde schwach.

„Lass das, Mariele.“ Ich seufze. Sie grinst diabolisch. „Wir gehen – an den – Mariele! – Strand, damit wir …“


Eine Stunde später gehen wir an den Strand. Mariele schmunzelt zufrieden vor sich hin. Leicht tänzelnd geht sie neben mir, dem, der sich mit unglaublich vielen Strandutensilien abschleppt. Schwitzend begehen wir den Strandzugang.

Vor uns öffnet sich unser ersehntes Ziel. Mariele weist nach rechts. „Da, seh mah! Da ist viel Platz. Und dort, und da auch!“ Sie reißt die Augen auf. „Und die sind ja alle – alle …“

„… nackt. Ja. Zucke mit den Schultern.“

Sie schweigt. Steht wie angewachsen, den Kopf gesenkt. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie das Treiben der Strandbesucher. Mit einem Mal sagt sie: „Wir gehen dorthin.“ Und stapft los. Dann steht sie wie ein Feldherr auf dem nach ihm benannten Feldherrenhügel. „Hier.“ Und setzt sich in den Sand. „Nun, Johann?“

„Gnä‘ Frau?“

Sie macht eine große Geste. „Ich warte, Johann“, näselt sie.

„Sofort, gnä‘ Frau, sofort.“ Ich beginne aufzubauen. Erst den Picknickkorb angeordnet. Dann die Strandsessel ausgeklappt und in Richtung Meer aufgestellt. Ich mühe mich mit der Strandmuschel ab. Gnä‘ Frau beobachten das ganze gelassen aus ihrem Sessel. „Der braucht, der Mann.“ Sie hat ja schließlich Ferien!

Geschafft! Ich brauche Wasser, für den ganzen Körper. „Los ab in die Ostsee!“

Mariele sieht mich an. „Jetzt?“

„Was sonst? Wenn nicht jetzt, wann dann?“

“Aber ich habe …“

„Nichts anzuziehen? Sieh Dich um. Alle haben hier nichts anzuziehen.“

„Die Ärmsten.“ Sie erhebt sich aus dem Sessel. Langsam beginnt sie, ihre Kleidung abzulegen. Ich sehe zu, und schwitze. Sie sieht sich unsicher um. „Und du?“

„Jaja.“

Wir gehen Hand in Hand zum Ufer. Die Ostsee ist immer noch ruhig. „Guck mal“, sagt Mariele, „Das sind ja nur Müggelseewellen!“ Sie prüft mit dem großen Zeh die Wassertemperatur. „Kühl, nich?“

„Geht.“

Sie nimmt meine Hand. Danke sagt sie, mit nur einem Blick. Dann gehen wir los. Und beginnen zu laufen und zu guter Letzt rennen wir und fallen aufschreiend und prustend und platschend ins Salzwasser. Dann schwimmen wir zur Sandbank.

Wir sehen zum Ufer. „Wunderschön.“ Mariele umfasst mich um die Hüfte. Ihre Haut ist kühl. Sie schaut zu mir auf, ich sehe in ihre wasserblauen Augen, ihr Haar klebt nass auf ihren Schultern. „Warum sind Männer immer so warm?“ Sie dreht sich zu mir und schmiegt sich an mich. „Pass auf Wölfchen auf“, flüstert sie. „Musst Du“, flüstere ich zurück.


Wir brutzeln in der Sonne. Mariele riecht wie eine ganze Cremefabrik. Sie hat Schutzfaktor zwanzig aufgelegt und glänzt wie eine Speckschwarte. „Warum so viel?“

„Glaubst Du, ich will aussehen, wie eine Rothaut?“ Sie bietet die Tube an, ich lehne dankend ab.

„Wehe, Du jammerst.“ Aber ich doch nicht!

Wir gehen wieder baden. Um Mariele bildet sich ein schimmernder Fettfilm. Wir spielen, jagen uns, bzw. Mariele mich, tauchen und nutzen die Möglichkeiten zu kleinen Neckereien. Und dann wieder in die Sonne, bis die Haut knistert. Ich weiß, dass ich Sonnenbrand bekommen werde. Doch morgen ist das alles nur noch Bräune.

„Und“, frage ich Mariele. Sie sieht mich an, dann versteht sie.

„Ja, schön. Unerwartet schön.“ Ihre Hand sucht meine. „Es ist ein freies Gefühl, weißt Du?“ Ich nicke.

„Meine Eltern sind immer nur an die Nordsee gefahren. Da war alles so“, sie sucht nach dem passenden Wort, „anständig?“

„Ist es hier unanständig?“

„Es ist hier anständig. Es ist ruhig. Die Leute sind gelassener und sie sind – freier! Verstehst Du?“

„Ja. Deshalb habe ich Dich hierhergeführt.“

„Schön.“ Sie lehnt sich zurück und ich bewundere ihren Körper und die weiblichen Rundungen. “Und ja“, murmelt sie, ohne die Augen zu öffnen, „Ich würde mit Dir sofort ins Bett gehen.“

„Ich auch“, sage ich.

„Geht nicht“, murmelt Mariele. „Ich bin voller Creme, da rutschst Du ab.“ Schließt den Mund und schläft einfach ein. Ihre Brust hebt und senkt sich ruhig und regelmäßig. Die Arme liegen locker auf den Armlehnen, die Beine streckt sie aus, soweit es geht. Gänsehaut und ihre Knospen, sehe ich, sind aufgerichtet. Und ich will nicht wissen, welche Traumbilder sie jetzt sieht.


Aber irgendwann ist es genug. Ausgeruht und müde schleichen wir zurück. Abendessen wartet. „Du musst mir das ganze Zeuch von der Haut waschen, nachher.“

„Ja sicher doch“, sage ich, „Zu diesem Behufe habe ich eine Handvoll Sand mitgenommen.“

„Sand? Bist Du verrückt?“

„Doch, doch. Schon Herfried der Sandige hat seinen eingeölten Alabasterkörper mit Sand abreiben lassen. Das ist mittelalterliches Peeling.“

Mariele hat die Hände frei und kann unbesorgt einen Vogel zeigen. In der Dusche dann steht sie, die Arme erhoben. Ich bedrohe sie nicht, sondern reibe sie mit Seife ein. Sie schäumt. Und dann tut sie es mit mir. Nun schäumen wir beide und lachen. Aber diese furchtbare Creme geht ab.

„Du hast übrigens Sonnenbrand“, verkündet Mariele schadenfroh. Sie dreht und wendet sich, sieht an sich herunter. „Ich nicht, siehste!“

Es brennt leicht, als Mariele mich abrubbelt. „Klein Wölfchen auch?“ Natürlich, was denkt sie denn?


Dienstag


Wiederholungstäter. Wir sind Wiederholungstäter. Das dürfen wir auch sein, denn wir haben Urlaub. Und nicht mehr zu tun, als uns auf den Weg zu machen, um dann am Strand herumzuliegen. Der Himmel ist heute ein wenig blasser als gestern. Aber die Sonne brennt noch heiß. Wir haben den gleichen Platz eingenommen wie gestern. Und das Picknickkörbchen ist besser gefüllt als gestern. Und Bücher haben wir auch nicht vergessen. Zum Glück!

Ich lese „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Erinnerungen und Bilder kommen auf, auch wenn Fontanes Beschreibungen uralt sind. Da beschwert sich der Gute tatsächlich über den weiten Weg von der Eisenbahn nach Rheinsberg. Und was tut der gute Mann zuerst: Geht in den Ratskeller (Dazu kommen wir noch, Herr Fontane) und danach in die Kirche. Er ignoriert das Schloss!

„Sach mah…“

„Ja?“ Schade dass wir nicht mehr Rheinsberg spielen.

„… Wölfschen.“

Ich muss grinsen. „Ja?“

„Was denkst Du gerade?“

„Nichts. Ich lese.“

„Weisst Du, an was ich denke?“ Ich klappe das Buch zu. Mit Nachdruck. Aber Mariele tut, als merke sie nichts.

„Nein, ich weiß nicht, an was Du denkst.“

„Typisch Mann.“ Sie stellt fest, sie wirft nicht vor. „Ich denke an Birthe.“

„Warum jetzt gerade?“

„Naja“, sagt Mariele. Sie richtet sich auf. Ich bin abgelenkt. Ihr Busen leuchtet rot. „Du hast Sonnen…“

„Das ist nicht wichtig.“ Sie greift mit beiden Händen nach ihren Brüsten. „Autsch!“ Empört schaut sie auf die roten Äpfelchen. „Sonnencreme vergessen.“

„Siehste.“ Doch sie hat sofort ihre Brüste vergessen, denn am Bauch und an den Oberschenkeln leuchtet sie auch wie eine Ampel. „Verdammt! Warum hast Du nichts gesagt?“

„E moi?“

„Oui! Und nun?“

„Bepanthen. Habe ich mit.“

„Gut. Also, was ist mit Birthe?“

„Das fragst Du mich? Du bist doch ihre Freundin.“

„Stell Dir vor. Seit wir in München waren, hat sie sich nicht mehr gemeldet.“

„Und Du?“

„Iiich? Warum ich?“

„Tja.“ Ich lehne mich zurück, obwohl ich meinen Blick nicht von dieser schönen Frau lassen kann. Es gibt mir einen Stich in die Magengegend. Was für ein Glückspilz ich doch bin! Demonstrativ öffne ich mein Buch. Natürlich auf der falschen Seite und muss die Stelle suchen. Wozu hat man einen Daumen als Lesezeichen. Aber man sollte ihn auch benutzen! Mariele liegt auch wieder und zieht einen Schmollmund. „Warum immer ich?“, murmelt sie. Raschelnd erhebt sie sich von der Decke, kriecht auf allen Vieren zur Standmuschel.

„Wölfchen?“

„Ja, Clair. Verdrehe die Augen.“

„Verdrehe die Augen! Das steht in Klammern. Wo ist mein Handy?“

„Zuck die Schultern.“

„Du weißt es also nicht.“

Ich drehe den Kopf in ihre Richtung. Ein nahezu weißer Hintern leuchtet aus der Strandmuschel und wackelt hin und her. „Es muss doch hier sein. Ich hab‘s doch mitgenommen.“

„Ähm, Marielechen?“

„Stör mich jetzt nicht.“

Gut. Ich schweige und genieße den Anblick. Ich darf das. Ich bin ihr Mann.

„Mann!“

„Dein Handy ist …“

„Stör mich nicht.“

„Gut.“

Sie schießt herum. Wie sie aussieht; Die Haare wirr, aufgerissene Augen. „Was weißt Du?“

Ich lehne mich zurück. „Kuss. Hier.“ Ich zeige auf meine Lippen. Mariele spring auf. Sie stemmt die Fäuste in die Seiten. „Ja glaubt Er denn, Er Bube, dass Er mich erpressen kann?“ Sie beugt sich dabei leicht vor. Wie süß. Weiter so, denke ich und meine Blicke sagen wohl das selbe. Und weil ich gleich mein Leben verlieren werde, denn Mariele nähert sich mir bedrohlich, hebe ich die Hand. „Will Er mich schlagen, Grobian?“ Die Leute umherum sehen schon eine Weile zu und lächeln. Ein schönes Schauspiel, dass die beiden hier aufführen!

„Um Gottes …! Gnädigste Gräfin! Was denken Euer Durchlaucht von mir?“ Sicherheitshalber weise ich mit dem Finger der rechten Hand auf ihren Strandsessel. Mariele dreht sich, immer noch knieend, in die angegebene Richtung. „Ach, da isses ja“, sagt sie ruhig, schnappt sich das Objekt der Begierde, nimmt Platz, wie nur eine Mariele es kann und ist beschäftigt. Die Zuseher wenden sich uninteressiert ab. Passiert nichts mehr. Sind eben komische Leute, die – die da, aus Berlin.

Marieles Finger jagen über das Display. Piiep. Mit zufriedener Mine hebt sie das Handy in die Höhe. „So!“

„Was, so?“, frage ich.

„Birthe. Ich habe angefragt, wie es ihr geht.“

„Ah so!“ Eigentlich bin ich zu faul, mich mit Birthe und ihrem Leben zu beschäftigen. Diese Mariele neben mir hält mich genug in Trab.

„Interessiert es dich nicht auch?“

Ich lege das Buch zur Seite. Grinse „Um ehrlich zu sein, nein.“

„Deine Lieblingskurtisane kümmert Dich nicht mehr? Hast sie schnell abgelegt, Schuft!“

„Also, hör mal“, sage ich empört. „Lieblingskurtisane. So darfst Du Birthe nicht nennen. Das ist, also, das …“

„Pscht!“, macht sie. Ihr Handy piepste und zwitscherte. Eine Antwort. Aber warum ich still sein soll, weiß der Himmel.

„Birthe.“

„Ach?“

„Was heißt hier ach?“ Murmelnd öffnet sie die Nachricht.

Ich frage uninteressiert: „Und?“

Schweigen.

„Hast Du mich gehört?“

„Sie ist unterwegs. Oh Gott! Sie kommt hierher.“

„Lass uns packen und fliehen.“ Natürlich haben wir nicht die geringste Absicht vor Birthe zu fliehen. Aber warum kommt sie allein?

„Kommt sie allein?“, frage ich sicherheitshalber.

„Keine Ahnung.“

„Dann frag sie doch, Claire.“

Mariele schmollt. Sie sieht zu mir herüber. „Das habe ich doch schon längst getan, Wolf.“ Schweigen. Sie beobachtet das Display. Nichts passiert. Seufzen, Zwitschern. Marieles Finger jagen über das Glas. „Sie kommt allein“, teilt Mariele mit. Leise atme ich auf. Wenn schon Birthe, dann bitte ohne Horst. Bin ich etwa eifersüchtig auf Horst? Es ist seine Birthe. Aber, denke ich eigennützig, er stört. Und ich grinse zufrieden.

„Grinse nicht so zufrieden.“

„Hat sie geschrieben, wann sie eintrudelt“, lenke ich ab.

„Nö.“

„Dann lass uns sonnen.“

„Jep.“ Das Handy fliegt in die Strandmuschel. „Baden.“

Ich bin so aufgeheizt, dass ich nicht die geringste Lust auf Abkühlung verspüre. „Geh nur, Claire“, murmele ich schläfrig, „Ich passe derweil auf unsere Schätze auf.“

„Muffel.“ Sie steht auf. Nein, sie erhebt sich, dreht sich mit einer unnachahmlichen Grazie um und marschiert zum Ufer. Ich sehe ihr hinterher, merke, ich bin nicht der einzige, und bin stolz-eifersüchtig.


Die Sonne steht schon tief, als wir uns zum Hotel zurückschleppen. Meine Haut brennt, Mariele schwebt neben mir her und schwätzt unablässig davon, wie schön das Wasser gewesen wäre, das ich ein Schmuddelfink sei und nach Schweiß röche. Mich beschäftigt das Wort Schmuddelfink. Ich wälze es in meinem Kopf und komme auf Schmutzfink. „Schmutzfink“, korrigiere ich, aber da ist Mariele bereit bei einem anderen Thema. Dass ihre Haut austrockne, wenn sie so oft in der Sonne läge und sie Falten bekäme und unansehlich werden würde. Und ich ihr weglaufen täte – sie sagt tatsächlich ‚täte‘! Ich schüttele den Kopf. Reden kann ich nicht, mein Mund ist ausgetrocknet, wie das Death Valley und mir tut die Schulter weh, von dem ganzen Strandzeug das an mir hängt. Aber da erreichen wir bereits das Hotel.


„Weißt Du, dass Du einen Knackarsch hast, Wölfchen?“ Ich muss grinsen. Mariele steht in der Tür und sieht mir beim Duschen zu. „Und schön braun biste.“ Sie sieht an sich herunter. „Ich bin nur rot. Bubu!“

„Aber ganzkörperrot. Keine alberne weiße Stelle. Kannst Dich überall sehen lassen.“

„Ähm, wann gehe ich denn mal nackt aus?“ Sie dreht den Kopf, schnappt sich einen Bademantel. „Is was?“, frage ich.

„Es hat geklopft.“

„Dann mach die Tür …“ Weg ist sie!


„Wie hübsch!“ Die Stimme kenne ich. Sie ist etwas dunkel, weich und ein leichter Touch von Arroganz klingt mit. Und ganz wenig bayrisch. Birthe! „Und ein Knackarsch!“, ruft sie. Jetzt wird es mir langsam peinlich. Aber ich kann mich nicht wehren, denn der Schaum des Haarschampoon läuft mir über die Augen. Ich spüre mehr, als dass ich es erkennen kann, dass die Duschtür aufgeht und mir Jemand (Birthe? Mariele?) auf den Hintern haut. Na wartet, das schreit nach Rache. Aber bevor ich in der Lage bin, etwas zu tun, geht die Tür wieder zu. Birtheduft bleibt trotz der Seife.


Birthe sitzt Hand in Hand mit Mariele auf dem einzigen Sofa des Zimmers, ich quetsche mich in den Sessel. Meine Lieblingsfreundin sieht lächelnd auf. Ihr Gesicht lächelt, ihre Augen nicht. Sie sind tief und dunkel. Augen lügen nicht. Sie sind der Spiegel zur Seele. Sagte ein weiser Mann.

Ich sehe in die Spiegel. Da sind Sorgen, Ängste, Befürchtungen. Sie stammen aus einer früheren Zeit, lange vergessen! Aber sie bleiben, warten auf den Moment, dass sie hervortreten können. Sie warten auf den Anlass. Eine Kleinigkeit vielleicht, zum Beispiel ein vergessener Hochzeitstag, ein mysteriöser Anruf (natürlich von einer Frau). Man kann nichts dagegen tun. Es kommt einfach. Und es ist schlichte Angst, abgelegt, vergessen zu werden. Nicht mehr den Wert zu haben, wie vorher.

Ich frage nur eine Frage: „Horst?“ Und in das schweigende Nicken hinein: „Fremdgegangen?“ Kopfschütteln. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich muss ihn also nicht vor die Klinge fordern. Und ahne, worum es geht. Birthe ist einsam, weil unser fleißiger Horst Arbeit überschätzt. Ich sehe Mariele in die Augen. Nein, nein, sagen sie. Ich nicht!

Mein Magen knurrt mitten in die Stille des frühen Abends. Laut und vernehmlich.

Mariele steht auf. „Gute Idee“, lächelt sie, zieht Birthe hoch. „Mit leerem Magen ist schlecht Kunst machen.“


„Wie schafft sie das nur? Ich muss Wochen vorher reservieren und diese Person kommt einfach her und hat ein Zimmer.“

„Ist eben Birthe. Finde Dich damit ab. Hat sie mir Dir geredet?“ Mariele und ich liegen dicht beieinander. Ich schüttle mein Haupt. „Nö.“

„Sie hat Probleme.“

„Gute Beobachtungsgabe, Frau angehende Professor.“

„Angehende Frau Professor. Ich denke, Du hast Deutsch gelernt.“

„Egal, und Du hast Recht.“ Ich hebe ein wenig den Kopf. „Ich habe es in ihren Augen gesehen. Aber wenn sie hergekommen ist, nur um …“

„… Abstand zu bekommen? Kann sein.“

„Dann lass es uns so machen: Warten. Und ihr ein paar schöne Tage gönnen.“

Mariele gähnt ausgiebig. „Genau. Lass uns Urlaub machen.“ Und kuschelt sich an mich.

„Sag mal, hast Du dieses Spitzendingens mitgenommen?“

Und Mariele steht auf. Was denn? Hab‘ ich was Falsches gesagt?

„Meinst Du das?“

Und mir bleibt die Luft weg. Urlaub?




Mittwoch


„Was machen wir heute?“ Birthe reibt sich die Hände wie ein Kaufmann nach einem guten Geschäft.

„Sonnen. Wir sind hierhergekommen, um uns zu sonnen. Und Du?“ Zugegeben, es klang ein wenig spitz. Birthe blickt von ihrem Brötchen auf, das sie hingebungsvoll mit Butter bestreicht.

„Gute Idee“, sagt sie ungerührt und streicht weiter.

„Sag mal, Du kommst doch aus Bayern?“

„Nicht ganz. Geboren wurde ich in Niedersachsen, wie Du unschwer Dich erinnern kannst.“

„Ah ja. Dann wird es Dir nicht schwerfallen mit uns an den Strand zu gehen.“

„Das habe ich vor.“

Wir essen schweigend. Birthe legt den Rest ihres Brötchens auf den Teller. „Was ist?“. Sie fragt mich. Nun ja, ich habe ja auch mit ihr gesprochen. Mariele sitzt schweigend daneben. Sie lächelt. Warum lächelt sie?

„Tut mir leid. Ich meinte nur, dass wir FKK machen. Und da habe …“

„… ich gedacht, die Birthe aus Bayern hat sich so?“

„Hmhm.“

„Denn hör mi man tou, min Jung. Ick bün schon nackich inne Leine geswommen, dor hast Du noch inne Windel gemaacht, nich?“

Wir lachen. „Und ich hatte schon befürchtet, Du willst mit uns an den Textilen.“

„Nee, du!“

„Tatsache?“ Mariele ist erwacht. „Ihr seid nackich in die Leine gesprungen?“

„Durfte ja keiner wissen.“ Birthe lehnt sich zurück. Erinnerungen kommen auf. „Da waren wir fünf, sechs Jahre alt. Wenn unsere Eltern das erfahren hätten …“ Sie sieht versonnen an die Decke des Speisesaales. „Und später dann, so mit vierzehn, fünfzehn auch. Abends, mit den Jungens. War das aufregend!“

Kann ich mir vorstellen. Besonders für die pubertierenden Knaben, die alles tun mussten, um irgendwie cool zu erscheinen. Waren ja andere Zeiten, oder?

„Die Jungen mussten sich auch ausziehen.“ Birthes Lächeln bekommt etwas Diabolisches. „Da saßen sie dann am Ufer, hielten ihre Schniedel mit den Händen bedeckt. Und wir sind vor ihnen herumgesprungen und haben gelacht.“ Sie sieht mich an. Mich! „War nicht nett. Aber dort habe ich mir meinen ersten Kuss geholt.“

„Erzähl.“

„Wenn wir am Strand sind.“


Birthe sieht sich um. „Hier gefällt es mir.“ Dann liegen wir im Sand, auf unseren Decken. Birthe zwischen Mariele und mir. „Und weiter?“, dränge ich.

„Unter den Jungen dort an der Leine, war ein ganzer süßer. Dunkle Haare, dunkle Augen. Seine Großeltern waren Italiener. Ich glaube er hieß Franco oder Francesco. So ein Stiller, der kein großes Gewese um sich macht. Ich war knapp sechzehn, er ein Jahr älter.“ Birthe liegt auf dem Rücken. Die Hände entspannt auf dem Bauch. Ihr Busen hebt und senkte sich ruhig. „Er konnte so toll erzählen. Später hörte ich, dass er Autor beim Film geworden war.“ Mariele liegt jetzt auf der Seite. Sie beobachtet Birthe und mich. Deutlich unauffällig, wie ich merken soll. „Jedenfalls, eines Tages zogen die anderen langsam Leine, wir blieben noch sitzen und beobachteten die Sonne beim Untergehen. Da nahm er meine Hand und küsste sie. Es war das erste Mal, dass jemand meine Hand geküsst hatte. Es ging mir durch und durch. So ein schönes, warmes Gefühl (Ich verstehe, was sie meint; mir geht es ebenso, wenn ich Marieles Hand küsse).“ Birthe sieht zu Mariele. Die nickt zustimmend. „Und da habe ich mir den Franco gegriffen, zu mir heruntergezogen und geküsst. Wir haben erst aufgehört, als es kühl wurde.“

„Und dann?“ Mariele ist gespannt wie ein Flitzbogen.

„Das war‘s.“

„Wieso?“

„Weil er am nächsten Tag mit seinen Eltern nach Hamburg gezogen war. Er hatte sich wohl nicht getraut, mir das zu sagen.“

„So ein Doof.“ Mariele ist ehrlich empört.

„So schlimm war das auch wieder nicht. Ich hatte etwas gelernt.“

„Und das wäre?“, frage ich schläfrig.

„Dass küssen etwas ganz Wunderbares ist.“

„Stimmt“, sagen Mariele und ich gleichzeitig und sehen uns an. Mariele lächelt und mir wird heiß. Ich glaube, ich gehe jetzt ins Wasser. Das sage ich auch laut und dann rennen wir drei in die Ostsee, und das Wasser spritzt und ist kalt und wir schreien und kreischen. Und sehen uns auf der Sandbank wieder (Sie erinnern sich? Schlechter Schwimmer).

Da stehen wir nun, wie Gott und Natur oder wer auch immer uns erschaffen haben, fühlen uns wohl und verliebt und sehen zurück zum Ufer. „Schön ist es hier.“ Birthe. Und wir nicken und halten uns an den Händen.


Während des Abendessens stellen wir Betrachtungen an, wie braun wir diesmal geworden sind. Und kommen in Streit darüber, weil ich ja keine Sonnencreme – und meine Haut sowieso – und Frauenhaut viel empfindlicher ist. „Männer! Geben immer nur an.“ Sagt Birthe, und die muss es ja wissen.

„Wieso?“

Doch die Schöne schweigt. Kaut an ihrem Stück Fleisch. „Ich bin müde“, sagt sie unerwartet. Sie steht auf, gibt mir und Mariele einen Kuss auf die Wange und geht.

Ich sehe zu Mariele, die guckt mit großen Augen ihrer Freundin hinterher: „Was war das denn eben?“

„Zuck die Schultern.“ Auch ich erhebe mich, nehme Marieles Hand und ziehe sie hoch. „Komm, Verdauungsspaziergang machen.“

Das tun wir ausgiebig, bis Wolken vom Westen kommend aufziehen. Die Sonne geht gelb unter, etwas farblos. Sie wärmt nicht mehr, oder liegt es an unserer angebratenen Haut? „Komm“, sagt Mariele leise, „Lass uns nach Hause gehen.“

„Zeigst Du mir dann Deine neuen Dessu– „

„Nein.“

Puh.


Sie tut es doch! „Setz Dich hierhin“, sie drückt mich in den Sessel. „Und nicht schmulen.“ Damit verschwindet sie im Bad. Ich höre es rascheln und leises Rauschen. „Jetzt! Augen zu.“ Ich tue, wie geheißen. Warum soll ich uns den Spaß verderben? „Augen auf.“

Vor mir steht Mariele. Verändert irgendwie. Ein halb- nein sechzehntel bekleideter Vamp. Sie hat die Haare auf den Rücken gekämmt, hält das Kinn erhoben, sieht aus großer Höhe auf mich herab. Mein Blick folgt langsam, ganz langsam ihrem Körper. Aber erst verharre ich bei ihrem Gesicht. Sie ist so schön! Ich spüre, wie mein Herz seine Schlagfrequenz erhöht. „Hast Du was gegen zu hohen Blutdruck?“ Sie schnaubt nur.

Ihr Hals, die runden Schultern, die Haut sanft gebräunt und leicht glänzend. Weiter: Das Grübchen zwischen den Schlüsselbeinen geht über zu ihrem Busen, rund und weich lagern die Brüste in einem kaum sichtbaren BH, der ihre Knospen frei lässt. Es zieht im Schritt. Sie senkt die Augenlieder und sieht genau dahin, wo ich Probleme habe. Eine Augenbraue hebt sich interessiert.

Marieles Bauch habe ich schon immer bewundert. Glatt, straff und leicht gewölbt. „Seh mal“, sagt sie immer, dreht mir ihr Profil zu, „Mein dicker Bauch!“ Und ich muss wahrheitsgemäß widersprechen, was sie freut und mir einen langen, langen Kuss einbringt. Manchmal sagt sie auch: „Komm, lass uns Kinder machen.“

Mein Blick geht langsam tiefer. Hüfthalter, Strapse, Strümpfe. Alles in schwarz. Ich zeige auf eine Stelle. „Hast Du das Höschen vergessen?“ Aber sie antwortet nicht, zieht mir das T-Shirt über den Kopf. Ich rieche eine Mischung aus Mariele- und Birtheparfüm. Aber da liegen wir schon und wollen gerade beginnen. Es klopft. „Nein, nicht jetzt!“ Ich hebe interessiert den Kopf. Mariele springt ins Bad.

„Ja?“

In der Tür steht Birthe. Sie hat einen knallroten Kimono an, der zwei handbreit über ihren Knien endet. Auf der rechten Seite schlängelt sich ein Drache vom Saum nach oben zum Kragen. Ein offenbar sehr teures Stück Stoff. In der Hand hält Birthe eine Sektflasche und drei Sektgläser aus Plastik. „Darf ich?“, fragt sie überflüssiger Weise. Sie schlüpft an mir vorbei und balanciert zum Tisch, stellt die Flasche und die Gläser drauf. Ich schließe die Tür und gehe zum Bett um mein Shirt zu holen. Birthe baut sich vor mir auf und gurrt: „Soll ich helfen?“ Meine Birthe ist schon leicht angetüdert, stelle ich fest.

„Das schafft er schon allein.“ Mariele kommt im Bademantel aus dem Bad. „Ich hoffe, Dich stört mein Aufzug nicht. Setz Dich, Liebes.“ Sie hat ‚Liebes‘ zu Birthe gesagt. Alles gut!

Ich stehe auf, ziehe mir mein Shirt über.

„Hoffentlich habe ich euch nicht bei Irgendetwas gestört?“ Birthe grinst anzüglich.

„Nein, nein. Wir wollten nur eben ins Bett gehen.“

Sie springt auf. „Oh entschuldigt. Ich …“

„Nein, bleib hier. Wir würden uns eh nur langweilen, nicht wahr, Wölfchen?“ Ich nicke heftig. Aufseufzend setzt sich Birthe in den Sessel. Nicht mehr Vamp im roten Kimono. Vor uns sitzt eine Frau, tieftraurig und hilflos. „Ich muss mit euch reden.“

„Na dann gieß ein.“


Birthe fühlt sich allein. Horst sieht sie hin und wieder, und wenn sie ihn sieht, ist er müde. Er redet kaum noch mit ihr. Birthe hat Angst um Horst und um ihre Ehe. Sie hat hingeschmissen, sagt sie. Wozu hat sie ihre Promotion? Jetzt steckt sie wieder in der Forschung.

Das ist die Kurzform ihrer Rede, die, mit kurzen Pausen, mehr als eine Stunde dauert. Wir unterbrechen sie nicht. Soll sie sich alles von der Seele reden. Mariele drückt meine Hand. Manchmal schmiegt sie sich an mich, manchmal sitzt sie steif kerzengrade. Sie nickt, schüttelt den Kopf, zieht einen Schmollmund oder lächelt, dann blickt sie ernst und lehnt ihr Köpfchen an meine Schulter. Nie verliert sie den Kontakt zu mir und ich fürchte, dass wir Birthe vielleicht brüskieren. Doch die ist mit sich selbst und Horst beschäftigt.

Stille ist eingekehrt. Wir sitzen immer noch so, wie zum Anfang. Die zweite Flasche Sekt ist leer geworden indes, die dritte begonnen.

„Ja, das war ‘s. Ich brauchte nur jemanden, mit dem ich darüber reden konnte.“ Birthes Hände liegen in ihrem Schoß. Sie tut mir leid, aber was können wir tun? Und da sagt sie es schon: „Ihr könnt nichts tun. Das ist unser Ding. Aber ich danke euch für euer Zuhören. Das tut gut.“ Ihr Blick, der die ganze Zeit nach innen konzentriert war, richtet sich auf uns. Jetzt lächelt sie wieder ihr Birthelächeln. „Wenn ich euch so sehe, könnte ich neidisch werden.“ Sie springt auf, umarmt uns beide, mit einer Kraft, die neu für mich ist. Ich rieche ihren Duft und ihr Parfüm. Es ist so typisch für sie. Und wir halten uns fest, wie wenn wir uns nie wieder trennen wollten. Und da stellt Mariele die Frage, die ich befürchtet hatte: „Willst Du bei uns bleiben?“


Donnerstag


Birthe war geblieben. Die Nacht war warm und hell. Und der Mond stand als schmale Sichel scharf gezeichnet hoch am wolkenlosen Himmel. Ein leiser Wind rauschte in den Kiefern und Buchen. Ich hörte leise Stimmen von der Terrasse des Restaurants. Die Luft kühlte kaum ab. Die Damen hatten mir den Platz zwischen ihnen in der Besucherritze zugewiesen. Mariele hielt meine Hand fest. Ich sah, dass sie die Decke ansah.

Schweiß brach mir aus. Ich strampelte mich frei, lag jetzt auf der Decke. Von links kam eine Hand, legte sich auf meinen Bauch. Auch Birthe sah zur Decke. Was gab es dort zu sehen? Nur Mückenleichen.

Und dann rückten wir irgendwie dicht beieinander und Mariele küsste mich und dann Birthe und unsere Hände hielten nicht still. Und es war spät geworden. Sehr spät, denn die Sonne ging bereits wieder auf, als wir endlich einschliefen.


Ein Streifen Sonne scheint durch meine geschlossenen Lieder. Vorsichtig öffne ich ein Auge. Da liegt Mariele. Ich kann ihr Gesicht sehen und ihren Busen, der nur spärlich von ihrem Oberarm verdeckt wird. Wenn ich den Kopf hebe, kann ich auf das Radio sehen, mit der kleinen Uhr. Zehn Uhr teilt sie mit. Oder etwas später. Birthe, spüre ich, hat sich an meinen Rücken gekuschelt und hält sich an mir fest. Ihr Arm liegt über meinem Bauch. Sie ist warm und weich. Ihr Atem weht in meinen Nacken.

Mariele seufzt, rückt näher und drängt sich an mich heran. „Schön warm bisse“, flüstert sie. Sie legt ihren Arm über mich, drückt sich fest an mich. „War’s schön?“

Ich nicke. „Und Du?“

„Hmhm.“ Sie lächelt leise ihr schönes Mariele-Lächeln, für das ich sie so liebe. Und hinter mir brummt eine sexy-tiefe Stimme: “Mich auch.“

Ich drehe mich auf den Rücken. Jetzt ist es richtig hell im Zimmer. Mit beiden Armen drücke ich Mariele und Birthe an mich. Ich liebe sie beide, am tiefsten Mariele.


Ich versuche mir vorzustellen, wie es ohne Mariele wäre. Einsam. Ich würde mich nach ihr verzehren, ohne sie zu kennen. Das ganze Leben wäre irgendwie sinnlos. Wozu die ganzen Anstrengungen? Wer kann sich über mich ärgern oder freuen, wer erfreut mein Auge, jeden Abend oder Morgen? Oder auch nur, durch seine bloße Anwesenheit? Ein unbeschreibliches Gefühl der Liebe, ein Kribbeln im Bauch geht durch mich hindurch und mein Arm zieht meine unsterbliche Geliebte an mich. Ich spüre ihren warmen Körper, weich, nachgiebig. Ihre weichen Brüste an meiner, ihre Schenkel an meinen.

Birthe hat sich von mir gelöst, geht zum Bad. Ich sehe ihr hinterher. Mariele hält mich im Schritt fest. „Nicht gucken. Schlecht für klein Wölfchen.“ Sie kichert mir ins Ohr.

„Ich liebe Dich“, sage ich zur Zimmerdecke und Mariele nickt. „Weiß ich doch.“ Und küsst mir Stirn und Augenbrauen und Wangen.

Unerwartet und entgegen jeder Vorhersage ändert sich das Wetter nicht. Jedenfalls nicht auf der Insel. Auf dem Weg zum Strand sehen wir eine dunkle Wolkenwand über dem Festland stehen. „Meinst Du, dass es eine gute Idee ist?“

„Das bleibt, wo es ist“, sage ich mit der tiefsten Überzeugung alter Fahrensleute. Mit zusammengekniffenen Augen beobachte ich die Wolkenwand, doch sie zieht scharf nach Osten. Ich nicke zufrieden. „Carpe diem.“

Jemand liegt auf unserem Platz. Pech. Aber dafür haben wir schön lange im Bett gelegen. Wir machen es uns nebenan bequem. Der Besetzer sieht zu uns herüber, nickt. „Morjen“, sagte er und fällt auf dem Rücken.

Birthe stößt mich an, zeigt mit dem Kinn auf unseren Nachbarn und schiebt anerkennend die Unterlippe vor. „Na, na“, flüstere ich ihr ins Ohr.

„Nur Appetizer.“ Ich sehe ihr schiefes Grinsen. Gefahr in Verzug!

Mariele ist indessen fertig. Sie steht neben mir, der ich versuche aus den Hosen zu kommen.

„Wow“, murmelt sie.

Aus dem Augenwinkel gucke ich mir den Kerl an. Oh ja! Frauentyp. Muskulös. Breite Schultern, schmale Hüften. Dunkle Haare, energisches Kinn. „Schnell ins Wasser!“ Ich greif mir Mariele und wir laufen zum Ufer. Die Ostsee gibt sich heute etwas meerhafter, die Wellen rauschen lang und schaumgekrönt auf den Strand. Möwen segeln im sachten Wind und beobachten uns und sich neidisch. Ein Pärchen kreuzt unseren Weg, sie gehen in sich versunken Hand in Hand durch das flache Wasser. Es fühlt sich heute kühler an, als Vortags. Trotzdem laufen wir hinein, schwimmen das Stück bis zur Sandbank, frieren und sehen zu, dass wir zurückkommen.

Birthe ist schon in ein Gespräch mit Nachbarn verwickelt. Sie sitzt wie die Meerjungfrau von Kopenhagen im Sand und hört sich an, was Nachbar zu sagen hat. Unverkennbar nordischer Dialekt.

„Das ist Jörgen aus Hamburg“, stellt sie ihn vor. „Und das sind meine besten Freunde: Mariele und R. Bitte nicht erschrecken. Manchmal heißt sie auch Prinzessin oder Claire und er, Peterle, Peter oder auch Wölfchen.“

„Genau“, sage ich, „Willkommen an unserem Strand.“

„Jau, moin.“

Es stellt sich heraus, dass Nachbar Jörgen hier zu tun hat. Er ist Architekt und baut an einem Hotel herum.

„Hoffentlich nicht so ‘ne Bettenburg.“

„Nein. Der Eigentümer, ein Einheimischer, will den typischen Bäderstil wieder herstellen. Leider wurde in den sechziger, siebziger Jahren ausgerechnet an seinem Haus alles abgehackt, was an die Kaiserzeit erinnern könnte.“

Birthe zappelt begeistert hin und her. „Kann man sich das ansehen?“

Jörgen nickt. „Gerne. Morgen hätte ich Zeit.“ Er sieht nur Birthe an, der Schuft. „Wenn ihr wollt?“ Na, aber sowas von! Und wie sich herausstellt, wohnt der Kerl im gleichen Hotel. So klein ist die Welt. Ob mir das gefällt? Nein.

„Vielleicht sehen wir uns zum Abendessen?“

Ich fürchte, ja.

„Wie findste den?“, flüstert Birthe in Marieles Ohr. Ich höre es und sehe Marieles Gesicht. Die Frau ist ebenso begeistert, wie Birthe! Unverschämtheit!

Ich hebe den Zeigefinger. „Hört mal, meine Damen …“

„Still!“ Mariele.

„Das geht Dich nix an.“ Leicht bayrisch gefärbt: Birthe.

„Ich meine ja nur …“, doch sie drehen mir ihre Rücken zu und tuscheln miteinander. Ich ziehe mich beleidigt in mein Buch zurück. Fontane begeht das Schloss in Rheinsberg. Amüsant, denn es ähnelt dem, was Tucholsky in seinem Jugendroman beschreibt. Die Frauen drängen zum Aufbruch. „Warum?“ Meine Frage, so begriffsstutzig, wie ich bin.

„Hömma, Wolf“, beginnt Mariele gönnerhaft, aber dann kanzelt sie mich ab. „Wir Frauen müssen uns zurechtmachen, vorbereiten, einstellen, und auf den Abend vorbereiten.“

„Quatsch, wegen ‘nem Hamburger“, brumme ich, und hülle mich in Schweigen. Letztlich trotte ich schwitzend, die Strandutensilien schleppend, den aufgeregt schnatternden Damen hinterher. Eine Dusche! Ein Königreich für etwas Abkühlung.

Ich lasse Mariele vor. Schwitze noch eine Weile vor mich hin. Ab und zu sehe ich nach meiner Dame. Doch sie ist noch beschäftigt. Komisch. Ich habe sie doch den ganzen Tag über nackt gesehen. Doch, wie sie da ihre Toilette macht, könnte ich – sie sieht mich schräg von unten an. „Was?“, fragt sie.

Claire bekommt einen Luftkuss.

„Das ist alles?“ Dann spitzt sie die Lippen und prüft den Sitz des Lippenstiftes. Passt, zeigt mir ihr zufriedener Blick. „Na komm schon.“ Ich gehe zu ihr und probiere den Geschmack ihrer Lippen. Himbeere? Mariele legt mir die Arme um den Hals, zieht mich an sich. Ich versuche zu intervenieren: „Ich bin noch nicht geduscht.“

„Macht nix.“ Sie schiebt mich zum Bett und zerrt mir dabei die Hosen herunter. Ich plumpse auf den Rücken. Da steht sie, sieht von weit oben auf mich herab. Dann greift sie sich klein Wölfchen, streichelt ihn sanft. „So viel Zeit muss sein“, sagt sie zu klein Wölfchen. Womit sie recht hat. Und was zur Folge hat, dass wir unter der Dusche stehen, Claire wieder. Ich ärgere meine unsterbliche Geliebte: „Siehste, musst Du die ganze Malerei noch mal von vorne anfangen.“

Wir machen uns ‚stadtfein‘. Jetzt zeigt sich, dass es Sinn gemacht hatte, zwei schwere Koffer mitzuschleppen. Jedenfalls findet das Mariele so. Sie steht in ihrem Lieblingssommerkleid vor dem Spiegel, hebt die Haare mit beiden Händen hoch. Dann nickt sie zufrieden, rückt sich den Busen zurecht. „Wir können gehen.“

„Yes, Ma’am Sir.“ Ich stehe stramm, lasse sie passieren. Draußen, auf dem Flur schnappe ich mir ihren Arm, und wir flanieren runter, ins Restaurant.

Man wartet bereits auf uns. Und kann sagen, was man will, dieser Jörgen hat Stil. Er erhebt sich, schnappt sich Marieles Hand zu einem Handkuss, drückt mir meine Hand bis an die Schmerzgrenze – gar kein Stil! - und wartet höflich, bis wir sitzen. Na wer sagt’s denn?

„Birthe.“ Ich nicke ihr zu. Sie hat so einen verdächtig verklärten Blick. Sie sieht nur kurz auf – sehr kurz – und himmelt Jörgen weiter an. Hat sie eben mit den Schultern gezuckt? Und wenn ja, was sollte das bedeuten?

Birthe trägt heute auch Kleid, genau wie Mariele, genau mit einem solchen Ausschnitt, die Schultern frei. Nur die Farbe ist ein dunkles braun. Sehr passend zu ihrer leicht rötlich braunen Haut. Ein blattähnlicher Anhänger an einer schmalen goldenen Kette hat es sich zwischen ihren Brüsten bequem gemacht und zieht männliche Blicke immer wieder an. Mariele trägt keinen Schmuck. Da ist sie eigen. Aber die süße Spalte zwischen ihren Brüsten zieht meinen Blick auch immer wieder an, ohne Kettchenanhänger. Den braucht sie nicht.

Ich glaube, ich werde mich heute mit der Beobachterrolle zufriedengeben. Da sitz Jörgen, mir gegenüber, braungebrannt, smart, lächelnd. Sein Lächeln gilt vor allem Birthe. Das ist verständlich, von seiner Warte aus gesehen. Und, tatsächlich, ich sehe es erst jetzt, er hat tiefbraune Augen!

Rechts Mariele. Wunderschön, duftend, lächelnd. Sie beobachtet ihre Busenfreundin. Busenfreundin? Ich bin Busenfreund. Marieles und Birthes Busen! Es sind schöne Busen, aber nur ein Teil von ihnen. Aber ganz und gar liebe ich - Mariele! Ihren Charakter, ihre Art sich zu geben, ihre Genauigkeit (manchmal ist sie verdammt pingelig), ihre Klugheit, ihr – alles in und an ihr! Es versetzt mir einen angenehmen Stich ins Herz, wie ich sie so neben mir sehe. Apropos sehen: Mariele beobachtet Birthe ebenfalls. Das wird ja interessant! Jörgen parliert über seinen Beruf. Hach, kenn ich doch von Horst. Merkt Birthe nichts?

„Aber das ist nicht so, dass es nichts Anderes gibt.“ Sagt Jörgen. „Wisst ihr“, dabei sieht er Birthe an, „Beruf ist schön und gut und wichtig. Aber es gibt auch noch ein Leben außerhalb, nicht wahr?“ Wir nicken und ich denke Arges; kennt er etwa Horst oder hat Birthe vielleicht ein paar Worte verloren? Doch die ist verdattert. Wirklich! Ist dieser Mann ein Zauberer?

Wir stoßen an. „Auf unsere Berufe und auf die Freizeit, die sie uns ermöglichen!“ Also, ich weiß nicht! Wir sehen uns an, die Claire und ich. Was sehe ich? Eine Lachfalte hat sich aufgetan in ihrem Mundwinkel. Ich sehe sie zum ersten Mal. Neu? Wie süß! Ich werde sie fragen.

Wir verabreden uns für zehn Uhr in der Lobby. Jörgen entschuldigt sich, er ist müde, muss morgen wieder fit sein. Das verstehen wir, lassen ihn gehen. Und drei paar Augen verfolgen Jörgen, bis er um die Ecke verschwunden ist.

„Naja“, sagt die Birthe, „Recht hatt er! Ich auch. Müde. Ja?“ Sie macht solch eine komische Geste, reckt sich, gähnt ausgiebig. Wir begleiten sie bis zu ihrem Stockwerk.

„Und?“

„Was, und?“ Ich setze mich auf die Bettkante.

„Was sagst Du zu Jörgen?“

„Nix.“

„Nix!? Wieso, nix?“

„Weil ich nicht weiß, weißt Du?“ Ich falle auf den Rücken, ziehe die Beine hoch und die Bettdecke bis an die Nase.

„Ph! Typisch Mann.“

„Ja.“ Ich muss grinsen, denn Mariele kann sich so herrlich aufregen. Das tut sie jetzt.

„Also hömma! Du musst doch irgendeine Meinung haben! Irgendeine hat man doch! Ich jedenfalls habe eine!“

„Gott gebe mir Ohrenlider.“

„Ignorant!“ Ich bekomme einen Kuss auf die Stirn. Sie kennt mich und weiß, dass ich nicht so schnell dabei bin, eine ‚Meinung‘ zu haben. „Aber morgen, ja?“

„Ich lasse darüber nachdenken.“

Ich habe sie beobachtet; Birthe und Jörgen. Sie haben sich nichts vorgemacht. Das, was da zwischen ihnen lief, war echt. Ich hatte das Knistern gespürt. Mehr als Knistern. Sie hatten sich zusammengerissen, um nicht gleich zusammenzuprallen. Birthes Handknochen waren ganz weiß, so hatte sie sich an den Armlehnen des Sessels festgehalten! Und Jörgens Hände haben gezittert. Ob ich sie anrufe und frage, ob sie noch alleine ist? Im Bett?


Freitag


Nein, ich hatte nicht angerufen, und Mariele auch nicht. Wir sind dann zu Bett gegangen, haben uns aneinandergeklammert und sind wunderbar eingeschlafen. Mariele hatte noch etwas gemurmelt, mit den Lippen geschmatzt und sofort geschnarcht – leise, so wie sie es immer tut.

Ich weiß nicht, ob ich zuerst aufgewacht bin oder Mariele. Sie jedenfalls hat ihren Arm über meinen Hals gelegt, so dass ich keine Luft bekomme. Jetzt weiß ich es! Mariele schläft immer noch.

„Hej! Willst Du, dass ich ersticke?“

„Was?“ Der Arm verschwindet unter nachbarlicher Bettdecke. „Clairchen noch sooo müde.“

„Ich will Dir mal was sagen …“

„Nis so laut“, lispelt Mariele, „Claire tut Kopf weh.“

Entsinne mich. Zwei verdammte Flaschen Rotwein. Deshalb ist Mariele so schnell eingeschlafen. Aber wir hatten noch schön gekichert und uns ausgemalt, wie Birthe mit Jörgen und Horst – Oh Gott, das geht gar nicht!

Unsere Zeit an der Ostsee ist bald abgelaufen. Heute noch und morgen und übermorgen geht’s nach Hause. Ich schiele vorsichtig zum Fenster. Sonne! Was für ein Masseltov! Oder mazel tov. Egal. Glück ist in allen Sprachen schön.

„Claire?“

„Ja, Wölfchen?“

„Heute nochmal an den Strand?“

„Du?“

„Mit Dir, Liebstes.“

„Dann, ja.“

Pause.

„Aber erst sehen wir uns Jörgens Baustelle an.“

„Ach ja.“


Nach der Besichtigung – sehr interessant - haben wir Birthe gefragt. Nee, hat sie gesagt. Nach der Besichtigung würde sie lieber mit Jörgen … Und wir sollten nicht böse sein. Sind wir nicht.

Am Strand, an der bewussten Stelle, an der wir immer gelegen hatten und die noch unsere Spuren trägt, sagt die Mariele: „Das ist ja nen Ding!“ Und stemmt die Fäuste in die Seiten. Ich habe andere Dinge im Kopf. Gehen doch am Ufer zwei entzückende Mädels … „Danke.“ Der Klaps auf den Hinterkopf gilt meinem Blick. Dürfen denn so hübsche … „Ja, Claire?“

„Obs Du zugehört hasts?“

„Ja.“ Ich kriege den Bogen noch rechtzeitig. Mariele merkt sowieso, wenn ich abgelenkt bin. „Nein. War abgelenkt.“

„Genau.“ Mariele zieht die Augenbrauen zusammen, bekommt etwas Verschwörerisches in den Blick. „Ich frage mich“, flüstert sie, „was die Beiden …“ Sie winkt ab. Jetzt die Nachbarin von nebenan: „Na, ich will ja nichts gesags habs, will ich nich. Aber die Müllersche, die von Nebenan, die sags immer was. Die hat immer was gesehen. Aber ich hab nix gesehen, nich? Gesags hab‘ ich garnicht. Und gesehen schon garnix.“

„Aber gedacht! Du glaubst, sie geht fremd.“ Ich bin unheimlich stolz auf meine Kombinationsgabe.

„Richtig, Sherlock.“

Ich wiege den Kopf. So flatterhaft ist Birthe nicht. Auch nicht, wenn sie sich über Horst ärgert. Ich glaube eher, sie sucht eine Abwechslung. Sich mit sich selbst beschäftigen, liegt nicht jedem. Sie braucht geistige Anregung. Die hat ihr Horst nicht mehr gegeben. Ich lege mich auf den Rücken. Der Himmel nähert sich einem azurblau. Hier und da ziehen Wölkchen nach Osten. Sie sammeln sich irgendwo hinter Polen und dann gib‘s Gewitter! Ein paar Kinder spielen Ball. Jemand ruft sie „zur Ordnung“.

Es ist kurz nach Mittag. „Ich denke, sie tut es nicht.“

„Du meinst, sie tut es nur mit Dir?“

Ich lache. „Nur, wenn Du dabei bist.“

„Schuft.“ Mariele zieht mit spitzen Fingern an meinem Brusthaar. Ich drehe faul den Kopf, sehe sie an. Ihr Blick geht ganz woanders hin. In weiter Ferne. „Was denkst Du, Liebes?“

„Jetzt würde ich mit Dir ins Bett gehen.“

„Ts!“ Ich drehe mich trotzdem auf den Bauch, denn die Vorstellung ist schon zu schön.

„Übrigens, was meinst Du. Hat die Wolke dort hinten etwas zu bedeuten?“

Ich kann mich wieder umdrehen. Aus der Rückenlage: Sie ist noch weit weg! Doch bedrohlich scheint sie schon zu sein. Der leichte, stete Wind hat aufgehört. Die Sonne brennt regelrecht. Die Ostsee treckt dumpf ans Ufer. Und die Wolke? Ist näher gerückt. „Ich denke“, sage ich, indem ich die Hände hinter den Kopf lege, „Wir sollten langsam packen.“


Darf denn ein Gewitter so schnell sein? Wir haben zwar schnell unsere Siebensachen zusammengesucht und uns mit weiteren ängstlichen Standbesuchern auf den Heimweg gemacht, aber eben nicht schnell genug. Hundert Meter vor dem Hotel rauscht es senkrecht herunter. Und um der Sache Nachdruck zu verleihen, zischt ein Blitz über den Horizont und der anschließende Donner geht bis in den Magen. „Verdammt nah!“, rufe ich in den nun aufkommenden Sturm und wir legen einen Schritt zu. Geschafft! Pitschnass zwar, aber nicht vom Blitz erschlagen! Die Dame an der Rezeption lächelt still in sich hinein.

Wir werfen die nassen Sachen in die Wanne, zerren uns gegenseitig die Klamotten vom Körper. Sie landen wie das Strandgeraffel in der Wanne. Hat Zeit! Wir tun so, als hätten wir keine Zeit. Erst unter der Bettdecke gehen wir in die Zeitlupe über. Marieles Haut ist kühl. Sie hat Frierpickel an den Armen und Oberschenkeln. Ich streiche sie weg, und mehr, bis sich Mariele auf mich setzt. Sie richtet sich auf, streicht mit beiden Händen die Haare aus dem Nacken. Sie lässt sich von mir bewundern – mit Augen und Händen - und beginnt gleichzeitig ihren Unterleib zu bewegen.


Irgendwann sagt Mariele: “Wir müssen die Sachen trocknen.“ Ich brumme zustimmend. Das Gewitter hat sich, von uns unbemerkt, verzogen. Die Sonne scheint wieder, die Welt riecht anders. Meine Großmutter sagte immer, dass es nach Ozon rieche - nebenbei, Ozon ist geruchlos. Aber so riecht es! Mariele ist der aktivere Teil von uns beiden. Sie steht auf und tappt zum Bad. Faul sehe ich ihr hinterher, wälze mich faul aus dem Bett und gehe faul hinterher.

„Claire?“

Mariele dreht sich zu mir herum. Sie ist immer noch nackt und es ist immer noch sehr warm. Ihre Pupillen sind groß. „Ja, Wölfchen?“ Wir gehen noch einmal ins Bett. Und danach hängen wir die Sachen auf, auf dem Balkon, aber da sind wir schon wieder angezogen.

Der Nachmittag vergeht langsam. Ich lese und schiele zu Mariele, die sich mit ihrem Telefon beschäftigt.

„Weißt Du, dass ich Fotos von Dir habe?“

Ich schüttle den Kopf, merke, dass sie es nicht sieht. „Nein.“

„Seh mah“, sie reicht mir ihr Telefon.

Ich sehe und frage mich, wann hat sie die alle geknipst? Ich schleppe Standgeraffel. Ich beim Aufstellen unserer Burg. Ich von hinten, nackt, zum Wasser gehend. Ich von der Seite (bekomme ich Bauch?). Von vorn, ich entsteige dem Wasser, nackt!! Muss kalt gewesen sein. Man sieht es. „Hübsch. Das lasse ich mir einrahmen und …“ Mariele kuschelt sich an mich. „War kalt, nich?“ Sie streichelt mitleidig klein Wölfchen. Ich schlucke und nicke. Landschaft, Strand, Hotel, Zimmer. Ich in der Dusche. In der Dusche?! Zum Glück von hinten. Guck an! Und, oops, auch von vorn! Mit Schaum am ganzen Körper.

Das Telefon klingelt. Einer muss rangehen. Es klingelt zum zweiten Mal, ungehaltener. „Komme.“ Vorsichtig löse ich mich von Mariele. Die schiebt die Unterlippe vor. „Bestimmt Birthe.“

„Ja?“, spreche ich in den Hörer.

Schweigen.

Dann: „Kann ich kommen?“ Birthe. Klar.

„Wollen wir nicht einen Kaffee trinken, unten? Hatten wir sowieso vor.“ Ich schiele zu Mariele. Sie nickt. Glück gehabt, nichts falsch gemacht.

„Gut.“

Birthe erwartet uns bereits. Wir spüren ihre Unruhe, setzen uns. Ohne jeden Übergang sagt sie: „Ich bin schwanger.“

Natürlich brauchen wir ein paar Sekunden. Das ist eine Mitteilung, die jeden für Sekunden – warum auch immer – sprachlos macht. Dabei ist es doch ein ganz natürlicher Zustand, vorausgesetzt, der Vorgang war sozusagen ebenfalls natürlich. Apropos Vorgang. Schnell gehe ich meine Sünden durch. Nein! Sehr gut. „Horst wird jubeln“, sage ich, stehe auf und umarme Birthe, die wieder einen irrsinnigen Duft verströmt. Die Schwangerschaft bekommt ihr gut, denke ich und werde beiseitegestoßen. Es sind ältere Rechte, weibliche, die mich von Birthe trennen. Jetzt ist es an Mariele - Tränen zu verströmen. Ich ordere Sekt, nein, Champagner, s‘il vous plait!

Drei Gläser?

Eine Flasche! Mindestens! „Das muss gefeiert werden!“

„So viel Alkohol?“

„Sie ist schwanger, nicht krank!“

„Aber …“,

„Weiß Horst schon …?“

Kopfschütteln.

Kopfschütteln, auch auf unserer Seite

„Dann wird’s Zeit, meine Liebe. Ich rufe ihn an!“ Mariele greift zum Telefon. Und wieder stelle ich fest, dass Frauen immer kommunikationsbereit sind. Mein Handy liegt irgendwo im Zimmer herum.

„Warte“, bittet Birthe.

Mariele erstarrt mitten in der Bewegung. Sie sieht jetzt aus wie eine Statue. ‚Die, die auf den Anruf wartet‘, könnte sie heißen. Nur ihr Gesicht wiederspiegelt Unverständnis. Dann bricht es aus ihr heraus: „Nicht Horst?“ Mariele sieht mich an. Ich schüttele überzeugt den Kopf. Aufatmen. Dann, beinahe empört: „Also, Bithe?“ Das klang sehr gouvernantisch Mariele!

„Doch“, sagt die Birthe jetzt. „Aber ich weiß nicht ob Horst … nach alldem …“

Mariele sieht jetzt auf Birthes Telefon. Ihr Daumen jagt über das Display. „Da!“ Zögernd greift Birthe danach, hält es an Ohr.

„Horst?“ (Wer sonst, denke ich) „Hallo? Wer spricht …“ Sie lässt den Arm mit dem Telefon sinken. Tränen treten in ihre Augen. „Da ist ‘ne Frau dran.“ Ihre Stimme ist tonlos.

„Eine Frau?“, frage ich unnötiger Weise. Nicken. Bevor ich etwas tun kann, hat Mariele das Handy bereits am Ohr.

„Hallo!“ Wir hören eine Stimme. Mariele nickt, hebt die Augenbrauen, sieht Birthe an und nickt wieder. „Aha.“ Und schaltet das Gespräch ab.



Samstag


Ich wache auf. Wieder in der Besucherritze. Auf dem Bauch liegend. „Warum immer ich?“ frage ich das Kopfkissen.

„Warum? Weil der Dramaturg das so will.“ Marieles Stimme klingt ebenfalls dumpf. Ich drehe mich der dumpfen Stimme zu. Durch halbgeschlossene Lider sehe ich: Mariele liegt auch auf dem Bauch, mit dem Gesicht im Kopfkissen.

„Ich hasse Dramaturgen.“ Das kommt von der anderen Seite mit Birthe Stimme.

„Warum?“

„Weil die aus allem ein Drama machen.“

Ich drehe mich vorsichtig auf den Rücken. Das Bett schwankt. Es muss stürmen draußen und heftiger Seegang sein. Vorsichtig öffne ich die Augen ganz. Die Vorhänge sind geschlossen. Durch einen winzigen Spalt fällt graues Licht. Der gestern Abend angekündigte Regen? So vorsichtig, wie ich mich umgedreht habe, richte ich mich auf und steige aus dem Bett. Ich gehe zum Fenster, ziehe die Vorhänge zur Seite. Ja, es regnet. Und Wind weht auch. Es ist dunkelgrau, draußen. Aber der Seegang kommt von mir.

„Wetter?“ fragt es aus dem Bett.

„Zum Liegenbleiben.“

„Dann komm.“

Ich sehe auf die Uhr. Acht und ein paar Minuten. Grund genug, ins warme Bett zu kriechen. Der Empfang ist herzlich – von beiden Seiten.

„Ich liebe Dich“, flüstert Mariele in mein rechtes Ohr.

„Du bist kalt“, kommt es von links, „Trotzdem mag ich Dich.“ Das ist viel. Daher schließe ich die Augen, denn man wärmt mich von beiden Seiten. Nett. Sehr nett.

„Was machen wir heute?“ Marieles Hand streichelt meinen Bauch und stößt an mein bestes Stück. Bleibt dort liegen. „Oh“, flüstert sie, und grinst schamlos.

„Otto Niemeyer-Holstein.“

Birthe hat ihren Arm unter meinen Nacken hindurchgeschoben, zieht Mariele näher heran.

„Bilder gucken, Wölfchen?“

„Ja, Claire.“

„Was sagt Fräulein Aachener?“

„Schön.“

„Dann lass uns schnell noch …“ Marieles Griff verstärkt sich. Oh mein Gott! Ich werde schwach. Und bevor Birthe auch noch ein- oder zugreifen kann, springe ich auf. „Dann sollten wir aufstehen.“

Enttäuschte Blicke.

„Langsam“, fordert Mariele.

Im Bad nicke ich mir stolz zu. Als ich um die Ecke schmule, sehe ich Mariele und Birthe eng umschlugen. Mariele streichelt Birthes Rücken. „Nicht weinen. Da kommst Du drüber weg.“

Meint Claire mich, weil ich weggerannt … Quatsch! Sie reden über Horst. Wird das wieder? Ich bin nicht überzeugt. Jedenfalls nicht mit Horst. Mist. Und ich hatte gehofft, das ist für immer, mit den Beiden. Schade, denn ich mag – mochte Horst. Was mag es mit dieser Frau auf sich haben. Mariele hat nichts dazu gesagt und Birthe auch nicht. Der Rasierer summt monoton vor sich hin. Ich stutze. Habe in den Spiegel gesehen und vergessen, mich zu rasieren. Es ziept, die Messer sind stumpf. Durch das halboffene Fenster höre ich den Regen rauschen. Doch es ist warm. Es klopft.

„Bist Du bald fertig?“

„Ja.“ Nanu? Sonst reißt Clairchen einfach die Tür auf. „Ich beeile mich.“

Frühstück. Wir schweigen uns an. Das ist ungewöhnlich. Das Wettergerücht versprach gestern für den Nachmittag Sonne. Das ist der Anknüpfungspunkt. „Aaalso“, beginne ich, „Besuchen wir am Vormittag Otto, und sehen für den Nachmittag Strand vor?“ Man nickt. Wir lassen uns Zeit. Birthe frag dann doch: „Otto?“

„Otto Niemeyer-Holstein.“ Ich erkläre. „Maler. Irgendwie geriet er zwischen die Fronten der ach so Kunstverständigen. Bei den Nazis unter Kuratel geraten und verpönt als entartet und in der DDR von der Stasi beobachtet. Ich verstehe es nicht. Sein Werk ist einmalig, seine Malkunst großartig und international anerkannt.“ Meine Frauen entspannen sich. Sie können schon wieder lächeln.

Was ein Grund ist, fußläufig zu ONH zu gehen – am Strand entlang. Die Ostsee benimmt sich, wie es sich gehört. Diesmal haben wir auflandigen Wind und der schiebt das Wasser auf den Strand. So, glaubt man, muss Meer aussehen: Wellen, leicht schaumgekrönt. Es rauscht, die Sonnenanbeter fehlen, denn es nieselt noch. Nur ein wenig, grad so viel, dass man keine Lust verspürt sich in den Sand zu setzen.

Urlauber sind ein hartes Völkchen. Sie wickeln sich in ihre wasserfesten Jacken, spannen Regenschirme auf und begehen wie wir das Ufer, als würde es das morgen nicht mehr geben.

Lüttenort ist die schmalste Stelle Usedoms. Wir steigen hochbeinig durch den Sand zum Strandübergang. Der schmale Waldstreifen dämpft Meeresrauschen und Straßengeräusch. Wir springen zwischen den Autos über die Straße, queren die Gleise der „Usedomer Bäderbahn“ und stehen vor dem Eingang zum Museum, Atelier und Wohnung des Meisters.

Wir lassen uns die Zeit, die man braucht, um sich „einzufinden“. Eine Statue begrüßt uns, wir gehen einen Sandweg geradeaus zum Museum. Er ist modern, hell. Die Werkschau umfassend, sie zeigt den junge Otto über den gereiften bis zum Meister. Wir sehen die Arbeiten seiner Freunde und Fans. Und während wir von Bild zu Bild gehen, hellt es sich draußen auf. Wir betreten den Garten, begegnen Skulpturen. Feuchtigkeit glänzt auf den Blättern und im Gras. Birthe ist seltsam still. Sie hat sich bei Mariele eingehakt. Beide gegen sie vor mir her und ich habe Muße, mich mit ihnen zu beschäftigen, während wir zum Rieck, einer winzigen Bucht am Achterwasser, gehen. Hier endet ONH’s Garten. Eine kleine Marina schmiegt sich an wilde Natur. Wunderschön!

Und wunderschön sind meine beiden Frauen. Sie stehen umschlungen oben auf dem niedrigen Deich und sehen versonnen auf das Achterwasser. Und schweigen. In der Ferne dümpelt ein Zeesenboot vorbei, voll besetzt mit Touristen. Die Segel hängen schlaff an den Rahen. Wie gut, dass es Dieselmotoren gibt. Schweigend gehen wir zurück. Der Körper fordert Nahrung.


„Morgen ist Schluss mit lustig.“ Ich sage es so nebenbei. Mariele seufzt. Sie muss studieren und ich mich um die Firma kümmern.

„Ich bleibe noch.“ Dass habe ich geahnt und sehe Mariele an, dass sie es auch …

Ein fröhlicher Jörgen kommt ins Restaurant, sieht sich um, entdeckt uns und kommt an unserem Tisch. „Moin!“

„Moin, moin“, sage ich. „Morgen“, die Mariele. Birthe steht auf, umarmt Jörgen und gibt ihm einen langen Kuss. Deutlicher muss man sich nicht erklären. Danke, Birthe. Erspart sie uns eine Frage. Und Jörgen? Wir sehen ein freudig, erstauntes Gesicht. Was weiß er von Horst und dem Kind?

Ein aufgeräumter Jörgen unterhält uns. Sein Bau geht voran, berichtet er detailliert und dass er sich auf morgen freue. „Sonntach! Und Sonne satt, vers-prochen. Inne Hand!“ Jörgen s-stolpert übern s-pitzen S-tein. Hamburger eben. Er sieht in die Runde. „Wat ist mit euch? Morgen an S-trand?“

Wir danken. Morgen ist Abreise für uns. Sein enttäuschtes Gesicht ist ehrlich.

“Aber“, gibt er zu bedenken, „Ihr müsst doch nicht mit dem ganzen Tross mit. In Berlin seid ihr in zwei S-tunden.“

Stimmt. Mariele und ich haben nicht die geringste Lust auf Stau an der Peenebrücke. „Wenn wir erst nachmittags …“, sagt Mariele. Und ich nicke. „Wir packen unsere Sachen, lassen das Auto noch stehen und verschwinden nach dem Mittagessen. Ganz langsam.“

Jörgen freut sich. Und Birthe. Dankbar sieht sie uns an.

„O.K.“ Ich sehe auf Marieles Uhr. „In ‘ner Stunde gehen wir runter. Was habt ihr vor?“


Klar, wir hätten gestört. „Was ist mit Horst?“, fragt Mariele nach langem Schweigen. Sie liegt auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf. Ich weiß es nicht und ihr schöner, nackter, braungebrannter Körper lenkt mich ab. „Birthe wird es schon richten.“ Es klingt halbherzig und ist es auch. „Manchmal kann ein Mann vor einem Topf voller Gold stehen, und er sieht es einfach nicht.“ Von irgendwoher habe ich diesen Spruch aufgeschnappt. Er passt zu Birthes ersten Ex und nun auch zu Horst.

„Bin ich ein Topf voller Gold?“

„Du bist mehr als das. Du bist meine Frau, meine unsterbliche Geliebte, Prinzessin, Claire, Mariele.“ Ich beuge mich über sie. Meine Hände versinken im Sand. „Ich sehe Dich.“

Sie schlingt die Arme um meinen Hals, zieht mich zu sich herunter. Ein langer, langer Kuss besiegelt unseren Pakt: Wir sind eins. Und wie nebenbei fragt sie in einer Atempause: „Magst Du Kinder?“



* * *

Vorläufiges Ende


Nachwort


Ich glaube, Birthe ist noch nicht fertig mit Horst und auch nicht mit Jörgen. Ich hoffe es. Da war doch mehr zwischen ihnen. Spannend. Oder?


Jedenfalls habe ich Stoff für eine Fortsetzung.


Ich werde mit Mariele drüber reden.


Und dem Verleger. Vielleicht zahlt er was drauf?


Was er ja immer tut.


Obwohl …




Quellen:


Die Sage vom Remusgrab:

Temme, Jodocus Deodatus Hubertus: Die Volkssagen der Altmark


Weitere Wissensquellen: (Nicht zitiert aber genutzt):

 

Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg,
Erster Teil: Die Grafschaft Ruppin
Kindl e-book, Urheberrechtsfreie Ausgabe

 

Anmerkung: Fontane beschreibt sehr genau den Zustand Rheinsbergs und seines Schlosses sowie der Parks. Sehr lesenswert.

 

Kurt Tuchholsky: Rheinsberg, ein Bilderbuch für Verliebte

Kindl e-book, Urheberrechtsfreie Ausgabe

 

Interessant:

Über die Egeria: aus Potsdamer Neueste Nachrichten 06.11.2007

Sensation: Egeria wieder aufgetaucht

Sensation: Egeria wieder aufgetaucht

von Von Georg-Stefan Russew

Stiftung preußische Schlösser und Gärten präsentierte im Rheinsberger Schlosspark ihren tollen Fund

Rheinsberg - Der 24. September 2007 ist für Dr. Detlef Fuchs von der Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten ein neuer Festtag. Denn per Zufall entdeckten Arbeiter bei Rekonstruktionsarbeiten an der Egeria-Grotte im Rheinsberger Schlosspark den seit 183 Jahren verschwundenen Kopf der Nymphenfigur.

„Das ist absolut sensationell“, sagte Fuchs und erklärte: „Schon 1802, wenige Tage nach dem Tod des Erbauers, dem Prinzen Heinrich, setzte die Zerstörung der Egeria-Grotte ein.“ 1843 wurden die letzten Reste der Nymphenfigur beiseite geräumt. Seither fehlte jede Spur von der Skulptur. „Nie hat jemand das Antlitz der Rheinsberger Egeria gesehen“, sagte ein immer noch vor Freude glühender Historiker. Einer Gruppe von 70 Besuchern präsentierte Fuchs am Sonnabend den sagenhaften Fund. „Die lange Nacht der Künste, so dachten wir, ist der ideale Rahmen, um einer breiten Öffentlichkeit die Bedeutung dieser Entdeckung nahe zu bringen“, erklärte Fuchs.

Denn was bis 2004 nur noch als Steinhaufen im Rheinsberger Schlossgarten lagerte, hat für die Einordnung des Schaffens und Wirkens Heinrichs in dessen letzter Lebensdekade, Ende des 18. Jahrhunderts, eine besondere Dimension. Der erfolgreiche Feldherr und Diplomat fand mit seinen politischen Ratschlägen bei Hofe immer weniger Gehör. Detlef Fuchs nimmt sogar an, dass einige Denkschriften, die Heinrich an seinem Bruder, König Friedrich II., nach Potsdam und Berlin schickte, ungelesen in den Archiven verschwanden. „Der fast unangetastete Zustand dieser Werke lässt auf jenes Schicksal schließen", so Fuchs.

Auch nach dem Tod seines Bruders, 1786, änderte sich für Heinrich nichts. Sein Rat wurde in der Schaltzentrale Preußens kaum noch geachtet. Wieder verschwanden seine nun an Friedrich Wilhelm II. adressierten Schriftstücke in den Archiven. Dagegen wurde der Prinz, der als Anhänger der Aufklärung galt, in Frankreich hoch geachtet. Dort nahm er vorübergehend seinen Aufenthalt, kehrte jedoch wegen der Radikalisierung der Französischen Revolution nach Rheinsberg zurück.

1790 ließ Prinz Heinrich dann die Egeria-Grotte in einer Feldsteinausführung erbauen. „Welche Bedeutung sie für Heinrich gehabt haben muss, beweist allein die Tatsache, dass er sich für den Bau bis über beide Ohren verschuldet hatte“, erklärte Fuchs.

Die Nymphe Egeria soll die Geliebte des zweiten Königs von Rom, Numa Pompilius, gewesen sein. Der Legende nach beriet sie ihn bei wichtigen Entscheidungen und wies ihm so den Weg zu weiser Herrschaft. Vorbild für die Rheinsberger Egeria war die Skulptur in Rom. Auch in Frankreich und im Wörlitzer Park bei Dessau soll Heinrich ähnliche Figuren gesehen haben. „Auf seinen Reisen ist er auf die Egeria gestoßen und fand das Sinnbild der Nymphengestalt für seine Situation in Preußen als passend. Ich interpretiere die Errichtung der Grotte im Rheinsberger Schlosspark so, dass Heinrich sich vernachlässigt fühlte. Er hätte gern beratend zur Seite gestanden“, so Fuchs. Im Gegensatz zur Nymphe Egeria wurde ihm dies weitgehend verwehrt.

Seit 2005 ist ein Architekt mit Arbeitern dabei, die Grotte aus dem Steinhaufen wieder auferstehen zu lassen. Freunde der Schlösser und Gärten haben 160 000 Euro gespendet, um die Rekonstruktion zu finanzieren. „Immer wurde nach der Egeria gefragt. Nie hat sie aber einer je hier gesehen. Deshalb konnte auch keine Replik gefertigt werden.“ Im September wurde per Zufall der Fuß der Figur gefunden und später der Kopf. „Alles hat im Wassergraben vor der Grotte gelegen.“

Jetzt soll die gesamte Anlage mit Nymphe wieder entstehen. Bis dahin sind die Fundstücke in der Rheinsberger Schlossküche zu bewundern.“

 

Impressum

Texte: 2017 by Reiner A. Hampusch
Bildmaterialien: 2016 by Reiner A. Hampusch
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Wie immer: Meinen treuen Lesern und meiner Frau

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