Cover

Berlin, Venedig und anderswo

 

 

Prolog

 

 

Herrn

Kurt Tucholsky,

Wolke Süd, direkt neben dem lieben Gott

Zur rechten Seite

Ebenda

 

Berlin, im Mai 2014

Lieber Kurt,

als ich dieses Büchlein begann, dachte ich an Dich. Ich rief mir Deine Jungendwerke ins Gedächtnis. Und auch die Meisterwerke Deiner Blütezeit. Die wunderschönen Geschichten und Gedichte über Deine unsterblichen Geliebten und schönen Frauen. Ich habe jedes Wort genossen.

Ich sehe den Mälarsee vor mir, sehe Rheinsberg und die Bimmelbahn, die leider nicht mehr unterwegs ist.
Ich habe Deine politischen Texte in mich hineingefressen. Ich liebe jedes Wort, weil sie wahr sind. Immer noch. Die Pseudonyme waren ja bezeichnend: Peter Tiger, Theobald Wrobel und so …

Hättest Du nicht die paar Jahre warten können? Dann war der Spuk vorbei. Was hätte Dein scharfer Verstand, Deine spitze Feder noch alles vermocht?

Habe ich mich jetzt genug eingeschmeichelt?

Ich wollte Dich etwas fragen: Darf ich als Untertitel zum meinem Büchlein - „Ein Bilderbuch für Verliebte“ benutzen?

Ja? Ich darf? Daaaanke!

Dein Dich immer verehrender

R.

 

 

 

 

 

Herrn R.

Im Hause

 

Sehr geehrter Herr,

ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, ich könnte Ihnen mein geistiges Eigentum einfach so überlassen. Weiß ich doch nicht einmal, ob Sie überhaupt der sind, der sie vorgeben, sein zu wollen.

Ich habe mich über Sie umständlich erkundigt. An der wahrhaftig letzten, hintersten und finstersten Stelle unseres Himmelreiches, in einem unbedeutenden Archiv, fand ich eine Notiz, dass man von Ihnen Kenntnis genommen hätte.

Es tut mir leid. Sie sind ein unbeschriebenes Blatt und hier oben unbekannt. Nicht einmal der Kollege mit der Sense hat von Ihnen vernommen. Glauben Sie mir. Auch er hat einfach nur seinen Schädel geschüttelt und geknarrt: „Kenne ich nicht. Noch nicht ‚dran.“ Atmen Sie auf. Man will Sie hier noch nicht haben.

Was den Untertitel Ihres Machwerkes angeht, machen Sie, was Sie wollen! Die Tantiemen, die mir zustehen, haben mein sehr verehrter Verleger und die Chefs der Druckereien bereits versoffen. Die legen ja sowieso zu. Also, was soll’s? Die Hemden hier oben haben immer noch keine Taschen.

Ich grüße Sie, unbekannterweise.

Und dennoch recht Herzlich.

Ihr K.T.
P.S. Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel heißen sie! Sie wollten mich doch nicht veralbern?

 

 

 

 

Herrn

Kurt Tucholsky

Ebenda

 

Werter Herr!

Ich danke für die Antwort, die ich gestern in meinem Briefkasten fand. Übrigens von Feuchtigkeit triefend und völlig durchgeweicht. Bestellen Sie doch bitte den Götterboten, nicht immer den kürzesten Weg durch die Gewitterwolken zu nehmen.

Ihre freundliche Erlaubnis, machen zu dürfen, was ich wolle, habe ich zur Kenntnis genommen und werde entsprechend verfahren. Was Ihre Tantiemen angeht, haben Sie mein tiefstes Mitgefühl. Nur kann ich Ihnen da nicht weiterhelfen. Ich werde es aber veröffentlichen. Vielleicht hilft es. Legt ihr Herr Verleger immer noch zu?

Ein Vorab-Exemplar meines Werkes schicke ich Ihnen in Kürze zu. Ich bin gespannt, was Sie dazu sagen werden, vorausgesetzt, Sie lesen es überhaupt.

 

Beste Grüße!

Ihr R.

 

P.S. Die Verdrehung ihre Pseudonyme tut mir leid. Es war keine Absicht, klang aber gut.

R.

 

P.S. Bestellen sie dem Herrn mit der Sense, er kann sich Zeit lassen. Ich habe noch so viel zu tun. Und sollte er den Zettel mit meinem Namen verlegt haben, was ihm ja zum Beispiel im Falle vieler großer Diktatoren, wie A.H., J.S. usw. immer wieder mal unterläuft, sagen Sie ihm, er solle es dabei bewenden lassen.

R.

 

P.S.P.S.

Hat er wirklich den Schädel geschüttelt? Geht denn das? Und grüßen Sie Herrn Szafranski.

R.

 

 

 

 

 

 

Da war er wieder, dieser Ton. Aufdringlich. Unangenehm. Er stört die Musik, und schmerzt in den Ohren. Die Leute tanzten trotzdem ausgelassen. Mein rechter Fuß wippt im Takt mit.

Ich sollte eigentlich nicht hier sein; ich mag das nicht. Mir kommt es immer so affektiert vor. Ein Tanzball. Da treffen Leute zusammen, die tanzen wollen. Deshalb heißt es ja auch Ball. Sollen sie! Aber ich mag das nicht. Ich tanze nicht gerne. Ich bin hier falsch!

Darf ich bitten? Wieder dieser Ton. Was? Ach ja. Mich bitten? Ich sehe auf. Ein Mädchen! Klar, was sonst. Wie bitte? frage ich. Sie sieht mich an. Ich wollte tanzen, sagt sie. Mit Dir.

Ich springe auf. Ja, natürlich. Dieser Ton! Griiiep! Hören Sie das auch? Sie? Du, T’schuldigung! Was soll ich hören? Diesen Ton. Alles dreht sich. Sie drückt sich an mich. Ich spüre ihre Brüste und ihre Schenkel. Heiß. Der Ton. Da ist er wieder …

 

Verdammt! Aufstehen. Mistwecker!

Ich schlage auf das Oberteil des Weckradios. Stille!

Ein Traum. Hübsches Mädchen. Leider nur ein Traum.

Im Bad habe ich schon wieder alles vergessen. Fast. Den Traum, nicht das Gesicht. Ich habe getanzt? Ich? Ja, klar doch, aber nur im Traum. ‚Harte Rocker tanzen nicht! ’, mein Credo.

Die Zahnbürste summt monoton. Mein rechter Fuß wippt im Takt der Musik, die ich noch nachträume. Ein verdammt hübsches Mädchen. Ein Traumgirl.

„Morgen!“ Meine Freundin. „Na, Du Nackedei? Wieder einen schönen Traum gehabt?“

„Wieso“

Sie zeigt auf meinen Schritt. Oh!

„Von Dir“, sage ich mit der Zahnbürste im Mund.

„Wie lieb.“

Sie steht hinter mir. Streichelt meinen Rücken. Ich bekomme eine Gänsehaut. War das Traummädchen sie, meine Freundin? Eine Abwandlung von ihr? Denn sie, das Mädchen hinter mir, das mich jetzt so anmacht, ist auch verdammt hübsch! Und ich liebe sie.

„Ich muss zur Arbeit, meine Süße.“ Wasser im Gesicht.

„Schaade.“ Sie hört auf. Schade. Aber so ist das nun.

Ich liebe sie.

„Heute Abend?“ Sie sieht mich fragend an.

Was zum Henker ist heute Abend? „Wie?“

„Ballhaus. Disko.“

Ach du Schei… Dann war das ein Albtraum. Ich und tanzen!

„Ja klar doch. Heute Abend!“ Und setze hinzu: „Ich beeil mich!“

„Fein.“

 

Die Straßen sind voll. Sind sie regelmäßig! Heute aber scheinen sie besonders voll. Was ist denn nur wieder in der Stadt los? Sind alle, die ein Auto haben, gerade eben, jetzt und hier, auf dieser einen verdammten Straße unterwegs? Ich hatte versprochen, mich zu beeilen. Ich beeile mich ja! Warum nicht die anderen? Mit einem Auge linse ich auf den Verkehr vor mir, mit dem anderen auf das Display des Handys.

„Ja, ich bin’s. Stecke fest.“

„In ner halben Stunde?“

„Geht, schaffe ich, ja!“

„Küsschen!“

Es gibt einen Ruck. Wir kommen voran. Hundert Meter. Stehen. Na, schönen Dank!

 

Zum Glück haben wir eine Tiefgarage am Haus. Sonst müsste ich noch eine halbe Stunde kreisen und hoffen, dass mal einer aus einer Parklücke herausfährt. Schwitzend steige ich aus.

„Manno!“ Hier unten kann ich meinen Frust ablassen. Die Tür knallt zu. Ich stapfe zum Aufzug. Langsam komme ich runter, während ich hochfahre. Aufgezogen werde, vom Aufzug. Oben wartet meine Freundin. Da kann ich nicht geladen, wie eine Bombe, auftauchen.

„Ach, mein Lieber. Da bist Du ja schon?“ Sarkasmus ist genau das, was ich heute noch benötige. Ich winke ab. „Keine Witzchen jetzt, bitte.“

„Oh, Pardon.“

Ich bekomme trotzdem einen Kuss. Ich liebe sie. Sie mich auch. Ganz sicher.

 

Neulich sprachen wir vom Heiraten. „Moment“, sagte sie. „Heiraten? Willst Du sowas Altmodisches?“

Ich, eigentlich, ja, doch. Also lüge ich: „Nee, nicht doch.“ Und denke an Steuern und Steuerklassen.

Sie: „Ich auch nicht.“ Glaubt sie das wirklich? Lügt sie? Wie ich? Bei Gelegenheit werde ich schärfer nachfragen.

 

Sie lässt mich wieder los. Ich schnuppere. Vier Schritte zurück: „Gefalle ich Dir?“

Ich mustere sie von unten nach oben. Um sie zu ärgern, tue ich nachdenklich, stütze mein Kinn auf die Faust.

„Na ja“, sage ich (und finde sie wunderbar). Ihre Beine, die durch die High Heels noch länger geworden sind, das Kleid, das straff auf ihrer Haut sitzt. Das Decoltee und ihr hübscher Busen. Der Hals, das Gesichtchen. Sie strahlt, sie freut sich. „Du bist wunder-, wunderschön!“, sage ich ehrlich.

Sie stürzt sich auf mich. Haucht mir einen duftenden Kuss auf die Lippen und ich spüre einen Vorgeschmack auf heute Abend oder Nacht, wenn wir wieder hier sind.

 

Der Traum wird Realität?

Der Ballsaal sieht aus, wie der in meinem Traum. Ich sage es ihr. Sie sieht mich an. „Jaa?“

„Ist das nicht komisch?“

„Ja!“

Noch ist das Licht grell. Von der niedrigen Bühne tönt leise Musik. Gedudel. Der Discjockey sortiert noch seine Platten. „Schellackparty“ heißt die Veranstaltung. Ein bornierter Ober fragt nach unseren Wünschen. Ich verschweige meine, die meine Freundin betreffen. Zu heiß! Geht den Pinguin nichts an. Wein, Bier, danke. Er rauscht davon.

Es füllt sich. Leute jeden Alters strömen in den Saal. Wir sehen uns um. Machen Bemerkungen. Albern ein wenig herum. „Prost, meine liebe Liebe.“ Sie versteht. „Prost, mein lieber Liebling.“ Wie ich mich auf nachher freue!

Ich sehe ihre Aufregung. Sie ist gespannt, wie ein Regenschirm. Ihr Busen bebt, ich kriege die Augen nicht davon weg.

„Was guggst du?“

Der Jockey labert in sein Mikrophon. Wie immer ist kein Wort zu verstehen, aber wir glauben zu hören, was er sagt: Nichts Wichtiges.

Den ersten Tanz lasse ich aus. Lasse ich immer aus! Da bin ich unerweichlich. Ich gehe nie auf eine leere Tanzfläche!

Und stehe schon, und sie greift nach mir und schiebt mich in die Mitte. Die Musik dröhnt. Ich werde hin und her geschoben, und ich stolpere irgendwie im Rhythmus der Musik mit. „Na geht doch“, haucht sie mir ins Ohr. Es kitzelt. Ich liebe es, wenn es kitzelt! Wir sind nicht mehr allein. Ist ja ein Tanzball. Da kommen die Leute nur wegen des Tanzens her, sagt man.

 

Lachend schiebe ich meine Freundin die Treppe hoch. Sie lehnt sich zurück, in meine Hände und ich habe ihre Pobacken in den Händen und schiebe. Ich spüre die Muskeln, wie sie sich bewegen. Weich. „Schiieb!“ Und ich schiebe. Oben an der Wohnungstür küssen wir uns. Wir könnten auch hineingehen, aber hier draußen ist es romantischer. Klack. Das Licht ist aus. Sie fühlt nach meinem Schritt. „Pscht! Nicht hier“, flüstere ich ihr ins Ohr. Sie kichert, macht weiter. Mit links versuche ich die Tür aufzuschließen, mit der rechten Hand halte ich Mariele fest. „Mussu nischt, mich festhaltn“, behauptet sie und fuchtelt mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herum.

Geschafft. Ich freue mich. Die Tür ist auf, sie schlüpft mir unter dem Arm hindurch. Gerade, dass ich die Tür schließen kann, hängt sie an meinem Hals. „Das wahh schöön mir tuun soo die Füüüsse weh Durst!“, sagte sie ohne Pause und Luft zu holen und stolpert voraus. Ihre Schuhe fliegen in hohem Bogen durch den Flur. „Ah!“, ruft sie. Das Kleid flattert zu Boden, der BH. An der Badtür der Schlüpfer. Sie hüpft auf einem Bein. Ich will hinterher, doch sie drückt ihre Hand auf meine Brust. „Erst ich! Vasteehse …“ Ich verstehe.

 

Sie ist so lieb betrunken! Mit den Armen fuchtelt sie in der Luft herum, dreht sich vor unserem Bett, summt falsch eine Melodie, die mir bekannt vorkommen müsste. Meine Arme habe ich hinter dem Kopf verschränkt, sehe ihr zu. Wie sie sich biegt und windet!

„Na, Kleiner, wie geht’s Deinem Kleinen?“ Freches Stück! Das sieht sie doch!

„Er ist schon ganz gespannt“, antworte ich. Vorsichtig, auf den Knien, kommt sie auf näher.

„Butschibutschi. Der Süße. Ummefallen!“ Sie kichert schon wieder. Ihre Hände sind warm. Sie plumpt auf das Gesicht, liegt neben mir und schnauft.

Ich decke uns zu. Sie ist wirklich ein süßes Mädchen. Ich liebe sie. Als ich mich umdrehe, kuschelt sie sich an mich. „Ich passe auf, dass dem Kleinen nichts passiert“, nuschelt sie noch und schläft schon wieder weiter.

 

Mariele, das ist meine Freundin. Man spricht übrigens: Mar[i]’jel! Sie darf eine Stunde länger schlafen. Sie hat es gut. Sie arbeitet in einem Bürohaus als Vorzimmerdame. Leise krieche ich aus dem Bett.

„Musst Du heute unbedingt arbeiten?“ Ich dachte, sie schläft noch.

„Ja, unbedingt.“

Das Wasser rauscht. Sie sagt etwas, das ich nicht verstehe. „Waas?“

„Unbedingt?“ Sie lehnt an der Badtür. Ihre Knospen stehen vor. Es ist kühl. „Du hast strenge Chefs.“

„Habbich!“ Bin ja selber einer.

Wasser im Gesicht. Ihre Hand dort, wo sie nicht hingehört. Ich fliehe.

Sie hat sich neben mich gesetzt. Mariele hat das dunkelblaue T-Shirt an, das sie sonst, nur nicht heute Nacht, zum Schlafen benutzt. Sie sieht mich von der Seite an. Ich schlürfe harmlos meinen Kaffee. Ich liebe sie.
„Ich liebe Dich“, sagt sie. Und ich sehe ihr Gesicht. Es ist wahr, was sie sagt.

„Ich werden dann mal ...“

 

Unser Büro, unsere Creativbude, befindet sich im fünften Stock, eines ehemaligen Spritzgusswerkes. Das Haus, ein alter Klinkerkasten steht im zweiten Hof. Er bildet ein geschlossenes Karree.

Man hatte das Haus leergeräumt, schon vor vielen Jahrzehnten. Danach stand es leer, und starb leise vor sich hin. Bis jemand kam und sagte: Hier, Leute, ist ein Haus, es ist noch brauchbar. Macht was draus. Das Haus lebte auf. Helle Treppenhäuser, helle Räume, riesige Hallen oder kleingegliederte Büros. Gänge, Flure, alles möglich. Unten, im Erdgeschoss gibt es ein Café. Wir frühstücken dort oder essen zu Mittag oder gehen einfach mal hin um nichts zu tun. Weil uns nichts einfällt, weil wir nicht weiterkommen. Den Kopf entrümpeln, sagt Herbert, ein Kompagnon.

Das Café haben zwei junge Frauen (in festen Händen) in ihren festen Händen. Der Laden geht so, lala. Aber sie können davon leben, sagen sie.

Wir sind Grafiker, Werbekaufleute, Texter. Wir arbeiten für kleine Betriebe, Handwerker, Künstler. Manchmal auch für größere Betriebe. Wie eben gerade: ein Computerhändler. Weit verbreitet in Deutschland.

„Wir wollen nach Berlin“, sagt deren Chefchen.

„Guter Plan“, sagen wir im Chor.

„Wir brauchen eine Kampagne.“

„Okay, machen wir.“

 

Manchmal sitzen wir einfach nur so da. Sehen uns an: Herbert, Norman, Christa, ich. Keiner sagt was.

„Was hast Du gesagt?“ Irgendeiner unterbricht die Stille.

Dann sitzen alle vor ihren Bildschirmen. Die Tastaturen klappern. Es ist, es scheint, als hätten alle zur gleichen Zeit, DIE Idee gehabt.

Zwei Stunden später liegen die Idee, das Papier und manche Konzepte auf dem Tisch. Wir sortieren aus: Geht, geht nicht, geht schon gaaar nicht. Bruche mer net, fott domet (Köllnisch)!

Wenn mein Telefon klingelt, sehe ich zuerst auf das Display. Die Nummer von Mariele! Abheben. „Ja?“, hauche ich.

Nicht ihre Nummer? Dann: „Werbekontor Prenz’lberg. Was kann ich …?“ Ja, ich weiß. Man sagt nicht ›Prenz’lberg‹. Damit outet sich jeder Zugezogene. Und hier in der Gegend sind neunzig Prozent Zugereiste! Wer ›Prenzlauer Berg‹ sagt, outet sich als Eingeborener oder ‚sonstiger’ Berliner.

Übrigens, meine Kollegen auch. Zugereiste. Nur ich bin ein Berliner. „Ish bin ain Baeleener“, Kennedys berühmtester Satz. Einer muss sich ja auskennen, in dieser Stadt.

Feierabend ist heilig! Wir machen pünktlich Schluss. Das war zum Anfang nicht so. Überstunden, noch und nöcher. Bis es uns gereicht hatte. „Das geht so nicht“, protestierte Herbert und alle nickten. Herbert hatte einige Jahre in Norwegen gelebt. Dort hatte er studiert, gearbeitet. Und gelernt, dass ein Unternehmen auch über-leben kann, wenn keine Überstunden gemacht werden.

Ich bin immer vor meiner Freundin zu Hause. Dann mache ich Abendbrot. Das macht mir Spaß. Die Gedanken sind frei, schweben hierhin, dorthin. Ich schneide mir in den Finger. Nicht schlimm. Es blutet nur. Die Tür geht, Mariele!

Mariele heißt wirklich Mariele. Was ihre Eltern geritten hatte, sie so zu nennen, weiß kein Mensch. Vielleich war sie so ein süßes Mädchen. Mit Zöpfen und einer frechen Nase und frechen Augen. Mariele eben. Sie hat zwar keine Zöpfe aber eine freche Nase und freche Augen. Und Sommersprossen! Im Gesicht und woanders. Nicht viel.

Sie huscht an der Küchentür vorbei. „Bin daha!“

Ich höre sie rumoren. Sie zieht sich um. Arbeitskleidung weg, Freizeitklamotten an! Und heute?

„Guck mal.“

Mir bleibt die Spucke weg. Aha, deswegen kommt sie eine Stunde später nach Hause!

„Wie, was ist das ...?“, stottere ich.

„Naja, als Entschädigung für gestern.“

„Gestern?“ Ach so. Weil sie eingeschlafen war. „Nicht so schlimm gewesen“, ich winke generös ab.

„Soll ich’s wieder ausziehen?“

Ich schlucke wieder. „Nö, nö. Lass mal.“ Und: „Vorläufig.“ Mir schlägt das Herz bis in den Hals.

Sie kommt auf mich zu. Was sie anhat, ist weniger als kaum etwas. Ein paar Dreiecke (drei an der Zahl), verbunden mit dünnen Schnürchen. Sie gibt mir einen flüchtigen Kuss. Ich rieche ihr Parfüm, ihre Haare, ihre Haut.

„Müssen wir jetzt essen?“, frage ich.

 

Wir speisen später. Dem Salat scheint die Wartezeit nicht bekommen zu haben. Er hängt traurig und welk über die Schüsselränder. Mariele stochert mit der Gabel in der Schüssel herum.

„Duhu?“

Sie sieht mich über ihre Gabel an.

„Hm.“

„Wegen dem Heiraten und so, weissu.“

Ein schlechtes Deutsch, denke ich. Doch ich nicke.

„Nö.“

„Wenn ich nun - meine Meinung - geändert - hätte.“

„Ja?“

„Wenn ich nun, sozusagen ...“

„Du machst mir einen Heiratsantrag?“

Sie stopft sich den Mund mit einem Blatt welken Salats voll. „Mpfh-pstu-res-hei-ten.“

„Ich würde Dich schon“, sage ich tapfer, denn ich habe kein Wort verstanden. Aber den Sinn. Glaube ich.

„Tatsache?“

„So wahr, wie ich hier sitze.“ Der Salat ist wirklich fertig, denke ich, wir hätten erst essen sollen.

Weiter komme ich nicht. Mariele hängt mir um den Hals. Sie hat immer noch (oder wieder?) die winzigen Läppchen an ihren intimen Stellen. Es fühlt sich gut an. Der Stoff, ihre Haut. Jetzt sitzt sie auf meinem Schoß. Mit einen Finger ziehe ich die Konturen ihrer ‚Kleidung’ nach. Sie kichert, küsst mich. Hat Gänsehaut. Ich liebe es, wenn sie Gänsehaut bekommt. Dann gehe ich dazu über, ihre Täler und Hügel zu erkunden.

Ich liebe sie.

„Morgen gehst Du ins Rathaus und bestellst ein Aufgebot“, bestimmt Mariele. Leise. Ich nicke. Mehr geht nicht, denn mein Hals ist trocken. Ihre warme, weiche Haut lässt mich ausdörren. Und was ich mir gerade vorstelle, fühlt sie.

 

„Wann kannst Du Urlaub machen?“, fragt mich Mariele zum Frühstück. Ich habe mir noch keine Gedanken gemacht.

„Ich habe noch nicht darüber nachgedacht“, sage ich.

„Im September? Geht das?“

„Muss ich fragen.“

„Frag!“

Ich frage nicht, warum ausgerechnet im September.

 

 

Ich frage also: „Jemand was dagegen, wenn ich im September Urlaub mache?“

Alle sehen von ihren Tastaturen auf.

„Urlaub?“

„Urlaub.“ Ich erkläre, was man unter Urlaub versteht.

„Aha. Das meinst Du.“

Allerdings erfahren die Kollegen noch nicht, dass wir heiraten werden, Mariele und ich. Wir werden sie überraschen. Ob sie sauer sind, wenn sie es nicht vorher erfahren haben? Das ist ungewiss.

„Nee, fahr man. Mach mal Urlaub.“

„Ich bin dann den ganzen September verschwunden.“

„Okay.“

So einfach! Nicht einfach! Es gibt Handys und Tabletts, droht mir Herbert.

Und jetzt melden alle ihre Ansprüche an. Und, ja, es ist der erste Urlaub nach sieben Jahren für mich und für alle.

 

„Ja, wir machen Urlaub“, sage ich am Abend zu Mariele. „Schön“, sagt sie. Ist das alles?

„Und, was hast Du Dir vorgestellt?“

„Balkonien.“

„Nö, ne?“

Mariele grinst über das ganze Gesicht. „War ’n Scherz.“

„Was dann? Die Wahrheit. Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.“

„Venedig, Mantua, Padua. Die Lombardei. Vielleich sogar Rom?“

„Du meinst das nicht ernst.“ Ich zweifele. Nicht das mir ihr Vorschlag nicht gefällt. Sehr sogar. Nicht Frankreich?

„Doch. Ich meine es ernst.“

„Gebongt“, sage ich. „Wer zahlt?“

„Du!“

Typisch. Immer soll ich zahlen.

„Unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“ Sie sieht mich sehr, sehr, sehr misstrauisch an.

„Wir heiraten vorher.“

„Hast Du denn schon ...“

„Ich habe schon ...“

„Ein Aufgebot“

„Ein Aufgebot bestellt.“

Küsse. Sie mich, ich ihr. Nein, ich sie!

Jetzt ist Mariele aufgeregt. „Es gibt ja so viel vorzubereiten!“

„Wohl, wohl“, sage ich. Und freigiebig: „Mach mal.“ Ich wedele großzügig mit der Hand.

Mariele steht vor mir. Kämpferisch. „Ich alleine? Nee, mein Lieber, da musst auch Du ran!“

Ich versuche es: „Ich kenn mich da nicht so aus, weissu.“

„Unsinn. Das ist ganz einfach.“

Und nun erklärt sie mir, was ich zu tun habe: Einladungen, Tischkarten, eine Liste der Gäste, das Menü. Hast Du überhaupt was anzuziehen. Ich nicht!

„Nimm doch die Stoffstreifchen, Du weißt schon“, schlage ich vor.

„Ist das nicht ein wenig zu gewagt?“, fragt sie und holt eine Kondompackung aus einem Schubfach. „Dann reicht Dir ja dieser Anzug!“ Ich gebe auf.

Nach drei Tagen haben wir uns geeinigt. Eine lange Liste liegt auf dem Tisch. Oben, auf der Liste steht: ICH, damit ist sie gemeint. DU, damit bin ich gemeint. Meine Liste ist länger, finde ich.

„Unsinn“, sagt Mariele. „Du hast bei Dir nur größer geschrieben.“ Das stimmt - nicht! Aber ich will mich nicht mit ihr streiten, denn in den letzten drei Tagen war nichts mit, naja, eben DAS. Allet wejen die Uffrejung!

„Geh in Dein Bett!“, hieß es. Ich habe mir geschworen, nie wieder in meinem Leben zu heiraten, nur dies eine Mal. NIE WIEDER! Drei heilige Eide!

 

Die Gästeliste ist überschaubar. Eltern, nahe Verwandte, Freunde, Kollegen. Nur fünfzig Leute. Ich finde zuviel, schlage vor, noch einige Gäste von der Liste zu streichen. Ich rufe in die Küche: „Seh mah: Den Onkel dort, den konntest Du doch noch nie ...“

„Ach so? Nun doch wieder?“

„Ein was?“

„Ein Erbonkel. Aha!“

Raffiniertes Weib, meine Mariele. Ich liebe sie!

Und ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert - John „Hannibal“ Smith vom A-Team.

 

Die Hochzeit! Morgen. Mariele ist aufgeregt. Ich auch. Nein, kein Junggesellenabschied! Kein Polterabend. Nur ab zum Standesamt, schnell „JA“ gehaucht, eine Nacht lang gefeiert und wech, ab nach Italien!

 

Wir hätten keinen Käfer mieten sollen. Dieses Museumsstück brachte uns bis Innsbruck, dann gab das Käferchen den Geist auf. Wir hocken in einem Hotel. Dicht an der Fernverkehrsstraße und in der Nähe des Flughafens. Aha, deshalb war noch ein Zimmer frei.

Ein Ersatzauto bekommen wir erst morgen. Geliefert. Immerhin.

Mariele hat sich im Bad verbarrikadiert. Sie plätschert in der Wanne herum. Im Fernseher läuft ein Quiz. Die Kandidaten sind wahrlich zu doof. Langeweile, so ohne Mariele.

Ich muss sehen, was meine Frau treibt. Meine Frau! Seit gestern! Als ich den Kopf ins Bad stecke, bekomme ich eine Fuhre Schaum ins Gesicht. „Entfernen Süh söch, sö Löstling!“ Ich kann nichts sehen und falle in die Wanne. Das Wasser läuft über, meine Strümpfe werden nass, meine Hose, mein Hemd. Nun muss ich doch alles ausziehen.

„Onterstöhen sö söch!“, ruft Mariele als ich zu ihr steigen will. „Öch bön eine ehrsahme Frau!“ Ist sie. Das kann ich bestätigen!

Eine Stunde später, frisch gebadet, befriedigt und zufrieden, auch mit dem Leben, gehen wir essen.

Dass das Hotel, von den angegebenen drei Sternen in Wahrheit nur zwei erreicht, egal. Was soll’s. Morgen sind wir eh nicht mehr hier.

Das Essen ist gut. Nicht das im Hotel. Das haben wir gemieden. Ein Restaurant, drei Ecken weiter.

Wir sitzen am Fenster, uns gegenüber. Draußen tobt der Durchgangsverkehr knapp vorbei, von West nach Ost und umgekehrt. Wenn ein Laster über die Straße rumpelt, wackeln die Fensterscheiben. Aber es ist Sommer, es ist schön, wir haben Urlaub. Irgendwann wird es sich beruhigen, sagt die Serviererin. Sie meint den Verkehr. Wir stoßen drauf an. Ich sehe meine Frau, in aller Ruhe, heute zum ersten Mal. Seit Wochen, nur Aufregung. Jetzt hocken wir gelassen in diesem Restaurant, stoßen mit den Gläsern an.

„Prost, Alte“, sage ich.

„Prost, Alter.“ Sie sollte mich nicht so ansehen. Es geht mir durch und durch.

„Liebst Du mich?“ Frauenfrage. Was denn sonst? Doch ich muss sie necken.

„Ich finde“, sage ich, indem ich mich zurücklehne, „dass wir schon sehr, sehr lange Mann und Frau sind und daher ...“

„Uuund daheer?“

„Naja, die Frage, ob ich Dich liebe ...“ Ich mache eine bedeutungsvolle Pause und ein schlaues Gesicht.

„Vorsicht“, droht mir meine Frau Mariele. „Sag jetzt nichts Falsches.“

Schnell kriege ich den Bogen: „Kurz, meine Liebe, meine Liebe zu Dir ist unendlich!“

Mariele atmet auf. Ich atme auf. Ich bin doch ein schlaues Kerlchen!

„Was werden wir für ein Auto bekommen?“, fragt Mariele. Wir liegen im Bett, unter dicken, frisch duftenden, wärmenden Daunendecken. Ich ahne schon, dass ich die ganze Nacht obendrauf liegen werde.

„Eine Simuline!“

„Eine waas?“

„Na so’n Auto, mit Türen vorne und lang.“

Mariele zweifelt. „Lang? Wirklich?“

„Hab ich ausgesucht. Lang, sehr lang.“

„Ein Mercedes“, mutmaßt sie.

„Nö.“ Ich mache es spannend, weil ich weiß, was jetzt losgeht. Und da beginnt es schon. Ihre Hand fährt über meine Brust. Sie zieht einen Schmollmund. „Süßer“, haucht sie zuckersüß. „Sag es, sonst ...“ Sie zieht an meinen Brusthaaren. Eine Androhung noch schlimmerer Torturen. Doch tapfer halte ich die Folter aus. Ihre Hand tastet sich tiefer. Sie piekt mir mit spitzen Fingernägeln in die Seiten. Mariele weiß, dass ich nicht kitzlig bin. Ich bin nicht kitzelig!

Bin ich doch! Nicht mein Tag heute. Wir kichern. Ich umfasse ihre Taille.

„Nicht kitzeln!“, fordert Mariele. „Nein.“ Ich bin ganz Unschuld.

Marieles Hand tastet sich tiefer. „Du hast nichts an“, stellt sie fest. Sie hat mich doch aus dem Bad kommen sehen! Ich prüfe, taste, fühle. Aha, sie auch. „Du bist doch auch - nackt.“

„Na und? Ist doch was ganz anderes und kein Grund, mich zu betatschen.“

„Stimmt, isses nicht.“ Ich stimme zu. „Es ist ein Muss!“

„Mir ist kalt“, lügt sie, indem sie dicht an mich heranrückt. Ihre Finger lügen. Sie sind warm und befinden sich jetzt an einer Stelle, die sehr empfindlich für Berührungen ist. „Ich liebe Dich“, flüstert sie.

 

Es gibt nichts schöneres, als nach einer Liebesnacht aufzuwachen und seine Geliebte neben sich zu sehen. Mariele starrt mich an. Davon bin ich wohl munter geworden.

„Morjen“, haucht sie und lächelt.

 

Ein Mensch in einem Anzug steht im Frühstücksraum „Herr und Frau ...?“, fragt er. Wir sind die Einzigen. Sehen uns um. Wer sollte also noch?

Na gut. Ist ja korrekt. „Ja, wir sind“, antworte ich.

„Ihr Auto steht bereit.“ Er entschuldigt sich, setzt sich trotzdem an unseren Tisch. Schlüssel, Papiere, Vertrag.

„Gute Reise“, sagt er noch.

„Na“, sagt Mariele, „war doch ganz easy.“

„War es. Wann fahren wir los?“

„Wir haben Zeit.“

Gut, schauen wir uns Innsbruck an. Italien gibt es seit Millionen von Jahren. Das wird übermorgen auch nicht verschwunden sein. Wir bleiben noch eine Nacht. Der Hotelier freut sich.

 

Mariele hat ein Hobby. Sie malt. Sie malt sehr gut. Sage ich, sagt Herbert, unser Grafiker.

Mit dem Bus gegondeln wir ins Zentrum von Innsbruck. Der Inn fließt gemächlich und grau, wie meist, an Innsbruck vorbei. Irgendwann im Norden, bei Passau, wird er sich mit der Donau vereinen und sie verfärben. Im Frühjahr vor zwei Jahren hatte ich ihn anders gesehen. Da tobte eine graue Gipswassermasse, dicht unterhalb der Ufermauern brüllend vorbei. „Ah, wird scho’, bassssst“, sagte ein Eingeborener und winkte ab.

Er hatte Recht. Es wurde, es passte. Der Inn hatte später wieder brav in sein Bett gefunden.

Heute spiele ich Stadtführer. „Und links sehen Sie …“

„Schauen Sie rechts. Das Haus bewohnte …“ Steht dran. Auf einem Kupferschild. Mariele ruft begeistert: „Du kannst ja lesen!“

Wir strömen durch eine Bildergalerie. Mariele wird langsam. „Schön“, flüstert sie vor einer Statue. Ein Männerakt. Was meint sie? Das Bild? Den Mann? Sein Dingens?

Fußmüde steigen wir in den Bus.

Sie schnattert, ich muss nicht zuhören. Nur nicken. Sehe ihre strahlenden, glücklichen Augen. Ich nicke ein. Sie hat sich an mich gekuschelt, der Bus schüttelt uns zusammen. Ich liebe Mariele!

„Wir müssen raus!“

 

 

Die Limuzzine (O-Ton Mariele) ist doch ein Mercedes. Auch gut. Nur eben kein Cabrio und kein Käfer. Und schon gar nicht ein Cabrio-Käfer. Schade aber nicht zu ändern.

Sie fährt. Die Brennerstraße aufwärts. Neuhunderttausend Kurven später treffen wir auf den „Passo del Brennero“.

Es ist noch nicht lange her, und schon beinahe vergessen: Hier zeigte man seinen Pass vor, Zöllner umschlichen auf der Suche nach Beute dein Auto. Hier tauschte man ein paar Scheine Deutscher Mark gegen einen Stapel lapprigen, aber schönen, bunten Lira. Vorbei. Den Göttern sei Dank! Mögen sie uns einen langen, langen Frieden bescheren. Vielleicht sollte man selbst etwas dazu tun. Ein bisschen Frieden, summe ich vor mich hin.

Pasta. Basta! Mehr gibt es nicht. Wenn wir nicht zu lange hier oben verweilen, sind wir am frühen Nachmittag in Verona. Dunkle Wolken ziehen über den Pass. Es nieselt. Schnee dazwischen. Mariele friert. Alle Frauen frieren in Angesicht solcher grauen Wolken und Nieselregens. Ein Espresso wärmt nicht.

„Wir fahren am Gardasee lang!“ Mariele klatscht in die Hände. Rutscht mit dem Po auf dem Stuhl herum. Ich würde gerne ihr Stuhl sein. Sie sieht mich mit bittenden Augen an: „Bittööö!“

Mir egal. Ich sage: „Mir egal.“

„Was? Mir egal? Gardasee! Hallo!“ Sie klopft gegen meine Stirn.

Zucke die Schultern. Keiner da!

Als wir über die Berge sind, liegt er vor uns. Der Gardasee! Die Wolken haben sich rechtzeitig verzogen. Sie sind irgendwo in Österreich geblieben. Vielleich gefällt es ihnen dort besser.

„Halt!“

Wir rauschen, eine Staubwolke aufwirbelnd, in eine Parkbucht. Dann stehen wir an der Leitplanke. Still. Versunken im Anblick eines Juwels. Ich lege meinen Arm um Marieles Schulter.

„Ich liebe Dich, für diese Idee“, sage ich.

„Und sonst?“

„Und sonst!“

„Seh mal, das Blau.“

Der blaue Himmel spiegelt sich im Wasser. Himmelblau! Azurblau. Blaues Blau! Ein Segler kreuzt, zieht hinter seinem Heck einen weißen Streifen Schaums her. Motorboote flitzen, unhörbar hier oben, über den See. Ihre keilförmigen Wellen zeichnen Muster, die sich gegenseitig kreuzen, überschneiden und überlagern. Marieles Kopf liegt an meiner Schulter. Ich wage es nicht, mich zu bewegen. Sie duftet.

Rechts steigen aus dem See Berge auf. Im Spätsommerdunst scheinen die Tannenwälder dunkelblau. Hier und da ein Haus. Manchmal sieht man das Stück einer Straße. Links, die Berge, sind nicht so hoch. Am Rand des Sees klammert sich die Straße an die Berghänge. Dörfer und Ministädtchen pressen sich an die Felsen. Pappeln säumen die Uferstraße; Man sieht Anleger, Buchten. In Ufernähe Trattorias, Restaurants, Cafés. Noch steht die Septembersonne hoch. Wir fahren weiter.

 

Mariele ist eine hervorragende Autofahrerin. Gelassen schwimmt sie in der italienischen Aufregung mit. Hier, kurz vor Verona, nimmt der Verkehr zu. Feierabendzeit, Abendessenzeit, Ruhezeit, italienisches Zeitgefühl. Aber noch ist Zeit. Orangefarbenes Licht, der untergehenden Sonne. Wir suchen das Hotel.

„Dort!“ Nein, isses doch nicht.

„Aber hier!“

‚Hotel Garda’. Wie sollte es sonst heißen?

Verona liegt noch ein kleines Stück entfernt.

„Wir haben angerufen …“

„Ah. Si. Buona Sera! Willkommen.“

Das Zimmer ist einfach. Nichts Gestyltes. Wie überall, sauber, frisch. Hier, außerhalb der Stadt, ist die Luft noch sauberer. Man hatte ausgiebig gelüftet, Mariele findet Mücken. Hunderte, die lauernd auf Frischblut hinter Gardinen hocken. Ein paar müssen sterben. Das kann heiter werden, heute Nacht. Sie klappert in der Waschtasche.

Ein Kopf erscheint. Vorwurfsvoll: „Hast Du denn kein Mückentötolin eingepackt?“

„Iiich? Dafür bist doch Du zuständig.“

„Niemals.“ Sie verschwindet im Bad. Machen Frauen gerne. Im Bad verschwinden. Stundenlang. Was machen sie da nur?

Sie klappert! Es zischt. Sie sieht aus der Badtür. In der Hand hält sie eine gelbe Spraydose. „Mückentötolin! Ich wusste doch, dass ich es eingepackt hatte.“ Ihr Triumph!

Ich atme auf. Happy wife, happy life.

Wir gehen auf „Happahappa“.

 

Verona. An Verona kann man Zeitscheiben erkennen, wie in vielen Städten Europas.

Sie beginnen in der Neuzeit. Zeit des Konsums und der Supermärkte. Möbel, Elektrowaren, Lebensmittel. Billig, teuer. Alles was das Herz begehrt. McDonald, Burger. Hier draußen wohnen auch Menschen. Weniger betuchte.

Wir erreichen den Stadtsaum. Häuser, Parks. Wohngebäude drei- und mehrstöckig. Die siebziger Jahre lassen grüßen. Der äußre Stadtring. Wohnhäuser, kleine Fabriken (auch Ruinen darunter). Eisenbahnbrücken. Dann die Altstadt:

Das Zentrum. Römisch, mittelalterlich. Um die Arena verwinkelte Gassen und Sträßchen.

Läden, alle wunderschön, alle zu teuer. Sagt Mariele, und die muss es wissen. Wir gehen Arm in Arm durch, glaube ich, jede Straße, die wenigsten einen Laden hat. Schaufensterln. Windowshopping.

„Die Schuhe! Die will ich - doch nicht haben.“ Der Preis ästimieret die Dame nicht.

„Guck mal.“ Ich gucke. Sie an. Was interessieren mich Ringe, Ketten und Uhren, wenn sie nicht an ihrem Körper befestigt sind. Sie hüpft.

„Guck doch maah!“

Ich bekomme einen Stups. Reagiere.

„Kann nichts sehen.“

„Na der da, Dummerchen.“

„Oh, wie preiswert. Nur neuntausend Euronen. Wirklich, den sollten wir erwerben.“
Sie strahlt mich an. „Ja? Ach das wäre schön, Männe.“

„Komm, wir gehen an uns bringen.“

„An uns? An mia!“

„Der Ring, Signore?“

„Hm. Ebenjener.“

Weiße Handschuhe präsentieren glänzendes Gold und funkelnde Edelsteine. „Eine wundervolle Arbeit.! Meisterhaft.“

„Si! Nä?“

„Kauf ihn“, drängt Mariele und steppt mit den Füßen.

„Aber, sehen Sie hier?“

Man linst. Sieht durch eine Lupe. „Der Einschluss?“

„Hmhm! Jener.“

„Hm. Ganz natürlich.“

„Schade. Ein schönes Stück. Wissen Sie was, wir nehmen ihn doch nicht.“

Mir klopft das Herz, als wir den Laden verlassen. Ich denke an Mafia, einen Betonklotz an den Beinen, eine Lupara knallt. Doch Mariele war schlauer. Sie hat den Ladenmenschen über den Tisch gezogen. Seinen Kopf. Mit beiden Händen. Hat ihm einen Kuss auf die Wange gedrückt. „Danke, danke“, hat sie gehaucht, und der Ladenmensch stand noch genauso da, hielt mit einer Hand den Kuss fest, dass er nicht herunterfalle. Und hat mit dunklen Augen meinem Weibe hinterher gesehen. Sicher auf ihren fabelhaften Hintern, der Lustmolch!

Eifersucht? Ich doch nicht!

Die antike Truhe haben wir nicht gekauft.

Den Designersessel auch nicht. Mariele hatte sich so reizvoll darin gerekelt. Und es wäre Platz für zwei gewesen. Doch dann wollte die Dame nicht. Tut mir leid, Signore.

Da wäre noch ein heller Anzug für mich gewesen. Achthundert nur! Fast geschenkt, Signore! Wir verschenken unsere Waren nahezu!

Danke, wir brauchen keine Geschenke. Lachen! Auf beiden Seiten.

Die Piazza um die Arena in Verona ist wohl der belebteste Ort, den ich bisher kennen gelernt habe. Ristorantes, Trattorias, Cafés beherrschen mit ihren Sonnenschirmen und den runden und eckigen Tischen den Platz. Wir haben Hunger, finden ein Tischchen für zwei.

Ich liebe italienische Küche! Ich liebe Mariele.

Sie sitzt mir gegenüber. Ihre Frisur hat aufgegeben. Die Haare hängen und fliegen wirr um ihren Kopf. Sie sieht süß aus. Konzentriert liest sie die Karte. Nehme ich, nehme ich, nehme ich, flüstert sie.

„Hallöchen, Signoria? Sie werden mir zu schwer.“

„Ach was! Ich habe Hunger.“

Und wie sie futtert!

 

Im Hotel landet mein Weib auf dem Bett.

„Stöhn!“

Sie versucht sich den Bauch zu halten.

Ich setze mich daneben, streichle ihre Oberschenkel. „Das tut gut“, sagt sie. „Willst Du mich massieren?“

Ich will.

 

Heute ist Museum angesagt. Dann erkunden wir weiter. Mussolinis Architekten haben sich verewigt. Auch in Verona. Sieht nicht einmal soo schlecht aus.

Nur die Erinnerung, die dran hängt, von der die Fassaden künden: Von einer Zeit des Hasses und der Verfolgung, Krieg und unsäglichem Leid.

Jetzt sind sie mir nicht mehr soo schön.

Ich seufze. Ein Park. Wir setzen uns.

„Ich liebe Dich.“

„Du sagtest es schon“, erinnert sie mich.

„Ah ja? Wann?“

Wir genießen Frieden, Ruhe. Menschen gehen gelassen vorbei. Familien mit ihren Bambini. Ein Liebespaar kommt geschlendert.

„Seh mah“, sagt Mariele. Und ich sehe; sie küssen sich.

„Will auch“, sagt Mariele.

Sie bekommt.

Ein Dackel dackelt auf uns zu, einen Mann im Trachtenjanker an der Leine. Er sieht uns von unten an. Der Dackel. „Na Du“, sage ich zu dem Fellträger. Er wackelt mit dem Schwanz, dann hat er genug gesehen. Geschäftig wendet er sich ab und zieht seinen Menschen an der Leine hinter sich her. Und ist um eine Strauchgruppe verschwunden.

„Netter Hund.“

„Willst Du auch einen Hund?“

Ich wackele mit dem Kopf. „Nein, ja, eigentlich - Nein!“

„Und ein Kind?“

Ich wackele wieder mit dem Kopf.

„Sag schon“, drängt Mariele.

Ich druckse.

 

Mariele zielt mit der Gabel auf meine Brust. Die Zinken sind fest mit Spaghetti umwickelt. Tomatensauce tropft auf den Teller. Ihre Augenbrauen sind zusammengezogen. Dazwischen eine Falte, dräut Unwillen.

„Sag schon.“

Sie hat’s nicht vergessen.

Ich will sie zappeln lassen. Natürlich will ich ein Kind. Aber sie soll es sich nicht so leicht machen.

Geduldig wickele ich eine Nudel um meine Gabel. Langsam drehe ich das Werkzeug. Die Nudel ist bissfest und will sich nicht formen lassen. Vorsichtig schiebe ich eine Muschel in ihre Nähe. Pieks. Die Nudel samt Muschel befindet sich sicher auf der Gabel. Ich sehe ihr ins Gesicht. Mariele, nicht der Muschel. Merke, jetzt sollte ich nicht übertreiben! Ihre Gabel zielt immer noch gefährlich auf meine Brust. Ich tue selbiges und ziele meinerseits mit der Gabel-mit-einer- Muschel-Nudel- auf ihre Brust.

„Ja“, sage ich.

Und: "Ich will.“ Und stecke Muschel samt Nudel in meinen Mund.

„Du Dooof!“ Die Falte ist verschwunden, ich grinse kauend. Erleichterung.

Sie beugt sich über den Tisch, will mir einen Kuss geben. Ich mag es, wenn sie das tut. Besonders heute, da sie das Top mit dem tiefen Ausschnitt anhat. Nach dem Kuss flüstert sie mir ins Ohr: „Liebst Du meine Möpse?“

Mit fällt Loriot ein: „Ein Leben ohne Möpse ist möglich, aber sinnlos.“ Hat er das gemeint? Äh, die? Ihre? Nicht ihre persönlichen, sondern allgemein. Ich frage Mariele. Sie nickt heftig, denn sie hat den Mund voller Nudeln. Dann, mit leerem Mund, setzt sie zu einer Begründung an: „Seh mich an. Trifft zu.“ Da hat sie Recht und Loriot und ich stimme beiden zu. Und Mariele zeigt es - sie.

Aber, in einem Hinterstübchen meines Gehirns meint ein jemand, das vielleicht, eher doch, diese seltsam kurzschnäuzigen Hunde gemeint seien könnten. Lassen wir ihn bei seiner unbedeutenden Meinung. Wir sind ja liberal! Und ich liebe Möpse!

 

Wir tappen durch einen dunklen Flur, zur Treppe, die uns zu unserem Zimmer führen soll. Das Licht geht auch wieder an. Es war wohl nur ein Kurzschluss. Unterwegs, noch in der Finsternis, hing Mariele in meinem Arm. „Ich habe sooolche Angst.“ Ja, klar doch. Du! Ausgerechnet.

Doch mein Beschützerinstinkt lässt sie mich fest umfassen. Dieses kleine, zarte Wesen. Ihre Hände suchen unruhig Schutz und finden ihn. Doch dann geht das Licht wieder an. Sie zieht die Hände zurück.

„Ah, Leucht!“

Leucht? Ich frage nach.

„Ja doch. Es leuchtet doch, daher sagt man das Leucht. Also Leucht!“

„Auf welcher Schule warst Du?“

„Leuchtschule?“

„Du Leuchte. Hast also das Leuchtabitur?“

Wir steigen aufwärts, wenden uns nach rechts. 231 steht an der Tür in schönen, verschnörkelten Lettern - Ziffern?

„Den Schlüssel bitte.“ Mariele hat die Hände gehoben. Eine schwere Operation steht bevor. Ich suche. „Moment, Signora Dottore. Moment.“
Hecktisch suche ich die Karte. Da ist sie! In der Seitentasche meines Jacketts. Ich reiche sie ihr über die Schulter, stehe dicht dabei. Sie stupst mich mit dem Hintern weg.

„Platz!“

Ich mache Platz, trete ehrfurchtsvoll zurück. Die Meisterin bei der Arbeit beobachten.

Klack macht es. Das Schloss ist offen. Sie sieht mich triumphierend an. Wie Egon Olsen hält sie die Karte in die Luft.

„Mächtig gewaltig, Egon“, sage ich.

„Wie nun? Egon oder Dottore?“

„Dottore Egon? Mächtig gewaltig.“

Die Pforte wird ganz geöffnet. „Tretet näher, mein Ritter.“ Ich gehe an ihr vorbei, die Nase hoch in der Luft. Sie kneift mir in den Hintern. Hinterlistiges Biest!

„Hinternlistiges Biest“, sage ich.

 

Ich bin total verschwitzt. Mariele ist total verschwitzt. Die Mücken, die wir gnädig ins Zimmer gelassen hatten, fliegen zufrieden nach Hause. Das Abendbrot hatte sich gelohnt. Für sie, die Quälgeister.

Mariele steht auf, schließt das Fenster, zieht den Vorhang ganz zu.

„Toll“, sage ich, „Jetzt kommen zwar keine Mücken, aber auch keine Luft mehr ins Zimmer.“

„Immer hast Du was zu nörgeln. Du hättest doch vorher das Fenster …“ Sie hat sich über mich gebeugt und küsst meine Brust, „... schließen können.

„Ging nicht. Beide Hände voll.“

„Salzig“, sagt sie. Kräuselt die Lippen.

Und: „Alter Fisch. Du schmeckst nach altem Fisch.“

Wie schmeckt alter Fisch? Was sie alles weiß!

Sie geht zum Bad. Faul sehe ich ihr hinterher.

„Langsamer“, fordere ich. Im Türrahmen bleibt Mariele stehen. Sie dreht sich um, langsam, lehnt sich gegen den Rahmen. Schweigt. Ein langer, langer Blick. Und lange steht sie so.

 

 

Die Mücken sind abgezogen. Das juckende Ergebnis ihres Abendmahls nicht. Wir haben tatsächlich ein Moskitonetz im Zimmer. Ich habe es gefunden, fluchend und grummelnd aufgespannt. Jetzt dürfen wir schlafen. Oder es wenigsten versuchen.

Das sanfte Licht der Straßenbeleuchtung fällt streifenweise ins Zimmer. Oder ist es der Mond? Ich bin zu faul, das zu prüfen. Im Interesse der romantischen Stimmung entscheide ich mich für - Mondlicht und bleibe entschlossen liegen.

Marieles Haut leuchtet im Mondlicht. Die Streifen des Mondlichts weiß, dazwischen dunkel dunkelblau. Ich halte krampfhaft meine Hände fest. Sie liegt, wie ich, auf dem Rücken. Atmet ruhig und gleichmäßig. Schläft. Tief und fest. Ich will, ich darf sie nicht stören. Mit den Augen ziehe ich ihr Profil nach. Die sanft gebogene Stirn, das Näschen, die süßen Lippen, das Kinn. Der Hals, liegt im Schatten. Dann ihre Brust im Licht. Der Bauch, sanft gewölbt. Und sanft geht es ins Tal der Männerträume. Ihre Schenkel. Kräftig. Die Füßchen.

Nacht.

Gute Nacht.

 

„Schläfst Du noch?“

Eine Hand kribbelt am Rücken. Ich stelle mich tot.

„Alter, auf!“ Ich werde geschüttelt.

„Oh mein Gott“, stöhne ich theatralisch. „Was ist geschehen? Ein Erdbeben.“

„Du hast geschnarcht!“

„Quatsch! Ich schnarche nie!“

Sie drückt ihren schlafwarmen Körper an mich. Ich kuschle mich in sie hinein, so gut es geht.

 

Italien hat wunderbar glatte Autostraßen. In der Regel. Wir fahren außerhalb der Regel, über eine untergeordnete Provinzstraße. Nummer sowieso, holpernd, nach Mantua. Auch ein Mercedes hat seine Grenzen. Zumindest die Federung.

Diesmal fahre ich, Mariele gibt den Kurs vor. Es wäre auch mit dem Navi gegangen. Aber Mariele meinte, sie wolle mehr sehen, als das Navi anzeigen kann und dies ginge nur, wenn man auch eine Karte dabei hätte. Oder einen Globus von Italien. Recht hat sie!

Die Karte liegt auf ihrem Schoß. Ihr wunderbares knappes Top hat sie auch an. Ich sehe zu ihr herüber.

„Deine Möpse hopsen.“

Ohne aufzusehen, einem Finger auf der Karte, sagt sie nur „Na und. Fahr ordentlich, dann hopst nix.“

„Will ich ja gar nicht.“

„Dann lass hopsen, was hopsen muss.“

Ach, was ist sie süß.

Ich nehme die nächste Bodenwelle.

Hops.

 

Die Straße macht jetzt einen Bogen. Rechts und links fliegen Felder vorbei. Sonnenblumen, Getreide, Gemüse, Wildwuchs. Einsam stehende Gehöfte, von einer Steinmauer umgeben. Manche bewohnt, andere verlassen. Felder. Ein Friedhof. Pappeln, Pinien. Gesträuch.

Wir halten an einem Laden mitten in der Pampa, an dieser einsamen Straße, an. Terrakotta soll es geben. Natürlich sind wir neugierig.

Mariele schreitet zielgerichtet auf den Eingang zu. „Aber wir kaufen nichts“, rufe ich schwach hinterher.

„Jaja“, sie winkt ab. „Klar doch.“

 

„Halt!“ Hundert Meter später stehe ich. Das Auto. Ich sitze ja drin. „Was?“

„Wir sind dran vorbei.“ Die Karte wird zugeklappt. „Das Hotel“, erklärt Mariele.

„Ah so.“

Ich fahre rückwärts, biege in eine Straße. Zwischen Mauern mit abbröckelndem Putz, hinter denen satte Gärten zu vermuten sind. Wir gelangen auf eine Piazza. Wieder halt.

Das Dorf ist nicht groß. Vielleicht hundert Häuser, eine Kirche, ein Campanile, ein Friedhof. Ein großer Platz mit einer Polizeistation, Bürgermeisterei, drei Kneipen. In der Mitte spielen die alten Herren Boccia. Die Frauen sitzen vor ihren Häusern und schwatzen mit den Nachbarinnen. Die jungen sind in der nahen Stadt. Arbeiten. Andere junge lungern in der Nähe der alten Männer mit den Bocciakugeln herum. Geben nicht gewollte und unbrauchbare Ratschläge.

Das Dorf hat auch ein Hotel. Wir hatten angerufen. „Si, ein Zimmer für zwei. Si, kommen Sie nur, bitte.“

Das Dorf bräuchte einen neuen Anstrich. Der alte ist schon fünfzig Jahre alt oder älter. Das Hotel entpuppt sich als - Hotel. Nicht groß, aber geräumig nach hinten. Wir haben einen Blick auf die Hinterhäuser und den Kampanile.

„Na und? Wir sind hier eh nur zum Schlafen.“

Ich stimme zu und schnuppere aus dem Fenster. Es duftet nach Backwaren und gutem Essen.

„Wollen wir heute Abend hier essen?“

„Jep.“

 

Wenn man von Osten nach Mantua kommt, überquert man eine Brücke. Links der Lago Inferione, rechts der Lago Mezzo. Man fährt oder geht am Herzogspalast vorbei die Via San Giorgio hinunter, um in die Stadt zu gelangen. Generationen sind hier schon durchgegangen, geritten, gefahren oder getragen worden. Ehrfurcht ergreift mich vor den alten Gemäuern.

Ich habe plötzlich Strumpfhosen an und ein kostbares Wams am Leib, ein Barett mit einer riesigen Straußenfeder auf dem Kopf sowie ein schmales Schwert an der Hüfte. Ich bin Herzog Orsini. Ich schreite stolz durch meine Stadt! Neben mir schwebt die Dame Olivia. Ihre kostbaren Roben rascheln. Sie sieht mich mit ihren braunen Augen strahlend an. „Oh, Herzog“, stammelt sie verliebt, „wie ich Euch liebe.“ Doch da steht er, der Feind, der Nebenbuhler. Den Degen gezückt …

 

„Wach auf“, Mariele. Shakespeares Geist entschwebt.

„Olivia?“, frage ich.

„Wer - ist - Olivia?“ Falte auf der Stirn.

Es hupt. Wir stehen mitten auf der Straße. Der moderne Nebenbuhler sieht eben anders aus. Rot. Wir treten zur Seite, verneigen uns tief. Das Auto fährt vorbei. Der Fahrer grinst.

„Komm.“ Wir treten auf die Piazza Sordello. Ich bin hin und weg. Mariele auch. Wir stehen mit offenen Mündern mitten auf dem Platz. Mit uns Hunderte Touristen, die ebenso gaffen. Wir dürfen das, wir sind fremd hier.

„So schön“, flüstert Mariele. Da schwebt er über uns: der Geist der Renaissance.

„Setz Dich. Falte die Hände und nun, still.“ Meine Frau.

Ich sitze, still.

„Prego.“ Der Espresso. „Gracie.“

„Nun trink schon, Junge. Du darfst.“

Ich trinke. In kleinen Schlucken. Mariele tut es auch. Wir sind in einer andern Welt. Man hat uns aus dem Ufo „HEUTE“ geworfen. Jetzt sitzen wir auf der Piazza, schlürfen Espresso, trinken Wasser (kostenlos) und fühlen uns wie Herzog Orsini und die Dame Olivia.

Touristen laufen über den Platz. Deutsche, Männlein wie Weiblein, in seltsamen Trachten: knielangen Stoffhosen, T-Shirts, auf denen Unsinn aufgedruckt ist und, natürlich, bestrumpften und behaarten Beinen in Sandalen. Asiaten. Sie lichten ab, immer noch, wie ihre Vorreiter vor dreißig Jahren. Nur sind es diesmal Chinesen und Koreaner. Japaner sieht man seltener. Einheimische. Zu erkennen, an der tadellosen Kleidung. Zeig mir einer ein italienisches Mädchen in Schlabbershirt und Schlabberjeans. Vielleicht in Rom. Hier in der Provinz nicht! Mariele stößt mich an. „Guck mal.“

„Oha!“ Noch ein Liebespaar! Sie guckt auf den Mann, ich auf die Frau.

„Manno“, flüstern wir gleichzeitig.

Wir holen unser schönes buntes Geld aus der Tasche. Zahlen. „Prego.“ „Gracie.“

Kolonnaden spenden Schatten. Die heiße Septembersonne bleibt draußen. Wir gehen Hand in Hand durch die Straßen. Hand in Hand, ohne dass sich zwischen den Handflächen eine Schicht salzigen Schweißwassers bildet. In einem Schaufenster sehen wir uns bei Schaufensterln zu. Mir gefällt meine Frau. Heute ist sie ganz in rot, weiß, grün. Rotes Shirt, weiße Hose (hauteng) und dunkelgrüne Heels. Sie hatte gegrinst, heute früh. „Seh mah. Ich bin die italienische Flagge“ Dabei summte sie die Hymne. Tata-tataa, Taataa-tata. Dann stutze sie fühlbar. „Wie läufst Du denn rum?“

„Wie jetzt?“

„Schwarz?“

„Ich liebe schwarz.“ Sie dachte nach. Ich sah es ihr an.

„Okay.“

„Ja, darf ich?“ Freude!

„Klar. Dann fällst Du nicht so auf.“

„Paradiesvogel.“

 

Wir kaufen wieder nichts. Auf einem Markt, etwas seitlich der großen Piazza handelt Mariele mit einem Antiquitätenhändler. Eine Truhe hat es ihr angetan. Nicht groß, sagt sie. Ich sehe ein Trum von der Größe der Zugspitze.

„Komm weiter, wie willst Du den Holzklotz transportieren?“

„Lass mich mah!“ Sie schiebt mich mit beiden Händen zu einem anderen Stand. „Da, guck!“ Kram!

„Was soll ich guck …“ Sie ist weg. Beim Antiquitäter.

Ich stelle mich unauffällig in die Nähe. Lache in mich hinein. Ich weiß, dass sie nichts kaufen wird.

Oder doch?

Sie wird doch nicht?

Nein, sie schüttelt den Kopf.

Der Antiquitäter zeigt drei Finger.

Sie nickt. Nee, nich?

Man schüttelt sich die Hände.

Sie winkt, lächelt.

„Sag blos...?“

„Ja. Ich habe sie. Wir holen sie morgen ab.“

„Seh mal“, sage ich zu ihr, doch sie schneidet mir das Wort ab: „Nichts da! Mein Geld!“

Ich liebe Sie dafür. Ihr Geld!

Dann ist ja alles gut.

Nichts ist gut. Im Hotel muss ich das Essen bezahlen. Sie ist so gemein zu mir!

 

Die Truhe erweist sich als schwerer, denn gedacht. Wir fragen den Hotelmenschen, ob wir das Stück irgendwo …

Ja, wir können. Er führt, wir schleppen und schwitzen. In einem Nebengelass werden wir die schwere Last los. „Aber Du musst zugeben, dass sie grandios ist!“ Sagt sie und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Ich gebe es zu. „Besser isses“, sagt sie.

„Ja, sie ist schön, die Kiste“. Und überlege, wohin mit dem Trumm. Haben wir denn noch Platz zu Hause?

„Kiiisteee?“

 

Oben zählen wir unsere Barschaft. Man kann sagen, was man will. Es ist ein buntes Geld. Und alle haben zu wenig davon. Wir auch.

„Seh mal“, sage ich, „das ist ein schönes, buntes Geld. Und wir werden ganz, ganz wenig davon ausgeben. Ja?“

Mariele nickt ernsthaft aber unglaubwürdig. Mit solch einem Seitenblick, der sagt: Ich brauche aber noch Schuhe und einen Rock und … Frauen!

Ich tröste mich mit ihren Anblick. Sie ist duschen. Eng die Dusche, für zwei Personen nicht gedacht. Also muss jeder für sich.

„Ich erst!“, als ich wollte. Sie schubst mich zur Seite. Ich will ihr zusehen, doch sie schickt mich weg.

„Guck Fernsehen.“ Ich gucke Fernsehen. Italienisch. Ich verstehe kein Wort. Und ich bin abgelenkt. Die Augen sehen Fernsehen, der Kopf denkt, Mariele in der Dusche.

„Du bist dran.“ Mariele, meine Frau, mein Weib, meine Liebste, schlüpft an mir vorbei, schiebt mich in die Dusche. Ihre Hände sind noch feucht.

„Mach schon.“

Ich mache.

Sie sieht um die Ecke.

„Ordentlich!“

„Du sollst doch nicht. Lüstling-in, Frau.“

Sie ist verschwunden. Ein moralisches Weib, das.

Aber so sollte sie nicht liegen. Ihr Hintern strahlt mir entgegen. Ich schleiche mich an, beiße hinein. Sie lacht, dreht sich um. Und gurrt, als ich sie vorsichtig berühre. „Nicht so dicht. Der Schweiß!“

„Dann duschen wir eben noch mal.“

 

 

Die Truhe passt gerade so durch die Tür und auf die Rückbank. Wir könnten schon wieder duschen, wenn das Auto eine Dusche hätte. Wir haben bezahlt, das Zimmer verlassen, das Trum, die Truhe, auf die Straße geschleppt und zum Gaudi der Schaulustigen in das Auto geladen.

„So musst Du sie nehmen!“

„Nein. Seh doch mal, so!“

„Mein Gott. Komm lass mich alleine ...“

„Jetzt hat sie’s. Warum nicht gleich so?“

Wir versuchen es mit Fahrtwind. Kühlung? Draußen herrschen vierundneunzig Grad in der Sonne. Im Auto doppelt so viel. Es klappt dennoch. Wir schwitzen scheinbar weniger.

Ostiglia.

Wir überqueren den Po nach Revere.

„Das ist der Po“, erkläre ich kenntnisreich, als wir auf der Brücke sind.

„Das ist eine Brücke. Ich will nicht mit Dir streiten, aber …“ Ich muss Frauchen unterbrechen.

„Po! Das ist jenes Gewässer, unter uns. Es heißt Po, wie Hintern.“

„Schöner Po.“

„Sag ich doch.“

Ein klitzekleines Restaurant nimmt uns auf. Freundlicher Kellner, freundlicher Wirt. Wir sind die einzigen Mittagsgäste.

Mariele sieht mich an. Zwischen zwei Gabeln sagte sie: „Meine Regel ist ausgefallen.“

Es dauert bei mir. Dann: „Ach.“

„Was heißt, ach?“

„Ach, heißt ach.“

„Weißt Du nicht, was das bedeutet?“

„Nein, ja, doch, kann sein, kann viel bedeuten.“

Schweigen. Falte zwischen den Augenbrauen.

„Ah so! Aber das kann viel bedeuten. Wenn es aber bedeutet, dass Du schwanger bist …“, ich stopfe mir den Mund voll.

Mit der leeren Gabel fahre ich durch die Luft, kaue auf. „… dann freue ich mich. Ja, ich freue mich.“

Mariele hat den Kopf schief gelegt. Ein Zeichen von Angriffslust, besonders wenn die Falte zwischen den Augenbrauen tiefer und tiefer wird. Ich kenne das schon.

Sie winkt ab. „Männer!“

Mit vor der Brust gefalteten Armen sieht sie zu, wie ich weiteresse. Ich halte inne. „Du kannst mir glauben, ich freue mich riesig.“ Jetzt isst sie auch wieder. Die Falte zwischen den Augenbrauen ist noch da.

 

Auf der Weiterfahrt schweigt Mariele hartnäckig. Ich hätte nicht so trocken sein sollen, denke ich schuldbewusst.

„Höh mah.“

„Ja?“ Na, wenigsten reagiert sie.

„Wir müssen sicher sein.“ Sie sieht mir in die Augen. Ich glaube, sie ahnt, was jetzt kommt. Das sie mir das immer ansieht!

„Jetzt?“

„Jetzt.“

Wir sind auf der Südseite des Po mitten in der Poebene. Kleine Wäldchen laden zum Verweilen ein. Ich schnappe mir eine Decke und eine Flasche Wasser. Mariele geht vor, sucht ein Plätzchen. Frauen sind da eigen. Ich latsche hinterher, sichere den Rückzug. Man weiß ja nie.

„Hier!“

Ein Plätzchen, umstanden von dünnem Gesträuch. Aus der Ferne undurchsichtig. Ich lege die Decke aus, wir legen uns nebeneinander. Sie beginnt. Dann liegen wir nackt auf der Decke. Die Sonne wärmt angenehm.

 

„Bist Du Dir nun sicher?“

„Ich denke schon“, sage ich. „Es hat sich gut angefühlt.

„Nicht wahr.“

Wir liegen immer noch in der Sonne. Sie wärmt noch, trotz der dünnen Schicht Zirruswolken, die einen Teil davon abdecken. Es ist weniger heiß, als gestern. Marieles Hand streicht über meine Brust. „Ich liebe Dich“, sagt sie zum Himmel. Ich stimme dem Himmel zu, der es mir zurückgesendet hat. „Si. Ische auche. Ti amo.“

Stille. Ein leiser Wind weht.

„Wie fühlst Du Dich?“

„Ich fühle mich gut. Ich freue mich.“

Schweigen.

„Sag, willst Du einen Jungen?“

„Ja.“

„Oder ein Mädchen?“

„Ja.“

„Junge und Mädchen?“

„Ja.“

„Junge oder Mädchen?“

„Ja.“

„Blödmann!“ Sie kneift mir ins Gemächt. Das tut man nicht! Dann liegt sie auf mir.

 

In der Ferne brummen Lkw über die Straße. „Wir sollten weiter, sonst müssen wir hier übernachten.“

In Ferrara finden wir Übernachtung, direkt im Zentrum. Teuer.

Dämmerung. Das geht schnell hier im Süden. Wir beeilen uns, in unser Zimmer zu kommen.

„Mir zittern immer noch die Knie“, sagt Mariele.

„Mir auch. Dreißig Mal hintereinander! Das schlaucht aber sowas von …“

„Großmaul. Dreimal war’s. Mehr nicht.“

 

Das Restaurant ist voll. Draußen sind noch zwei Plätze an einem langen Tisch frei. Wir gehen hin. „Dürfen wir?“

„Si, Prego.“ Eine Frau tritt an den Tisch, die Männer stehen achtungsvoll auf. Mariele nimmt hoheitsvoll Platz. Schließlich ist sie schwanger, wenn man es auch nicht sieht.

“Gracie.“

Junge Leute, wie wir. Sie unterhalten sich ungezwungen. Das Gespräch dreht sich um Arbeit. Was sonst? Arbeit. Schön, wenn man welche hat. Schön, wenn man damit Geld verdient. Schön, wenn man von dem Geld seinen Lebenunterhalt bestreiten kann.

„Si“, sagt mein Nebenmann. Er sieht mich an. Habe ich laut gedacht. Mariele nickt.

Er hält mir sein Weinglas hin. „Salute.“

„Salute“, sage ich, und Mariele sagt es, und alle am Tisch, und heben ihre Gläser und lächeln. Und dann fängt einer an zu singen. Eine traurige Melodie, eine wohltuende Stimme. Ich verstehe den Text nicht, doch das tut nichts.

 

 

„Was für ein schöner Abend. Ich will hier bleiben. Nie wieder zurück.“

Ich verstehe Mariele. Ich bin ein großer Mariele-Versteher. Ich würde auch bleiben, wenn ich nicht wüsste, dass es hier kaum anders ist, als bei uns in Berlin oder in London oder sonst irgendwo. Mariele weiß das auch.

Ich äußere vorsichtig Skepsis. Sehe die berühmte Falte zwischen ihren Augenbrauen. Gefahr im Verzuge!

„Man darf das ja mal sagen, oder?“

Ich nicke. „Darf man.“

Die jungen Leute sind gegangen. Wir haben Adressen getauscht. „Kommt doch mal vorbei, wenn ihr in Berlin seid.“

„Gerne. Danke. Tschüß. See you. „

Es wird ruhig. Keine Passanten mehr, keine Touristen. Die Tauben und die Spatzen haben sich schon lange zurückgezogen. Der Kellner steht in der Tür und wartet geduldig, dass wir bezahlen und gehen.

„Gehen wir?“ Meine schwangere Frau scheint müde.

„Wir gehen.“

 

Die Nacht ist diesmal kühler. Ich liege unter der dünnen Decke, mein Frauchen an der Seite. Ihre Haut ist kühl und weich. Ich rücke näher. Fühle ein leichtes Zittern.

 

 

In dem Café, gleich um die Ecke, frühstücken wir. Der Espresso ist exzellent. Heute sind Museumsbesuche geplant. Ich bin gespannt. Und Mariele ist gespannt. Sie sieht mich heute so weich an. Ihre Hände fühlen sich fiebrig an. „Ist Dir nicht gut?“

„Doch, doch. Alles in Ordnung.“

Fahrig streicht sie mir über die Wange. Ich fühle ihr Unwohlsein. „Wir bleiben zu Hause. Ruh Dich aus.“

Ihre Augen glänzen.

„Nein. Auf keinen Fall!“

 

Im „Museo Archeologico“ ist es dunkel und kühl. Mariele hängt an meinem Arm. Wir gehen von Exponat zu Exponat, von Vitrine zu Vitrine. Frauchen ist unkonzentriert. Sie sieht die Dinge nur kurz an. Kein Kommentar, kein „Oh!“ und „Ah!“ Unauffällig führe ich sie zum Ausgang. Wir laufen durch die warme Luft. Die Stadt ruht, heute ist Samstag. Leute kommen uns entgegen. Mariele ist still. Jetzt hält sie sich mit beiden Händen an mir fest.

„Bring mich nach Hause“, flüstert sie.

Im Hotel führe ich sie zum Bett. Ziehe ihr die Sachen aus und ihr Schlafshirt über. Sie lässt es ohne Protest zu. Sitzt einfach nur da und sieht mich mit glasigen Augen an. Ob sie Fieber hat?

„Ich rufe einen Arzt.“

„Nein. Lass mich einfach nur schlafen“, sagt sie schwach. Aus unserer Hausapotheke verpasse ich ihr eine doppelte Dosis Aspirin. Im Einschlafen haucht Mariechen: „Danke.“

Sie schläft, sofort, ich halte Wache und ihre Hand. Die Augen bewegen sich unter den geschlossenen Lidern. Aus dem rechten Auge rinnt eine Träne. Ganz winzig. Ich küsse sie weg, streichle ihre Wange. Ganz leise. Sie seufzt. Schweiß auf der Stirn. Nach Stunden lege ich mich dazu. Ziehe sie an mich heran und sie klammert sich im Schlaf an mir fest.

 

 

„Hunger.“

Ich schrecke auf. Wie üblich liege ich auf der Decke. Mein Blick geht nach rechts. Mariele! Ihre Augen sind wieder klar. Sie lächelt mich an. Zeigt mit dem Finger auf meine Mitte. Grinst.

„Nicht jetzt“, sage ich. „Du bist Rekonvaleszent.“

„Hungrig.“

Sie liegt auf mir, richtet sich auf. Ich sehe ihre schönen Brüste, küsse sie. Dann stillt sie ihren Hunger. An mir. Als wenn ich was dagegen tun wollte, wenn ich nur könnte.

 

 

Das Café hat heute geschlossen. Wir suchen, finden Ersatz. Auch hier schenkt man einen exzellenter Espresso aus. Wir essen krümelnd Kuchenbrötchen mit Schokolade.

„Du.“

„Ja, ich.“

„Danke. Ohne Dich hätte ich nicht überlebt.“

„Siehst Du. Es ist immer von Vorteil, wenn man auf Reisen den Arzt seines Vertrauens mitführt.“ Ich sehe mich in einer schwarzen Robe, mit einer Rabenmaske auf dem Gesicht durch die finsteren Straßen Ferraras ziehen, Mariele vor dem Sensenmann retten.

„Was hast Du mir gegeben?“

„Aspirin. Harmloses Zeug.“

„Mein Doc.“

 

 

Der Urlaub ist zu Ende. Fast. Wir versuchen, seit Stunden durch Bayern zu fahren. Die A9 ist verstopft.

„Ich hab’s Dir doch gesagt!“ Sie.

Schnauf.

Wir erwischen noch eine Abfahrt und - stehen im Stau.

„Ich hab es Dir doch gesagt.“

„Habe ich schon einmal gehört...“

Fünf Stunden später ist die B2 erreicht. Leer. Kein Auto! Mariele rast, ich klammere mich fest, trete Beulen in das Fußblech.

„Langsam. Wir wollen ankommen.“

Sie nimmt den Fuß vom Gaspedal. Rechtzeitig. Ich sehe eine Radarfalle an uns vorbeifliegen. Mit dem Daumen deute ich hinter mir. „Hast Du davon gewusst?“

„Wovon?“ Sie mit den Gedanken woanders.

Soll sie.

Soll sie nicht! Wir fahren Auto!

„Was denkst Du?“

„Nichts.“ Typische Männerantwort. Mann wird aus seinen Gedanken gerissen: Was denkst Du? Nichts. Belangloses. Ich ergänze: „Belangloses.“

„Was denn, Belangloses.“

„Belangloses eben. Oder auch Nichts. Nichts Wichtiges, nichts Bedeutungsvolles. Männer denken eben, wenn sie so herumsitzen - Nichts.“

Sie sieht auf die Straße.

„Das geht nicht. Man denkt immer was.“

„Frauen denken immer was. Männer denken NICHTS!“

„Ich habe an unser Kind gedacht.“

„Schön.“

„Wo soll es hin?“

„Wie, hin?“

„Es braucht doch ein Zimmer.“

„Es muss erst einmal da sein. Wir haben übrigens genügend Zimmer.“

Sie schüttelt den Kopf. „Was wird mit meiner Arbeit?“

Ich zucke mit den Schultern. „Was sagt der Tarifvertrag?“

„Nichts. Gibt es nicht, glaube ich.“

Ich fange an, zu rechnen. Acht Monate, dann muss sie aufhören. Ungefähr! Dann die Mütterwochen. Oder wie das heißt. Zehn Monate mindestens draußen. Babyjahr? Kriegen wir einen Kita-Platz?

„Du arbeitest gerne, nä?“

„Ja.“

„Musst Du unbedingt dort arbeiten?“

„Ich will arbeiten.“

„Aber dort, im Büro. Bei den schläfrigen Büromenschen.“

„Es sind nicht alle schläfrig. Das ist zum Beispiel der Klaus.“ Ich werde an die Tür gedrückt, höre die Hinterreifen pfeifen.

„Klaus? Der smarte Typ mit den komischen Fliegen um den Hals?“

„Ja. Er lädt mich immer zum Mittag ein.“

„Ach.“

„Schon wieder ›Ach‹. Da ist doch nichts dabei. Er bezahlt ...“ Sie grinst zu mir herüber, jagt wieder durch eine Kurve. Wald, rechts und links. Wenn wir abfliegen, reißen wir den halben Wald mit. Ich will nicht sterben!

Nicht jetzt schon.

„Eifersüchtig?“

„Und wie“, sage ich mit zusammengebissenen Zähnen. Sie grinst schon wieder. Sehr zufrieden sieht das aus. Mädchen, Mädchen! Du hast Dich wirklich gut erholt!

 

„Ich werde langsam müde.“ Das heißt, guck nach einer Unterkunft. Ich befrage mein Handy. Oh, nicht weit von hier. Und sieht gut aus. Ich rufe an.

Ein Doppelzimmer? Ja, haben wir. Danke, wir sind in zehn Minuten bei Ihnen.

 

Ich bin müde. Mariele ist müde. Sie gähnt mich an. Ich gähne, angesteckt, zurück. Ihr Gesicht ist angespannt, aber sie wollte ja nicht vom Lenkrad weg. Und wenn ich ehrlich bin, ich hatte gar keine Lust, zu fahren. Danke, Mariele.

Wir tragen uns gegenseitig zum Zimmer.

„Venedig war schön.“

Wie kommt sie denn jetzt darauf? Immer wieder behauptet Mariele, ich hätte krause Gedanken...

Natürlich war Venedig schön. Wunderschön.

 

 

Das Parkhaus ist riesig, bewacht und macht einen sicheren Eindruck. Wir schnappen uns unser Gepäck. Fahrkarten für den Veneziabus nehmen wir unterwegs mit. Ich nenne die Boote, Schiffe Veneziabus. Wie sie richtig, auf Italienisch genannt werden? Keine Ahnung. Die Bootsführer haben Schweizer Uhren. Jedenfalls legt das Schiff pünktlich ab, und bringt uns etliche Stationen weiter. Mariele ist begeistert (ich auch). Es riecht nach Wasser, Fisch und Diesel. Seefahrerduft. Um unser Schiff wuseln Motorboote und Gondeln mit Touristen. Es schaukelt. Wir stehen an der Reling, lassen die Ströme der Passagiere an uns vorbei und verpassen den Ausstieg. Nicht schlimm. Fahren wir eben wieder zurück. Wir sind Urlauber. Niemand treibt uns.

Ein schmaler Fußweg zwischen dem Kanal und den Häuserwänden. Wir gehen hintereinander, klammern uns an unsere Taschen. Durch eine winzige Gasse sehen wir unsere Unterkunft. Wir gehen vorsichtig hinein. Es ist kühl, angenehm. Mariele schweigt.

„Du schweigst?“

„Ich bin ergriffen.“

„Warte auf Morgen“, sage ich geheimnisvoll.

 

Wir checken ein, zahlen mit Visa im Voraus. Drei Tage Venedig. Ich flippe aus!!

„Wo kann man gut essen?“

Die junge Frau an der Rezeption erklärt uns anhand eines Stadtplanes, wo es gut ist. Ich weise vorsichtig darauf hin, gerne „tipico venezia“ essen zu wollen.

„Ah, verstehe! Danne Sie gehen hiere hine.“ Wieso kann sie auf einmal Deutsch? Und lächeln?

Wir schaffen es fußläufig. Mariele ist immer noch still. Mit offenem Mund tappt sie neben, mal hinter oder vor mir her. „Da rechts lang.“ Sie geht, wie an Schnüren gezogen. Dann ein Wort: „Fotoapparat!“

„Ham wa nich mit“, sage ich lakonisch. Fotografieren war für morgen vorgesehen.

Mariele rührt sich nicht mehr. Der Ansatz der Falte zwischen ihren Augenbrauen vertieft sich. Was muss ich tun, um ... Aha! „Wir nehmen morgen den gleichen Weg. Mit Fotoapparat und Zeichenblock und ausserdem ist es dann heller.“

Mariele lächelt wieder. „Ja, das ist in Ordnung.“

Das Restaurant hätten wir beinahe übersehen, wenn sich nicht ein paar winzige Tischchen und Stühle an ein großes Fenster gedrängt hätten. Die Passanten weichen den Möbeln vorsichtig aus und balancieren abenteuerlich dicht am Kanal entlang.

„Hier draußen?“

„Lass uns sehen gehen“, sagt Mariele.
Wir gehen sehen. Auch die Gäste sehen - auf, der Wirt kommt hinter der winzigen Theke hervor. Über seine Schulter sehe und höre ich die Küche. Es zischt, brutzelt, Geschirr klappert. Eine fröhliche Frauenstimme ruft etwas, und der Wirt antwortet: „Ähh!“ Er winkt ab. Wahr wohl nicht wichtig. Gäste kommen!

Anheimelnd. Hier bleiben wir, entscheide ich. „Hier bleiben wir“, entscheidet Mariele.

Ich krame meinen winzigen italienischen Wortschatz hervor. Erstaunlicher Weise versteht der Wirt. Er zeigt auf einen Tisch an der Wand. Mariele schüttelt ihr Haupt. „Draußen.“

Er führt uns an den Tisch, draußen, direkt neben Tür. Und wartet. Ich murmele wieder etwas von tipico vene... Ein Redeschwall bricht auf uns hernieder.

„Genau, das essen wir.“ Er verschwindet zufrieden, kommt wenig später mit einer Karaffe Rotwein zurück und der obligatorischen Wasserflasche. „Con gas?“, fragt er, zeigt die Flasche. „Non, senza gas, prego.“ Er holt unter dem Arm eine gaslose Wasserflasche hervor. Das nenne ich Service. Er setzt uns in Kenntnis, dass der Wein aus der Region käme. Tipico di reggio, oder so. Ich hatte es nicht ganz verstanden.

Wir kosten. Schmeckt. Jetzt noch das Essen.

 

Mit stark gedehnten Bäuchen, darin Mägen, die definitiv nicht mehr in der Lage sind etwas in sich aufzunehmen, schleppen wir uns ins Hotel. Kraftlos winken wir der Rezeptionistin. Die zwei Etagen sind auszuhalten, wir verzichten auf den Aufzug. Treppensteigen sei gesund!

„Treppensteigen ist gesund“, sagt Mariele.

Sie schließt auf, stolpert zum Bett und fällt mit dem Rücken darauf. „Oh - mein - Gott!“, ruft sie aus.

Ich lasse mich neben sie fallen, kann nur noch „Puh“ stöhnen.

„Und warum sind die Venezianer nicht so fett, wie die Amis?“

Mariele versteht die Welt nicht mehr. Ich bin zu faul, zu satt und vom Wein zu müde, um ihr zu erklären, dass zwischen einem Burger oder einem MacDingsbums und dem eben zu sich genommenen Speisen ein himmelweiter, fundamentaler Unterschied besteht. Und da sagt sie es auch schon. Kommt mir entgegen. Dann muss ich das nicht auch noch aussprechen. Einen solchen Satz zu denken, ist in dem gegenwärtigen Zustand anstrengend genug.

Ich muss kurz eingenickt sein. Mariele ist weg. Ich spitze die Ohren. Aha, Bad, Frauenzimmer. Hoffentlich muss ich jetzt nicht ... Ich muss. „Brauchst Du noch lange“, frage ich schüchtern.

„Ja,“

Ich beschließe, wieder einzunicken.

 

Eine Liebesnacht ... ich schrieb das bereits schon einmal. Das Gesicht meiner Geliebten neben mir. Lächeln. Sie bewegt den Mund. „Wusstest Du schon, dass wir in Venedig sind?“

„Sag an! Und was sind das für Geräusche da draußen?“

„Bootens! Viele, viele Bootens und Schiffens.“

„Venedig?“

„Grünau!“

„Gott sei Dank. Gestern noch dachte ich, man wolle uns mästen und als deutsches Beefsteak auf dem Markusplatz verkaufen.“

„Übrigens, trotz Deines vollen Magens, von dem Du immer geredet hattest, warst Du eigentlich ganz gut. Brauchbar, so für mich, gesehen.“ Sie wurde zum Ende des Satzes immer leiser. Was hatte sie gesagt? Wie rücksichtsvoll!

„Wie willst Du es denn sonst haben?“

„Stürmisch! Wild! Animalisch!“

Ich zeigte ihr, wie ich mir ihre Wünsche vorstellte. Nach der Vorstellung meinte sie, dass ich ihren Vorstellungen schon etwas, ein winziges bisschen, näher gekommen sei. „Soviel.“

Sie zeigte eine einen Millimeter breite Spalte zwischen ihrem Zeige- und Mittelfinger. Well, I will do My very best! Tomorrow. Ach, ich liebe mein Mariechen!

„Du gehst heute alleine in die Museen, so!“ Ich schmolle. Sie streichelt mich. Das will ich ja.

Wir gehen durch Museen, eine Bildergalerie, laufen über Straßen, durch Gassen, über Brücken. Spucken in einen Kanal und beobachten, wie die Spucke weggetrieben wird. Ein Policia-Motorboot kommt mit dicker Bugwelle angerauscht. Die Sirene jault, eilig weichen die Gondolieri aus. Trotzdem werden ihre Touristen durchgeschüttelt. Wir und Einheimische sehen dem Treiben zu. Schadenfreude. Nicht nur bei uns.

 

 

Berlin nimmt uns wieder auf. Erst grüßt der Funkturm. Der mahnende Finger: „Hört auf diese Stadt“, dann der Fernsehturm. Er wiederholt den Ruf.

Es ist drei Uhr nachts. Hallo? ES IST DREI UHR! Aber das interessiert hier keinen. Der Verkehr auf den Straßen ist so, wie wenn es Vormittag wäre. Nur geht es nachts etwas schneller.

Unsere Straße schläft tief. Hier oben im Norden Berlins tickt die Zeit anders. Rentnerbezirk mit südlich angeschlossenem Juppy-Ortsteil. Oben Schlaf der Gerechten, unten die Angst des Etwas-Verpassen.

Wir suchen einem Platz fürs Auto. Wären wir doch nur mit dem Zug gefahren. „Und was ist mit der Truhe?“

„DHL?“

Nachdenklichkeit. Wir müssen aus der Tiefgarage rausfahren um das Ding aus dem Auto zu kriegen.

„Die Kiste holen wir morgen früh ...“

„Heute früh“, werde ich berichtigt.

„Heute früh, aus dem Auto.“

 

Ich schlafe tief und fest. Mariele neben mir schläft noch tiefer und fester, glaube ich. Jedenfalls schnarcht sie leise. Es ist schon hell.

Es ist schon hell!!

Wie spät ist es?

Mittag.

„Marjellchen?“ Keine Reaktion,

„Du hast eine Spinne ...“

Ich hätte es nicht tun sollen. Ihr Tritt mit dem Fuß in meinen Bauch nimmt mir die Luft. Sie steht vor dem Bett, sieht mich an. Falte zwischen den Augenbrauen. Ich japse.

Sie hat die Fäuste in die Hüften gestemmt

„Mach das nie wieder!“

Ich schwöre stumm, denn für Worte fehlt mir immer noch die Luft. Nur die Augen sind klar. Was für eine Frau, wenn sie aufgeregt ist! Schwur hin, Schwur her. Mariele tritt ab. Ich weiß, wo sie hingehen wird. Richtig! Ins Bad! Keine Chance für mich, in der nächsten halben Stunde.

Schuldbewusst bereite ich das Frühstück. Sonntag. Wir haben nichts als Reste im Kühlschrank: O-Saft, eingefrorene Brötchen, Butter, Marmelade und eine Büchse Ölsardinen. Das wird ein Festessen!

„Wann gübsn Essen?“

Sie. Schon?

Sie, das Mariele, steht splitterfasernackt im Türrahmen. Ich lege den Kopf schief.

„Na, mein kleiner Nackedei? Ausgeschlafen?“, frage ich.

„Und Du? Ist das ein neuer Hausservice?“

Ich sehe sie fragend an. „Da“, sagt sie. Sie zeigt auf meine Mitte. Richtig, auch ich habe nichts an. Wozu auch? Es ginge eh gleich ins Ba ... „Du bist so schön warm.“ Ihre Arme liegen fest um meiner Taille. „Tuts noch weh, Süßer.“

Ich schüttele stumm den Kopf. Luft! Bitte Luft! Ich werde sie gleich ... Doch dann lässt sie mich los. „Ich bin gleich fertig“, sagt sie im Weggehen. Ich sehe eben noch ihren Hintern und dann den dunklen Flur.

Mit zitternden Fingern decke ich den Tisch.

Dieses Biest!

Hatte ich es geahnt, als sie mich zu ihrem Freund auserkoren hatte? Das wird was Ernstes, gedacht? Ehrlich mein Guter. Sei ehrlich zu Dir. Nein. Sie ist süß, ich wollte sie haben, und wenn es nur für eine Nacht gewesen wäre. Jetzt möchte ich sie nie mehr verlieren. Ist es das, was man Liebe nennt? Wenn man in ein tiefes Loch stürzt, wenn der Partner, die Geliebte nicht mehr da ist, aus welchem Grunde auch immer. Ich fürchte mich vor der Leere danach, dem fehlenden Sinn nach Hause zu kommen.

Der Tisch ist gedeckt, die Kaffeemaschine arbeitet, die Eier (hatte ich vergessen zu erwähnen) im Eierkocher gut untergebracht. Jetzt bin ich dran!

In der Tür stoßen wir zusammen. „Oh“, ruft sie. „Ich bin fertig.“

„Was ich gerade sagen wollte.“

„Dann beeile Dich.“ Sie hüpft, ja, wirklich, sie hüpft, zum Schlafzimmer. Ich warte, bis sie verschwunden ist. Schüttele den Kopf.

 

„Was tuen wir heute tun?“

„Wir tuen ein Stadrundfahrt fahren.“

„Stadt-rund-fahrt?“

„Rüschtüsch. Wir kaufen uns ne Tageskarte und machen ne Stadtrundfahrt.“

Ich Blick sagt etwas anderes. Dennoch sagt sie: „Gut.“ Mehr nicht. Ich hatte mehr erwartet, aber wenn es so ist, dann ist es eben so.

Ich erkläre: „Heute ist also Sonntag.“ Mariele nickt.

„Wir haben, außer Krümeln, Resten von Butter und Marmelade nichts im Kühlschrank.“ Mariele nickt. Ich deute auf den Kühlschrank. „Siehst Du die toten Mäuse?“

Mariele nickt. Sieht mich mit großen Augen an, aber nicht hin.

„Wir sind gezwungen, Essen zu gehen.“ Große Augen!

„Und verbinden die Suche nach Nahrung mit einer wunderschönen Fahrt durch Berlin.“

Sie formt Worte hinter ihrer Stirn. Ich kann es sehen. Wie auf einer Laufschrift:

„Mit den Öffentlichen?“ holt sie stöhnend hervor.

„Mit den Öffentlichen“ ich nicke. „Weil: Wir müssen die Leih-Limuzzine dem Besitzer zurückgegeben. Und sind daher, neben der Suche nach Nahrung, gezwungen, mit den Öffentlichen nach Hause zu fahren.“ Ich sehe, wie sie langsam versteht. Glaube ich.

Vorsichtig nippt Mariele an ihrer Kaffeetasse. Sie spitzt die Lippen dabei.

„Das ist gut. Habe ich noch nie gemacht. Haben wir noch nie gemacht.“

„Eben. Ich schon. In grauer Vorzeit.“

„Übrigens, die Eier schmecken köstlich. Gut gelungen. Kennst Du die Hühner?“

Kenne ich nicht. Was will Sie mir damit sagen. Ich koste vorsichtig. In Ordnung.

“Jedes Einzelne! Man hatte sie mit vorgestellt. Sie tragen grüne Halsbänder.“

„Namen! Ich will Namen!“

„Keine Chance, Frau Kommissar. Ich verrate meine besten Kumpels doch nicht.“

 

 

 

„Ich will einen Doppeldecker. Und vorne sitzen.“ Mariele hüpft die Treppen hinunter. Bleibt stehen. Mitten in der geöffneten Haustür.

„Die Truhe“, ruft sie. Ich wusste es. Ich hatte dran gedacht. „Kommt in den Keller. Die schaffe ich morgen mit Herbert nach oben.“ Ich sehe, wie sich Mariele lockert.

Wir buckeln das Trumm in den Keller. Ein typischer Berliner Altbaukeller, mit Gewölbedecke und furchtbar niedrig. Ich stoße mir an drei Durchgängen den Kopf. Beim dritten Mal sagt sie voller Mitgefühl: „Der lernt es nie.“

 

Das Auto sind wir los. Ich suche mit den Augen eine Haltestelle. „Dort.“ Mariele kennt den Weg. Wieso eigentlich, die ÖPNV-Verweigerin. Der Hunderter Bus fährt durch ganz Mitte. Mariele hat Glück. Eine Gruppe schnatternder Japaner steigt aus. Sie hatten oben drei ganze Reihen vorne besetzt. Wie ein Wiesel drängt mein Frauchen durch die Gruppe. Japaner sind Drängeln gewöhnt. Sie kommen aus Tokyo oder einer anderen Großstadt. Auf ihren strahlenden Gesichtern erscheint kein Schatten des Unwillens.

Am Zoo steigen wir aus. Hunger! Sagt sie auch, stürmt zum Ku’damm.

 

„Urlaub alle.“

Satt, mit gut gefüllten Bäuchen, lehnen wir uns in den Sesseln zurück.

„Ich liebe Dich.“ Dabei grient sie so komisch.

Ich, vorsichtig: „Du hattest es schon einmal erwähnt. Das war, damals, warte mal …“

Mariele macht große Augen. Sitzt aufrecht. Was denn nun wieder? Aber keine Falte zwischen den Augenbrauen! Sie springt auf, rennt. ‚Toilette’ steht diskret mit goldener Schrift auf einem Blechschildchen. War was mit dem Essen?

Sie ist zurück. Etwas blass.

„War was mit dem Essen?“ Ich hebe den Arm, um einen der Pinguine zu ordern.

„Männer!“

Ich begreife.

 

Mein Schreibtisch ist nicht zu sehen. Da ist man einen Monat mal nicht anwesend, schon nutzen es die Kompagnons aus und legen ihr Zeug bei mir ab. Na wartet, wenn ihr …

Ich fange an, zu sortieren. Für mich. Für mich, für mich. Alles nach rechts. Für mich.

Das wird doch nicht alles für mich sein? Weiter.

Für mich, für mich. Nö ne? Für mich.

Aha! Nicht für mich! Doch für mich.

Die linke Seite ist jetzt frei, ich sehe die Tischplatte. Sie ist weiß. War sie schon immer weiß? Auf der rechten Seite balanciert ein Stapel Papier gefährlich an der Kante.

Wie geht es Mariele. Vorsichtig, um nichts umzuwerfen, hangele ich zum Telefonhörer. Sie hat eine zehnstellige Nummer. Bei der siebten Zahl stoße ich gegen den Stapel rechts (der linke existiert ja nicht mehr, sie erinnern sich?). Sofort fliegt der Hörer auf den Tisch - da war noch eine frei Stelle - und meine beiden Hände auf den Stapel. Geschafft, gerettet, Schweißabwischen. Zweiter Versuch.

„Trodtheim, Paulsen und Partner. Was kann ich für sie tun?“

„Mir sagen, wie es Dir geht“, sage ich.

„Gut, und wer spricht da?“

„Mariele?“

„Oh, sie wollen Mariele sprechen. Die ist gerade nicht hier.“

„Sorry.“ Ich bekomme einen roten Kopf.

„Soll sie zurückrufen?“

Herbert, Norman und Christa stehen im Türrahmen. Sie wollen was hören. Ich wedele mit der Hand. Was heißt: „Verschwindet und, jaja, ich komme gleich.“ Sie verschwinden.

 

„Mir geht es gut.“

Schweigen.

„Was ist?“

„Nein, wollte ich nur sagen. Mir geht es gut.“

„Bist Du pünktlich?“

„Ja.“ Kurz angebunden, die Frau. Sehr kurz angebunden. Na gut, ich werde sie in Ruhe lassen. Aufgelegt.

Wir gehen in das Café unten. Zerstreut erzähle ich von unserem Urlaub. Meine Gedanken sind bei einer kurz angebundenen Mariele. Wenn sie so ist, stimmt etwas nicht.

„…dig?“

„Hä?“

„Venedig. Wie war Venedig?“

„Ah, Venedig!“ Ich berichte. Schön, wunderschöne Stadt. Die Palazzi, Kanäle, Gässchen, Häuser, Kirchen und das Licht am Nachmittag. Furchtbar voll, furchtbar teuer. Fotos? Klar doch. Muss ich noch ausdrucken.

Der Tag vergeht nicht. Es ist seit drei Stunden elf Uhr. Jetzt rückt der Zeiger eine Minute vor. Wurde auch Zeit! Unwillig beobachte ich den Sekundenzeiger.

Der Stapel Papiere auf der rechten Seite wurde niedriger. Ein Teil davon landet im Shredder, ein Teil in der Ablage „Kann warten“. Ein zweiter im Fach „Eilig“ und der Rest liegt noch so da, und muss warten.

Irgendwann ist es dann doch Feierabend geworden. Ich will aufstehen und gehen. Aus dem Augenwinkel erkenne ich das Firmensignet des Computerhändlers. Morgen, sage ich zu mir, doch meine Hand zieht es zu diesem ominösen Brief. Vielleicht doch wichtig. Ist ja ein wichtiger Kunde. Neugierig ziehe ich es aus dem Restestapel. Lese.

„Sehr geehrte Herren, die Kampagne, bei der Sie uns … war ein voller Erfolg. Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass wir weiterhin gern mit Ihnen zusammenarbeiten wollen. Bitte rufen Sie unseren Herrn M. zu einer weiteren … und so weiter.“ Na also! Damit sind wir wieder im Geschäft und ein paar Eurönchen klingeln in der Kasse. Es ist halt nicht so einfach heute.

Ich rufe „Kognak!“ Lese den Brief meinen Kompagnons vor, und richtig, Christa beschwert sich.

„Wieso nur ‚Herren’?“

Recht hat sie ja. Aber was nutzt es … Ich komme nicht weiter. Eine Grundsatzdiskussion setzt ein. Erst als ich die Vermutung anstelle, dass eine schwer verliebte oder verträumte, also verliebte, Sekretärin vielleicht „Damen“ vergessen haben könnte, unbeabsichtigt, glätten sich die Wogen. Kling plausibel.

Wir verpassen den Feierabend, weil wir aufgeregt sind und Pläne schmieden und überhaupt. Au weih!

 

Eine Stunde später, als normal, trudle ich zu Hause ein. Eine Mariele sitzt auf dem Sessel, genau der Stubentür gegenüber. Ich sehe als erstes die Falte zwischen ihren Augenbrauen. Unheil! Das Schwert des Damokles schwebt über meinem Haupt. Edgar Allen Poes Pendel und Wasserloch zieht vor meinen geistigen Augen vorüber. Wusch! Hin. Wusch, her. Ich ziehe den Kopf zwischen die Schultern. Das Wasserloch gähnt gefährlich vor meinen Füßen, Krankenarme greifen nach mir.

„Liebling (Ich habe noch nie Liebling zu Mariele gesagt).“

Doch sie hebet nur ihre Arme. Sie will mich umarmen! Ich atme auf, wische den Angstschweiß von der Stirn (innerlich). Ich wusste doch, dass ich unschuldig bin, Herr Richter! Sie sind frei, gehen Sie! Ich gehe, auf Mariele und ihren Sessel zu.

Sie drückt, drängt sich an mich. Und da weiß ich: Stunk in der Firma.

„Ich hab’s gesagt.“ Sagt sie.

„Ich hab’s geahnt.“ Sage ich.

„Und nun?“

„Erzähl!“

 

 

Das tut man nicht. Niemals und keinem Menschen! Sage ich, ist meine Meinung. So ein Schwofel! Ihr Chef. Sagte: Dann suchen Sie sich mal schon ne neue Arbeit. Eiskalt der Kerl. Ob ich ihm auflaure und … Nein, Quatsch, das ist keine Lösung. Und außerdem, ich tröste Mariele, ist ja noch Zeit.

„Da gehe ich nie wieder hin!“ Sie hat Recht. Doch momentan nutzt ihr das wenig.

„Komm erst einmal nieder“, versuche ich zu scherzen. Und erzähle ihr von dem neuen, wahrscheinlichen, seeehr wahrscheinlichen Auftrag mit dem Computerhändler. Und mit fällt etwas ein. Schon heute Mittag hatte ich eine vage Idee. Ich müsste sie nur noch mit meinen Kompagnons besprechen. Vorher rücke ich nicht damit heraus.

„Also, ich habe da eine bestimmte Idee.“

„??“

„Ah, so, was Dich betrifft.“

„Und“, sie sieht hoffnungsvoller aus. Mein taffes Mädelchen hatte für einen Moment einen Durchhänger. Wegen eines solchen Arschl … Asshole!“ Englisch klingt’s besser.

„Verrate ich nicht. Noch nicht. Ich muss da mal vorfühlen.“

Jetzt habe ich eine Kämpferin vor mir zu sitzen. Ihre Fäuste sind geballt, die Schultern angriffslustig nach vorne gebeugt. Die Falte zwischen den Augenbrauen tief. Ja, Baby, so will ich Dich haben! Ich küsse sie. Wir liegen uns in den Armen. „Morgen“, sagt sie in mein Ohr. Es kitzelt. „Ab Morgen bin ich krank und auf Arbeitssuche. Es wäre doch gelacht!“, knurrt sie in mein Ohr.

Ja, es wäre doch gelacht!

 

BWL war mein Lieblingsfach. Neben der Texterei. Sprache ist eine tolle Sache. Bei manchen weiß ich nicht, ab sie das jemals so empfinden werden. Ich liebe Sprache. Tucholsky liebte Sprache und ich will mich, um Gottes Willen, nicht mit dem Meister vergleiche! Aber ich glaube, ich empfinde das Gleiche wie er es empfunden hatte. Doch zurück zur BWL. Vor mir liegt eine BWA. Eine betriebswirtschaftliche Abrechnung. Neben der Texterei haben mich meine Kollegen für die wirtschaftliche Führung unseres kleinen Unternehmens verantwortlich gemacht. Zwei Stunden am Tag nehme ich mir dafür, egal ob nun Rechnungen kommen oder geschrieben oder gebucht oder geprüft werden müssen. Ich hole mit den Finanzstatus (sieht gut aus), und drucke die BWA aus. Sieht übrigens auch gut aus. Mittags rufe ich meine Kollegen an. Brainstorming! Ein schönes englisches Wort. Wie würde man es auf Deutsch sagen, lieber Kurt T.? Gehirnauskehren? Kopfausblasen?

Die Cafébesitzerinnen halten uns immer einen Tisch frei. Sie wissen, dass wir gegen eins bei ihnen aufschlagen. Wir tun das auch heute.

„Hömmah“, sage ich. Ich weiß ja, dass sie sich schon beschwert hatten, wegen ihrer Termine und der Post und, und, und. Christine hatte vor meinem Urlaub gerufen: „Wir brauchen jemanden, der uns organisiert!“ Keiner hatte reagiert. Warum wohl?

Also sage ich: „Hört ma. Ich hätte da einen Vorschlag zu machen.“ Man ist gespannt. Ich auch.

„Kling gut.“ Hermann kaut auf seiner Lasagne.

Christa? Sie wackelt mit dem Kopf, doch unerwartet stimmt sie zu. „Das ist eine gute Idee.“ Und Norman? Norman ist der stillste unter uns. Und wie erwartet nickt er nur, und murmelt ein „Okay.“ Dann beißt er in sein mit Salamischeiben belegtes Brötchen. Etwas Butter quillt hervor.

„Dann versuchen wir es?“

Nicken.

„Und ihr fragt nicht, was es kostet?“

„Doch“, sagt Christa, Christa ist eine Frau und muss danach fragen, denke ich.

Ich rechne vor. Nicken. Dann sagt Christa noch: „Dann bin ich nicht mehr so alleine“, und alle lachen jetzt.

„Naja, ihr Muffelköppe.“ Endlich hat sie jemanden, mit dem sie so richtig ratschen könnte.

 

Hatte ich es schon gesagt? Mariele kommt auch aus Berlin. Trotz ihres Namens. Natürlich beruft sie sich auf den Großen Kurfürsten, der vor vierhundert Jahren Hugenotten in sein nahezu ausgestorbenes Brandenburg aufgenommen hatte. Erst der Dreißigjährige Krieg und dann die Pest ließen Mitte des siebzehnten Jahrhunderts Brandenburg erscheinen, wie heute die Antarktis: menschenleer. Und so belebte er dieses trockene Land. In jeder Hinsicht kam Leben und mit ihm Kultur, Bildung, Sprache, Wirtschaft. Verzeihen wir ihm und seinem Sohn, Friedrichs des Zweiten Vater, großzügig ihr Lieblings-Spielzeug, die preußische Armee. Und vergessen sollten wir gerade heute nicht, dass unsere altvorderen Herrscher auch Schwaben (!!) und Niederländer (mit Planwagen!) gerufen hatten.

Also beruft sich Mariele auf hugenottische Wurzeln. Kann sein, dass sie deshalb frankophil ist. Wieso waren wir in Italien im Urlaub? Cherchez la femme. Kein Mann wird je draus schlau.

Schon in der Tiefgarage kribbelt es am ganzen Körper. Was wird sie sagen?

Du bist doof! Nicht in der gleichen Firma! Ich habe schon was! Haben wir schon immer so hoch gewohnt? Ich bin außer Atmen, schließe auf, gehe hinein.

Wir wohnen in einem, der jetzt schrecklich teuren Altbauten. Man hatte dieses Haus und die ganze Zeile daneben in den Neunziger Jahren rekonstruiert. Nachdem der neue Besitzer die Altmieter erfolgreich vertrieben hatte, versuchte er die Wohnungen zu verkaufen. Kein guter Plan! Die Immobilienpreise waren gerade gefallen. Der Münchner war von falschen Vorstellungen ausgegangen. Heute kostet die Wohnung das Dreifache und mehr.

Aber wir sitzen jetzt drin und haben sie. Natürlich bezahle ich noch dafür, aber bald …

Diese bürgerlichen Wohnungen haben etwas: Flair, Geschichte und Stil. In der Zeit unseres Zusammenlebens hat Mariele unseren Stil, in die Wohnung gebracht. Ich finde es schön, ich fühle mich wohl, ich liebe meine Mariele. Was sie auch tut, es passt!

Der Flur ist eher ein Salon. Quadratisch, praktisch, gut. Von ihm gegen die Zimmer ab und ein weiterer Flur in die Tiefe der Wohnung, wo die ‚Bediensteten’ wohnten.

Vorsichtig öffne ich die Tür zum Wohnzimmer. Es ist noch sommerlich. Die Stores vor der großzügigen Balkontür bauschen sich auf. Draußen grünen Akazien und Platanen. Die Sitzgruppe steht in der Mitte, wo früher, zu Großelterns Zeiten der Stubentisch stand.

Ich sehe im Gegenlicht einen Kopf, schleiche hinzu und küsse die Haare. Sie riechen anders! Das ist nicht Mariele!

Der Kopf dreht sich zu mir herum. Eine Frau. Eine mir fremde Frau. Eine schöne Frau. Ich bekomme einen Strich in der Magengegend. Mariele ist schön, aber die da!

„Guten Tag“, sagt die schöne Frau und ich frage mich, ob ich in der falschen Wohnung bin. Sie steht auf. Nein, sie schwebt aus dem Sofa in die Höhe und auf mich zu. Ihre Hand ist ausgestreckt. Was will sie damit?

„Guten Tag“, sagt die Schöne noch einmal. Gott sei Dank!

„Ich bin eine Freundin ihrer Frau.“ Sie schüttelt mir die Hand. Könnte ich mich jetzt im Spiegel sehen, würde ich brüllen vor Lachen. So jedoch stottere irgendwelche Laute, versuche Worte zu bilden, es gelingt nicht. Ich rette mich in einen Handkuss.

„Ah, ihr habt euch schon bekannt gemacht!“

„Nein“, sagt die Schöne. „Doch ich nehme an, dass dieser einer Dein Mann ist?“ Humor hat sie auch noch? Ich steh wie ein Dussel im Zimmer. Fehlt nur noch, dass mir der Geifer aus dem Mundwinkel läuft.

„Korrekt“, flötet mein Mädchen. „Du musst ihm schon verzeihen, er ist ein Wortmensch und hat sicher seinen ganzen Vorrat auf der Arbeit verbraucht.“

„Oh, ein stiller Mann.“ Die Schöne lächelt ein schönes Lächeln, dass mir durch und durch geht. Ich erhalte einen Schlag auf den Hinterkopf. Das soll sie doch nicht tun! Dort sind die Haare am dünnsten! Und jeder Schlag vernichtet hunderte von Haarwurzeln, glaube ich.

Wir setzen uns. Erfahre ich den Namen der Schönen? Ist mir eigentlich egal.

„Das ist Birthe mit dem schönen Nachnamen Schulz.“

Ich erfahre ihren Namen!

„Ah, Birthe.„ Ich beginne, mich zu sortieren. Birthe duftet angenehm. Sie sitzt nah bei mir. Aber ich rieche auch Mariele, die meinen linken Arm umfasst. Ihr Griff ist fest. Da liegt was in der Luft. „Birthe, kling Niedersächsisch“, stelle ich fest.

Die Schöne, die Birthe, die schöne Birthe, nickt. „Ich lebe in Hannover. Und bin mal eben zu Besuch bei meiner alten Freundin, bevor“, sie macht eine Pause, eine kleine, und ihre so strahlenden Augen werden stumpf, “ich weiter muss.“

Was haben wir denn, fragt der Kriminalkommissar in mir. Und da kommt sie schon, die Antwort.

Mariele: „Sie lebt in Scheidung.“

„Tut mir leid.“

“Oh, muss Ihnen nicht.“

„Auch gut“, sage ich leichthin. Und sie lächelt mich an: Zustimmung.

Jetzt, wo wir sitzen, haben wir Zeit uns naher zu mustern. Sie mich, ich sie. Mariele brüht Tee, klappert in der fernen Küche mit Geschirr und Besteck. „Du bleibst doch noch einen Moment?“, ruft sie aus der Küche.

Die Schöne sieht mir unverwandt in die Augen. Sie nickt.

„Ja“, sagt sie leise.

„Waas? Ich habe nicht verstanden.“

„Ja.“ Etwas lauter. Sie hüstelt.

„Wo übernachtest Du?“ Wieder der Lautsprecher aus der Küche. Ich bin gespannt, wo.

„Muss ich noch telefonieren. Aber in Berlin findet man ja immer was.“ Ich nicke enttäuscht. Wieso enttäuscht?

„Dann bleib doch hier. Wir haben ein Gästezimmer.“ Klar, wir haben ein Gästezimmer. Hätte mir auch einfallen können. Ich bin wohl immer noch paralysiert. Das schöne Gesicht strahlt - mich an. Ooops.

„Gerne. Das ist lieb von Dir“, ruft sie in die Richtung der Küche. „Euch, meine ich“, zu mir.

Der Tee kommt und Schnittchen. Mariele ist einfach eine Perle. Sie beugt sich zu mir herunter. Mein Blick verirrt sich in ihrem Top. Ob die Schöne auch solche …

 

Ich weiß nicht, ob ich es heute Mariele schon sagen kann oder soll. Sie erzählt gerade so behaglich von Italien. Ich staune, was sie alles gesehen und sich gemerkt hat. Ich versuche, es in mein Gedächtnis aufzunehmen. Mariele kann gut erzählen. Ich lerne manches von ihr; wie sie die Geschichte aufbaut, überleitet und den Schluss findet.

Wir sitzen auf dem großzügigen Balkon. Die Damen nebeneinander, ich ihnen gegenüber. Meine Augen fliegen von einer zur anderen. Der Tee ist alle, Rotwein steht auf dem Tisch. Wir prosten uns zu. Hat Birthe eben gezwinkert. Nö, nicht doch. Du bildest Dir was ein.

Mariele ist eben am Ende angekommen.

„Und, was machst Du so, außer dich gerade von Deinem Mann zu trennen?“ Mariele ist sehr gespannt. Ich sehe es.

„Voriges Jahr habe ich promoviert und arbeite an der Universität als Dozentin. Und nebenbei auch noch in der Forschung.“

„Und Dein Ex?“

„Professor an der gleichen Uni. Aber da sind zu viel junges Gemüse und er ein unmoralischer Mann.“

Sag ich doch! Gefährliches Pflaster für einen sexlabilen alten Knaben.

„Und irgendwie haben wir uns auseinander gelebt.“

Klingt Scheiße, solch ein Satz. Auseinander gelebt. Aber ihre schönen Augen glänzen. Wenig Trauer drin. Nein, wenig. Sie halten mich gefangen. Hat Mariele auch? Sie hat! Wusste ich doch! Ach, Mariele, Mariechen, Marielchen!

Ich muss in unseren finsteren Keller steigen. Finster isser, denn irgendwer scheint ständig die Lampen herauszudrehen. Die Taschenlampe hilft, den Weg zu finden. Trotzdem stoße ich mir den Kopf. Eine Beule dräut an der Stirn. Todesmutig stütze ich mich in den Kellerverschlag und suche zwischen widerlich klebenden Spinnweben und anderem kitzelndem Zeug und kribbelnden Getier, die Weinflaschen, die wir vor Jahren hier unten gebunkert hatten.

Eigentlich hätte ich Lob oder wenigstens Mitleid erwartet. Doch beide Frauen kreischen auf: „Iiih! Wisch dich und DIE erst mal ab!“ Dabei meinen sie mich und die Flaschen.

Bei Licht besehen sehe ich es auch. „Aber guckt doch mal hier.“ Ich zeige auf die Beule.

„Buzibuzi. Hatter sich wieder die Birne eingerammt.“ Kein Mitleid. Ich schleiche in die Küche, staubwische Weinflaschen sauber und kühle meine Stirn.

 

Es wird spät. Meine beiden Schönen lachen und kichern. Sie machen sich über ihre Männer lustig. Ich bin ja nicht zugegen! Trotzdem lächele ich höflich mit. Na wartet, meine Lieben. Das kostet Blut. Rache! Vendetta! Meine Beule pulst Schmerz. Pucker, pucker. Still, befehle ich ihr. Ich wische drüber. Und bekomme einen Kuss darauf. Heiße Lippen. Weich. Ich sehe auf. Mariele. Ach, meine Liebe. Der Schmerz scheint weg. Und meine Hände greifen zu. Bin ich schon ein wenig blau? Es sind nicht ihre. Wie das denn? Birthe, die schöne Birthe. „Gute Nacht.“ Sie lächelt mich an.

Ah so, wir pflegen zu Bett zu gehen. „Nacht“, lalle ich. Ich lalle, stelle ich fest. Peinlich!

Unterwegs ziehe ich mich aus, erreiche, scheinbar auf gradem Weg das Schlafzimmer, plumpse in mein Bett. Puh!

„Puh!“ stöhne ich auch laut.

 

 

Ich bin allein im Bett. Mariele scheint aufgestanden zu sein. Ich spitze die Ohren. Ja, sie klappert im Bad. Unterhält sich. Mit dem Radio?

Ah, nein. Das ist ja diese Birthe aus Hannover. Auf Scheidungsfüßen. Was wollte sie in Berlin? Keine Ahnung mehr. Und keine Ahnung, wann ich ins Bett gegangen bin. Heute früh? Es fühlt sich so an.

Ob die Damen noch lange machen. Ich müsste da eben mal dringend.

Warme Lippen auf der Stirn wecken mich. Bin wohl wieder eingeduselt. Oh Gott, ich muss zur Arbeit! Nein! Muss ich nicht. Heute ist Sonnabend. Ich genieße die warmen Lippen, halte den Kopf fest, an dem sie dran sind. Duftende Haare streicheln meine Wangen. „Du warst so wunderbar“, flüstern mir die Lippen ins Ohr. „Ich? Wunderbar? Was ‘n?

„Äh, ich?“ Ich mache endlich die Augen auf. Auch wenn ich kurzsichtig bin, das Gesicht meiner Frau erkenne ich auch ohne Brille und dies ist nicht ihr Gesicht. Es ist Birthes.

„Mariele?“, frage ich.

„Ist gleich fertig.“ Ich versuche mich zu erheben. Das Haus schwankt. Ein Erdbeben? Was ist das für ein Duft? Was war das für ein Wein? Als ich endlich sitze, sehe ich Oberschenkel vor mir glänzen und mehr und dann, nachdem mein Blick es geschafft, hat ganz nach oben zu gleiten, über ein paar Brüste hinweg, Birthes Gesicht. Von unten. Auch von unten ist sie schön, Verdammt! Auch nackt!

„Na, ihr zwei?“ Marieles fröhliche Stimme. Ich atme auf. Diese Birthe, das Biest, wird zur Seite geschoben. Eine frisch duftende Mariele steht jetzt vor mir. Haben die Mädels nichts anzuziehen? Das hält doch kein Mann aus!

„Lass mich mal.“ Zwei Hände fassen meine und versuchen mich hochzuziehen. Es gelingt, auch wenn das Haus immer noch zur Seite krängt.

„Nicht erstechen“, flüstert Mariele und drückt sich dennoch an mich. Jemand fährt mir mit kühlen Fingern über den Rücken. „Ich habe ihm schon gesagt“, sagt diese Birthe, „dass es wunderbar war.“ Die Finger kribbeln tiefer. Ich muss hier weg! Mariele küsst mich. Feucht. Ich liebe es, dennoch:

„Schön, ihr beiden, aber ich muss mal“, ich zeige auf das Bad. In die Richtung. Mariele schiebt mich an. Ich schwanke los.

„Müssen wir Dich stützen?“ Sie kichern.

„Nein, ich gleiche die Schwankungen des Hauses schon aus!“

„Dann beeile Dich. Wir gehen Brunchen.“

Ich hasse Brunch!

 

 

Mit der U-Bahn fahren wir zum Senefelder Platz. Birthe, die Schöne und Mariele, die Schöne haben mich untergehakt. Wir steigen die Treppen zum Platz hinauf. Der kleine Park zu Ehren Senefelders, mit dem alten Pissoire und dem Denkmal sind gepflegt. Ob die Stadt daran Schuld trägt oder die Anwohner, weiß ich nicht. Birthe ist begeistert.

„Ach, ich war schon seit Ewigkeiten nicht mehr in Berlin!“ Die Ecke kannte sie noch gar nicht. Ihre Verwandten wohnen im Süden, in Lichterfelde.

Wir strömen Arm in Arm um den Platz. Hier, an der Ecke ist eine der In-Kneipen. Mariele hatte Plätze für uns geordert. Gestern Abend schon. Und gut war’s. Es ist voll.

Mit Tellern und Besteck bepackt zwänge ich mich zu den Frauen. Ja, sie haben bestellt und ich laufe los und packe auf das Porzellan, was rauf geht. Ich hasse Brunch.

Zum Glück sind heute nur Erwachsene im Hause. Manchmal rennen diese schlecht erzogenen Rotzgören der Zugereisten durch die Reihen und glotzen auf unser Essen. Als ich letzten eines davon grimmig ansah und „buh“ gemacht hatte, kam die besorgte Mutter angerannt und riss das arme Wesen an den Armen von mir fort. Sie hätte ja auch sagen können, „Komm, wir gehen an unseren Tisch. Das tut man nicht.“ Nein! Ein giftiger Blick, der weichere Naturen, als mich getötet hätte.

„So ein böser Onkel!“ Drei Ausrufezeichen.

Ich rief hinterher: „Ich bin nicht sein Onkel!“ Es geht ja nicht, dass jeder glauben könnte, das gehöre zu mir.

Mariele kratzt sich am Kopf. Ich erklärte: „Das dürfen unsere Kinder nicht.“ Das war noch vor unserer Hochzeit.

„Ich wusste gar nicht, was es alles für interessante Stellen am Körper gibt“, setzt Mariele die begonnene Unterhaltung unschuldig fort. Ihre Freundin grinste mich an. Was weiß ich nicht? Was, zum Kuckuck habe ich verpasst? Ich muss auch so gegafft haben, denn Birthe klärt mich auf. Ich bekomme einen roten Kopf, sehe mich um. „Nicht so laut“, flüstere ich laut. Doch die Nachbarn schwatzen ebenso laut über ihre eigenen Sachen und so können die Frauen unbesorgt weiterratschen - laut.

 

 

Birthe ist abgereist. Zu ihren Verwandten in den Süden. Berlins Süden. Beim Abschied versprach sie, wiederzukommen. Ich habe hinter ihrem Rücken abgewinkt, doch Mariele war begeistert. Bussi, weg war sie. Stille in der Wohnung. Wir sitzen auf dem Sofa. Im Radio spielt leise Musik. Irgendwas Klassisches.

„Sag mah“, beginne ich, doch Mariele legt mir den Zeigefinger auf den Mund. Ihren. Ich schnuppere. Sie riecht nach Parfüm und Brunch. Ich bin still. Ihre Augen fixieren mich. „Liebst Du mich?“

„Ja“, ohne zu überlegen, „und wie!“

Ich sauge ihren Finger in meinen Mund. Er schmeckte bitter.

„Wir werden kein Kind kriegen.“

„Wieso.“

„Biologischer Irrtum. Kommt vor. Bist Du enttäuscht.“

Ich schweige. Ja, so ein bisschen. Schüttele den Kopf.

„Es ist aber nichts Schlimmes, nur eben irgendein Durcheinander. Der Arzt hat es mir erklärt. Stress, Ärger, sowas eben. Ich habe nichts verstanden, nur dass es nicht organisch ist.“ Sie hat Tränen in den Augen.

„Ah so.“ Ich nicke. Das passt zu meinem Vorschlag. Vielleicht hilft er ihr darüber hinweg.

„Dann machen wir da weiter, wo wir nicht aufgehört hatten.“

„Du bist lieb.“

„Oh ja!“

Wir hören Radio. Das fünfte Klavierkonzert von Beethoven. Sein letztes, erfahren wir vom Moderator. Der Klang des Flügels erfüllt den Raum, dann setzt das Orchester ein. Es-Dur. Die Melodie schwimmt, gleitet. Beethoven fabuliert, lässt das Thema sich winden, wiederholen, variieren. Darunter bumm, bummbumm. Die Pauke, leise. Eine Ahnung? Wir spüren unsere Nähe. Die körperliche und die mentale. Es ist, als seien wir nur eins. Ihre Hand drückt meine Hand. Es braucht keine Worte.

Und Birthe? Da mir die Erinnerung fehlt, habe ich keine Schuldgefühle. Eigentlich keine. Also ein paar ganz kleine, winzige. Eine Ahnung von Schuldgefühl. Meine großzügige Gemahlin. Sie teilt mich mit ihrer Freundin. Wollte sie das? Wohl.

Beethoven schleicht sich wieder ein. Der zweite Satz, adagio. Getragen folgt das Orchester dem Pianisten, wiederholt, gibt vor. Sie streiten sich, doch liebevoll: Ich dieses. Und dann das Klavier: Ich jenes. Aha, sagt das Orchester, das können wir auch, und sie spielen vereint, wie Eins.

Birthe hatte weich gelächelt, als sie sich von mir verabschiedete, mir ein Bussi auf die Wange hauchte. Es war wie ein Versprechen, dass ich nicht einlösen wollte.

 

Beim Brunch: „Sag mal, das hast Du doch schon öfter gemacht, oder?“ Ich werde rot. In Wahrheit noch nie. Ich grinse hilflos, weiß nicht was ich antworten soll.
„Na, siehst Du!“ Birthe sieht mich triumphierend an, dann Mariele: Ich habe Recht! Er hat! Mariele bekommt diese berühmte Falte zwischen den Augenbrauen. Sie fixiert mich.

Hilf mir doch, denke ich.

„Ehrlich“, sage ich. „Was es auch immer war, ich habe noch nie dieses, was immer es gewesen sein soll, getan.“ Das war grottenschlechtes Deutsch, aber es sagte das aus, was ich sagen wollte. Oder auch nicht sagen. „Und was soll es gewesen sein?“ Haben die kein anderes Thema?

Birthe beugte sich vor. „Ein Dreier?“

„Sag ich doch.“

„Okay. Das reicht“, sagt Mariele.

Danke, meine Süße.

 

Ich hatte nicht einmal eine richtige Freundin, bevor mir Mariele begegnete. Mitten auf der Schönhauser Allee. Direkt vor dem Schaufenster eines Schuhladens. Wir stießen mit den Köpfen zusammen, als wir beide zugleich herausbekommen wollten, was wohl die Schuhe kosten würden. Und da wir über Kreuz peilen und uns herabbeugen mussten, stießen wir mit den Stirnen zusammen. Eigentlich wollte ich „Trottel“ sagen, doch Mariele war schneller.

„Trottel!“ Und: „Oh Pardon.“

Und als wir wieder sehen konnten (Sternchen), und in die Augen blickten, hat es geknistert.

Zu ersten Mal in meinem Leben war ich frech: „Darf ich mich entschuldigen, indem Sie mit mir in dieses Café dort gehen?“

Und sie sagte ohne zu zögern: „Ja.“

Und hörte nicht auf, mich anzusehen.

 

 

„Willst Du wissen, wie es war?“ fragte Mariele.

Ich schüttle den Kopf. „Nein. Wozu?“

Sie versteht und schweigt.

Beethoven ist zu Ende. „Du, sag mal …“, fange ich an.

Die Stimmung ist sofort anders.

„Mal“, sagt sie.

Ich erzähle ihr von meiner, unserer Creativ-Buden-Idee, sie bei uns aufzunehmen. Ihre Augen leuchten.

„Du kannst doch Buchführung?“

„Kannisch!“

„Und Vorzimmerdame spielen?“

„Kannisch! Und wie!“

„Und Kaffee kochen?“

„Kannischnisch! Nur Kaffffe.“

„Hab ich mir gedacht.“

Birthe scheint vergessen. Kind scheint vergessen.

„Morgen?“

„Kannischnisch. Muss ja erst noch kündigen. Und bin krankgeschrieben. Für diese Woche.“

„Dann ruf dort an.“

 

Dienstag. Es nieselt. Die Regenwolken streichen unmittelbar über die Dächer, so tief hängen sie. Ich sehe aus dem Fenster. Es ist ein altes Fabrikfenster. Außen, mit Eisenrahmen, in denen kleine quadratische Fensterscheiben eingelassen sind. Und natürlich ein großes Glasfenster für innen. Man würde sich sonst im Winter den Hintern erfrieren. Lofts haben was! Nur wie lange, bis ein neuer, anderer Stil oder Geschmack „in“ ist. Zurzeit ist es eben stylisch. Was für ein Wort!

Die Regentropfen gleiten langsam an den Scheiben abwärts, werden größer und größer und dicker und fallen als beleibte Wasserbäuche in den Hof. Winter. Winter in Berlin. Bald ist Weihnachten. Ich grüble über einen Text für unseren Computerhändler.

Mariele arbeitet bei uns. Sie fühlt sich wohl, und kocht sogar Kaffee, obwohl sie das nicht muss. „Ich sehe doch, wie ihr leidet“, hatte sie gesagt und war lachend in die Kaffeeküche gegangen.

Neuerdings verpassen wir keine Termine mehr, und der Schriftverkehr ist auch leichter geworden. Unsere Kreativköpfe haben sich zu neuen Höhen aufgeschwungen, wir platzen vor Aufträgen. Schuld ist Birthe.

Ja, DIE, Birthe!

Natürlich hatte sie sich an ihr Versprechen gehalten und uns wieder besucht. Diesmal hatte ich aufgepasst, dass es nicht zu viel des Weines für mich wird. Ich scheine Wein nicht zu vertragen.

Und jedes lag brav in seinem Bett.

Danach.

Mehr sage ich nicht.

 

Birthe hatte uns Aufträge besorgt. Sie kennt die halbe Republik. „Ich besorge euch Aufträge“, hatte sie vollmundig getönt. Ich habe abgewinkt. Das hätte ich nicht tun sollen. Schon in der zweiten Woche klingelten andauernd die Telefone. Mariele übernahm die Kontrolle. Seit dem schuften wir wie die Hafennutten, sagt Herbert, und der muss es ja wissen. Er war ja schon in Norwegen. Wie komme ich jetzt darauf?

 

Birthe, schöner denn je, rief an. Ende November. Zwei Minuten später war sie bei uns oben, ein Reisetäschchen in der einen Hand, in der anderen ihr Handy.

„Pass auf“, zischte sie ihren Gesprächspartner an. „Wenn Du noch einmal anrufst …“ Aha, ihr Ex. Wütend sah sie auf das Display, als wenn er es wäre.

Ich möchte in meinem zweiten Leben nicht Display werden. Bittö!

Dann kam sie hereingestürmt. „Ich brauche einen Kognak!“

Bekam sie. Dann begrüßten wir uns. Sie drückte sich an Mariele: „Ich bin ja so furchtbar traurig!“ Dann an mich: „Heute Abend wieder?“ flüsterte sie mit tiefer Stimme. Es lief mir heiß und kalt den Rücken herunter und an die gewisse Stelle. Ich fühlte ihre Brüste. „Wo steht Dein Auto?“, fragte ich so harmlos wie möglich.

„In Hannover. Ich bin mit dem Zug unterwegs. “

Es wurde trotzdem ein schöner Abend. Birthe sprach sich aus. Sie sagte, das hätte sie gebraucht. Ein paar Zuhörer, die zuhörten, ohne ihre Kommentare abzugeben. Wir schwiegen weiter, bis zur zweiten Flasche.

Jedenfalls hatte ich keinen Filmriss. Am andern Morgen.
Also diese Birthe!

Mariele fragte mich, nachdem wir wieder allein waren:

„Muss ich eifersüchtig sein?“

„Nein.“ Mehr musste ich nicht sagen.

„Dann war es schön“, entschied Mariele für sich.

„Kannst Du sie das nächste Mal abwimmeln“

„Ja.“

 

 

 

 

„Tanzen sie gerne?“

Ich überlegte. Sollte ich ehrlich sein oder einen Schwank aus meinem Leben erzählen? „Nein.“ Lieber ehrlich.

Das ‚nein’ schien sie nicht zu tangieren. „Ich tanze gerne.“

„Was denn so?“ Als wenn es mich interessieren würde.

„Alles.“

Wenn ich mir diese Frau genauer ansehe, dachte ich, dann kann ich mir das vorstellen.

„Wollen wir nicht mal zusammen, äh, tanzen gehen?“ Hatte sie das ernsthaft gefragt. Hatte sie nicht zugehört, was ich gesagt hatte: Nein.

„Gerne“, flötete mein zweites Ich.

„Fein, übermorgen, vor Klärchens Ballhaus.“

„Gerne, um acht?“ Bin ich denn verrückt? Das eine Ich sucht krampfhaft nach Ausreden, während das andere Ich bereits auf der Tanzfläche weilte.

 

Ich war pünktlich. Ich bin Deutscher, Preuße, Berliner. Wenn man sich um acht verabredet, dann ist man um acht dort! Ja, zu Befehl, Herr Korporal. Steckt tief. Wer in Frankreich pünktlich ist, gilt als unhöflich.

Ich habe die Hände auf dem Rücken, und gehe hin und her. Menschen strömen von der U- und Straßenbahn kommend auf den Hof. Ich staune. Alte, junge, schöne. Männer, Frauen, Lesben Schwule. Auch Paare. Alles da. Jeder, den diese Stadt hervorbringt und heute Lust hat zu tanzen. Ich bin ehrlich zu mir. Ich habe keine Lust. Ich entscheide, noch eine Minute zu warten, dann gehe ich.

Nach zehn Minuten kommt sie. Knallrot im Gesicht. Als sie dicht vor mir steht, in ihrem Mantel und den Stiefeln und mit aufgelösten Haaren und dem Stoffbeutel in der Hand, habe ich ihr schon verziehen. Frauen dürfen das, tröste ich mich.

„Meine Bahn! Ist mir direkt vor der Nase weggefahren.“

Das ist eine gute Ausrede. Oder die Wahrheit. Wer weiß das schon.

„Schon gut, kenne das.“

Sie hakt sich unter, wir gehen hinein. Rechtzeitig, denn ich friere wie ein Schneider und muss dringend eine Toilette aufsuchen. Als wir an einem Spiegel vorbeikommen, schreit sie auf.

„Wie sehe ich denn aus?“

Und ich sage: „Wunderschön.“

Und sie sieht mir in die Augen, und sieht: Ehrlichkeit. Ein strahlendes Lächeln in ihrem Gesicht und ich kann nicht anders; Ich nehme es in die Hände, und gebe ihr einen Kuss. Auf die Lippen. Und sie wird noch roter. Sie senkt den Blick, zeigt mit dem Daumen über ihre Schulter. „Ich muss erst mal …“ und verschwindet.

Mein Blick geht in den Spiegel. Dort stehe ich. Mit rot gefrorenen Wangen. Das bin ich? Ja und ein Neuer. Das was ich eben gemacht habe, hätte ich mir vor zwei Minuten nie getraut. Sie verzaubert mich. Ich nicke mir zufrieden zu.

Drinnen ist es kühl. Die Heizung funktioniert zwar, aber solch ein Saal wird erst warm, wenn sich die Menschen bewegen. Das werden sie sicher auch tun, bald.

 

Wie immer. Lasse ich den ersten Tanz aus. Auch den zweiten. Ich labere herum, nur, um nicht als Erster aufs Parkett zu müssen.

 

 

 

Der Text für den Computerhändler tut sich schwer in meinem Kopf. Marieles Stimme tönt von vorne, vom Empfang. Sie macht gerade einen säumigen Zahler runter. Das kann sie gut! Über Kind und Kegel haben wir nicht mehr gesprochen. Ich vertraue ihr. Das habe ich ihr gesagt, als sie, irgendwie sich schuldig fühlend, danach gefragt hatte. Wir sind jung, habe ich gesagt, wie haben noch Zeit.

Der Regen hört nicht auf. Wenn das alles Schnee wäre! Christa kommt. „Hey“, ruft sie. „Kommst Du mal?“

Sie hält ihr Handy hoch. Auf mein fragendes Gesicht antwortet Christa mit Schulterzucken.

„Ja? Prenzl…“

„Ich bin’s, Birthe.“

„Hallo. Was gib es?“

„Warum so zurückhaltend, mein Lieber.“

So nicht, denke ich. Was will Sie?

„Bin ich nicht“, sage ich abweisend.

„Wie geht’s euch beiden?“ Warum will sie das wissen? Ich schweige das Mikrofon an.

„Ich bin in Berlin. Man sagte mir, dass Mariele nicht mehr in ihrer Firma arbeitet.“ Ach ja! Deswegen. Aber warum ruft sie bei Christa an.

„Sie ist jetzt bei uns.“

„Ach so! Gibst Du sie mir?“

„Nein. Aber ich werde ihr den Hörer reichen.“ Ich grinse albern. Höre nicht mehr, was sie sagt, sondern trage das corpus telefoniae vorsichtig mit drei Fingern zu meiner Frau.

„Birthe“, flüstere ich ihr in Ohr. Sie legt den Kopf schief.

„Hi, Birthe!“ Ich verschwinde. Ich bin nicht neugierig. Doch wünschte ich, ich hätte ein Teleohr. So ein Ding, das man ausfahren kann.

 

Der Fernseher bleibt heute aus. Neben den ersten Wiederholungen laufen auf allen Sendern zweite, dritte und vielmalige Wiederholungen.
Auf dem Sideboard brennen Kerzen in einem siebenarmigen Leuchter. Es ist still. Der Regen ist in Schnee übergegangen. Alles klingt, wie in Watte gepackt. Sogar hier, im Zimmer.

Mariele hat sich an mich gelehnt. Ich wage nicht, mich zu bewegen. Nur ja nicht die Stimmung stören. Schweigen. Wir sehen auf das Schneegestöber. Weiße Weihnachten wäre schön.

„Kommen Deine Eltern nun?“ Ich schrecke aus meinen Nichtgedanken.

„Ja, sie haben definitiv zugesagt.“

„Schön“, sagt Mariele faul.

„Und Deine?“

„Hm.“

„Wie, hm?“

„Sie kommen auch.“

Ich weiß, es gibt ein wenig Spannung zwischen Mariele und ihren Eltern. Weil sie damals, zu Sauriers Zeiten, das Studium abgebrochen hatte. Es ist schon ewig her, und Mariele hat es auch schon bereut. Muss man deswegen immer wieder drauf herumhacken? Ich bin entschlossen, das Thema, sollte es zu Sprache kommen, im Keim zu ersticken.

„Wird schon. Ich passe auf Dich auf.“

„Pass auf meinen Vater auf.“

„Tue ich auch.“

 

Der Heilige Morgen besteht aus Matsch. Natürlich ist der Schnee nicht liegen geblieben. Regenschwere Wolken verdecken alles, was höher als fünfzig Meter ist. Dann beginnt es zu nieseln.

Ich schleppe tiefgefrorene Gänsekeulen zum Auto. Beides gibt es morgen: Die Keule gebraten, das Bier gekühlt. Elterntag nenne ich den ersten Feiertag. Und ich muss ergänzen: Birthetag, Eltern-Birthetag.

„Ich kann doch ihr doch nicht sagen, dass sie unerwünscht ist.“ Da hat Mariele Recht. Heimlich erwäge ich, Birthe mit Marieles Vater zu verkuppeln. Ob es mir gelingt? Und auf meinen Vater aufpassen! Ich sehe schon die beiden Mütter, wie sie argwöhnisch ihre Gatten beobachten. Leise kichernd bin ich auf dem Weg zum Auto.

 

Aus dem Radio klingt leise Weihnachtsmusik von einer CD. Ich bin Atheist. Doch mein Weihnachten lasse ich mir nicht nehmen! Lass es doch heißen, wie es will. Unsere germanischen Vorfahren saßen bibbernd in ihren Langhäusern und haben den Jahreswechsel gefeiert. Dann kamen die Christen. Dann hieß es Weihnachten. Christ war geboren, vor mehr als zweitausend Jahren. Und zwei Wochen später, nach dem Ereignis, fanden die drei Weisen das Christuskind und segneten es und brachten Geschenke und priesen Gott. In Berlin feiern wir nur die Geburt. Manchmal wünschte ich Bayer zu sein.

Es dämmert. Es ist seltsam still. Die Straßen haben sich geleert. Von unserem Fenster aus sehe ich ins dunkelgrau. Mariele sitzt im Sessel, zusammengekauert. In sich gekehrt.

„Was denkst Du?“, frage ich.

„Ach“, sagt sie, „an so viel.“

„Was ihr Frauen alles könnt! Ich sehe im Fenster Dein Spiegelbild und denke nur an Dich.“

„An Dich!“

„Nein, an Dich. An mich denke ich gar nicht.“

„Regnet es noch?“

„Ja.“

„Melancholisch.“

Ich schweige. Was soll ich sagen. Soll ich sie belehren? Melancholie - schwarze Galle, pessimistisch. Die größten Denker waren Melancholiker. Sagt man.

Wir hören die Musik. Die getragene Stimmung lässt uns schweben. Arm in Arm steigen wir auf, über die Dächer, die Wolken. Ein sternenklarer, eiskalter Himmel. Die hellen Punkte sind Diamanten. Ich pflücke. Gebe Mariele einen. Er flimmert in ihrer Hand, und zerfällt zu glitzerndem Staub, der ihren Körper bedeckt. Sie nimmt mich an den Händen, beginnt sich zu drehen. Wie Kinder drehen wir uns im Kreis, die Sterne jagen als Striche an uns vorbei. Ich seufze, sie singt. Ein Lied, ein altes Lied, das ich schon lange nicht mehr gehört hatte. Und da steht, mitten im Raum Raffaels Madonna mit dem Kinde, und die Putten zu ihren Füßen sind Birthe und Mariele. Sie winkt mir zu. Maria hält mir ihr Kind hin. ‚Da, nimm. Es ist ein Geschenk für Dich.’ Ich nehme das Kind, doch es entschwebt, wird zu einem Stern, der irgendwo am Firmament glänzt und flimmert, wie alle anderen. Und die Jungfrau von der unbefleckten Empfängnis, die mütterliche Jungfrau, lächelt glücklich. Und ich bin froh, dass das Kind nicht ans Kreuz genagelt wurde. Danke, sagt Maria.

Ich wende mich ab. Alles ist gut. Ein bärtiger Mann, mit einem Auge steht vor mir. Er hat einen langen Stock in der Hand und einen dunklen Hut auf dem Kopf. ‚Gandalf?’, frage ich. Doch der Einäugige lacht. Da sehe ich es: Loki, den weisen, den raffinierten, den hinterlistigen und seinen tumben Bruder Thor. Sie stehen neben dem Alten und grinsen. Komm mit! ‚Warum sollte ich?’ Deine Vorfahren treffen. Nein, muss ich nicht. Will ich nicht. Ich mache, dass ich davonkomme. Wo ist das Kind? Jemand läuft hinter mir her. Odin? Er schüttelt mich an der Schulter. Wieso tut er das?

 

„Du hast geschlafen“, sagt Mariele.

Ich schmecke Schlaf und Müdigkeit im Mund.

„Was hast Du geträumt?“ Das kann ich ihr doch nicht erzählen!

„Nichts“, lüge ich. Was hatte das Kind in dem Traum zu suchen?

 

Zu Mittag kommen die Eltern. Höfliche Begrüßung. Man nimmt Platz. Es wird kredenzt. Irgendwie bleibt es kühl. Ob Bier hilft? Oder Wein.

„Weißen oder roten?“ Besteck klappert. Ich fixiere Marieles Vater. Sieht harmlos aus. Meiner zwinkert mir zu.

„Na, Wortgewaltiger? Was macht die Firma?“

Mit irgendetwas muss man ja anfangen. Aber ausgerechnet Arbeit? „Mariele ist jetzt bei uns. Wusstest Du das noch nicht?“

„Nee.“ Er kaut an einem Knochen. „Prima.“ Oh ja. Prima!

„Was? Bei euch?““ Marieles Vater. Alle Glocken schlagen Alarm, doch er sagt: „Gratulation.“ Wie? Was? Ich hole Luft.

Mariele sieht mich warnend an, Marieles Mutter sieht mich warnend an, und meine Mutter sieht mich warnend an. Nur Vater kaut an seinem Knochen. Ich schweige. Nicke nur. Es klingelt. Mariele springt auf.

„Erwartet ihr Besuch?“

„Ja, ne Kollegin.“

Birthe erscheint. Großer Auftritt. Gabel schwebt in der Luft, ein Messer, ein Gänsekeulenknochen. Sowas ähnliches hatte ich erwartet. Ich muss grinsen.

„Das ist Birthe“, sagt Mariele. Die Herren sind sprachlos, so wie ich, damals. Die Damen gespannt. Ich spüre es. Ich genieße es. Das ist spannend! Mariele kennt mich gut. Sie sieht mir ins Gesicht. Ihres sagt: Nicht übertreiben, Kleiner! Sehe ich eine Falte? Nein.

Ich besorge noch ein Gedeck. „Soll ich Dir helfen?“, fragt Mariele und kommt in die Küche.

„Nönö.“ Ich will ihnen Zeit lassen und gebe Mariele ein Kuss. Einen langen. Wir lieben uns!

Mein Vater charmiert mit Birthe. Ich habe nichts anderes erwartet. Aber ich kenn ihn gut. Alles nur Spiel. Und meine Mutter kennt ihn gut. Der will doch nur spielen! Sie lächelt, Mariele und sie unterhalten sich. Haushalt, Arbeit, Männer.

Birthe genießt die Aufmerksamkeit der alten Herren. Marieles Vater hat seine Tochter vergessen und den Ärger über sie. Krampfhaft versucht er, Aufmerksamkeit zu erheischen. Mutter sieht ihn argwöhnisch an. Ich frage: „Kannst Du mir bitte helfen?“ Und zeige in die Runde. Keiner hat jetzt Zeit, nur wir Beide, heißt das. Wir räumen ab.

„Muss ich aufpassen, auf den Alten?“, flüstert sie.

„Nein. Das Mädel ist lesbisch.“ Mutter atmet auf. Eine Lüge zur rechten Zeit …

„Übrigens, es hat wunderbar geschmeckt. Warst Du das?“

„Beide. Wir beide waren das. Wir sind begnadete Köche. Ich im Bräunen von Gänsen und Mariele kann den Rest. Ich finde, sie macht das sehr gut.“

„Ja. Sie hatte mich angerufen. Wie glücklich sie jetzt ist.“

„Hm. Ist sie, glaube ich auch.“

„Und Kinder?“

„Kommt noch. Wir arbeiten dran.“ Ich erkenne aufatmen.

 

 

Wir hatten Glück. Danke Birthe. Auch dafür, liebe Birthe, dass Du Dich zurückgehalten hattest.

„Hattest Du mit Birthe gesprochen?“ Wir sitzen entspannt auf dem Sofa. Der siebenarmige Leuchter leuchtet matt, die Kerzen, halb heruntergebrannt. Aus dem Radio tönten Weihnachtsoratorien.

„Nein. Warum sollte ich?“

„Na wegen - das. Du weißt schon.“

„Nein, habe ich nicht.“

„Ob sie was gemerkt hat?“

„Bei Dir?“

„Ja.“

„Nein.“

„Böse Mariele. Böses Mädchen.“ Sie grient.

„Morgen gehen wir spazieren. Es soll schön werden.“
„Sagt wer?“
„Das Wettergerücht. So ein dicker mit Glatze.“

„Zeus!“

„Zeus ist nicht zuständig für Wetter, Du Doof!“

„Zeus ist Chef vons janze. Also schuld!“

Birthe hatte sich zusammen mit unseren Eltern verabschiedet. Sie hatte Mariele etwas ins Ohr geflüstert und dabei mich angesehen. Ich habe es gesehen! Ganz genau! Und Mariele hatte gelächelt. Warum nur?

 

Über Nacht hatte es wieder geschneit. Eine dünne Schicht Schnee liegt auf den Wegen und Straßen. Keiner kümmerte sich darum.

„Ist doch schön, dass sich mal keiner um den Schnee kümmert.“

Mariele nickt. „Ja, schön. Alles ist noch so unberührt.“

Das ist es, was uns Stadtmenschen so am Land fasziniert: Das scheinbar unberührte. Unberührte Natur. Scheinbar. Na, jedenfalls nicht in Brandenburg und nicht in Deutschland.

Wir laufen zur S-Bahn. Es ist frisch. Meine Zehen protestieren, indem sie einfach frieren. Falsches Schuhwerk!

Die Bahn ist gut geheizt, ich taue wieder auf. Mariele sitzt mir gegenüber. In einen dicken Mantel gehüllt, einen dicken Wollschal um den Hals, dicke Hosen an und in den Stiefeln bestimmt dicke Strümpfe. Über ihre Unterwäsche spekuliere ich nicht. Ihre Wangen sind rot, frisch und knackig wie die rote Seite der Äpfel. Die dicken, wollenen Handschuhe hat sie auf dem Schoß. Sie sieht aus dem Fenster: Häuser ziehen vorbei. Die Stadt verlässt uns, je weiter wir nach Norden kommen. Fronau. Gärten, Grundstücke. Feine Beamtengegend. So ruhig und unbelebt inmitten der feinen Schneedecke. Die Sonne geht auf Mittag. Es glitzert und blendet. Wald. Nutzwald. Kiefernnutzwald. Es gibt Leute, die sie am liebsten abholzen würden. Aber ich zweifle, ob in grauer Vorzeit Kiefern nur in wilden Mischwäldern embeddet waren. Eingebunden? Nicht Kiefern!

In Birkenwerder steigen wir aus. Laufen noch eine Weile am Bahndamm entlang, laufen am eingefrorenen Boddensee vorbei, überqueren eine dünn vor sich hinfließende Briese und die Autobahn. Rückkehrer, Heimfahrer sind schon unterwegs. Das Briesetal. Im Winter kann man den Bach sehen. Im Sommer verschwindet er unter Unterholz oder hinter dichten Sträuchern. Hier ist wieder Wald. Er umgibt die Stadt, wie ein Gürtel. Manchmal dringt er über die Stadtgrenzen, macht sich selbständig. So scheint es.

Die Leute hatten ihre Häuser in den Wald gebaut, damals. Erst die neuen Generationen wollten keinen Wald auf dem Grundstück. Vielleicht ändern sich mal die Ansichten.

Wir haben uns untergehakt. Marieles Atem dampft und zieht an meinem Gesicht vorbei. „Dampflok“, sage ich zu ihr.

Sie macht: “Puff, puff.“

Heute bleibt es kalt. Bis Silvester soll es so bleiben. Wir finden ein offenes Gasthaus.

„Tee und Grock.“

„Ja, jeweils für jeden.“

„Genau: zwei Tee, zwei Grock. Ach, und ja, die Karte.“

Goulasch (hausgemacht - wie das?) mit Rotkohl und Kartoffelklößen (hausgemacht). Ich bin gespannt, aber erst kommen der Tee und der Grock. Brauchen wir auch.

„Ganz schön frisch“, sagt Frau Wirtin.

Wir nicken. „Kalt“, sagt Mariele. Das erste Wort, seit wir aus der S-Bahn gestiegen waren. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, doch dann sah ich Marieles entspanntes Gesicht. Mariele erholt sich. Sie will einfach schweigen. Gut. Das kann Mariele im Auto auch gut: Schweigen. Wir Männer können sowieso schweigen.

„Ist das schön, hier draußen. Warum machen wir das nicht mal im Sommer?“

Ich zucke mit den Schultern. Die Wärme, der Grock und der Tee, haben mich schläfrig gemacht.

„Das werden wir im Sommer machen!“ Das ist sie. Die bestimmende Mariele. Ich nicke ergeben, sehe uns im Gras liegen und - Ich denke den Gedanken nicht zu Ende. Das Essen kommt.

Hausgemachter Goulasch! Ist es. Das gibt es nicht eingefroren und schon gar nicht aus der Büchse und die Kartoffelklöße - vom Feinsten. Es schmeckt, auch wenn der Rotkohl etwas zu sauer ist.
„Ich brauche ein Bett.“

„Nichts da“, sagt sie, „wir ziehen gleich weiter.“

Wir tun es. Und schweigen uns durch den Wald, bis in den hohen Norden, bis wir Oranienburg erreichen.

Mariele bleibt stehen. Sie dreht sich zu mir, klammert sich an mir fest. „Ich möchte nach Hause“, spricht sie in meinen Schal. Sie drückt sich ganz fest an mich. Ich liebe es, wenn sie das tut.

„Wir beeilen uns. Ich rufe eine S-Bahn, nenne unsere Adresse und husch …“ Ich wedele mit der Hand in der Luft herum. Eine Taxe hält.

„Wohin?“

Ich wollte gar keine Taxe.

„Oh, bitte. Mir ist kalt.“

„Fahren Sie uns auch nach Berlin rein?“

„Klar doch.“

Wir klemmen uns in den warmen Font. Das Taxi saust los.

„Aufwachen. Wir sind da.“ Mariele blinzelt verschlafen, der Taxifahrer schmunzelt. Ich zahle.

Im Aufzug sagt Mariele: „Das machen wir öfter. Ab jetzt.“

„Aber mit dem Fahrrad.“

„Auch mit dem Fahrrad.“

 

„Es war schön mit Dir“, sagt Mariele. Sie liegt auf meinem Schoß. Ich sehe zu ihr herunter. „Die Stille. Ich hatte keine Lust, zu reden.“

„Ich auch nicht“, gebe ich zu.

„Deswegen war es ja so schön.“

 

 

Der Frühling. Die Tage sind schon länger und noch länger der Uhrzeit nach. Sommerzeit genannt.

Marieles Eltern hatten sich gemeldet und bedankt, für den schönen Tag. „Da schau her“, sagt Mariele.

Und Birthe. Wir sollen nach München kommen. Sie wohne jetzt dort. Und sie hätte wieder Aufträge akquiriert. Akquiriert, sagte sie.

„Im teuren München?“

„Vielleicht irgendwo draußen. Auf einem Dorf.“

„Hm.“

Wir fahren mit dem Zug. Die Kompagnons bleiben zu Hause: „Macht mal. Fahrt. Wir kommen schon klar.“

Die Bahn hatte es immer noch nicht geschafft, einen kurzen Weg zu finden. Also fährt der Zug eine elendige Schleife durch halb Deutschland, bis er endlich in die Nähe Münchens gelangt.

Wir haben Zeit. Ich sehe aus dem Fenster, die Landschaft rast vorbei. Mariele sitzt neben mir. Sie kuschelt sich an mich, nickt ab und zu ein. Das ganze Abteil gehört uns. Eben hat ein Steward Kaffee gebracht. Er schmeckt, wie alle Eisenbahnkaffees - nicht. Aber er ist schwarz, riecht annähernd wie Kaffee und lindert den Durst.

Der Zug verzögert. Ich sehe Werbetafeln vorbeiziehen. Eine bekannte Firma macht Werbung für Dessous. Ich denke unwillkürlich an Birthe. Mariele schnauft und ruckelt sich zurecht. Bloß nicht bewegen!

Ach ja, Dessous, Birthe. Ich habe ihre gesehen. Und sie mit ohne und mit drunter. Sie hat mir gefallen. Birthe. Mariele hat auch sowas. Ihre Hand rutscht auf meinen Schoß. Ich sehe nach unten. Keine Gefahr! Sie schläft wie ein Murmeltier.

Birthe hat uns eine Münchner Adresse gegeben. Meine App zeigte in eine Straße direkt im Zentrum. Hat sie eine Erbschaft angetreten, diese Birthe?

Wir erreichen die Vororte. Die Bebauung wird dichter. München. Wir fahren in den Hauptbahnhof ein. „Aufstehen, Süße. Wir sind da.“

Mariele reckt sich, ich helfe ihr in den Mantel. Es ist frisch, nasskalt, grau. Das Wetter kann sich nicht entscheiden: Regen oder Schnee? Schnee oder Regen. Dann beides. Wetter ist weiblich. Unberechenbar, undurchsichtig.

Ich nenne dem Taxifahrer die Adresse. Er sieht mich lange durch den Rückspiegel an, fährt los. „Mei“, sagt er und stürzt sich in den Verkehr.

„Wo kommen’s dann her?“, fragt er.

„Aus Berlin.“

„Da schau. Hobns da a so a Sauwetter, do droben?“

„Jo!“

Er rauscht um eine Ecke. Schöne alte Bürgerhäuser passen auf. Autoschlangen rechts und links. Wie im Prenzlauer Berg oder Kreuzberg oder überhaupt in Berlin.

 

Wir nehmen den Aufzug. „Ganz nach oben“ quäkt Birthes Stimme aus dem Lautsprecher der Rufanlage.

Birthe erwartet uns vor der Wohnungstür. Es ist keine Wohnungstür, wie du und ich. Es ist ein Tor! Eines, durch das man nicht geht, sondern schreitet. Hinter ihr wartet ein langer, hell erleuchteter Flur auf die hohen Gäste. Feinster Stuck ziert die Decken und Wände. Auch hier draußen auf dem Hausflur, mit dem altmodische Aufzugskäfig.

„Marielle!“, ruft Birthe. „Und Du, herzlich willkommen, ihr beiden.“ Wir umarmen uns. Ich spüre einen Extradruck. Etwas fester als der übliche Bussi-Bussi-Druck beim Umarmen und noch dazu am Hintern. ‚Du sollst nicht begehren…’, denke ich.

„Kommt schon rein.“

Wir sehen uns um.

„Deine Wohnung?“

„Erbschaft.“

Hab ich’s mir doch gedacht!

„Nicht schlecht.“ Mariele schiebt anerkennend die Unterlippe vor.

Vom Flur gehen alle Zimmer ab. Viele Zimmer! Nach rechts und nach links. Wir werden in den Salon geschoben. Ja, Birthe hat Salon gesagt. Der Blick geht über München.

„Bei gutem Wetter sieht man die Alpen.“ Birthe sagt es ohne Begeisterung. Kling das so, wie wenn sie hier gar nicht gerne wohnen würde? Ja, es klingt so. Ich gehe zur Balkontür. Ich korrigiere mich innerlich: Terrassentür. Unter Planen erkenne ich Sitzmöbel. Ja, ich kann es mir vorstellen, wie man hier sitzt und in der Ferne leuchten die schneebedeckten Alpengipfel. „Schade“, sage ich, „dass es nieselt.“

„Ja, schade“, sagt Birthe, wieder so tonlos. Oder ist es Trauer?

 

Wir sitzen in tiefen Sesseln. Uralte Riesendinger. Weich wie Birthes Busen, hatte ich gedacht, als ich in den Polstern versank. Was für Gedanken!

„Und nun erzähl!“, forderte Mariele.

Birthe breitet die Arme aus. „Das alles gehört jetzt mir. Und noch mehr.“ Ihr Gesicht verzog sich. „Mein Ex war so vernünftig, noch vor der Scheidung bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen …“ Und brach ab. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und begann hemmungslos zu weinen.

So etwas geht mir durch und durch. Ich kann Frauen nicht weinen sehen. Sie hat ihn geliebt, geht es mir durch den Kopf. Mehr, als sie sich je eingestanden hat.

Mariele tröstet ihre Freundin, streichelt ihr den Kopf und sieht mich hilflos an. Und ich zucke ebenso hilflos mit den Schultern.

„Du hast ihn geliebt, stimmt’s? Du liebst ihn immer noch“, sage ich, etwas mehr Härte in der Stimme, als die Situation zulassen sollte. Doch es hilft. Birthe nickt.

Ich werde neugierig. Jetzt, wo wir mehr Zeit haben, im Büro, wegen Marieles Hilfe, denke ich über mehr nach, als nur Werbetexte. Ich beschäftige mich ernsthaft damit zu schreiben, einen Roman. Alles sauge ich in mir auf. Beobachte, versuche mir zu merken, was mir wichtig erscheint, sammle Worte, Begriffe, Sprüche.

Ich hake nach. „Du wolltest Dich nie wirklich Scheiden lassen?“

Birthe taucht hinter ihren Händen auf. Sie fixiert mich. Ich sehe, wie es hinter ihrer Stirn arbeitet. Wozu will er das wissen? Was geht ihn das an? „Ich bin Dein Freund, Birthe“, sage ich leise.

Da sitzen sie, meine beiden Hascherl und sehen zu mir herüber, der ich lässig in dem brustweichen Sessel hocke. Es sieht so lieb aus, wie sie da eng umschlungen sitzen. Birthe löst sich von Mariele. Jetzt legt sie die Hände auf die Knie, schnieft noch einmal. Ihr verweintes Gesicht stört uns nicht. Es bleibt schön.

„Tut mir Leid“, sage ich noch.

„Nein, ist schon Okay. Und, ja, ich liebe ihn noch immer. Besonders jetzt, nachdem er tot ist.“ Sie steht auf, geht durchs Zimmer.

„Wie er so dalag. So still. Gar nicht mehr arrogant und überheblich. Sondern weich und hilflos, und er nicht mehr atmet, und so blass und …“ Sie war immer schneller geworden. Bricht ab. Steht vor der Terrassentür, sieht auf den Regen, zuckt mit den Schultern. Dann dreht sie sich wieder zu uns. Im Gegenlicht sehen wir nur ihr Profil.

„Wieso kommt es, dass man glaubt, es geht nicht mehr weiter? Jetzt ist Schluss! Und weiß trotzdem ganz genau, dass noch lange nicht Schluss ist? Ich habe es gewusst und er auch. Und dennoch haben wir uns nicht mehr angesehen, nicht miteinander gesprochen.“ Birthe steht völlig bewegungslos im Zimmer. Sie hat die Schultern ein wenig angezogen und die Arme um sich geschlungen, als würde sie frieren. Und Mariele sitzt still und auch ich wage es nicht, mich zu rühren.

Ich erinnere mich, vor langer, langer Zeit. Großvater war verstorben. Alle Familienangehörigen saßen oder standen im Wohnzimmer meiner Großeltern. Es war friedlich und draußen war solches Wetter, wie heute. Es war so seltsam bedrückend, wie wenn jeder sich seiner Endlichkeit bewusst geworden wäre und bedauert, dass er dies und jenes mit seinen Liebsten noch nicht getan hat und das, was schon längst hätte gesagt werden müssen, noch nicht gesagt war. Und ich, damals noch kleiner Junge, war bedrückt, weil ich so selten meinen Großvater gesehen hatte und ihn zu wenig umarmt und zu wenig zugehört hatte. Ich kuschelte mich an den langen Rock meiner Oma, und sie strich mir über den Kopf und ich liebte sie. Ich hatte es ihr damals gesagt und bekam einen satten, nassen Kuss. Und das tat gut.

Aber was sollte ich jetzt sagen. Besser nichts? Ja. Birthe muss reden. Jetzt.

„Und dann merkt man, es ist zu spät“, sagt Birthe jetzt. „Zu spät.“

 

Später. Der Regen lässt nach. Zwischen den aufreißenden Wolken sind in der Ferne, noch ganz durchsichtig, die Berge zu sehen.

„Wir sollten ein bisschen herumfahren“, sagt Birthe. „Lasst uns in die Berge düsen.“ Wir tun es.

 

„Dort! Da gehen wir essen.“ Birthe kennt sich hier aus. Beim Aussteigen sagt sie: „Die machen hier einen Schweinebraten mit Dunkelbiersauce! Ich sage euch!“ Wir sind gespannt. Und Birthe lächelt wieder.

 

Nach dem Essen Spaziergang, „wegen die Kalorijen“. Mariele. Ich hänge zwischen zwei schönen Frauen. Genieße die neidischen Blicke der Männer, die von ihren Eheweibern ausgeführt werden, obwohl sie lieber angeln oder vor dem Fernseher sitzen und Fußball sehen würden.

Birthe drückt mir den Arm, lehnte ihr Köpfchen an meine Schulter. Sie fixiert mich von unten. Ich beuge mich zu ihr herunter. „Ich kann nicht Dein Tröster sein, Birthe“, flüstere ich. Immer noch werde ich fixiert. Dann gehen wir drei weiter, Hand in Hand und ich sage geradeaus in die feuchte, kalte Luft: „Aber ein Freund.“ Eine Dunstwolke steigt auf.

„Ja“, sagt Birthe schlicht. „Ja.“ Und neben mir atmet mein Weib, meine Geliebte, meine Gespielin und mein Hauptfeldwebel, leise auf. Ich spüre Armdruck von rechts. Und Armdruck von links. Ist das Glück? Ja, schreit mein Ich. Ja!

Im Bett, später dann, gibt mir Mariele einen dicken Kuss. „Das war gut gesprochen, mein Ritter. So unmännlich.“

„Unmännlich?“

„Ja, mit dem Kopf gedacht. Unmännlich.“

„Biest.“

 

Doch noch sind wir in den Bergen unterwegs. Oder unterhalb der Berge. Wir sind in Bayern. In Preußen stehen die Wege stramm, in Baden-Würtemberg und hier auch. Die Tannen bewegen sich nicht, man lässt ihnen keinen Wind. Der Regen, der sich verzogen hat, nahm auch den Wind mit. Es ist mucksmäuschenstill, die Vögel schweigen. Ihnen friert an den Schnäbeln. Und ganz, ganz fern hört man ein Flugzeug über den Himmel ziehen.

 

 

Ich bin unterwegs. Nach Norden, nach Hamburg. Der Computerhändler hat uns Audienz gewährt. Wichtig! Stand in Englisch auf seinem Fax: urgent! Und ganz urgent sitze ich im Zug, und schiebe Langeweile.

Im Abteil neben mir, und etwas weiter schräg gegenüber, sitzen urgent Vertreter und arbeiten. Konzentriert sehen sie auf die Bildschirme ihrer Notebooks. Die Tastaturen klappern. Ob ich auch?

Christa ist mit, Mariele passt auf Herbert und Norman auf. „Achte darauf, dass sie auch schön arbeiten, während wir auf Segeln sind“, sage ich zu Mariele. Und Christa nickt. „Mache ich“, sagt Mariele, „ich finde schon was.“

„Wäre nicht Fensterputzen dran?“ Christa ist eine ordentliche Frau. Ich sage es: „Christa ist nämlich einen ordentlichen Weib! Ihr solltet also ...“ Dann fliehen wir besser. Mariele, Christa und ich.

Sie sitzt gegenüber am Fenster, die Christa, und schaut auf die vorbeirasende Welt. Sie besteht aus grünen Streifen, blauen Streifen, gelben und roten Streifen. Weiter hinten werden daraus Felder, Bäume, Gebüsch, Häuser, ganze Orte. Der Zug ist rasend schnell.

Christa schweigt. Ab und an sieht sie zu mir herüber. Ich schreibe an den ersten Seiten meines Romans. Also doch Notebook auf dem Schoß, wie die anderen.

„Was schreibst Du da?“ Siehe an, Christa ist neugierig. Ein neuer Zug an ihr. Den kenne ich noch nicht. „Nichts Wichtiges. Nur Notizen.“

„Ah“, sagt sie und sieht wieder aus dem Fenster. Es scheint ihr zu genügen. Ich merke, dass Christa des Öfteren zu mir sieht. Es irritiert. Ich schließe das Notebook, lehne mich zurück und denke an Mariele.

„Wir sind da.“ Ich bin eingenickt. Schlaftrunken sammle ich meine sieben Sachen ein. Christa steht schon im Gang, und wartet auf mich. Muss sie auch, denn ich weiß, wo wir wohnen werden.

 

Hamburg empfängt uns hanseatisch kühl: Nieselregen.

„Moin“, begrüßt uns der Taxifahrer, „Morgen“, sagt die Dame an der Rezeption.

„Ziemlich teuer, nä?“, flüstert Christa. Sie sieht sich neugierig um.

 

Ich vermute, dass uns der Computermensch zeigen will, wo der Hammer hängt. Es geht alles auf seine Kosten: „Lassen Sie auf Ihr Zimmer schreiben, was immer Sie essen und trinken.“ Machen wir, Herr M.!

Wir beziehen unsere Zimmer. Ich höre Christa erstaunt aufschreien.

 

Die Straße glänzt, der Platz vor dem Glaspalast glänzt und er selber auch. Die Sonne hat es geschafft, sich durch die Wolken zu schieben. Es ist ein kaltes Glänzen. Der Empfang kühl. Ich weiß, dass hier oben im Norden unsere lockere Berliner Art nicht unbedingt ankommt. Chefchen empfängt uns freundlich und reicht uns weiter an drei junge, smarte Herren, die aussehen, als habe man sie gemeinsam in einem Laden eingekleidet. Pressearbeit, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit. Allens s-tudierten Leuts, denke ich auf Platt, frisch vonner Schul.

Drei Stunden später haben wir es geschafft, dank Christa, die die Jungens ordentlich herangenommen hat. Ich saß dabei und durfte grinsen. Das Konzept war fertig, abgenickt und musste nur noch vom „Alten“ abgezeichnet werden.

Wir würden morgen zur gleichen Zeit wiederkommen?

Ja, gerne.

Handküsschen. Ohlala! Christa mit rotem Kopf, diesmal.

 

Christa ist eine fertige Frau, sage ich mir immer. Sie ist ein Buch, das bereits vollgeschrieben ist. Marieles Buch hat noch leere Seiten. Sie überrascht mich mit ihrer Spontaneität. Christa dagegen ist abgeklärt. So scheint sie. Und ruhig, freundlich, antwortbereit. Sie weiß viel, hat die Idee, wenn wir krampfhaft nach einer suchen. Ein Wort, manchmal. Selten mehr. Sie wirft es in den Raum, und da liegt es, wartet, und wir sehen es an.
Norman ist der Erste, der beginnt. Er kritzelt auf ein Stück Papier. Das Wort wird Gestalt. Dieser Gestalt nimmt sich Herbert an. Ein Konzept entsteht. Ich warte, bin noch nicht dran.

 

In der Lounge fragt Christa denn doch nach: „Bist Du Dir sicher, dass das alles auf seine Kosten geht?“

„Ja. Lass uns essen gehen.“

„Aber wir müssen noch …“

„Nach dem Essen. Ein leerer Magen kann schlecht Kunst machen.“

Wir gehen an der Innenalster entlang. Es ist ruhig und kühl. Der Himmel blaut über uns, die Sonne, die schon tief steht, scheint die Wolken endgültig vertrieben zu haben. Schweigen. Nachdenklichkeit.

Das Konzept: Wir sind es noch einmal durchgegangen.

„Es ist viel“, sage ich zum Ende, „So viel, dass ich mich frage, ob wir es schaffen, wir vier Hanseln.“

Jetzt gehen wir schweigend am Ufer der Alster entlang. Ein paar Segler dümpeln noch drauf und Ausflugskähne. Sie hat sich bei mir eingehakt. Es ist angenehm, so zusammen zu sein, vertraut und doch nicht verliebt. Nur Freunde. Und wie ich das denke, sagte das Christa auch: „Es ist wohltuend, einen Freund an seiner Seite zu haben.“

„Ich hoffe, Du meinst mich?“

Sie lacht leise. „Ja.“

Und ich sehe sie an, nicke. „Ja.“

Die Sonne zeichnet goldene Lichtpunkte durch die Bäume auf ihr einfaches Gesicht. Sie ist nicht im eigentlichen Sinne eine Schönheit. Dafür sind ihre Gesichtszüge zu ungleichmäßig. Ihre Schönheit kommt von innen. Über ihre braunen Augen und ihr bezauberndes Lächeln. Das hat sie!

Sie ist eine Frau, die man in die Arme nimmt und beschützt. Sie gehört nicht in mein Beuteschema, deshalb muss sie nichts befürchten. Ich glaube, sie weiß es. Dennoch genieße ich ihre Nähe, ihre Klugheit, ihr Wissen. Hat sie eigentlich einen Partner? Und, wie komme ich nach vier Jahren darauf, zu fragen? Jetzt erst?

„Hast Du jemanden? Ich meine, bist Du liiert?“ Natürlich ist das neugierig und die Frage ist sehr intime. Aber es hat mich gepackt. Und dann frage ich eben.

Sie sieht mich von unten an. Ihre Augen sind jetzt ganz dunkel. Sie prüft, was ich mit meiner Frage bezwecke.

„Ja“, sagt sie dann. Und: „Es wird Dir nicht gefallen.“

„Wie das?“

„Es ist eine Frau.“

„Okay. Ich hab’ kein Problem damit. Die anderen auch nicht und Mariele erst recht nicht.“ Ich halte sie an den Schultern fest. „Du bist mir mehr wert, als jeder andere. Glaub mir.“ Sie lächelt wieder. Worauf ich frech werde: „Und stell mir mal Deine Freundin vor.“

„Meine Frau.“

„Ooops.“

Sie denkt nach. Ihre Hand hat mich jetzt fest am Ellenbogen, während wir weiter an der Alster entlang gehen.

„Nein“, sagt sie. „Lieber nicht.“

„Wieso?“

„Sie mag schöne Männer.“

„Danke, aber jetzt übertreibst Du. Gehen wir lieber ins Hotel.“

„Ja. Ich bin müde.“

„Fix und alle.“

„Kapott.“

„Am Boden zerstört!“

„Feddisch!“

„Wie siehts mit nem Absacker aus?“

„Jep. Geht noch.“

 

 

Nach dem Frühstück machen wir eine Konferenz. Ich liebe unsere Möglichkeiten: Ein Notebook mit Kamera, die passende Software und man kann sich über hunderte Kilometer unterhalten, als säße man zusammen in einem Zimmer. Das Konzept wird von den Kompagnons abgenickt.

„Wenn wir zurück sind, werden wir feiern. Wenn das kein Grund ist.“

Am Rand des Bildschirms erscheint Marieles Kopf. Es sticht.

„Seid ihr auch artig?“, fragt sie. Ich ahne, dass sie von Christas Neigung noch nichts weiß. Bei Gelegenheit werde ich es ihr stecken.

„Oh, ja doch!“

Und bevor wir trennen: „Ich liebe Dich.“

 

 

Hamburg verabschiedet uns hanseatisch kühl - mit Nieselregen. Der kam unaufgefordert über die Elbe gezogen, machte sich breit und schickte uns nach Hause. Bis kurz vor Berlin, dann bogen die Regenwolken links ab.

Die Herren der Firma waren ebenfalls hanseatisch kühl und Chefchen ebenso. Wir hatten ihn nach Berlin eingeladen. „Gerne. Natürlich.“ Händedruck, bis dann.

 

Wir sind zufrieden, Christa und ich. Am Zug erwarten uns Mariele und Herbert.

„Naa?“

„Erfolg!“

„Cognac!“

Alle sind zufrieden, obwohl uns ein Haufen Arbeit ins Haus steht. Doch: „Von nüscht, kommt nüscht!“

 

 

Die erste Frage zu Hause: “Wie war Christa.“

„Nett.“ Nachtigall ich hör dir trapsen.

„Was heißt nett?“

„Nett heißt eben nett.“

„Auch im Bett? Nett?“

„Ich denke schon.“

„??“

„Ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei.“

Mariele zweifelt. Die Falte zwischen den Augenbrauen ist tief, sehr tief. Soll ich es ihr jetzt sagen oder sie noch ein bisschen zappeln lassen? Ich versuche, die Falte mit den Daumen glatt zu ziehen. Mariele schüttelt den Kopf. „So nicht!“

„Bügeleisen? Geht das damit?“

„Du nimmst mich nicht ernst.“ Mariele dreht mir den Rücken zu. Sie hat Recht. Und Eifersucht ist ein schlechter Ratgeber.

„Christa ist liiert.“

„Ph.“

„Sie hat einen Partner.“

„Hm.“

„Eine Frau.“

Mariele schießt herum. Alles an ihr ist Fragezeichen. „Sie? Die Christa?“

„Jep, sie hat es mir gesagt.“

„Du hast gefragt?“

„Habbisch.“

„Und sie hat es Dir gesagt?“

„Hatt’se.“

Schweigen. Die Falte wird nicht tiefer.

„Hätt se mia doch ooch sajen können.“

„Ich bin die Vertrauensperson in der Firma.“

„Hach.“ Mariele winkt ab. „Du. Als wenn Dir je einer vertrauen könnte, Du Schreiberling. Du verarbeitest doch gleich alles in deinem Roman.“ Ich liebe sie dafür und gebe ihr den dazu passenden Kuss. Wir schmiegen uns aneinander.

„Du bist so süß, wenn Du eifersüchtig bis.“

„Du Doof!“ Zur Bekräftigung bekomme ich eine Schelle. Eine zarte, eine hingehauchte. Und ich küsse die Finger, die mich so züchtigen.

 

Im Sommer, in Venedig. Nach langen Hin und Her leisteten wir uns eine Gondel. Wir hatten eine Frohnatur als Gondoliere erwischt: Er konnte etwas Deutsch und erklärte, was wir sahen und auch, was wir nicht sahen. Und wenn er nichts zu erklärten hatte, sang er.

„Ische fahre ihne durche ganze Venezia!“, rief er fröhlich. „Ische mage amore Leut!“ Und sang Verdi. Oder war es Puccini? Wahrlich, er befuhr große Kanäle, tauchte mit uns in dunkle Kanalgassen, an Häusern vorbei, deren beste Zeit vor fünfhundert Jahren war. „Dasse iste Hintereingng vonne Pallazo di Cento.“ So? Aha! Wir staunten pflichtschuldigst und küssten uns und er? Er sang uns einen.

Und wir hatten mit einem Mal solch eine verliebte Stimmung, als wie wenn alles ganz neu und aufregend wäre, und schrecklich schön.

Auf der Piazza standen wir noch lange, und winkten ihm, bis die Gondel mitsamt ihrem Sänger verschwunden war. Eng umarmt liefen wir zurück zum Hotel. Man schubste uns, und rempelte uns an, doch das war irgendwie zu irdisch, wir schwebten weit über Venedig in einem der vielen siebten Himmel. Im Hotel setzte ich mich vors Notebook und schrieb auf, was Mariele und ich erlebt, gesehen, gehört hatten. Und luden Fotos von der Kamera. Dann stiegen wir zu Bett, wie Mariele vornehm von sich gab. Doch es wollte kein Schlaf kommen.

„Duhu?“

„Jaha, meine Liebe?“

„Hattest Duhu schon einmal Gelegenheit?“

„Nein, ich hatte noch nie Gelegenheit.“

„Dann lass uns aufstehen und gehen und Gelegenheit ergreifen.“

Wir standen wieder auf, zogen uns an. Ich war gespannt, was für eine Gelegenheit Mariele meinte.

Draußen, vor der Tür: „Nun komm schon Kind. Die Gelegenheit wartet nicht.“

Ich mag es, wenn wir sinnfrei sprechen. Das tut gut, nach all den Anstrengungen das Tages, nicht Falsches geschrieben zu haben - hoffentlich. Ich mag es, wenn Mariele ebendies tut. Das tut sie oft. Manchmal erfindet sie eine neue Sprache. Oder zieht Worte zusammen, dass daraus ein Einwortsatz entsteht.

„Venedigimfinsternduhattestnochniegelegenheit?“

„Ach das meinst Du? Nein, noch nie. War ja noch nie in Venedig.“

„Hattu keine Fantasie?“

Wir liefen durch die Gasse, an dem kleinen Restaurant vorbei. Einheimische saßen an den Tischen, aßen, tranken. „Siehssu. Keine Platze!“

„Joa mei. I hoab gar ka Hunger net. Net amoi auf a Bretzen.“

„Das sagt man hier nicht. Ische ’abe garre keine Hunger.“

„Sag ich doch. Habe ich nicht.“

Ein Platz öffnet sich vor uns. Eine Kirche hell erleuchtet. Die Tür offen. Musik dringt draus hervor.

Salbungsvoll sing Mariele, „Lasset uns beten!“

„Ich doch nicht“, sage ich. „Aber Du musst zur Beichte. Dringend.“

„Ja, ist wohl so. Schuldbewusst.“

„Schuldbewusst sagt man nicht. Das steht hinter dem Bindestrich. Das sagt man nicht. Und seh Dich mah Deinem Gesicht in Spiegel an: Du lachst.“

Wir dringen ein. Orgelspiel. Die Bässe dröhnen, die hohen Töne jubilieren. Es sind nur ein paar Personen in der Kirche. Zwei junge Leute lehnen an einer Säule, ein paar Alte hocken auf ihren Bänken, in ihre Gebete vertieft.

Mir richten sich die Armhärchen auf. Die Musik rollt über mich, dringt in jede Pore. Wer ist das? Mariele hat sich jetzt ganz an meinen rechten Arm geschmiegt. Mit geschlossenen Augen lauscht auch sie. Ein gewaltiger Schlussakkord beendet das Stück. Wir atmen auf, gehen wieder nach draußen auf den Platz. Die Musik dröhnt nach, in den Ohren und im Kopf. Aber die Luft ist rein. Ein Hauch von Feuchtigkeit steckt drin und Blumen.

Der Markusplatz ist belebt wie am Tage. Touristen besetzen die Plätze an den Tischen draußen. Es ist angenehm kühler, als am Tage. Aber auch Einheimische hat es jetzt hinausgetrieben. Sie kennen ihre Stadt und genießen sie dennoch immer wieder.

„Duuuarst!“

„Ich auch. Wo kehren wir ein?“

Eines dieser riesigen Kreuzfahrtschiffe beleuchtet die Lagune.

 

 

Freitag. Der Winter hat sich schwer getan. Immer wieder versuchte er, die Stadt einzufrieren. Eiskalter Wind pfiff um die Ecken. Dann war Frühling. Seit drei Wochen haben wir ihn. Sogar schriftlich. Festgelegt von den Meteorologen. Aber das Wetter weiß es noch nicht. Ein fieser kalter Nieselregen hat Berlin fest im Griff. Seit einer Woche! Wer nicht muß, bleibt drinnen. Viele müssen aber. Sehr viele, und so sind die Straßen wohl gefüllt. Und die Bahnen und die Busse. Die Autos schleppen ihre einsamen Automobilisten von A nach B. Sie könnten zufrieden sein, denn sie mussten sich nicht drängen. Aber die Suche nach einem Parkplatz vergällt wohl vielen den Morgen. Nicht mein Problem. Nicht Marieles Problem. Wir fahren zusammen mit der U-Bahn. Auch sie ist voll, und wir werden zwangsgekuschelt. Mit meiner Frau gerne!

 

Als wir im zweiten Hof ankommen, hört es auf zu nieseln.

„Ob’s was wird?“, fragt Mariele.

Und ich frage: „Ihr meint das Wetter, meine Liebste Gräfin?“

Und Mariele wird ganz Gräfin: „So ist es, teuerster Baron.“

„Dann lasst uns in unser Komtoire gehen, meine Liebste. Es warten exquisite Dinge auf Euch.“

Und wir schreiten über den Hof, spritzen Wasser auf. Noch lange wogen Wellchen auf den Pfützen. Ich reiße die Blechtür auf, man schwebt an mir vorbei: Dick eingemummt in Mütze, Schal, Mantel, Stiefel.

„Habt Ihr es schon bemerkt, Gräfin?“

„Nööö?“

„Es ist Frühjahr.“

„Ah. Und?“

„Nun, Ihr seid recht dick bekleidet.“

„Wie wollt ihr mich dann sehen, Baron?“

Wir stehen im Aufzug. Dieser alte Kasten aus den Dreißigern, aufgepäppelt von geschickten Mechanikern, bewegt sich bedächtig nach oben. Nach unten ebenso. Nur jetzt gerade eben nach oben.

„Ihr wünscht eine Antwort, Gräfin?“

„Oh ja, obwohl ich fürchte, sie zu kennen.“

 

Noch keiner da, wir sind die ersten. Das Telefon klingelt. Mariele geht ran. Eine Augenbraue fliegt nach oben. Sie deutet auf die Sprechmuschel: „Birthe“, flüstert sie.

 

 

Das wird witzig. Es ist Freitag. Heute sind Christa und ihre Frau eingeladen. Wir wollen einfach mal so quatschen. Hat Mariele gesagt. Ich vermute Neugier dahinter.

Mariele frug mich: „Wer mag wohl diese Frau sein? Kein Bild auf Christas Schreibtisch. Nichts!“ Das kann eine Frau fertigmachen! Und deshalb hat Mariele die Initiative ergriffen: „Wir laden Christa und ihre Frau ein!“

Und nun hat sich auch Birthe eingeladen.

 

Es klingelt. Christa. „Kommt hoch, dritte Etage.“ Christa kommt angeschnauft, in ihrem Schlepptau die Freundin, Frau, Geliebte.

„Tut mir leid.“ Ich zeige auf eine imaginäre Tür. „Der Aufzug ist seit Jahren im Eimer.“ Dann stehen sie vor mir: „Das ist Ramona“, sagt Christa.

„Hallo, Ramona.“ Eine kühle Hand, weich, lang, zart. Hübsch. Sehr hübsch! Sportlich, schlank, etwas größer als Christa. Sie trägt ihr Haar kurz, ein Bubikopf hieß das früher wohl? Ihr Kleid ist dunkelblau. Flache Schuhe.

„Kommt rein.“

Neugierig sehen sie sich um, die beiden. Mariele kommt aus der Küche: „Hallo.“

 

Es ist, wie es immer ist. Man ist sich fremd. Man schweigt. Womit beginnen. Falle ich mit der Tür ins Haus? Oder fange ich so an: “Schön, dass wir euch mal gemeinsam hier haben.“ Falsch? Oder so: „Wer ist eigentlich was, bei euch?“ Dämlicher geht’s wohl nicht?

Ramona fängt an: „Du bist also der Schreiberling, der Wortmensch?“

„Ja. Und manchmal auch der Satzbilder. Im Ernst, ja. Ich weiß ja nicht, was Christa so alles erzählt.“

Diese Ramona! Jetzt lächelt sie. Es ist ein freies Lächeln, mit offenem Blick, kein Zähnefletschen, nur um höflich zu sein. Jetzt ist sie noch hübscher. „Was für ein Anfang!“, sagt sie. Nun lächeln wir alle.

Und es klingelt wieder.

„Das wird Birthe sein.“

Ich sehe den Blick von Christa.

„Konnten wir nicht abwimmeln.“ Ich versuche zu erklären: „Birte ist gewissermaßen, nun ja, sie ist ...“ Da tritt sie schon ein.

„Hallo.“

 

 

„Dann wird es ja ein richtiger Weiberabend. Willst Du Dir nicht lieber Verstärkung rufen?“ Ramona

„Ich liebe Weiberabende“, sage ich.

„Wie das?“

„Da ratschen die Frauen und ratschen und unsereiner Seiner kann seinen Gedanken nachhängen. Das ist wunderbar.“ Und ich glaube ich muss mehr erklären: „Sind Männer dabei, wird gebalzt und geprotzt und es gibt Männer, die dann irgendwann von Fußball anfangen oder angeln …“

„Puh!“

Ich rieche Birthe. Sie hat ihr Parfüm, dieses berühmte selbstgemischte, aufgelegt.

 

Wir reden über Literatur. Ich hänge nicht meinen Gedanken nach, sondern an den Lippen von Ramona und Mariele. Eine neue Seite meiner Frau. Wann lerne ich sie ganz kennen? Nie? Nie! Christa unterhält sich leise mit Birthe, die ganz brav auf ihrem Platz sitzt und nickt. Sie sieht nicht besonders glücklich aus. In einer Pause mische ich mich ein.

„Was ist, Birthe?“

„Ach nichts.“

„Nichts gibt es nicht. Willst Du drüber reden?“

„Weib!“, sagt sie zu mir. Ich grinse.

Christa ist diskret. Sie wendet sich den beiden Literaturkritikern zu und beteiligt sich an deren Gespräch.

„Fang an. Von vorn.“

„Ein Mann.“

„Okay. Glückwunsch. Wo ist das Problem?“

„Ich glaube, er ist, wie mein Ex.“

„Dein Ex war nie Dein Ex.“

„Du bist ein Krümelkacker. Natürlich nicht. Aber ich habe Angst, dass ich wieder in solch eine Mühle gerate.“

„Wie können wir helfen?“

„Wollt ihr ihn kennenlernen?“

„Ja. Wo wir doch sozusagen Mutter und Vaterrolle übernommen haben. Was machen eigentlich Deine Eltern?“

Sie winkt ab. „Ihnen geht es gut. Sie fummeln an ihrem Häuschen, bestellen den Garten. Ich werde morgen zu ihnen fahren.“

„Sag nicht, Du willst bei uns übernachten?“ Ich grinse über das ganze Gesicht. Mariele schaut herüber.

„Nur wenn ich bei Dir im Bett liegen darf“, haucht Birthe und grinst auch. Ein Seitenblick zu Mariele, die mich warnend ansieht.

„Wie süß. Meine Lieblingsfreundin ist eifersüchtig.“

„Treiben wir es nicht zu weit.“

„Nein. Ich würde meine beste Freundin und meine größte Liebe verlieren.“ Aua! Das tat weh. Es traf. Mitten auf den Solarplexus. „Touché“, sage ich. Ich hatte alles erwartet, nur nicht solche eine Liebeserklärung. „Das will ich auch nicht.“ Was soll man dazu sagen?

 

Wir haben ein Gästezimmer. Birthe richtete sich ohne zu schmollen dort ein.

„Ein Absacker noch?“, fragte Mariele.

„Klar doch.“ Birthe und ich im Chor.

 

„Nette Person, diese Ramona.“ Mariele sitzt zurückgelehnt in ihrem Sessel. Ja, sie hat ihren eigenen Sessel! Ihr Lieblingsstück. Sie jagt jeden aus diesem Sitzmöbel, der unberechtigt, mit oder ohne Absicht, darin Platz genommen hat. Ihre Hand hält lässig ein Whiskeyglas. Die braune Flüssigkeit schwappt leise hin und her. Eisstückchen stoßen klirrend gegen das Glas.

„Ich verstehe das nicht“, sage ich, „Wie Frau zu Frau und Mann zu Mann findet.“

„Du bist eben nicht sensibel genug.“

„Sensibel? Was hat das damit zu tun.“

Birthe steigt ein: „Manchmal mag Frau etwas mehr - “, sie sucht nach Worten.

„Zärtlichkeit?“, frage ich.

„Sowas Ähnliches.“

Ein schweres Thema. Ich will es nicht weiter ausbreiten. Ramona ist tatsächlich eine tolle Frau. Sehr klug. Sie passt zu Christa und ich gönne sie ihr. Es sind Frauen. Sie lieben sich. Seltsam ist es doch. Für mich.

„Erzähl“, fordert Mariele Birthe auf. „Wie ist es dazu gekommen?“

„Zu einem Mann?“

„Jep.“

Sie sieht mich an. Sie sieht Mariele an. Sie sieht auf ihre Hände, die auf ihrem Schoß liegen. Es sind schöne Hände.

„Er hat mich einfach angesprochen. Mitten auf der Straße. Plötzlich stand er vor mir.“

 

„Darf ich Sie einladen? Er wies auf einen Platz in dem Café, vor dem wir standen. Ich wollte erst ablehnen. Aber es hatte mir gefallen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er mich bedrängen wollte.

Dieser Helmholzplatz hat ja was! Irgendwie ist die Stimmung dort gelöster als anderswo. Vielleicht liegt das an den jungen Leuten, obwohl … Auch hier geht es schon los. Mein Kinderwagen ist größer, mein Fahrrad teurer, meine Klamotten … aber so sind die Menschen eben. Das ist nicht immer von Nachteil. Es fordert von uns, mehr zu tun. Zu streben. Wer aufhört, stirbt.

Da war dann noch die Ähnlichkeit mit M., meinem Ex. Sein Gesicht, das energische Kinn, die breiten Schultern.

Außer an Dir hatte ich ja lange keine Gelegenheit gehabt, mich an eine breite Männerbrust zu lehnen. Danke.

Na, jedenfalls, war er gesprächiger als ich.

Was heißt ungewöhnlich? Ich bin die stillste - hahaha.

Er ist klug, sehr belesen, spricht drei Sprachen, gibt nicht an. Ach doch, das merkt man schnell. Er hat nicht, wie Du, so viele ICHs in seinen Sätzen. Und er ist - nein, nicht Professor, sondern Assistenzarzt in Buch, irgendwo oben im Norden. Berlin-Buch? Wird wohl da sein. Was er tut? Chirurgie, wenn ich es richtig verstanden habe. Oder Unfallchirurgie. Wenn er frei hat, ist er als Unfallarzt unterwegs. Ein ganz schönes Pensum, im Vergleich zu mir.

Wir unterhielten uns über Gott und die Welt und merkten gar nicht, dass die Zeit vergangen war. Er hat mir dann angeboten, bei ihm zu übernachten. Nein, nicht was Du denkst. Es war alles ganz anständig. Ja, er in seinem, ich auf einem harten Sofa. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Nur an ihn gedacht und an M. Habe sie verglichen. Da sind ein paar Ähnlichkeiten. Das Fordernde, immer vorwärts strebende, ihr versteht. Ach ja, ihr habt M. ja nicht kennen gelernt. M. hatte immer gefordert: Du musst, du sollst, du hast, mach jetzt! Und im Bett.

Jedenfalls, vielleicht ist es besser beschrieben mit, das immer Strebsame. Ich brauche doch auch mal Ruhe. Mal pausieren, anhalten. Sich Zeit nehmen. Siehst Du. Mariele versteht mich. Ach so, Du auch. Er ist nicht so? Nein? Hast Du ein Glück, Mariele. Nun gib mal nicht so an, Alter.

Wir haben uns dann regelmäßig wieder getroffen. Sein Dienst. Ich war eh in Berlin und hatte nichts zu tun, außer, das Erbe zu verwalten. Warum ich nicht bei euch war? Ihr hattet zu tun, dachte ich. Er weg, auf Reisen, ihr beide weg, auf Reisen - und ich war abends auch geschafft.

Einmal war ich mit. Er hatte einen Einsatz, sprang in seinen Mini, ich hinterher. Er hat immer einen Notfallkoffer dabei. Ein Radfahrer. Sah schlimm aus. Viel Blut. Ich habe ihn beobachtet: Er war ganz vorsichtig, zärtlich. Hat leise gesprochen, gesagt, was er jetzt tun wird. Und dann der Gegensatz. Befehlsgewohnt: Vorsicht! Legt ihn vorsichtig auf die Trage! Infusion, Dingsbums! - habe ich nicht verstanden. Hierhin, dorthin. Und alle sprangen und liefen. Das war spannend.

Am Abend waren wir dann zusammen im Bett. Was? Ja, es war schön. Es war so anders als mit M. Wir waren noch lange wach und er hat sich höflich bedankt. Nee, nicht wie Du, der Du immer gleich einschläfst. Was? Lüge? Woher ich das weiß? Mariele, Du erzählst zu viel.

Ja, nun bin ich mit ihm zusammen. Er hat mich gefragt, ob ich nach Berlin kommen möchte. Was soll ich antworten?

Ja, ich will und will nicht. In München bin ich frei, kann machen, was ich will. Und bin einsam. Es sind nicht die Freunde, die sogenannten. Es fehlt jemand, an den man sich abends anlehnen kann oder am Ufer der Isar sitzen und Händchen halten. Und dem man mehr erzählen kann, als einem Freund. Ihr ausgenommen!“

 

Ja, man möchte raten. Den ultimativen Tipp geben. Sagen, tu es, ohne befürchten zu müssen, es wird einem einmal vorgehalten: Du hast doch gesagt -. Ich tendiere ihr zu raten, nach Berlin zu kommen, und die Wohnung in München zu behalten. Ich sage es. Sie sieht mich an.

„Was soll ich mit einer Wohnung in München? Sie steht dann das ganze Jahr leer!“

Hat sie Recht. Aber wenn es nicht klappt, mit ihrem Doktor?

„Gibt doch hier auch Wohnungen.“ Wahr gesprochen. Aber find erst mal eine!

Verkaufen!

„Tu ich doch schon.“

„Dann stell uns Deinen neuen vor. Ruf einfach an.“
„Tu ich.“

 

 

Ich werde wach. Es ist finster. Stockdunkel! Mariele hat sich an mich gekuschelt. Sie ist warm und weich. Ihr Atem streift meinen Nacken. Ich wage nicht, mich zu rühren. Eine Bewegung. Jemand steigt in mein Bett. Birthe. Sie wollte doch nicht. Doch sie rückt nur näher. „Halte mich.“ Mehr nicht. Ich liege bewegungslos in der Mitte.

 

Die Sonne scheint durch Fenster direkt auf mein Kopfkissen. Mariele dreht mir ihren Rücken zu. Das Deckbett ist verrutscht. Ihr Hintern leuchtet mir entgegen. Nein, ich werde ihr nicht drauf klopfen. Ich lasse sie schlafen. Birthe? Nicht hier. Dann war es nur ein Traum. Ein Männertraum. Ich atme auf.

„Sach mahh.“ Mariele. „War Birthe bei Dir im Bett?“

Ich werde rot. Sie kann es nicht sehen, gegen die Sonne. Doch kein Männertraum! Ich schlucke. „Ja. Es war nichts. Sie wollte wohl nur kuscheln.“

„Diese Birthe.“ Mariele ist nicht böse. Ich muss ihr einen Kuss geben. Jetzt. Nur auf die Wange, denn ich habe noch keine geputzten Zähne. „Ich liebe Dich“, flüstere ich ihr ins Ohr.

„Das kitzelt.“

Merkwürdig.

 

 

Eine unschuldige Birthe sitzt am Frühstückstisch. Sie kaut mit einem gewaltigen Appetit, schon an der zweiten Schrippe. Mariele und ich sehen uns an.

„Entschuldigt“, sagt Birthe mit vollem Mund. „Ich brauchte heute Nacht jemanden. Und da war nur noch Platz bei diesem Mann -„

„Sooo“, sage ich. Nur dort?

„Na ja, ich heiße ja nicht Ramona. Oder bist Du jetzt sauer, Mariele.“

Das war direkt. Mein lieber Scholli! Doch Mariele lacht aus vollem Halse. Was haben die beiden miteinander, was ich nicht verstehe? Muss ich es wissen? Nein. Nicht! Besser isses. Dann habe ich noch viel zu entdecken.

 

 

Birthe

 

In Lichtenrade steige ich in die S-Bahn, will nach Buch. „Was willst Du denn da oben, im Osten?“ Osten? Ich sehe auf den Plan. Norden! Was haben die Berliner eigentlich mit ihrem Osten und Westen? Wie ist das eigentlich in Hannover? Bodtfeld? Assis! Hartz-IV. München? Innen und aussi. Draußen. Die armen Schweine, die draußen wohnen müssen. Die Bussi-Bussi-Gesellschaft lebt im Süden, hinter dicken, hohen Mauern oder in der Stadt. Einteilung in Kategorien.

Draußen fliegt Berlin vorbei. Viel Grün. Viel alte Industrie, Viele alte stillgelegte Bahnhöfe. Ein junger Mann steigt ein. Holt eine Gitarre vor und singt uns ein Lied. Es klingt gar nicht einmal so schlecht. Ich gebe einen Euro. Als Einzige.

Berlin ist anders, anders als andere Städte. Es gibt zwar DEN Osten und DEN Westen, doch habe ich das Gefühl, es stirbt bei den Vielen schon aus. Man wohnt wieder in Bezirken. Wedding, Pankow (sehr fein), Charlottenburg, Wilmersdorf (Söööhr feun! Mitte, Prenz’lberg, hipp).

Es gibt hier auch Reiche. Finde sie! In München sieht man sie, in Berlin? Höchsten, wenn sie im Adlon absteigen. Die andern haben ihre Villen, hinter wunderschönen alten Zäunen, mit schönen Gärten. Sie lassen Einblick nehmen. Seht, ich bin wohlhabend. Doch was soll’s?

Durch M. habe ich einige der Reichen und Schönen kennengelernt. Sie sind hier anders. Sie prüfen Dich. Nicht wie viel hast Du, sondern, wer bist Du. Für Leute von draußen gar nicht so leicht.

Marienfelde. Gehört zu Berlin, obwohl man es nicht erkennt. Ich dusele vor mich hin. Bäume, Sträucher, Häuschen fliegen vorbei. Ein Fabrikgelände.

Wir fahren ein in den Tunnel. Anhalter Bahnhof, Potsdamer Platz. Nach dem Nordbahnhof tauchen wir wieder auf. Sonne. Wärme. Rechts und links der Trasse Mietshäuser, Brandmauern, graue Fassaden. Bornholmer Straße. Unwillkürlich denke ich an den November 1989. Da war ich ein Kind. Bei uns in Hannover dauerte es, bis wir es begriffen hatten. Sollte es wahr sein, fragte mein Vater. Radio, Fernsehen. Ich spürte große Aufregung, und lernte Leute aus dem „Osten“ kennen, von denen ich bis dahin noch nie gehört hatte. Plötzlich waren es Verwandte. Freude, strahlende Gesichter. So ganz hatte ich das nicht verstanden.

Gut, hat sich erledigt. Sie sind nicht mehr wiedergekommen und wir sind nicht hingefahren. „In den Osten?“ Mutter. Dann sind sie doch in den Osten gezogen, aber nach Lichtenrade, weil Papa dort Arbeit hatte. Aber wenigstens im Westen. „Guckt mal auf den Stadtplan. Wo liegt Lichtenrade? Im Westen?“ Ich wollte provozieren, so als Daheimgebliebene. Hannoveransche. Zieht man einen Strich über Mitte, dann liegt Lichtenrade genau drauf. „Ph!“

M. lernte ich während des Studiums kennen. Und wir heirateten kurz danach. Was hatte mich bloß geritten? Heute denke ich, er brauchte mich als Alibi. Alle in seiner Umgebung hatten Frauen, nur er nicht. Und dann kam ich und, bums, waren wir Mann und Frau.

Oh, ich mochte ihn. Er war so klug, so wissend. Er hatte immer eine Antwort und war mir eine große Hilfe während des Examens. Ohne ihn? Wer weiß?

Und im Bett? Fleißig. So fleißig, dass ich bald genug hatte. Mein Fehler? Auch. Aber er hat angefangen! Mit dieser Tussi! Marie, die mit dem Kuharsch. Wackelte mit dem Ding vor seinen Augen rum und er griff zu. Und nicht nur nach ihrem Arsch! Er hatte gedacht ich hätte es nicht gesehen. Mann, war ich sauer.

Der Gipfel? Als ich ihn mit einer Studentin in seinem Büro erwischt hatte. Was sagte der Kerl? „Das ist nicht so, wie es aussieht.“ Wie in einem Amifilm.

Pankow. Pankow sieht ärmer aus, als es ist. Klassisches Understatement. Noch wohnen hier viele Alte. Aber das wird sich ändern. Wenn die Jungen aus dem Prenzlauer Berg, älter geworden, sich etwas Anderes suchen. Sie sollten sich beeilen. Grundstücke werden hier immer teurer. Und die Häuser sowieso. Gut, Beamte gehen in den Westen. Charlottenburg, Wannsee, Wilmersdorf, das vornehme oder was sich dafür hält. Ich muss raus. Berlin-Buch. Unten wartet schon der Bus. Ich beeile mich.

 

„Ein Arzt?“ fragte Papa.

„Ja.“

Schweigen. Dann, besorgter Blick. Auch von Mama. „Von dort?“

Von dort, meint, aus dem Osten, was immer sie darunter verstehen.

„Jo“, sage ich. „Und stellt euch vor, er ist ein ganz normaler Mann.“

„Aber so kurz nach dem Tode Deines Mannes?“ Warum ist Mutter plötzlich so vornehm?

„Ich bin halt ne lustige Witwe“, scherze ich. Kommt nicht an. Dann eben nicht. Wir verabschieden uns kühl. „Ich stelle ihn euch vor.“

 

Der Busfahrer wartet. Nett. „Guten Tag“, sagt er. Verblüfft antworte ich. Naja, hier draußen ist es vielleicht anders, als am Ku’damm.

Das Krankenhaus ist ein Riesenkomplex. Ich gehe durch das große Portal. Mir kommt ein Mann entgegen, seinen Tropf führt er auf einem Wägelchen mit sich. Er kramt in seinen Taschen, sucht Zigaretten. Oben auf der Station frage ich nach Horst. Was für ein schöner alter Name. Horst.

Die Schwester telefoniert, ich hole mir eine Tasse Kaffee. Schmeckt gar nicht mal so schlecht.

„Hallo“, er steht hinter mir, streicht mir über den Kopf. Das hat M. nie gemacht. Es kribbelt am ganzen Körper.

„Horst.“

„Ist was?“

„Nein.“

Horst setzt sich auf dem Hocker, mir gegenüber. Jetzt stützt er seine Ellenbogen auf den Tisch. Seine Augen bewegen sich. Es sucht in meinem Gesicht.

„Ich war bei meinen Eltern“. Sage ich.

„Ich wollte Dich ihnen vorstellen.“

„Ja?“

Er hat es herausgehört. Ganz klar. Er hat es herausgehört!

„Wann kannst Du?“

„Sonntag. Da liegt nichts an. Kein Dienst.“

Ich nehme seine Hand. „Halte mich fest, bitte“, sage ich. Eine Schwester kommt vorbei.

„Veronika. Sagst Du bitte Bescheid, dass ich heute Schluss mache?“

„Klar doch. Sag ich.“

„Kannst Du das denn so einfach?“, frage ich.

„Ja. Ich bin seit Montag Stationsarzt. Der Chef hier, sozusagen. Unter dem Chefarzt.“

„Glückwunsch. Wann feiern wir Deinen Aufstieg?“

„Jetzt!“

Er steht auf. „Bin gleich wieder da.“

 

Wir gehen zu seinem Auto. Er zwängt sich auf den Fahrersitz. „Na, komm schon.“ Ich hatte einen Moment gezögert. Warum, weiß ich nicht. Als ich sitze, beugt er sich zu mir. Wir küssen uns lange.

Gut, dass er nichts von meiner Erbschaft weiß. Er hält mich immer noch für das arme Hascherl, das er damals, ziemlich durcheinander, aufgelesen hatte. Mitten auf dem Ku’damm, heulend auf einer Bank.

 

„Warum den weinen, wenn man auseinandergeht.“ Ein Gesicht singt mich an. Ich sehe auf. Was soll das denn?

Doch es ist keiner der Bettler oder einer der Berber, die hier herumstreichen. Es ist ein junger Mann. In meinem Alter. Sympathisches Gesicht. Er lächelt warm, ich sehe es durch meine Tränen.

Gerade war ich in Selbstmitleid versunken, hatte an M. gedacht, den ich liebte und hasste. Liebte, weil er so klug und abgeklärt, so sicher und - nein, nicht stark, nicht zuverlässig - war. Und ich hasste ihn, wegen seiner Eskapaden. Nie wieder so einen Mann!

„Was wollen Sie“, frage ich schroff.

„Ihnen helfen.“

„Ach ja? Sie können Liebenskummer heilen? Sind sie etwa ein Nervenklempner?“ Ich wende mich ab. Lass mich doch zufrieden. Ich bin gerade so schön traurig. Und muss trotzdem lächeln, wegen meiner kruden Gedanken.

Er hat sich einfach neben mich gesetzt.

„Jetzt lächelt sie“, stellt er fest. Ja, ich lächle und habe ganz sicher rote Augen vom Heulen. Ich zucke zurück. Ein Taschentuch tupft über meine Wangen. Es duftet frisch gewaschen. Der Mann riecht anders. Er hat da so einen Geruch am Körper …

„So“, sagte er, „Jetzt sehen Sie viel frischer aus.“ Er betrachtet stolz sein Werk. Die Spur seiner Berührung klingt ganz langsam ab. Was soll ich tun? Ihm eine kleben, weil er mich betatscht hat? Aber seine Berührung war angenehm.

„Danke“, sage ich stattdessen. Ein hübscher Mann. Dunkelhaarig, dunkle Augen, ein kräftiges Kinn. Er hat es leicht vorgeschoben. Ein Ausdruck für Selbstsicherheit, habe ich gelernt. Seine Stimme ist warm: „Darf ich Sie in ein Café entführen?“

Und dann sitzen wir im Lokal und es bricht alles aus mir heraus. Und ich erzähle, von meinem Leben und M. und dass ich so unendlich traurig bin.

„Darf ich Ihr Freund sein?“, fragt er. Eine Kinderfrage, aber sie trifft mich genau dort. Mitten im Herzen. Und dort, wo die Sehnsucht liegt. Darf ich Ihr Freund sein? Was ist das für eine Frage? Und ich hauche ein: „Ja.“

Jetzt küsst er meine Hand. Das hatte M. nicht gemacht. Er war auf andere Körperteile fixiert. Möge ihm die Erde leicht sein. Touché!

Wir fahren nach Prenzlauer Berg. Er ist still, schweigt. Erst als wir aussteigen, spricht er wieder. M. hätte die ganze Zeit geschwätzt, über sich. Und wenn nicht über sich, dann von seinem Fach, also wieder über sich. Der Helmholzplatz nimmt uns auf.

 

 

Der Mini brummt. „Wo feiern wir?“, fragt er. Ich druckse, sage: „Wie wäre es, wenn wir Mariele und R. dazu einladen.“

„Fein. Wer ist Mariele. Und wer ist R.?“

„Freunde. Sehr, sehr gute Freunde. Du musst sie kennen lernen.“

„Auch diesen R.? Ein guter Freund?“

„Der besonders.“

„Du hast mit ihm geschlafen?“

„Kann man soo nicht sagen. Eher - ich weiß nicht.“

„Komisch. Ich wüsste, wenn ich mit jemanden geschlafen hätte.“

„Du bist auch keine Frau.“

„Stimmt. Das hat man mir gesagt.“ Er grient über das ganze Gesicht. Ach so, der Herr will witzeln? Kann er haben!

„Siehst Du. Du denkst mit dem Schniedel. Eine Frau, wie ich, denkt mit dem Kopf, mit dem Herzen.“

„Und dem Bauch. Weißt Du eigentlich, dass ein gewisser Professor Gastritis annimmt, dass die meisten Magenerkrankungen der Frauen vom Denken herrühren? Stand in einem Doktorbuch:“

„Du liest Doktorbücher?“

„Muss ich doch.“

„Pah! Weibliches Bauchgefühl ist unschlagbar!“

„Was sagt Dein Bauch über mich?“ Er bremst scharf.

„Herrgottnochmalbiegdochendlichab!“

„Brüllt Mariele auch immer.“

„Nicht ablenken. Also?“

„Mein Magen summt. Manchmal drückt es. Wie wenn ich keine Hausaufgaben gemacht hätte. Manchmal ist aber auch Funkstille. Was mag das sein, Herr Doktor? Ihre Diagnose?“

„Ein Magengeschwür. Ganz sicher! Wir nennen es Horstritis. Sollen wir es entfernen?“

„Sind Sie verrückt, Doktor?“

„Ich frag ja nur.“

„Da, rechts lang und dann an der Ampel wieder rechts.“

Er sucht einen Parkplatz, ich suche einen Parkplatz. „Warte mal.“

Ich klinge. „Ja?“, fragt eine Stimme. R.?

„Wir sind da.“

R. kommt nach unten. Steckt einen Schlüssel in ein Schloss, drückt auf einen Knopf. Die Schranke geht auf. Wir fahren in die Tiefgarage.

Ich steige aus, klammere mich an R. der uns erwartet und küsse ihn. Er blickt zu Horst. Ich merke, wie R. mit den Schultern zuckt. Sein Kuss ist nicht so wie früher. Schlechter Scherz von mir. Ich verspreche still Besserung. Armer Horst. Was der jetzt denken mag?

Die Männer drücken sich kräftig die Hände, stellen sich vor. „Kommt“, sagt R., „Mariele ist schon ganz aufgeregt.“

 

Ich spürte, dass ich einen Mann brauchte. Jetzt, sofort! Und ich will ihn: Horst. „Komm“, sage ich zu Horst, ziehe ihn die Hoteltreppe hoch. Ich wohne nie bei meinen Eltern; wenn ich in Berlin bin. Immer suche ich mir ein Hotel. Ich kann bei meinen Eltern nicht wohnen. Alles was sie sagen, klingt vorwurfsvoll, obwohl sie es vielleicht nicht so meinen. Aber es reizt meinen Widersinn, und wir streiten uns um die kleinste Kleinigkeit.

„Steigenberger“, stellt er fest. „Du wohnst nicht schlecht.“ Wenn er wüsste.

Drinnen küssen wir uns. Ich ihn! Erst später traut sich Horst. Dann treffen sich unsere Zungen. Meine Hände sind unruhig und neugierig. Worauf? Ich weiß doch, wie sich ein Mann anfühlt! Horst hält sich zurück. Nun komm schon, denke ich, mach! Und jetzt tut er es. Jetzt -

 

Von der Badtür aus sehe ich wie er entspannt auf dem Rücken liegt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er schaut zu mir herüber. Ich bekomme einen Luftkuss.

Warum habe ich mit ihm geschlafen? Jetzt schon? Wieder so sporadisch. Ich bin einfach einem Impuls gefolgt. Wie mit dieser verhängnisvollen Heirat mit M. Ein Impuls!

 

Horst hat gut getan. Ich bin zufrieden, wie ein Kätzchen nach einer Schale Milch. Er war zart, geduldig. Geduldiger als ich. Hat noch gefragt: „Willst Du wirklich schon?“ Und hat grinsend ein Kondom aus seiner Brieftasche gezogen.

„Sag mal, mein lieber Doktor“, ich gehe auf ihn zu. Stehe vor dem Bett und stemme die Fäuste in die Seiten.

„Du bist schön“, sagt er leise.

Ich steige aufs Bett. „Jetzt nicht ablenken“, sage ich. Bewege mich auf den Knien auf ihn zu. „Bist immer auf alles eingerichtet?“

„Wie?“

„Na, das Verhüterli? Hast Du sowas immer dabei, wenn Du ausgehst?“

Jetzt lacht er. Nicht böse oder schadenfroh. Einfach so. „Nein, nie. Zufällig nur diesmal - nun ja, ich habe es schon seit Ewigkeiten da drin. Und Du wirst nicht glauben, warum.“

Ich falle neben ihm auf den Rücken. An der Lampe hängt Staub.

„Warum also?“ Meine Finger streicheln seine Brust. Ich rolle die Härchen um meinen Zeigefinger. Es ziept bestimmt.

„Ein Kollege bat mich, solch ein Ding zu ziehen. Das war hier in der Nähe, in einer Kneipe.“

Ich sehe ihn mit schrägem Blick an.

„Na ja, als ich von der Toilette zurück war, war er verschwunden. Ohne Kondom. Mit meiner Freundin.“

„So ein Bazi!“, rufe ich. Jetzt liege ich wieder neben ihm. Ich spüre die Wärme, die sein Körper verströmt, die harten Muskeln. Ich fühle Ruhe und Sicherheit.

„Genau“, setzt er fort, „mit meiner Freundin. Da wusste ich, wozu er das Ding brauchte. Nur nicht, dass er es mit meiner Freundin ausprobieren wollte. Und dass sie es so eilig hatten. Da ist wohl schon lange was gelaufen, zwischen den beiden, und ich habe es nicht gemerkt.“

„Männer“, spreche ich auf seine Brust. Er drückt meinen Kopf fest an sich. Das Kondom ist vergessen.

 

 

Mariele strahlt über das ganze Gesicht. „Das ist also dieser ominöse Horst?“

„Genau. Ominös, der“, sage ich. „Sehr ominös.“

Horst steht etwas verloren in der Gegend herum. R. sitzt wieder wie angewachsen auf seinem Stuhl. Na kommt schon, denke ich, und sage: „Der ist nicht so, wie er aussieht. Der will nur spielen.“

R. sieht Horst mit schräg gelegtem Kopf an. „Komm, setz Dich neben mich.“ Ich atme auf. Geht doch.

R.: „Also, erzähl.“

„Was soll ich -“

„Alles.“

Und seltsam. Horst erzählt. Und ich erfahre Dinge, die ich vielleicht gar nicht erfahren wollte. Aber so ist das Leben. Und ich liebe Horst nur umso mehr.

 

 

Horst

 

Ist es mir peinlich, dass ich aus so genannten einfachen Verhältnissen stamme? Einfache Verhältnisse. So sagt man doch, wenn Vater Arbeiter und Mutter Hausfrau war? Was soll ich erzählen? Was wollen die Leute von mir wissen? Aber für diese Birthe, glaube ich, würde ich alles tun. Alles! Und ich komme an Birthe nicht ran, wenn ich Mariele und R. nicht für mich gewinne. Ich werde ehrlich sein. Ich glaube, es ist auch nicht nötig zu flunkern.

R. sieht streng aus, wie er so dasitzt. Mariele (Was für ein Name)? Sie ist genauso schön wie Birthe. Genauso begehrenswert. Glückpilz dieser R.

„Ich erinnere mich, dass mein Vater ein Dreirad kauft. Eines aus Holz. Es gab ja welche mit Gummireifen und tollen Schutzblechen und so. Ich bekam eines aus Holz. Das war billiger, glaube ich. Und ich weiß, dass ich mich darüber sehr geärgert hatte. Das war, bevor ich in die Schule kam. Zu spät übrigens. Ich langweilte mich zu Tode. Das, was die anderen mühsam lernten, kannte ich schon. Ich hatte nämlich einen Freund, der schon zur Schule ging. Und wir hockten zusammen, wenn er lernen musste. Weil das langweilig war, nur dabei zu sitzen, lernte ich mit. Und saß auf meinen Stuhl, in der Schule und drehte Däumchen.

Die ganze Schulzeit verlief so. Ich hörte zu, schrieb ab und zu mit, beteiligte mich an Arbeiten und was weiß ich noch allem. Aber es war Schule und wenn die zu Ende war, lebte ich auf. Zum Glück konnte ich auf das Gymnasium und durfte auch das Fach studieren, das ich gerne wollte. Jetzt bin ich Arzt und seit kurzem Stationsarzt und zufrieden. Ja, wirklich zufrieden. Und ich habe nicht das Gefühl, es muss immer noch mehr sein.“

Ich sehe Birthe an. Sie hängt an meinen Lippen. Ihre großen, schönen, dunklen Augen lassen mich nicht los. Am liebsten würde ich sie umarmen. Warum tue ich das nicht? Sie sitzt zu weit weg! Sie steht auf. Setzt sich neben mich. Hat sie gespürt, dass ich sie jetzt neben mir brauche?

„Na, jedenfalls fehlte mir noch etwas Wichtiges.“

R. fragt: solch eine Frau, wie Birthe?

„Ja, genau. Sie ist etwas ganz Besonderes.“ Und R. nickt.

„Ich weiß, was dieser M. mit Birthe angerichtet hat. Sie hat es erzählt. Das wird ihr mit mir nicht passieren. Sie ist mir zu kostbar. Ein Juwel. Darf man das sagen?“

Mariele sieht ganz weich aus. Ich will die Beiden nicht manipulieren. Ich will ehrlich sein. Ob sie mir das glauben? Birthe hatte es angedroht: ‚Sie wollen mich nur beschützen. So sind sie eben.’ Vor mir muss niemand beschützt werden - doch, mein Ex-Freund - Ach was soll’s. Soll er das Mädel behalten. Sie hatte eh nichts mit mir am Hut.

Was sagt R.? Welches Vermögen? Und ob mich das …

„Ein Vermögen? Birthe? Keine Ahnung.“ Birthe drückt meinen Arm. Sie ist reich? Oder wohlhabend? „Wieviel?“

Es rutsch mir so heraus. Wollte ich gar nicht.

So viele Millionen! Von diesem M. geerbt? Und eine Wohnung in München? Was will sie dann von mir? Oh mein Gott, was Frage ich denn? „Ich schwöre …“

Jetzt sehe ich Birthes Gesicht. Sie tötet R. gerade mit ihren Blicken. Sie wollte es mir verschweigen. Ganz hart fühlt sie sich an. Kalt. ‚Komm, wir gehen’, zischt sie und R. ist völlig baff. Wie ich. „Warte, Birthe. Bitte.“ Doch da ist sie schon aus der Wohnung.

 

 

Birthe

 

So ein Arsch! So ein Schwätzer! Soll er doch die Klappe halten. Nicht über Dinge sprechen, die ihn nichts angehen! Ich wäre schon klar gekommen, mit Horst. Ich renne die Treppen herunter, knickte mit den verfluchten Hochhackigen um. Ich werde auf Pumps umsteigen.

Was soll Horst jetzt von mir denken? Dass ich mir nen Doktor kaufe?

Die Sonne brennt fast senkrecht herab. Es ist schwül. Ich winke einem Taxi, das gerade vorbeigeschlichen kommt. Seltener Fang!

„Steigenberger:“

„Ku’damm?“

„Ja.“

Der Fahrer schweigt. Das ist so selten, wie ein Taxi, wenn man es braucht. Er wuselt durch den Verkehr, schweigend, gelassen.

„Fuffzehn.“

Ich gebe ihm das Geld, laufe zur Rezeption. Im Aufzug bin ich allein. Ich darf noch nicht heulen. Noch nicht! Erst auf dem Zimmer. Dann werde ich heulen.

Ich tue es. Stehe vor dem Spiegel und heule mich an. Ich weiß nicht warum. Ich will heulen! Es sollte so schön sein. Dieser blöde R.!

Es klopft zaghaft. „Birthe?“ Horst!

Was soll ich tun? Ihm öffnen. Und dann?

Ich gehe zur Tür. Lege das Ohr an die Füllung.
„Birthe? Bitte mach auf.“ Horsts Stimme ist weich. M. hätte gefordert: „Mach auf! Birthe! Sofort!“ Warum vergleiche ich Horst mit M.? Sie sind unvergleichbar. Wie zwei unterschiedliche Brüder.

Es schmerzt, das Ohr an der Tür und die Sehnsucht im Herzen.

„Birthe?“

„Ja?“

„Bist Du da?“

Was für eine Frage. „Nein.“ Natürlich nicht oder was?

„Können wir reden?“

„Nicht hier. Unten, in der Lounge.“

„Ich warte.“

Und ich muss mich frisch machen. Im Spiegel des Bades sehe ich mein verheultes Gesicht. Das kriege ich nie wieder hin. Und schon wieder Tränen. Um mich oder um Horst. Oder um uns beide? Ja. Ach, es ist alles sooo traurig.

Mit steifen Beinen trete ich aus dem Aufzug. Horst sitzt in einem der tiefen Sessel. Er springt auf, als er mich sieht. „Birthe!“

Ich wehre ihn ab. „Komm. So schlimm ist das doch nicht.“

Er nimmt beide Hände, und küsst mir die Finger. Sieht mir dabei unverwandt in die Augen und ich spüre, wie ich schwach werde, wie es mich an ihn drängt. „Ich …“, beginne ich.

„Nix. Sag jetzt nix. Komm bitte mit.“ Er nimmt mich an die Hand, wie ein Kind. Ich lasse mich ein wenig ziehen. In der Bar findet er einen Zweiertisch, drückt mich in den Sessel. Leise Musik dudelt im Hintergrund, der Keeper steht faul hinter seinem Tresen und schiebt Flaschen hin und her, damit es nicht aussieht, als habe er nichts zu tun. Ein welterfahrener Keeper, denn er hat gemerkt, dass er warten muss. Auf uns. Dass er ein Zeichen bekommt.

Horst schnippt mit dem Finger. Der Keeper kommt.

„Zwei Whiskey. Ohne Eis. Doppelt.“

„Johnnie?“

„Jim.“

„Jim. Sehr wohl.“ Weg ist er.

Whiskey. Die drei besten Freunde des Mannes: Jim, Johnnie, Jack: Jim Beam, Johnnie Walker, Jack Daniels. Nicht unbedingt meins, aber heute brauche ich Stärkeres. Und wenn es Salzsäure ist. Wir warten.

Was kann er mir sagen wollen. Ich schaue schüchtern zu ihm rüber. Sein Blick kommt mir doktorhaft vor: Na, wie geht’s uns denn? Der Whiskey kommt. Horst hebt sein Glas. „Komm, das macht es manchmal leichter, obwohl es keine Lösung ist.“

Ich nehme einen Schluck, muss husten. Er lächelt. Langsam stellt er sein Glas auf die gläserne Tischplatte. Es klirrt leise. Überdeutlich höre ich die Leute murmeln. Das Klappern von Geschirr, Glas, Metall. Mein Blick fokussiert sich auf seine Stirn. Er hat leichte Falten.

Horst räuspert sich. „Da bist Du also eine reiche Frau.“ Eine Feststellung. Bin ich! Ich nicke. Ergänze: „Sehr reich.“

„Das ist schön für Dich. Ich habe es nicht gewusst.“ Woher auch? Das entschuldigt ihn. Meine Gedanken fangen an zu wirbeln, obwohl der Whiskey doch beruhigend wirken sollte.

„Ich wollte es Dir ja sagen.“ Anstatt zu antworten oder etwas zu sagen, schweigt er, wartet.

„Irgendwann. Wenn Zeit ist. Die richtige Zeit. Der richtige Augenblick.“

Doch er sagt stattdessen: „Ich liebe Dich, reiche Frau.“

„Du liebst reiche Frauen!“

„Besonders, wenn sie über achtzig sind und faltig und fett und …“ Jetzt lacht er. „Ich liebe Dich wirklich. So sehr, dass mir alles egal ist. Ob Du arm wie eine Kirchenmaus wärest oder reich wie eine Rockefeller.“ Naja, wie Rockefeller nicht -. „Aber …“ Er unterbricht mich.

„Ich liebe eine Birthe. Die schönste Frau der Welt. Nicht die Millionärin. Eine Frau, die meine Gefühle hoffentlich bald erwidert. Bald wieder - „

Er meint es ernst. Ich spüre, wie ich mich ihm nicht verschließen kann und wie mir die Tränen kommen. Aber da ist noch Zweifel. Wie ernst er es meint.

„Spring vom Fernsehturm“, sage ich.

„Geht’s etwas niedriger? Eine Bordsteinkante?“

„Genügt.“ Ich kann mich ihm tatsächlich nicht verschließen. Er steht jetzt auf. Er ist so riesig groß! Jetzt zieht er mich an den Händen hoch. Meine Knie sind weich, mein Kopf leer. Keine Gedanken mehr, nur der Wunsch, mich an ihn zu lehnen. Und ich tue es, und er riecht so gut, und ist so angenehm hart und ich brauche Schutz, und ich will ihn, nur ihn! Und bekomme ihn. Der Whiskey wird indessen verdunstet sein, wenn wir wiederkommen.

 

„Was soll ich machen?“, frage ich beim Frühstück.

„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich mich beeilen muss, sonst komme ich zu spät auf die Station.“ Er streichelt meine Wange. Ich schmiege mich an seine Hand, halte sie fest. „Heute Abend?“ Nur noch ein kleiner Augenblick.

„Ja, aber bei mir. Hier ist der Schlüssel.“

Er gibt mir seinen Schlüssel!

„Ich bringe Dich.“

Der Leihwagen riecht nagelneu. Berlin ist schon etwas Besonderes. Wenn niemand demonstriert, gegen oder für oder um irgendetwas, kommt man gut durch die Stadt. Das Navi weist den Weg, und Horst sitzt still neben mir. Ich fühle, wie er mich beobachtet.

Am Großen Stern biege ich Richtung Reinickendorf ab. Irgendwie müssen wir nach Buch kommen. Er kennt den Weg, schweigt dennoch. „In hundert Metern …“ Werde ich tun, liebes Navi. Irgendwie kommen wir in den Norden. Karow. Das Auto rumpelt über die Straße, dann fahren wir in Buch ein. Er schweigt immer noch. Sieht mir nur zu, wie ich das Auto durch die Straßen kutschiere. Warum sagt er nichts?

„Du hast die ganze Fahrt über kein Wort gesagt“, sagt er.
„Du auch nicht.“

„Nö.“

„Du hast mich beobachtet?“

„Ja.“

„Und?“

„Was und.“

„Man beobachtet einen fremden Menschen nicht einfach so.“

„Nein, das tut man nicht.“

„Und hast es dennoch getan!“

„Was ist mit R.?“, frag er stattdessen.

Ja, was ist mit R., dem Döskopp. Ich merke, wie ich die Stirn runzle. Aber die Wut ist weg. Verraucht.

„Nicht runzeln. Gibt Falten.“

„Ach was soll’s. Er ist ein Tollpatsch.“

„Ob er sich schämt?“

„Denke ja.“ Ich muss mich konzentrieren. Vor dem Eingang des großen Krankenhauses wuseln Menschen, Taxis, Autos, Radfahrer hin und her. Ich finde eine freie Stelle. „Bitte, der Herr. Macht fuffzig Eu.“

„Heute Abend. Können Sie sich bei mir abholen.“

„Is ja wohl die schärfste Anmache. Her mit dem Geld, oder …“

„Oder, was?“

„Ich beschlafe Sie gleich jetzt, hier und sofort.“

Er kramt einen Euroschein aus seiner Tasche. „Reicht das?“

„Fünf?“ Ich ziehe ihn in den Wagen

„Ich zahle ja schon!“

Mit Küssen. Ich zähle mit. … zwanzig, einundzwanzig … fünfzig. „Na, geht doch.“

„Und ich komme zu spät. Weiber!“

 

R. sitzt an seinem Schreibtisch. Ich sehe nur einen wirren Haarschopf. Der Rest ist durch zwei Bildschirme verdeckt. „Hallo“, sage ich.

Ein knallroter Kopf taucht auf. „Birthe! Oh mein Gott, es tut mir so leid.“ Er kommt hinter seinem Schreibtisch vor, bleibt dicht vor mir stehen. Ich rieche ihn. Erinnerungen werden wach. Schöne Erinnerungen. Ich kann ihm nicht böse sein. Mariele steht im Türrahmen. „Oh, Birthe!“

„Ist ja schon gut.“ Wir umarmen uns. Wozu sind wir Freunde? Der Kuss von R. auf meine Wange brennt. Seine Küsse brannten immer. Ob Mariele auch so empfindet?

Das Handy meldet sich. Ich fummle nach meinem Handy. Horst? Nein, ein Makler aus München.

„Momentchen. Lasst mich mal los.“

„Ja?“

„Grüß Gott. Ich habe da einen Käufer.“

„Danke. Lassen Sie’s. Ich werde die Wohnung nicht verkaufen. Tut mir leid.“

„Oh, muss Ihnen nicht. Gerne wieder. Gführti.“

„Ja, danke nochmals.“

„Du verkaufst nicht? Oh prima!“ Mariele versteht mich. Ja, es wäre dumm, die Wohnung aufzugeben. Sie ist bezahlt. Es kostet nicht viel, sie zu halten. „Dann ziehst Du zu Horst?“

„Glaube ich.“ Ich nicke.

R.: „Mariele, das müssen wir irgendwie wieder gut machen.“

„Du! Nicht ich! Du Quatschweib.“ Mariele stutzt. „Nee, mein Lieber, so nicht! Ich sehe es doch Deinem Blick an!“

„Wie wäre es am Sonnabend (in Berlin heißt der Samstag Sonnabend)? Wir ziehen ins Grüne und machen irgendwo in Gottes freier Natur ein Picknick. So mit allen Schikanen. Sekt, Schinken, Spargel - Gibt es eigentlich noch Spargel?“

 

Horst ist begeistert. „Au ja! Sonnabend habe ich frei und keine Bereitschaft! - Mit dem Fahrrad?“

 

Wir drängen uns in die S-Bahn. Es ist früh. Sehr früh und frisch. Doch wir haben Glück. Der Wetterfrosch hatte für heute Sonne und dreißig Grad Temperatur angeboten. Wir hatten zugestimmt. Die Männer hatten sich mit Handschlag begrüßt und geheimnisvoll angegrinst. Wenn Männer dies tun, sollte Frau sehr, sehr wachsam sein! Ich stoße Mariele an. „Hast du gesehen, wie die beiden sich angegrient haben?“

„Ja. Gefahr im Verzuge.“ Siehste. Auch Mariele hatte es bemerkt.

„Dann pass mal schön auf Deinen R. auf.“

„Und Du auf diesen Horst!“

 

Die Straße führt durch den Wald. Ab und an kommt ein Auto oder ein Motorrad angeknattert. Dann ist wieder Ruhe. Nur die Kiefern rauschen vor sich hin. Ob sie sich was erzählen? Irgendwo schlägt ein Zilpzalp seine eintönige Melodie. Ein Specht klopft.

„Da lang!“

Wir biegen in einen Waldweg ein. Er ist sandig. Wir balancieren von rechts nach links. Manchmal glänzt eine Pfütze vom letzten Regen. An einer Waldwiese halten wir an.

„Hier?“

Die Männer breiten Decken aus. Wir Damen stehen dabei und beobachten die zwei. Kieferngeruch, Waldgeruch, Freizeitgeruch. Der Geruch der Natur.

 

 

 

Ich liebe Mariele! Meine Schöne hockt mir im Schneidersitz gegenüber. Ihre Beine sind rasiert und glänzen fein. Horst lehnt an Birthe. Birthe an Horst. Sie verstehen sich. Ich gönne Birthe diesen Horst. Aber dem Horst nicht meine Birthe. Eifersucht kommt auf. Ich proste lieber meiner Mariele zu. Der Sekt perlt in den Plastikgläsern. Er ist warm, schmeckt aber trotzdem.

Die Frauen hatten noch Schnittchen gemacht. Baguette belegt mit Schinken, Salami, Käse. Ich hatte noch am Vorabend einen Salat aus Spargel und Erdbeeren bereitet. Mit etwas Chili drin ist er süß und scharf.
Horst, mit vollem Mund: „Schmeckt. Schmeckt sehr gut.“ Er zeigt mit der Plastikgabel auf den Salat. „Schickst Du mir das Rezept?“

„Nee.“

„Hatte ich befürchtet.“

Die Frauen flüstern miteinander sehen uns schräg an. Was haben sie?

„Apropos“, Horst wedelt mit seiner Gabel. „Wenn wir mit dem Essen fertig sind, könnten wir baden gehen.“

„Hier?“ Mariele sieht sich um. Und Birthe: „Ich sehe nur Sand und Kiefern und Sand …“

„Gleich hier, hinter dem Wäldchen. Ein kleiner See. Mehr ein Seechen. Ganz verschwiegen.“

Die Frauen sehen sich an. „Warum nicht.“

Frauen gehen gerne Baden. Wenn man ihnen ein Stück Wasser zeig, größer als ein Pfütze, müssen sie rein. Oder mindestens die Hände reinstecken. Muss was aus der Urzeit sein. Vielleicht hatten unsere Altvorderen-Frauen die Aufgabe, zu prüfen, ob das Wasser, an dem die Männer vorschlugen zu lagern, auch rein wäre. Oder so. Wer weiß.

„Dann nehmen wir doch ganze Geraffel und gehen gleich hin. Warum haben wir das nicht sofort getan.“ Vorwurfsvolle Blicke.

„Hier war es doch schön?“

„Ja, schon, haber …“ Mariele.

Wir packen zusammen, schieben die Räder über einen Sandweg. Und tatsächlich. Inmitten des Wäldchens glänzt ein Wasser. Ein winziger See. Es ist gleich kühler. Wir finden einen Platz, legen die Decken aus. Die Frauen sind schon am Wasser, wir beobachten sie. Mit Zehen und Fingerspitzen prüfen die Damen die Wasserqualität und stellen die Brauchbarkeit fest.

„Baden!“, ruft Birthe und ist schon aus den Sachen. Sie wirft sie uns zu. „Nun macht schon!“

Mariele ist jetzt auch nackt. Sie hat die Arme um ihren Oberkörper gelegt und geht vorsichtig und langsam in das Wasser hinein, während Birthe bereits planscht und strampelt. Horst und ich sitzen auf den Decken, mit offenen Mündern. Was für schöne Frauen! „Schöne Frauen“, flüstert Horst und ich kann nur nicken und schlucken.

 

Nach dem Bad liegen wir in der Sonne. Sie hat es geschafft, befindet sich im Zenit. Mariele hält meine Hand auf ihrem Bauch. Birthe flüstert leise mit Horst. Eifersucht. Was hat sie zu flüstern? Geht mich nichts an, aber was hat sie …

Ich sehe zu den Kiefern hoch. Sie wiegen sich im leisen Wind, der hier unten nicht ankommt. Es rauscht. Vögel singen. Wenn ich nicht wüsste, dass es nicht so ist, würde ich sagen: vor lauter Lebensfreude. Eine winzige Wolke zieht verschüchtert über den azurblauen Himmel.

„Das ist so wunderbar. So still.“ Mariele hat es geflüstert. Und ich nicke: „Ja.“

Ich wage einen Blick nach links. Da liegt Birthe, dreht mir ihren Rücken zu. Meine Phantasie arbeitet. „Vorsicht. Man sieht, was Du denkst“, flüstert Mariele. Ich drehe mich zu ihr. Jetzt sieht nur noch sie meine Gedanken. Mariele lächelt mich unschuldig an. Ihre Finger sind weniger unschuldig.

Irgendwie sind wir alle kurz eingeschlafen. Der Sekt, das Baden, die Sonne, die Stille. Jetzt sitzen wir, nackt wie Adam und Eva, und prosten uns zu. Es ist etwas sehr vertrautes und Intimes zwischen uns Vieren. Doch nichts Schwüles, nichts Geheimnisvolles. Ich mag diesen Horst, denn er ist intelligent, offen, ehrlich und zart zu Birthe, aufmerksam. Ich wünschte, er könnte mein Freund sein. Ein Freund! Marieles Hand streicht über meinen Rücken. Es ist Nachmittag. Wir haben uns erholt. In wenigen Stunden erholt. Den Alltag vergessen. Mir kam nicht einen Moment ein Gedanke an Arbeit, Problemen.

Unsere Unterhaltung dümpelt so dahin. „Tucholsky. Ich liiebe Tucholsky“, sagt Horst. „Ich auch.“ Sofort denke ich an Gripsholm, die Prinzessin, Peter, Billie. Horst schlägt vor, zu Ehren des großen Schriftstellers, den See ‚Mälarsee’ zu nennen. Wir jubeln, springen auf und schütten Sekt in das Wasser. „Hiermit taufen wir Dich …“ Dann stoßen wir an. Dann Küsschen. Das ist so, das muss so sein. Marieles warme Lippen, Birthes heiße und Horsts harte (an meiner Wange - bitteschön!). Dann rennen wir in den Mälarsee. Das Wasser ist weich, an der Oberfläche warm. Wenn man die Beine hängen lässt, ist es kalt. Sehr kalt! Ich schwimme auf Mariele zu, tauche ab und stoße gegen ihren Busen. Hoops, schon? Tauche auf. Birthe! Sie sieht mich mit großen Augen an.

„Wo kommst Du denn her?“

Ich habe mich um vier Meter vertaucht.

„Äh, ich, Mariele ... Dort!“ Ich schwimme zu meinem Weibchen. Sie hat nichts gemerkt. Mariele dümpelt auf dem Rücken, und sieht versonnen nach oben. Meine göttliche Frau!

Und Horst? Der zieht Bahnen. Er hatte es uns schon erzählt. Das tut er oft, wenn er hier ist. Er sagt, das Wasser würde anders tragen, als in den großen Seen oder in der Havel. Ich habe keine Ahnung.

Hier kann man stehen. Ich rage bis zur Brust aus dem Wasser, Mariele geht es bis an den Hals. Ich umfasse ihre Hüften. „Meine schöne Meerjungfrau“, flüstere ich ihr ins Ohr und werde belohnt. Es sieht ja niemand. Und, dass ich prüfe, ob die Dame mir gegenüber ihren Schuppenunterleib anhat, sieht auch keiner - hat sie nicht!

„Wir sollten langsam nach Hause“, flüstert meine Seejungfrau. Ich kann nur nicken. Kopfkino aus, bitte!

 

An der S-Bahn trennen wir uns. Birthe und Horst radeln nach Buch, wir nach Pankow. Es geht uns unheimlich gut. Unheimlich!

Wir Jungen von heute denken nur an heute. An eben. An jetzt. Was morgen ist, ist so unbestimmt. Was gestern war - egal. Und trotzdem ich ein Unternehmen habe, mit Freunden zusammen, ist es dort ebenso, und die Freunde denken genauso. Was ist das? Wie kommt das?

Meine Eltern hatten noch geplant, von der Lehre bis zur Rente. Deren Lebensplan hatte geklappt: Schule, Lehre, Studium, Arbeit, Karriere, Rente. Alles linear verlaufen. Gut, hier und da ein Kürvchen, aber kein Abschweifen vom Weg. Nichts zu meckern!

Und wir dagegen? Selbst wenn ich plane und Mariele plant, irgendwann in der nahen Zukunft bleiben wir hängen. Kommen nicht weiter. Kinder? Ja! Zwei? Ja! Viel Geld? Ja, ja, ja! Aber wie? Gesundheit? Klar. Wir joggen, schwitzen in der Muckiebude. Drehen Lebensmittel dreimal um. Muss frisch sein, keine Zusatzstoffe (Wo gibt’s denn das noch?). Aber ich wage nicht über das Jahr hinaus zu planen. Geht nicht! ‚Unbestimmt die Zukunft ist, immer in Bewegung sie ist’, sagte Master Yoda zu Luke Skywalker. Und Recht hat. Oder nicht?

Horst: „Ja, ich will Chefarzt werden. Und ein guter Chirurg.“ Und das genügt? „Erst mal …“

Birthe? „Weiß nicht. Ich muss nachdenken.“ Sie sucht eine Aufgabe. Nur für uns Kunden akquirieren reicht ihr nicht. Tut uns zwar gut, aber ich verstehe sie.

Gestern rief sie an. „Ich studiere jetzt Jura.“ Fein, sage ich. Jetzt hat sie erst einmal eine Aufgabe. Für sechs Jahre. Geldprobleme hat sie ja nicht.

Ich neidisch? Nein. Und ja. Hätte ich doch den M. geheiratet! Haha!

„Was denkst du?“ Marielefrage.

„Ich denke, ich denke, dass es uns verdammt gut geht.“

Wir schließen die Fahrräder in den Keller. Finster ist es, und ich stoße mir wieder den Kopf. Mariele lacht schadenfroh. „Dussel!“ Ist sie nicht lieb!?

Auf der Treppe dann: „Ja.“

„Was ja?“

„Es geht uns verdammt gut. Genießen wir es, solange es anhält.“ Mariele bleibt stehen. Eine Stufe über mir. Wir stehen Auge in Auge. Ganz groß sind ihre Pupillen. Sie gibt mir einen heißen Kuss. Und macht mir eine Angebot, das ich nicht ablehnen kann: „Komm, lass uns Kinder machen.“

 

 

Der Hamburger will jetzt eine Online-Kampagne. Wir sitzen und grübeln. Herbert: „Fernsehwerbung und dann online!“

„Richtig.“ Norman skizziert irgendetwas in seinen Block.
„Wo setzen wir an?“

„Lagerfeuer“, sage ich. Habe ich aus nen Amifilm. Wenn sich die Ermittler zusammensetzen wollen, um die nächsten Schritte zu besprechen, nannten sie es Lagerfeuer. Für uns bedeutet es, ab ins Café. Denkrunde.

Es ist spät geworden. Einer der seltenen Überstundentage. Auf der Heimfahrt träume ich. Mariele. Meine schöne Frau. Ob sie nun endlich empfangen hat? Hinter mir hupt wer. Jaja, ich fahr ja schon!

Mariele ist schon zu Hause. Sie hat gesimst: „Essen: Wir gehen wo hin.“ Okay, gerne! Da ist doch dieser Italiener …?

Oben erwartet mich mein Weib. Was hat sie vor? Ich dachte wir wollen essen gehen? Da steht sie in der Badtür. Große Augen. Fast nichts an (welcher Mann hält solch einen Anblick aus, ohne dass …?).

„Jetzt!“, sagt sie nur und ich begreife langsam: „Jetzt! Lass uns feiern gehen!“

 

Beim Italiener heben wir die Rotweingläser: „Auf die Zukunft.“ Ja, es gibt eine Zukunft. Wie sie aussieht? Egal. Es wird! „Ich muss weg!“, sagt sie.
„Wie jetzt?“

„Mit Dir. Ich will verreisen. Ich muss irgendwie zur Ruhe kommen.“

„Klären wir morgen.“

„Ja. Danke.“

Schwangere Frauen soll, muss man vorsichtig behandeln.

 

 

„Ich will nach Sweden!“

Ich nicke.

„An den Mälarsee!“

Ich nicke wiederum.

„Nach Mariefred.“

Ich nicke. Stärker.

„Mit dem Zug!“

Geht denn das? Meine Prinzessin sieht mich gespannt an.

„Dann seh’ doch mal nach.“ Pause. „Zug!“, sage ich.

 

Kopenhagen. Wir halten. Der Zug ruckelt noch einmal. Dann stehen wir auf dem Bahnsteig.

„Wohin nun, großer Meister?“

„Gleis 5?“

Wir spielen jetzt Gripsholm. Ich werde zu Peter. Sie, die Mariele zur Prinzessin.

Wir gehen. Man sagte uns, dass wir Zeit hätten. Ich versuche, Dänisch zu lesen. Klingt ähnlich und Smoerrebrot kriege ich ja noch zusammen. Gleis 5. Ah, da steht eine Fünf. Das Zugende schnauft uns entgegen.

„Sag mal“, sagt die Prinzessin - ich nenne sie so, solange wir in Schweden sein werden - „Haben die Schweden denn europäischen Geldes?“

„Haben sie, glaube ich. Oder doch Kronen?“

„Kronen sind Hüte mit nem Loch in der Mitte, sagt Friedrich?“

„Wer ist Friedrich?“

„Na der Alte Fritz. Also, was ist nun?“

Mit fällt ein, dass die Schweden immer noch Kronen haben. Da war was mit einem Wechselkurs. „Sie haben Kronen. Geldesscheine, welche man nennen tut: Kronen.“

„Zeich!“

„Hab’ ich nicht.“

„Duu haast keiine Krooonen?“ Die Prinzessin sieht jetzt sehr beunruhigt aus.

„Nej, ich besitze keine Kronen. Wir kaufen uns welche.“

„Ha! Kaufen!“

Es donnert. Der Zug überquert ein Wasser. Aus großer Höhe sehen wir Schiffchen, die eine Wolke Möwen hinter sich herziehen.

„Ein Ausflugsdampfer“, vermute ich und zeige es der Prinzessin.

„Ich will auch!“, schmollt sie.

„Kriegst Du.“ Sie fällt mir um den Hals. Die anwesenden Schweden und Dänen, nordisch kühl, sitzen brav auf ihren Bänken und schmunzeln.

„Wann, wo? Wie heißt der Kreuzfahrer? Marie?“

Es geht mir heiß durch und durch. Sie, Prinzessin Mariele, hat sich nicht verändert. SO albern wie immer. Nur ist sie jetzt die „Prinzessin“. Wenn sie noch die tiefe Stimme des Originals hätte, holla! Ich schiebe unanständige Gedanken beiseite und auf später.

„Das Schiff heißt - nein, ich verrate es Dir nicht. Lass Dich überraschen.“

„Schmoll.“

„Ph! Na und!“

„Schmoll.“

Wir fahren durch eine schwedische Landschaft. Ich mache Mariele darauf aufmerksam.

„Aha.“ Sie scheint enttäuscht. „Kann es sein, dass die Kühe so aussehen, wie deutsche?“ Sie tut immer noch beleidigt.

Ich doziere: „Schwedische Kühe unterscheiden sich ersten, dadurch, dass sie schwedisches Gras fressen. Was impliziert …“

„Quatsch nicht so geschwollen, Bauer. Sag, was ist anders an schwedischen Kuhens?“

„Sie muhen auf Schwedisch, denn nicht zuletzt kann sie ja kein schwedischer Bauer nicht verstehen. Verstanden? Und wie gesagt schwedischen Grasens …“

„… raucht man.“

„Pfui.“

Ein paar bunte Häuser jagen vorbei. Ganz schön eilig hat es die Bahn. „Soll ich zum Zugführer gehen?“

„Warum?“

„Den Zug verlangsamen. Man sieht nichts. Alles fliegt nur so vorbei.“

„Au ja. Tu das!“

Ich tue so, als überlege ich. „Nein, wohl doch nicht.“ Ich lehne mich zurück. Mariele sieht aus dem Fenster. Baumgruppen, Felder, Wiesen. Kleine Orte in der Nähe und Ferne. Es sieht alles so sauber aus, so aufgeräumt. Als wie wenn jeden Tag einer über Schweden flöge, und aufräume und mit frischen Wasser übergieße würde, dass es am Morgen wieder sauber und frisch aussieht.

„Ein Bahnhof!“, ruft die Prinzessin.

„Sehe ich. Und?“

„Na ja, ich dachte …“

Ich hebe den Zeigefinger. „Frauen denken immer irgendwas.“

 

Stockholm. Umsteigen. Wir erwischen den Zug nach Läggesta. Schade, eine moderne Bahn. Im Stillen freue ich mich auf die Tour nach Mariefred.

„Und nun?“ Wir stehen vor dem Bahnhof von Läggasta. Ich finde das Schild zum Anleger.

„Komm, Prinzessin. Ruf den Dackel.“

„Der Dackel ziert Ihren Rücken, werter Herr!“

„Huch!“

Das Schiffchen heißt „Mariefred“ und sieht so gemütlich aus, wie die alten Ausflugsdampfer auf dem Müggelsee.

„Der Dackel!“, ruft Mariele.

„Hab ihn!“

Der Dackel ist eine Rolle aus schwarzem Leder. Ich habe ihn auf den Rücken geschoben. Unser Waschzeug klappert und noch etwas anderes.

„Gott sei Dank. Ich dächte er wäre uns davongelaufen.“

„Das tut der nicht. Ist ein treues Tier.“

Ein Paar aus Deutschland sieht uns nachdenklich an. Beide tragen Strohhüte und sind sicher Rentner. Und ich sage laut: “Prinzessin, wirst Du auch nicht seekrank?“

„Ha! Peter!“, ruft sie zurück und steht schon auf dem Steg. Sie hat die Arme in die Hüften gestemmt: „Meine Familie waren Wikinger!“

„Ich denke Hugenotten?“

„Französische Wikinger.“

Ich betrete den Steg. Mariele hält mir die Hand hin. „Komm nur. Komm. Der Steg schwankt nur gaanz wenig.“ Und hinter mir spüre ich, wie die Dame mit dem Strohhütchen zögert.

Das Schiffchen schwankt. „Oh Peter! Wie schön! Wir sind bald auf hoher See!“

Ein Matrose kassiert. Ich reiche ihm einen großen Schein. Er sieht mich an, ich sehe ihn an, zücke zögernd einen kleineren. Er nickt. Wir grinsen und ich bekomme zwei schöne bunte Karten mit schwedischen Worten darauf. Ich vermute, es handelt sich um Hinweise, wie man sich bei einem Untergang des Schiffes zu verhalten hat.
„Siehst Du, Prinzessin? Hier steht es.“

„Du kannst der schwedischen Idiom verstehens?“

„Kannich! Und hier steht: Wenn das Schiff, damit ist die Mariefred genannt, Prinzessin, in Seenot gerät …“

Die Dame mit dem Strohhut reißt ihrem Mann die Fahrkarten aus der Hand.“… finden sie Seenotringe unter den Sitzen. Seh doch mal nach.“

Die Prinzessin sieht unter den Sitz. „Kann nichs sehen?“

„Dann“, schlussfolgere ich, „haben sie sie schon einmal gebraucht und“, die Strohhutdame wird blass, „vergessen, zu erneuern.“

„Wie das?“

„Nun, die Ertrunkenen haben die Ringe als Andenken in den Himmel mitgenommen. Im alten Germanien gab man den Toten …“, fange ich an zu erklären.

„Komm, wir gehen in den Salon“, sagt die Dame zu ihrem Mann, der blass an der Reling lehnt. „Siehst Du. Nun hast Du sie vertrieben. Du sollst doch nicht immer so laut sprechs“, sie zieht grienend einen Schmollmund. Und das Schiff legt endlich ab.

Die Eiszeit hat den Mälarsee in den Fels geschliffen. Das glasklare Wasser glänzt in der späten Sonne. Inseln, Inselchen, einsame Felsen, bestanden mit Kiefern dümpeln vorbei. Das Schiffchen gibt sich Mühe mit seinem altersschwachen Diesel. Tockeltockeltockel. Es geht ein leichter Wind. Wir sitzen am Bug und sehen gespannt auf die Landschaft. Sie ist nicht anders als Brandenburg und doch anders. Irgendwie. Motorboote kreuzen und behäbige Ruderkähne. Schnelle schnittige Segler gleiten vorbei. Geruhsame Holzsegelboote schneiden gelassen die Wellen. Ein Gruppe Paddler fährt dicht unter dem Ufer. Blessrallen laufen erregt über das Wasser und Schwäne sehen dem Treiben gelassen zu.

An den Ufern stehen bunte Häuschen. Rot, gelb, blau, grün, lila. Menschen laufen über den Rasen und Kinder tummeln sich im Wasser.

Die „Mariefred“ biegt in eine Bucht ein. In der Ferne kündet das Schloss Gripsholm. Mein Pulsschlag erhöht sich. Ich spüre Marieles Hand. Sie hat ihren Kopf auf meine Schulter gelegt. Sie seufzt. „Es ist alles so weich“, flüstert sie.

Das Ferienhaus liegt am Rande von Mariefred und hat einen direkten Badeanschluß an den Mälarsee. Sträucher und Birken, ein paar Kiefern umsäumen das Grundstück ohne Zaun. Auf der Wiese stehen Liegen, das Gepäck ist schon da. Die freundliche Wirtin hatte es bereits vom Bahnhof abgeholt und in die Zimmer gestellt. Die Prinzessin ist durch das ganze Haus gelaufen. Die Wirtin sieht mich erschrocken an.

„Keine Gefahr, Frau Erikson“, sage ich. „Alles in Ordnung. Die Prinzessin ist immer so. Und sie sind uns in vierzehn Tagen wieder los.“ Ob sie das verstanden hat?

„Hier bleibe ich!“, ruft die Prinzessin, „Kann man auch nackt baden?“ Frau Erikson sieht die Prinzessin an. „Jock.“ Und schon ist die Prinzessin verschwunden. Ich höre sie poltern und kramen.

Ich zucke entschuldigend die Schultern: „So sind nun mal Prinzessinnen.“ Und lasse Frau Erikson mit ihren Fragen allein. Sie hebt die Augenbrauen um drei Millimeter, dann setzt sie nach einem leichten Schulterzucken (die Deutschen!) ihre Einweisung fort: „Essen können sie …“ Frau Erikson spricht ausgezeichnetes Deutsch und erklärt mir Mariefred, drückt mir Prospekte in die Hand, zeigt hierhin und dorthin. „Guten Aufenthalt noch.“ Und ich höre sie murmeln: „Prinzessin?“

Ein heller Blitz saust an mir vorbei. Mariele, Prinzessin. „Du hast Deine …“ rufe ich dem nackten Wesen hinterher. Sie bleibt stehen. „Was habe ich?“

„… Krone vergessen“, sage ich.

„Du Dooof!“ Sie rennt zum Wasser. Ich höre es planschen, sie schreit. „Kaaalt!“ Dann sehe ich nur noch einen Kopf und höre die Prinzessin prusten.

Kopfschüttelnd gehe ich zu einer der Liegen. Aus der halbliegenden Position sehe ich auf den See, die baumbestandenen Ufer der Bucht und auf ein Stück Mariefred.

Die Sonne beginnt über die Wipfel der Bäume zu versinken. Es wird kühl. Der Wind kommt vom Wasser und bringt Mariele mit. Sie bibbert, hat Gänsehaut und die Arme um den Leib geschlungen. Triefendnass steht sie vor mir. „M-m-man i-i-sst mm-mmir k-k-kalt!“

Ich setzte an, etwas zu sagen, doch da rennt sie ins Haus. Ich gehe gelassen hinterher.

Aus dem Bad kommt ein Arm mit einem Handtuch. „Trockne mich ab, Peter!“

Ich fange an.

„Nur den Rücken!“

Also gut. Nur den Rücken.

„Ah, das tut gut.“ Ich rubbele, bis ihre Haut rot wird.

„Hunger!“

„Ja, Prinzesschen. Es ist alles schon vorbereitet. Wenn Ihro Gnaden so gütig wären, sich ein wenig bei der Toilette zu beeilen.“ Ich sehe ihre Brüste, die gerade unter einen BH versteckt werden. „Schade“, brumme ich.

Mariele sieht entzückend aus. „Brauche ich eine Jacke?“

Nichts brauchst du, denke ich.

Wir gehen einen, mit kleinen Lämpchen, erleuchteten Weg nach Mariefred. In den Sträuchern summen Insekten. Es raschelt.

Die Prinzessin klammert sich an mich. „Huh, ein Untier?“

„Der gemeine schwedische Walddrache“, erkläre. „Man hat gehört, dass dieser besonders gerne Prinzessinnen frisst.“

„Und heißt Peter?“

„Genau. Deshalb lassen Ihro Majestäten, die schwedischen Könige, ihre Prinzessinnen nicht in den dunklen schwedischen Forst.“

„Was Du alles weißt, Peter!“

„Nicht wahr? Ich bin ein wandelndes Lexikon.“

„Internet.“

 

Frischer Fisch ist frischer Fisch! Kein Fisch schmeckt besser, als eben aus dem Wasser gezogen und gebraten. Satt lehne ich mich im Stuhl zurück. Mein Bauch ist unanständig gespannt. Bis über-über-übermorgen brauche ich kein Essen mehr. Mariele sagt das gleiche, nur anders: „Satt. Lecker Futter. Schwedisches Futter.“

„Jetzt fehlt nur noch Schwedenpunsch.“

„Bääks!“

„Magst Du nicht, Prinzessin?“

„Whiskey!“

Ich frage schüchtern nach. Man nickt. Bringt das gewünschte. Ohne Eis, handwarm. Man kennt sich aus. Nein, ich will den Preis nicht wissen!

„Duhu, sach mah …“

„Mah.“

„Was tuten wir morgen in aller Herrgottsfrühe?“

„Wir tuten aufwachen, uns ansehen, lieben …“

„Genug. Und danach?“

„Gripsholm unsere Aufwartung machen.“

„Ich gehe als Schlossgespenst. Und Du?“

„Als Dein Ritter. Ganz in Eisen. Mit einem Riesenschwert an der Seite“

„Ein Schwert an der Seite. Wie soll das aussehen?“

Marieles Handy meldet sich.

„Sag mal, hast Du das Dingend etwa mitgeschleppt?“

„’Türlich. Sonst wäre es nicht hier.“

„Ich meine, wieso …?“

„Pst! Ich muss lesen. Da brauche ich alle Konzentration.“

„Legasthenikerin.“

„Ha. Du hast’s nötig. Bei Deinen Schreibfehlern!“

„Ich mache keine Fehler. Der Druck!“

Sie sieht konzentriert auf das Display.

„Birthe.“

Ach du meine Güte. Ich schlage innerlich ein Kreuz. Es sollte so erholsam werden. Hat man denn keine Ruhe vor dieser Frau? Es kribbelt, wie ich sie mir vorstelle: Mariele und Birthe beim Bad im Mälarsee.

„Sie kommt morgen.“

Ich denke an „Gripsholm“. Billie hieß die Dame. Unsere heißt Birthe.

„Horst kommt nach. In drei, vier Tagen.“

„Haben sie eine Unterkunft?“

„Keine Ahnung. Schreibt nix dazu. Wird wohl.“

„Birthe? Wird wohl? Planmäßig? Hotel besorgen? Vorher?“

Die Prinzessin sieht mich strafend an.

„Sie ist schon einen erwachsenen Mädel, Herr! Benehmen sü süch!“, nimmt sie Birthe in Schutz. Freundinnen! Ich für meinen Teil bin gespannt.

„Mal sehen, wer Recht hat. Ich oder ich.“

„Ich!“

„Los, wir lassen jetzt einen echten Ehestreit ausbrechen. ICH HABE RECHT!“

„Guck mal, die beiden Deutschen.“ Dann wird wohl nichts mit einem Streit. Die Prinzessin ist abgelenkt.

„Seh doch mah! Die beiden!“, drängt sie.

Ich bewege mich unauffällig, indem ich mich im Stuhl umdrehe, den Arm über die Lehne lege, die Beine übereinander schlage und die zwei, so wie sie hereinkommen, mustere. Das ist unauffälliger, als wenn ich gar nicht hinsehen würde.

Sie kommen auf uns zu.

Sie kommen auf uns zu!!

„Guten Abend, dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“

Ich schlucke eine Erwiderung herunter - und die Prinzessin?

Sie lächelt charmant. Säuselt: „Aber bitte doch, gerne.“

Die Dicke setzt sich schnaufend neben mich. Ihr Gatte macht einen netten Diener. „Sie erlauben?“, und pflanzt sich hin.

Schweigen, mustern.

„Sie verstehen Schwedisch?“

Ich mache unbestimmte Gesten mit der Hand, brumme etwas, was klingt, wie ja aber nein meint.

„Na ja, wegen der Speisekarte ..:“

„Ach so! Fragen Sie die Kellnerin. Sie kommt aus Deutschland und arbeitet hier.“

Aufatmen. „Gibt’s auch Schnitzel?“

Ich seufze innerlich. „Keine Ahnung.“ Prinzessin schweigt aufmerksam. Wann greift die Dame ein? Es blitzt in ihren Augen. Oder ist das nur das Kerzenlicht?

„Darf ich fragen, woher sie kommen?“, der Ehegatte.

„Natürlich. Wir leben in Berlin. In Pankow, um genau zu sein.“

„Oh, wir kommen aus Hellersdorf.“

Schweigen.

„Wir sind Rentner, wissen sie? Es ist die erste Reise, die wir machen, nachdem wir in Rente gegangen sind. Das ist fünf Jahre her.“

„Aha. Und da hat es sie nach Schweden getrieben?“

„Ja. Auf den Spuren von Tucholsky und Gripsholm. Ich habe diesen Roman als ganz, ganz junger Kerl geschenkt bekommen. Von meinen Eltern.“

„Ich auch“, sagt plötzlich die Prinzessin. Und ich finde, es wird Zeit, dass wir uns vorstellen.

„Weil wir gerade dabei sind: Das ist die Prinzessin. Sie ist übrigens auch Sekretärin. Im wirklichen Leben ruft man sie, Mariele. Und mich nennen sie einfach nur Peter.“

„Klaus. Meine Frau heißt Gerlind.“

„Ja, wir sind große Verehrer von Tucholsky“, sagt seine Frau Gerlind, „Ich glaube, wir haben alle Bücher von ihm.“

Sie bestellen Essen und was zum Trinken. Ich ordere noch einen Whiskey.

„Ist der nicht schweineteuer, hier?“

„Isser. Ist aber echt.“

„Ich war früher Lektor“, sagt Ehegatte Klaus. „Schuld war Tucholsky. Er hat mir die Liebe zur Sprache beigebracht und zur Literatur. Und was machen Sie, Peter?“

„Ich schreibe Texte. Werbetext. Und einen Roman.“

„Einen Roman. Wie interessant.“ Seine Frau ist aufgewacht. „Darf ich fra…?“

„Sie dürfen. Ein Liebesroman.“

„Traurig?“

„Traurig, schön, sexy, lustig.“

„Wie ‚Gripsholm’?“

„Ach, wenn ich das nur könnte! Es ist so schwer.“ Und wir fangen an fachzusimpeln. Und es kommt noch mehr Whiskey auf den Tisch, denn unsere beiden Rentner steigen mit ein, und wir lachen, und finden uns sympathisch. Und irgendwo, ganz tief in meinem Innern fragt jemand, ob wir, die Prinzessin und ich, auch mal so werden?

Wir verabreden uns auf morgen: Schloss Gripsholm.

„Und nicht im Keller verstecken, Peter!“, scherzt Klaus.

Ich mag dunkle Keller nicht. Ich stoße mir dort immer den Kopf.

 

 

Unser Zimmer ist dunkel. Nur ein Mond leuchtet durch die Fenster. Sie stehen weit offen. Wütend rennen Mücken gegen das Fliegengitter an. Die Prinzessin steht vor dem Fenster. Ich sehe ihre Silhouette von hinten. Sie hat die Arme gehoben und fährt mit den Händen durch ihr schönes Haar, hebt es hoch. Das Mondlicht bildet um ihren Körper eine Halo. Es ist, als wenn sie leuchten würde. Ich sehe ihren wunderschönen Hals, die runden Schultern. Ihre schmale Taille. Es regt sich in mir.

„Prinzessin?“, flüstere ich.

„Ja, Süßer“, flüstert sie.

„Was siehst Du?“

„Es ist dunkel. Ich höre. Innen.“

Jetzt hat sie die Haare fallen lassen.

„Spricht unser Kind mit Dir?“

„Vielleicht?“

„Was sagt es?“

„Es liebt Dich jetzt schon.“

„Sag ihm, ich auch.“

Mariele hat die Arme um ihren Oberkörper geschlungen. Ich sehe, wie sich ihre Härchen aufrichten.

„Ist Dir kalt.“

„Nein. Mir ist soo gut.“

Schweigen. Ich warte. Bin erregt. Ich möchte sie lieber bei mir haben. Hier im Bett. Direkt neben mir.

Sie hat mich erhört, dreht sich um, krabbelt auf mich zu. Ihr Kopf liegt jetzt auf meiner Brust, die Haare fließen bis zu meinem Bauch, kitzeln. Ihre Hand streicht über den Bauch. Tiefer. Ich tue nichts. Genieße. Es ist noch stiller als es vorher schon war, denke ich. Im Silberglanz des Mondlichtes sehe ich schemenhaft ihr Gesicht. Sie hat die Augen geschlossen, atmet ruhig.

„Ich will“, sagt sie jetzt leise.

 

Wir haben gründlich verschlafen, wenn es so etwas im Urlaub gibt. Schnell machen wir uns frisch. Gleichzeitig in dem engen Bad. Aber es klappt irgendwie, obwohl meine Hände neugierig Marieles Körper erkunden wollen. Bis sie drauf klopft. „Finger weg!“

„Seht ihr“, sage ich zu meinen Händen, „Das habt ihr nun davon!“

Die beiden Rentner holen uns ab. Ich bitte sie an unseren Tisch. Noch einen Kaffee, dann kann’s gleich losgehen.

„Schön haben Sie es hier.“ Sie sehen sich um. „Und so schlicht.“

„Schwedisch eben“, sage ich launig mit vollem Mund. Ich entschuldige mich, für unsere Verspätung. Doch Gerlind sagt: “Das war früher bei uns auch so.“ Und sieht ihren Klaus liebevoll an. Der nickt.

 

Mariefred. Ob sich etwas geändert hat, in diesem Städtchen? In den letzten sechzig Jahren?

Hat es bestimmt. Wir gehen Arm in Arm, jedes Pärchen für sich zum Schloss.

Es erhebt sich plötzlich vor uns. Eben waren noch Bäume rechts und links und davor. Ein breiter Sandweg öffnet sich. Die dicken Mauern, eingefasst von dicken, gemütlichen Türmen mit dicken gemütlichen, grünen Zwiebeldächern leuchten rot in der Morgensonne. Das Schloss liegt auf einer Insel. Das Tor steht weit auf. Es erwartet Touristenströme. Ohne Tucholskys Roman würde sich vielleicht kaum einer für das Bauwerk interessieren.

Und doch war es schon wichtig, in der schwedischen Geschichte. Und ist uralt.

„Und wo hat Peterchen mit seiner Prinzessin gewohnt?“, flüstert Prinzessin. Sie hängt an meinem Arm. Ich gebe ihr einen Kuss auf den Kopf. „Wollen wir fragen?“

Wir fragen. Der Erklärbär, ein Riese mit rotem Gesicht und einer strahlenden Glatze, sieht uns an. Mit schräg gelegtem Kopf. Peterchen? Prinzessin? Dann leuchten seine Augen auf. „Ah, die Sie meine! Verstehen. Nej, nicht hier. Ich zeige. Wenn, wie sagen man? Feiertag?“

„Feierabend?“

„Jo. Morgen. Sechs Clock?“

„Jo, morgen, sechs Clock. Hier.“

Handschlag drauf.

 

Den Markplatz beherrscht das Rathaus von Mariefred. Gelb mit einer hölzernen Fassade und einem gewichtigen Aufgang zur Eingangstür. Bürgerlich gemütlich und bedeutungsvoll: Ich bin die Mitte, seht her!

Ich komme manchmal nicht klar, mit einer Monarchie in der Demokratie. Es kommt mir vor, wie ein Bienenkorb. Nur dass die Drohnen nicht aus dem Haus geworfen werden, in der menschlichen Gesellschaft. Man leistet sie sich eben. Und es scheint zu gehen.

Die Häuser tragen stolz farbiges Holz. Weiße Fensterrahmen leuchten. Wieder war jemand des Nachts über Schweden gewesen und hat Staub und Dreck weggesaugt. Natürlich, es ist Provinz! Schöne Provinz.

Klaus und Gerlind gehen ihrer eigenen Wege. Das ist in Ordnung. Wir haben genug von Besichtigungen, heute. Und außerdem kommt BillieBirthe.

Wir gehen zum Hafen. Das Schloss thront wichtig auf seiner Insel und begrüßt jeden, der das Wasser nach Mariefred kommt. In der Ferne sehen wir ein Schiffchen die Bucht hoch dümpeln. Ob sie drauf ist?

Ein Mann mit einer Schubkarre wartet auch. Er hat eine Zigarette im Mundwinkel, die kräftigen Arme vor der Brust gefaltet. Steht, wie ein Baum, den kein Sturm umwerfen kann. Starrt aufs Wasser. Worauf mag er warten?

Das Schiffchen kommt näher. Die „Mariefred“ stampft heran. Ganz vorne, am Bug steht Birthe. Sie hat die Arme ausgebreitet, wie Kate Winslet in Titanic. Die Prinzessin winkt, hüpft vor Freude verrückt wie ein kleines Mädchen. Der Mann mit dem Zigarettenstummel lächelt. Seine Augen blitzen. Er blinzelt mir zu. Ich grinse breit, nicke. Meine Prinzessin!

Die Frauen fallen sich um den Hals, als hätten sie sich eine Ewigkeit nicht gesehen. Dann kommt Birthe auf mich zu. „Na, Alter?“, fragt sie und umarmt mich mehr, als wie es nur Freunde tun. Über ihre Schulter sehe ich den Zigarettenmann. Er hat die Hände an den Holmen, sieht zu uns herüber, nickt und schiebt die Unterlippe anerkennend vor. Tja, sagt mein Gesicht, da guckste?

Wir gehen Arm in Arm zu unserem Haus. Natürlich hat Birthe nichts für sich bestellt. „Ich dachte, bei euch ist noch Platz?“

„Du schläfst bei mir“, bestimmt Mariele.

„Hör mal …“, versuche ich zu intervenieren, doch sie schneidet mir einfach das Wort ab: „Nichts da. Du schläfst allein!“ Sie piekt mit dem Zeigefinger gegen meine Brust.

Und Birthe klopft mir auf den Hintern.

„Das schaffst Du schon.“ Und aus dem Klopfen wird ein tröstendes Streicheln.

„Was macht Horst?“

„Arbeitet. Flickt Leute zusammen, nimmt ihnen was weg, näht was ein und zu, und jagt die Schwestern über die Station.“

„Jaja, die Chirurgen seins ...“, singe ich. BirtheBillie kneift mir in den Po.

Wir sind am Haus angelangt.

„Los, und nun zeigt mir das Original!“ Sie meint den Mälarsee. Den richtigen. Nicht den im Norden Berlins, der in Wahrheit ganz anders heißt.

„Aber Du warst doch drauf, auf dem See.“

„Ach ja? Der!?“

„Und jetzt stehen wir davor.“

Wellen plätschern leise ans Ufer. Es ist warm. Die Sonne hatte den ganzen Vormittag Zeit gehabt, Schweden anzuheizen.

„Peter hol eine Decke! Oder, nein, hol besser die Liegen.“ Ich ziehe pflichtschuldigst los.

„Und die Decken!“ , klingt es hinter mir.

„Und vergiss das Tischchen nicht!“

„Und Gläser“

„Und Whiskey!“

„Und Handtücher!“

Was denn noch alles? Ich schleppe und schleppe. Die Frauen sind schon im Wasser. Kreischen und bespritzen sich. Kinder!

„Komm rein, Schmutzfink!“

„Das dauert mit dem!“

 

Dann ruhen wir in den Liegen. Wenn ich nach rechts sehe: die Prinzessin. Und links die BirtheBillie.

„Ist das herrlich! Das man hier so nackt herumliegen darf!“ Birthe wedelt mit dem Whiskeyglas. Ihre Brüste bewegen sich im Rhythmus mit.

„Ehrlich?“, sage ich zu ihr. „Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es auch verboten.“

„Ach was.“ sagt Birthe. „Soll sich doch beschweren, wer will.“

„Ich nicht“, sage ich.

„Da regt sich was“, stellt die Prinzessin fest.

„Nichts regt sich“, flüstere ich. Und sehe zu ihr. Meine Schöne, denke ich und sage es auch.

„Nicht wahr, wir sind heute ganz artig?“, fragt die Prinzessin mit geschlossenen Augen. Birthe ist aufgestanden. Steht neben meiner Liege. Sie nimmt ein Handtuch, und deckt mich zu. Ihre Augen sind groß. Dann rennt sie los, ins Wasser. Es rauscht. Und die Prinzessin springt auf und ich hinterher, dann toben wir im Wasser herum, und tauchen, und schwimmen, dann küssen wir uns plötzlich, dann werden wir ganz still.

Es dämmert. Wir sitzen auf der winzigen Terrasse. Tee dampft aus den Gläsern. Es ist kühl geworden. Wir haben Jogginganzüge an. Die Frauen schweigen. Ich schweige. Es ist schön, so still zu sein. Ein Vögelchen zwitschert sich leise in den Schlaf. Irgendwo knarrt etwas.

Wir haben kein schlechtes Gewissen. Wir sind eins: furchtbar gute Freunde. Ich lange nach Marieles Hand. Sie hält mich fest. Ich liebe Dich, sagt ihr Blick. Und ich gebe den Blick zurück.

„Ihr müsst nicht flüstern“, sagt Birthe lächelnd. Sie greift nach meiner anderen Hand, und auch sie hält sie fest. Ich mag Dich sehr, BirtheBillie, denke ich.

Geht das, dass ein Mann zwei Frauen liebt und keine zu kurz kommt? Der Mann kommt nicht zu kurz. Aber die Frauen. Können sie teilen? Und wenn ja, wie lange?
Oh jeh! Was habe ich für Probleme!? Gibt es keine anderen auf der Welt? Krieg und Bürgerkrieg, Attentate, Bankenpleiten, Immobilienfonds, Menschenrechtsverletzungen? Und ich mache mir Sorgen um die Liebe zweier Frauen.

Doch es ist etwas ganz, ganz Besonderes, Einmaliges, Kostbares. Etwas, dass man nur einmal geschenkt bekommt.

 

„Hallo? Jemand zu Hause?“

Klaus und Gerlind stehen im Dämmerlicht. „Stören wir?“

Nein, sie stören nicht. Sie sind ein Stück Heimat, hier im hohen Norden. Versonnen schlage ich nach einer Mücke, während die Prinzessin Geschirr holt.

„Setzt euch. Was habt ihr heute getan?“

Sie erzählen. Und dann holt Klaus ein Heftchen hervor. Es ist schon arg zerfleddert. Wie ein Heft, das man oft gelesen hat, das von Hand zu Hand ging. Und dann in irgendeinem Regal gestanden oder gelegen hat. Wieder hervorgeholt, wieder gelesen und verliehen und zurückgegeben.

„Darf ich?“ Klaus nickt.

›Romanzeitung‹, ›Gripsholm‹, Kurt Tucholsky. Eselsohren, Kaffeeflecken. Ein geliebtes Buch. Kein Ausstellungsstück. Ich liebe Bücher, denen man den Gebrauch ansieht, denen man ansieht, dass sie geliebt wurden.

„Sowas hatte mein Vater auch“, sage ich.

„Das war mein erster Roman“, Klaus blättert in den Seiten. „Schon so lange her. Verdammt lange her.“ Und: „Wir waren bei Kurt. Haben Grüße bestellt.“

„Und Gänseblümchen hingelegt“, flüstert Gerlind.

„Da wird er sich bestimmt freuen.“ Schweigen.

„Wann kommt Karlchen?“, fragt Klaus spaßhaft, als er unsere Runde mustert. Wir lachen.

„In drei Tagen. Karlchen heißt Horst“, sagt Billie und erklärt den beiden, dass es nur Zufall ist. Oder doch nicht?

 

Sie sind gegangen. Wollten nur einen guten Abend wünschen. Birthe/Billie legt die Arme um den Oberkörper. „Ich bin müde, und mir wird kalt.“

„Ja, gehen wir rein.“

 

Noch lange höre ich von meinem Exil aus, die Frauen tuscheln. Was, zum Henker haben Frauen immer zu tuscheln? Ich spitze die Ohren. Höre „Horst“ und „Peter“ und viel Unverständliches.

„Peter?“

Ich schweige verdrossen. Ich bin ein Ausgestoßener, ein Verachteter, ein armer, armer - „Kommsumah?“ - Mann.

„Nein.“

„Doch! Stampfe mit dem Fuß auf!“, ruft Mariele. BillieBirthe lacht.

„Was ist denn?“ Da stehe ich schon an der Tür. Es riecht nach Frauen. Parfüm, Seife, frischer Wäsche und noch mehr.

„Wir kommen hier nicht weiter.“ Ich habe Gripsholm vor Augen. War da nicht auch...? Ein Kreuzworträtsel?

„Womit kommen die Damen nicht weiter?“ Ich mag Kreuzworträtsel nicht besonders.

„Hier.“ Mariele deutet mit dem Zeigefinger auf das Bettende. „Setze Er sich.“

Ich sitze. BillieBirthe sieht mich mit großen Augen an. Nein Billie, nein. Nicht heute und nie wieder. Ich rücke näher zur Prinzessin.

„Ich sage - hörst Du zu, Mann? - sage, dass das Schloss schon über dreihundert Jahre alt ist. Und dieses Weib hier“, sie zeigt auf BillieBirthe, „behauptet, es seien schon über achthundert Jahre! Achthundert! Ja glaubt man es denn?“

„Nun“, ich doziere wieder, „Es ist in der Tat ein altehrwürdiges Gebäude.“ Die Frauen fallen auf den Rücken und stöhnen. Ich lasse mich nicht ablenken. „Schon Johann Johannsohn, der alte Grips, der mit dem Bart, ließ eine Burg an die Stelle des heutigen Schlosses bauen. Auf einer Insel, was auf Schwedisch Holmen heißt. Daher Gripsholm.“ Etwas verschließt mir den Mund; heiße, weiche Lippen. Ich schmecke BillieBirthes Lippenstift und rieche ihr Parfüm. Und koste mehr davon.

„Will auch!“ BillieBirthe wird zu Seite geschoben und die Prinzessin verlangt ihr Recht. Siehste! Der Mann kommt nicht zu kurz, denke ich noch.

 

 

Wir erfahren, nach einem Vormittag voller Faulheit, wo die Prinzessin mit ihrem Peterchen genächtigt haben könnte. Der Erklärbär, der glatzentragende Riese führt uns durch die Räume. Er kennt das Buch und zeigt, wo und wie und wer und was. Wir sind ergriffen. Danken ihm. Laden ihn ein auf einen Drink.

„Danke, nej, nej. Das Spaß gemacht hat, mit schöne Frauen.“ Wir danken auch, nochmals und begeben uns Richtung Wiese der Faulheit, See des Badens und Haus des Schlafens und Trinkens.

 

 

BillieBirthe ist abgereist. Wir haben unser Spiel „Gripsholm“ gespielt und genossen. Still ist es jetzt, ohne Birthe, die Unruhe! Wie in einem Uhrwerk ist sie hin und her gefahren, hat uns in Trab gehalten.

 

„Was ist mit Horst?“

„Der kommt noch über euch. Aber ich muss!“

„Nicht noch einen Tag?“

„Sorry. Die Bank.“

Weg ist sie. Wir stehen noch am Hafen und sehen dem Kahn hinterher, bis er verschwunden ist. Sie würde von Stockholm nach München fliegen, die Birthe. Das Letzte, was wir von ihr sehen, ist ein weißes Taschentuch.

 

Dann kam Horst. Strahlend, in einem hellen Anzug, ein Köfferchen in der Hand.

„Halt mich fest“, flüsterte Mariele. Ich tue es, halte ihren Arm. Er küsst die Prinzessin, sagt „Prinzessin“ und gibt ihr einen Handkuss. Na da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt!

Horst hat die Initiative übernommen. Noch gestern Abend machte er einen Plan. Einen Schriftlichen. Das will er sehen und das und das und jenes noch und … „Schluss“, sage ich. „Hier, trink. Genieße Urlaub.“

„So schmeckt der also.“

 

Jetzt sind wir auf der Spur seiner Ausarbeitung. Tagesordnungspunkt eins: das Grab Tucholskys.

„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“, steht bescheiden auf der Granitplatte. Ein Baum wächst zu seinem Haupte. Groß, mächtig, mit weit ausladender Krone. Blumen blühen. Jemand hat eine Nelke auf den Grabstein gelegt. Die Gänseblümchen von Klaus und Gerlind sind schon welk. Mir geht die ‚Mona Lisa’ durch den Kopf.

 

„Ich kann den Blick nicht von dir wenden

Denn neben deinem Mann vom Dienst

hängst du mit sanft verschränkten Händen

und grienst.“

 

Und ‚Anna-Luise’. Ich summe leise die Melodie. Mariele nimmt sie auf und Horst. Sie summen mit:

 

„Wenn die Igel in der Abendstunde

still nach ihren Mäusen gehn,

hing auch ich verzückt an deinem Munde,

und es war um mich geschehn –

Anna-Luise, Anna-Luise“

 

Still wenden wir uns ab. Gehen den gepflegten Weg zurück zum Ausgang. „Lasst uns Mariefred beäugen.“

Und singend ziehen wir durch den Park. „Wenn die Igel in der Abendstunde …“ Horst kennt den Text, wir summen mit. Und die Schweden? Bleiben stehen, schüttelten die Köpfe. Die Deutschen! Aber sie sehen auch drei verliebte Menschen, Arm in Arm, hüpfend und singend und verzeihen ihnen, dass sie Deutsche sind. Denn wer singt …

Atemlos kommen wir in der Stadt an. Ernsthaft sehen die Holzhäuser auf uns herab. Ihre weißen Fenster lächeln ein Willkommen. Kommt, seht uns an. Wir sind euch gut.

„Heimweh ist schrecklich“, sagt Horst plötzlich. „Ich kenne das.“

Wir gehen durch Mariefred. Es scheint immer noch die winzig kleine Stadt am Mälarsee zu sein. Der Bahnhof mit seinem gelben Häuschen ist noch da und die kleine Eisenbahn, die jetzt ein Museum ist, ein fahrendes. Wir lassen uns nach Läggesta transportieren. Das Bähnchen zieht seine Bahn, rumpelt über die Schienen. Tocktock, tocktock. Horst hängt nachdenklich am Fenster. Woran mag er denken? BillieBirthe. Ich frage. „Ja.“

Manchmal sieht man den Mälarsee, dann wieder Wiesen, Felder, Bäume, bunte Häuser. In Läggesta trinken wir einen Kaffee. Er ist nicht besonders. Ein Laden, genannt Fruktaffär, nimmt uns auf. Wir wühlen uns durch die Waren. Horst schwatzt dem Verkäufer ein paar Flaschen Rotwein ab (furchtbar teuer), und ich hänge mich mit Whiskey rein (furchtbar teuer). In Euro sieht es nicht anders aus, als in Kronen. Es fehlen halt nur ein paar Nullen - umgerechnet. Wir bezahlen mit der Landeswährung und der Stapel an Scheinen nimmt bedenklich ab.

„Wir müssen wieder kaufen“, sagt die Prinzessin.

„Morgen, Liebes, morgen.“ Und verpassen beinahe unseren Zug.

Wir haben Zeit. Die Bahn hat Zeit. Sie ist Museum. Museen haben Zeit. Irgendwann wird sie schon ankommen. Der freundliche Schaffner zwickt Löcher in unsere Karten und sagt etwas, dass keiner versteht. Aber wir nicken eifrig, denn irgendwo in dem Text war auch ein ‚Mariefred’ zu hören gewesen.

 

„Kann man auch baden?“

„Ja, sogar nackt, wenn Du Dich traust.“

Die Prinzessin hängt zwischen uns beiden. Wir genießen ihre Nähe, wie zwei Männer die Nähe einer schönen Frau nur genießen können. Sehen die neidischen Blicke der Touristen-Männer. Die Frauen fangen sofort an, die Köpfe zusammenzustecken und zu tuscheln.

„Lasst sie uns zum Grübeln bringen“, sagt Prinzessin und wir geben ihr von rechts und links einen Kuss. Sie schnurrt wie ein Kätzchen. „Weiter.“ Und so gehen wir an den Feriengästen vorbei und grienen und küssen uns und sind glücklich. Und hören das Gezischel.

Mariele bleibt stehen. „Das Kind!“, ruft sie. „Der kleine Gegenstand!“ Richtig! Wir spielen Gripsholm! Wo ist das Kind, das geschundene. Und die Frau, die Generalin, diese Adriani. Wir suchen, fragen. Schulterzucken. War wohl doch nur eine Geschichte. Dieser Teil wird ausfallen.

 

Horst ist ein humorvoller Partner. Er weiß Geschichten aus seiner Studentenzeit. Bei einer Flasche Whiskey vergeht die Zeit schnell. Es ist dunkel. Die Kerzen auf dem Terrassentischchen flackern faul. Prinzessingesicht flackert und Hostgesicht flackert.

„Wir gehen baden“, schlägt Horst vor. „Peterchen?“

„Tun wir.“ Ich habe keine Lust, gehe aber mit.

Zwei Körper leuchten in der Finsternis. Der See plätschert uns leise zu. In der Ferne spiegeln sich Lampen im Wasser. Mariefred leuchtet.

Ich stoße auf Mariele. Und auf Horst.

 

„Er ist ein toller Mann“, flüstert Mariele. Ich habe die Augen noch geschlossen. Denke nach, was sie meinen mag, die Prinzessin. Doch dann bin ich einer Meinung. Ja, Billie-Birthe hat ihn verdient. Ich gönne ihn ihr und ihr ihn. „Ja“, sage ich, „und Du eine tolle Frau. Eine großartige Frau und - küss mich nicht! Ich muss mir erst die Zähne - den Whiskey …“ Und werde aus dem Bett geworfen. Grausame Hobbitse-Prinzessin!

Das Bad ist besetzt. Siehste. Deshalb wohne ich lieber allein. Die Tür geht auf.

„Oh Mann, was war das für ein Getränk?“

„Bollerboomschnaps.“

„So fühle ich mich.“

„Zieh Dir lieber was an, sonst verkühlst Du dir den Charakter", sagt die Prinzessin und stützt sich neugierig auf den Ellenbogen.

 

Beim Frühstück.

„Muss ich mich für irgendwas entschuldigen?“

Wir schütteln die Köpfe.

„Danke“, sagt er und kaut an seinem Brötchen.

Wir leihen uns Fahrräder und erkunden die Umgebung. Ich schwitze. Eine ungewohnte Art der Fortbewegung.

„Na, das wär doch was!“, fragt Horst.

„Wofür?“

„Um zur Arbeit zu gelangen.“

„Nee, lass mal. Dabei kann man nicht lesen und auch nicht mit seiner Frau kuscheln.“

Ein kühler Wind streicht über meinen Rücken. Ich sehe mich um. Eine stockdunkle Wolkenwand steht drohend hinter uns. Wetterleuchten, grummeln.

„Oh, Schweden mag uns nicht mehr.“ Wir radeln eilig zurück. Kurz vor Mariefred gießt es. Wir kommen tropfnass im Haus an, dann bricht das Gewitter los.

Von drinnen sieht es harmloser aus. Der Wind peitscht den See, Blitze fahren von Wolke zu Wolke. Der Himmel kommt nicht zur Ruhe, ein Donner folgt dem anderen und der Regen macht die Welt undurchsichtig. So heftig ist er.

Wir sehen aus dem Fenster auf das Toben.
„Wenn nicht Gewitter wäre, könnte man im Regen duschen“, sagt Horst. Er hat die Hände auf den Rücken gelegt und wippt auf den Füßen.

„Morgen“, sage ich, „Urlaub alle.“

„Ein schöner Abschied“, meint die Prinzessin. Wir sehen sie an. „Mit Pauken und Trompeten.“

Horst singt leise, dann immer lauter gegen das Rauschen des Regens an:

„Manchmal denke ich an dich,

das bekommt mich aber nich,

denn am nächsten Tag bin ich so müde.

Du mein holdes Glasgespinst!

Ob du dich auf mich besinnst?

Morgens warst du immer etwas prüde.

Darum trink ich auf dein Wohl

dieses Gläschen Alkohol!

Braun und blond – rot und schwarz –

Ihr sollt leben!

 

Deine Augen sind so blau

ganz genau wie bei der Frau

Erna Margot Glyn-Kaliski.

Rheinwein ist nicht stark genug,

darum nehm ich einen Schluck

von dem guten, gelben Whisky.

Und ich trinke auf dein Wohl

dieses Fläschchen Alikol –

Braun und Blond – Black and White ...

Ihr sollt leben!

 

Tinte, Rotwein und Odol

sind drei Flüssigkeiten wohl –

davon kann der Mensch schon leben.

So schön kannst du gar nicht sein,

wie in meinen Träumerein –

so viel kannst du gar nicht geben.

Allerschönste Frauenzier,

ach, wie gut, dass du nicht hier!

Oh, wie gerne man doch küßt,

wenn die Frau wo anders ist ... !

Und darum trink ich auf dein Wohl!

Nun ade, mein Land Tirol!

Lebe wohl! Nur in den kleinen Räuschen

lebe wohl, kann die Frau uns nicht enttäuschen!

Lebe wohl! Lebe wohl!

Lebe wohl, mein Land Tirol –!“

 

Jetzt sitzen wir still in unseren Sesseln. Das Unwetter hat sich gelegt. Wie wenn Horst es besungen hätte. Am Horizont wird es heller.

Dann scheint die Sonne, und trocknet alles wieder, und wir treten hinaus aus dem Haus, gehen barfuß über die Wiese. Der Mälarsee tut so, als wäre nichts gewesen. In der Ferne sucht ein Segelboot einen Hafen. Ein sanfter Wind treibt es vorwärts.

„Noch einmal baden? Im Mälarsee?“

 

Der Whiskey ist alle. Wir holen die letzten Flaschen Rotwein hervor. Abschiedsrotwein sagt die Prinzessin. Ende vom Spiel, nicht Ende vom Lied. Am Ende sind wir lustig und lachen viel über, was weiß ich denn?

Die Koffer und Taschen sind gepackt. Sie gehen morgen per Express weg, reisen uns hinterher, hinter uns, die wir leichtes Gepäck bevorzugen. Die untergehende Sonne färbt die Wolken an ihrer Unterseite rot. Schwarz und weiß leuchten sie oben gegen den blassblauen nördlichen Himmel.

 

Wir sind wieder Mariele und R. Berlin hat uns wieder. Schweden klebt noch auf der Haut und der Mälarsee und Mariefred und der Regen und die Sonne, Birthe, Mariele, Horst. Freunde, Genossen, Genießer.

Ich sitze am Schreibtisch. Mariele wirtschaftet in der Wohnung. Die Waschmaschine beginnt brummend ihr Werk, und ich beginne:

„Mariefred. Es ist immer noch diese winzig kleine Stadt am Mälarsee …“ Der Anfang des Romans einer Liebe. Irgendwie kommen Mariele darin vor und Birthe und Horst und ich.

 

 

 

* * *

 

Ende des ersten Teils

 

 

 

 

 

 

 

Quellen: (Und vollständiger Text, sofern nicht im Text verwendet)

1.

Wenn die Igel in der Abendstunde

 

Für achtstimmigen Männerchor

 

Wenn die Igel in der Abendstunde

still nach ihren Mäusen gehn,

hing auch ich verzückt an deinem Munde,

und es war um mich geschehn –

Anna-Luise –!

 

Dein Papa ist kühn und Geometer,

er hat zwei Kanarienvögelein;

auf den Sonnabend aber geht er

gern zum Pilsner in 'n Gesangverein –

Anna-Luise –!

 

Sagt' ich: „Wirst die meine du in Bälde?“,

blicktest du voll süßer Träumerei

auf das grüne Vandervelde,

und du dachtest dir dein Teil dabei,

Anna-Luise –!

 

Und du gabst dich mir im Unterholze

einmal hin und einmal her,

und du fragtest mich mit deutschem Stolze,

ob ich auch im Krieg gewesen wär ...

Anna-Luise –!

 

Ach, ich habe dich ja so belogen!

Hab gesagt, mir wär ein Kreuz von Eisen wert,

als Gefreiter wär ich ausgezogen,

und als Hauptmann wär ich heimgekehrt –

Anna-Luise –!

 

Als wir standen bei der Eberesche,

wo der Kronprinz einst gepflanzet hat,

raschelte ganz leise deine Wäsche,

und du strichst dir deine Röcke glatt,

Anna-Luise –!

 

Möchtest nie wo andershin du strichen!

Siehst du dort die ersten Sterne gehn?

Habe Dank für alle unvergesserlichen

Stunden und auf Wiedersehn!

Anna-Luise –!

 

Denn der schönste Platz, der hier auf Erden mein,

das ist Heidelberg in Wien am Rhein, Seemannslos.

Keine, die wie du die Flöte bliese ... !

Lebe wohl! Leb wohl.

Anna-Luise –!

 

Theobald Tiger (Kurt Tucholsky)

Die Weltbühne, 04.09.1928, Nr. 36, S. 376,

wieder in: Mona Lisa.

 

 

2.

Sauflied, ganz allein

„Manchmal denke ich an dich...“

Theobald Tiger

Die Weltbühne, 12.05.1931, Nr. 19, S. 701,

wieder in: Lerne Lachen.

 

 

 

3.

Das Lächeln der Mona Lisa

Theobald Tiger

Die Weltbühne, 27.11.1928, Nr. 48, S. 819,

wieder in: Mona Lisa.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: 2014 by Reiner A. Hampusch
Bildmaterialien: Venedig (C) 2005 by Reiner A. Hampusch,
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Gisela

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