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Grüne Augen

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  1. Grüne Augen

Frauen auf der Suche nach Liebe und Erfüllung

 

Buch 1 Clarisse

Buch 2 Clarisse

Buch 3 Therese

Buch 4 Ann

  1. Widmung

 

Meiner lieben Frau

Zur Erinnerung an die Tage an der Cote Azur, in der Provence, an der Kanalküste, im schönen Inland und auf den Straßen und überhaupt für die ganze wunderbare Zeit mit ihr. Mehr muss man, glaube ich, nicht sagen.

 

Doch! Ich muss eine Warnung aussprechen: Dieses Buch hat nichts, aber auch gar nichts mit uns zu tun. Es ist pure Phantasie, pure Erzählung. Luftballons im Kopf. Ein Roman, eine Geschichte, ein Märchen. Entstehende Ähnlichkeiten sind rein zufällig. Oder doch nicht? Manches scheint so. Aber vieles, fast alles, kein Jota!

Möge der Leser entscheiden.

 

 

Berlin, im Februar 2014

 

 

Vorwort zur zweiten Überarbeitung

 

Es ist, wie es ist: Erst nachdem der Roman ein Weilchen gelegen hatte, nach der ersten Überarbeitung, sieht der Autor Fehler, Fehler und Fehler. Ist es schlimm oder eine Stilfrage? Es ist schlimm, ja. Doch zum Glück ist der Autor unschuldig - fast. Dreckfuhler! Kann ja mal vorkommen. Aber es sind auch Stilfragen, und die der Orthografie und Grammatik.

Also habe ich mich entschieden, noch einmal zu überarbeiten. Hoffentlich das letzte Mal.

 

Berlin, im November 2015

 

  1. Erstes Buch
    CLARISSE

 

 

 

Wenn es denn passiert,

lass es passieren,

wehre Dich nicht!

Reiner A. Hampusch

 

 

  1. Grüne Augen

 

Die Hand mit der Espressotasse blieb kurz vor seinem Mund in der Luft hängen. Die Frau hatte ihn im Vorbeigehen unverwandt angesehen. Dann verschwand sie im Getümmel des Vormittagsverkehrs.

Nur flüchtig blitzte noch ihr knallrotes Kleid durch die Fußgängermassen. Dabei hatte er beinahe nur ihre Augen gesehen.

Die Serviererin stand neben seinem Tisch. Sie sah ihn fragend an, lächelte. Zum ersten Mal sah er, dass sie schräg stehende Zähne hatte. »Einen Cognac, vierfach!«, sagte er mit belegter Stimme.

Auch die Frau hatte ihren Blick nicht von ihm gelassen und er hatte nur ihre Augen und ein knallrotes Kleid, das ihre Körperformen vollendet betonte gesehen. Dann war sie vorbei. Sein Herz hämmerte, als wäre er einen Marathon gelaufen …

 

Dabei saß er, wie an fast allen Tagen, im Café in der Rue D’Antibes. Es war ein gemütliches, intimes Café, in dem ein sehr guter Espresso gebrüht wurde. Er nahm hier gewöhnlich auch sein Frühstück. Bei schönem Wetter saß er draußen, bei Regen oder in der kalten Jahreszeit an einem Zweiertisch direkt an dem Fenster, das zur Rue D’Antibes gelegen war. Er wohnte im gleichen Haus, ganz oben in einer wunderschönen Maisonettewohnung. Weil er von Beruf Schriftsteller war, konnte er fast jeden Tag hier im Café zu verbringen, wenn er nicht schrieb. Von hier beobachtete er gern die Leute, die geschäftig vorbeikamen. Erst die Geschäftsleute; Männer und Frauen in grauen, dunkelblauen oder schwarzen Anzügen und Kostümen. Sie strömten aus der U-Bahn, allein oder zu zweit, in die Geschäftshäuser der Unternehmen. Dann trudelten die Rechtsanwälte an. Mit selbstbewusster Miene und gewichtigen Pilotenkoffern, manchmal auch mit Ordnern unter dem Arm.

Dazwischen huschten mit Rucksäcken bepackte Schüler vorbei. Schwatzend, mit dem Handy spielend oder – das kannte er noch aus seiner Zeit – still, nach einer Ausrede suchend, wegen nicht gemachter Hausaufgaben. Dann waren da die Hausfrauen und die Müßiggänger. Die einen hatten es eilig. Sie konzentrierten sich auf den Einkauf, die anderen gingen im leichten Wiegeschritt, um deutlich zu machen, dass sie Zeit hatten. Währenddessen tobte der Straßenverkehr am Fenster vorbei: große, wichtige, kleine, eilige Personenkraftwagen, trötende Roller, schimpfende Radler, Motorradfahrer, die gelassen den Verkehr umkurvten und Laster. Nicht weit befand sich die Kreuzung zwischen der Rue D’Antibes und dem Boulevard Perrier, der breit und gemütlich zum »Gare du Sud« führte. Nach Norden verlief er durch die Vorstadt und vorbei an einem riesigen Einkaufszentrum, über die Autobahn in die Landschaft bei Melun.

Die Frau war in diese Richtung gegangen, nach Norden. Jetzt erst ging ihm auf, dass sie hohe high heeles angehabt hatte, die ebenso rot gewesen waren wie ihr Kleid.

Die Serviererin stand wieder neben seinem Tisch. Sie hatte ein Cognacglas und eine Flasche Grand Livreaux in den Händen. In dem sie das Glas auf den Tisch stellte, sagte sie: »Sagen sie einfach halt.« Als das Glas zu mehr als einem Drittel gefüllt war, sagte er »Stopp.« Er setzte an, und goss sich den gesamten Inhalt auf einen Schlag in den Hals. Es brannte und das Aroma von Alkohol und alten geschwefelten Eichenfässern zog brennend durch seine Stirnhöhle. »Noch was?«, fragte die Kellnerin. Er schüttelte den Kopf. Sie verschwand.

Warum hatte sie ihn so lange angesehen? Er spürte, wie sich sein Pulsschlag erhöhte. Das ist nur der Cognac, beruhigte er sich. Er tauchte unter den Tisch, wo er in einer abgeschabten Umhängetasche aus groben Leinen seine Schreibutensilien hatte. Die Tasche stammte noch aus seiner Studienzeit. Es hingen viele angenehme Erinnerungen daran. Umständlich fischte er eines seiner Notizbücher hervor. Ein kleines schwarzes im Oktavformat. Schon arg abgegriffen. Hier trug er Gedankensplitter oder Dinge, die er gesehen und Geschichten, die er gehört hatte, ein.

Wie immer setzte er oben rechts das Datum und die Zeit ein. Darunter den Ort. Und dann folgte die Beschreibung. ‚Frau, rotes Kleid, high heels, rote Haare (?)’ – er setzte ein Fragezeichen dahinter, denn er war sich nicht sicher – ‚wunderschöne grüne Augen!!!’ Da war er sich sicher.

Und sicher war er sich, dass es die Augen gewesen waren, die ihn vollständig gefesselt hatten.

 

 

  1. Clarisse

 

Vierzehn Tage waren vergangen, dass Clarisse diesen Mann im Café gesehen hatte. Es war ja nicht das erste Mal, dass sie an eben diesem Café vorbei gegangen war. Doch es hatte sie etwas angezogen, sie gebannt. Sie sah hin. Sie sah den Mann und konnte den Blick nicht von ihm wenden. Dann war sie im Gewühl untergetaucht. Als sie sich noch einmal umdrehte, konnte sie ihn durch das Getümmel nicht mehr sehen.

In der Redaktionssitzung ging es heiß her. Man besprach die nächste Ausgabe. Sie sollte sich wieder mit dieser Andrea Grimaude beschäftigen, die wieder einen Schmachtfetzen herausgebracht hatte. »Zerreiß sie in der Luft!«, hatte der Chef gefordert. Abgelenkt hatte sie nur gesagt: »Ich werde mir das Buch ansehen.« Und dachte an diesen Mann im Café. Dabei war nichts Besonderes an ihm gewesen. Nur, dass er sie angestarrt hatte.

Andrea Grimaude. Ein Pseudonym? Oder gab es sie wirklich? Steckten ein oder mehrere Ghostwriter hinter dieser Autorin? Sie hatte es immer noch nicht herausbekommen. Nicht einmal ihr Charme hatte den Verleger der Grimaude, Monsieur S., erweichen können.

»Ich bin doch nicht verrückt!«, hatte er gerufen. »Ich verrate natürlich nicht, wer meine Bestseller schreibt!« Dann hatte er sich beruhigt, »Da wartet nur die Konkurrenz drauf. Sie würden sie mir sofort wegzuschnappen.« Aha, eine Frau! Wer könnte sonst gefühlvoller über Frauen schreiben, als eine Frau! Heimlich suchte sie mit den Augen auf S. Schreibtisch, doch es lag nichts Verräterisches herum. Na warte, ich kriege dich schon!

Den Roman hatte ihr der Verlagschef mitgegeben. Mit dem Vermerk, es nicht wieder zu verreißen. Dabei hatte er gegrinst und mit den Augen gezwinkert. Und sie wusste, wenn sie dieses Buch verriss, dann klingelte Geld in seiner Kasse. Denn die Fans warteten ja nur darauf, wenn auch aus Trotz, vielleicht aber auch aus Zuneigung zur Autorin, den Roman zu kaufen.

Heute war wieder eine Redaktionssitzung. Draußen regnete es leicht, doch es war warm. Sie schnappte sich ihre Tasche mit dem Laptop, steckte das Buch dieser Grimaude dazu, griff sich den Regenschirm und verließ das Haus. Die Concierge wünschte ihr einen schönen Tag. Clarisse winkte geistesabwesend. Eigentlich hatte sie gehofft, heute den Mann im Café wieder zu sehen, doch bei diesem Regen, glaubte sie nicht daran. Als sie aus der Haustür trat, goss es wie aus Kannen.

 

Ein Platzregen rauschte herunter. Im Nu war die Rue D’Antibes wie leergefegt. Nur die Autos rasten durch die Pfützen. Fontänen spritzten auf das Trottoir. Er hatte sich an sein Fenster im Café zurückgezogen. Gedankenverloren sah er dem Treiben des Wetters und der Menschen zu.

Aus der Gischt näherte sich ein roter Fleck. Sein Pulsschlag stieg. Sie? Gespannt starrte er auf das Rot. Ja, sie ist es! Wieder auf High Heels balancierte sie unter einem breiten Regenschirm durch den Regen. Ihr rotes Kleid war nass geworden, er sah es an den dunklen Stellen. Sie sprang geschickt über kleine Pfützen. Vor dem Café blieb sie unentschlossen stehen. Dann ging sie auf die Eingangstür zu. Sie trat ein. Er stand, und starrte sie unausgesetzt an.

Die Serviererin nahm der Frau den Schirm ab. Er winkte. Erst jetzt sah sich die Frau in Rot um.

»Ah«, sagte sie und kam auf ihn zu. »Noch frei?« Die Frage war rein rhetorisch.

Er hustete. »Hm.«

»Schöner Platz.«

»Ja, man hat hier einen prima Blick auf den Boulevard.« Er vollzog eine altmodische Verbeugung. »René«, stellte er sich vor. Die Frau hatte noch keinen Blick für ihre Umgebung gehabt, denn ihr Blick war auf ihn gerichtet. Und er sah es jetzt: grüne Augen! Wunderschön, mandelförmig! Zwischen traurig und herzlich. Sie erinnerten ihn an ein Foto von Picasso: warm und … er fand das Wort nicht. »Clarisse«, sie reichte ihm die Hand. Unwillkürlich gab er ihr einen Handkuss. Seine Ohren wurden knallrot und heiß. Sie lächelte.

»Wollen wir uns setzen?«, fragte sie.

»Was zu trinken?« fuhr grob die Serviererin dazwischen. Er fragte sich, ob sie etwa eifersüchtig war?

»Espresso doppelt. Und einen Cognac. Und Sie?« er sah sie fragend an. »Das Gleiche. Und bringen sie noch stilles Wasser mit. Danke.« Ihr Ton war sachlich gewesen. Als sie sich ihm zuwandte, klang es anders. »Kann ich ehrlich sein?«

»Müssen Sie?«, fragte er dagegen.

Sie: »Nein, aber ich würde es wollen.«

Sein Blick ging von ihren roten Haaren (aha, dachte er) über ihr schönes Gesicht bis zu ihrem wohlgeformten Busen. Das Kleid war schulterfrei und hatte einen spitzen Ausschnitt. Die nassen Flecken trockneten schon. Immer wieder verirrte sich sein Blick an die Stelle zwischen ihrem Brustansatz. Dort hing ein winziger Anhänger an einem Goldkettchen. Darüber hinaus trug sie keinen Schmuck. Dann sah er wieder auf und in die Augen, in denen er glaubte zu ertrinken.

Sie lächelte. »Zufrieden mit dem, was Sie sehen?«

»Ja. Ihre Augen. Woher haben Sie solch herrlichen Augen?«

Sie lächelte geschmeichelt. »Von meinem Papon.«

Süß, dachte er. Sie muss ihn sehr gern haben. »Provençale, nicht wahr?«

»Ja, aus Aix. Aber die Großeltern stammen aus dem Alsace«

»Ah ja«, er nippte an seiner Tasse. »Sie wollten ehrlich sein …?«

»Ach ja. Ich bin Ihretwegen hier.«

»Meinetwegen?«

»Ja. Sie sind mir in der vergangenen Woche aufgefallen. Sie hatten mich so angest…sehen.«

»Und nun wollten Sie wissen …«

»… wer das ist, der mich so angestarrt hat. Normalerweise darf das niemand.«

»Oh!«

Sie schwieg. Nahm einen kleinen Schluck von ihrem Espresso.

»Muss ich Angst haben?«, fragte er.

»Sie nicht. Und solange sie keine Liebesromane schreiben.«

»Iiich? Sehe ich so aus.«

»Ja und ja! Sie machen so etwas oder etwas Ähnliches!?«

Er wiegte unbestimmt den Kopf. »Stimmt, ich bin Schriftsteller.«

»Kenne ich Sie?«

»Weiß nicht. Ich glaube kaum. Und was tun sie so, den ganzen Tag?«, lenkte er ab.

Sie zählte an den Fingern ab: »Nachts schlafe ich tief, fest und unschuldig. Dann stehe ich auf, mache meine Morgentoilette. Eine halbe Stunde. Frühstücke in der Küche …« Sie lachten. »Nein, im Ernst. Wenn ich nicht mit meinen persönlichen Sachen beschäftig bin, dann gebe ich meine ganze Arbeitskraft der führenden Zeitung in dieser Stadt.«

»Redakteurin!«, schlug er vor.

»Genau. Für Literatur, Kunst und Theater. Kritik«

»Sie haben eine eigene Kolumne?«

»Meistens, ja. Donnerstags.«

Er schwieg, sie schwieg.

»Sie arbeiten freischaffend?«

»Zum Glück, ja. Manchmal auch zum Unglück.«

Clarisse sah aus dem Fenster, er in ihren Ausschnitt. Sie legte eine Hand auf ihren Brustansatz. Hatte sie es bemerkt?
»Es hört auf zu regnen. Zeit, dass ich in die Redaktion gehe.« Sie kramte nach einem Portemonnaie.

Er winkte ab. »Lassen sie stecken. Geht auf meine Rechnung. Schließlich bin ich schuld, dass sie ins Café gehen mussten.«

Ihm kam eine Idee: «Was machen sie am Samstag?«

Sie holte ihr Handy aus der Tasche. »Nichts«, sagte sie, nachdem sie den Kalender gefunden hatte. »Und Sie?«

»Nüchs. Ich brauch’ mir einfach nichts vorzunehmen. Also nichts, aber …!«

»Ja aber?«

»Aber haben Sie Lust auf eine Kahnfahrt? Die Seine herunter? Ich kenne da ein wunderbares Lokal in einem kleinen Nest an der Seine.«

»Gut. Ich habe auch nichts weiter vor. Wann?«

»Ich hole Sie ab. Sagen wir neun Uhr?«

»Gern.« Sie gab ihm ihre Adresse. Mon dieu, sie wohnt hier in der Nähe, nur drei Ecken weiter!

 

 

 

  1. Flußfahrt

 

Clarisse hatte ein paar Sachen zusammengepackt. In einer kleinen Pause dachte sie über diesen René nach. Was hatte Sie geritten, sich so einfach mit einem wildfremden Mann zu verabreden. Kahnfahrt auf der Seine! Sie stellte sich vor, wie sie am Heck auf einem Ruderkahn saß, ein weißes Kleid an, einen breiten Hut auf dem Kopf und er, schwitzend an den Riemen. Oder hatte er ein Motorboot? Sie nackt auf dem Deck. Und die Schiffer starrten mit großen Augen … Sie verdrängte kichernd den Gedanken. Abwarten! Vielleicht ist er nicht anders als die Anderen? Obwohl …

Viertel nach neun klingelte es. Sie ging auf den Hausflur. »Nehmen Sie den Aufzug«, rief sie von oben. »Vierte Etage!«

 

Die Concierge stand im Türrahmen. »Ich möchte zu Madame Clarisse«, sagte er artig. Die Alte zuckte mit den Schultern. »Sie hören es, junger Mann. Gehen Sie, gehen Sie.«

Er suchte den Fahrstuhl, stieg ein. Ein altmodisches Gitter wartete geduldig, bedient zu werden. »Aha, Handbetrieb!« Er schloss das Gitter, drückte den Knopf neben der »4«. Das Gerät setzte sich in Bewegung. Wenn er gelaufen wäre, hätte er schon oben sein können. Unsinn, wieß er sich zurecht, sie hatten doch Zeit. Quälend langsam hielt der Aufzug an. Er schob das altmodische Gitter zur Seite.

Sie stand an der Wohnungstür. Sonnenschein drang aus der Wohnung. Sie stand in den Strahlen. Ein mystischen Lichtschein hüllte sie ein. »Eine Göttin«, sagte er.

»Danke. Übertreiben Sie nicht ein bisschen? Kommen Sie herein. Ich bin gleich fertig. Was soll ich noch mitnehmen?«

Clarisse hatte wieder dieses rote Kleid an. Hatte sie gleich eine ganze Kollektion gekauft?

Sie waren in ihrem Schlafzimmer. Es duftete nach Parfüm, Puder und Frau. Ein breites Doppelbett stand in der Mitte, darüber ein Baldachin aus weißer Seide. Eine große, alte Flügeltür führte auf den Balkon. In der Ecke daneben prangte eine ansehnliche Palme. Eine weitere Tür ging zu einem Ankleideraum. Sie war offen, er sah ein Regal mit Schuhen. Große, moderne Bilder schmückten die Wände. Das Parkett knarrte anheimelnd. Sie zählte auf, was sie alles eingepackt hatte.

»Sie haben einen Badeanzug vergessen. Vielleicht ergibt sich die Möglichkeit, ihn anzuziehen.«

»Und ein Bikini?« Sie hob ein paar Stoffstreifen hoch.

Er schluckte. »Der geht … auch«, ihm blieb die Luft weg bei der Vorstellung, dass er sie darin sehen könnte.

 

Die Reisetasche hatte sie, mit allem vollgestopft, was man für einen Tag im Grünen so braucht. Als sie die Tasche anheben wollte, stürzte er sich darauf, nahm sie ihr aus der Hand. »Votre service, gnä’ Frau«, näselte er vornehm.

Sie zog die Tür hinter sich zu. Schloss gewissenhaft ab. Dann fuhren sie mit dem Aufzug nach unten.

Direkt vor der Tür hatte er einen Parkplatz erwischt. Den Peugeotfahrer, der auch gerne hier geparkt hätte, hatte er schadenfroh angegrinst. Ein paar Meter weiter stand der nun und diskutierte mit einem Polizisten, weil er in der zweiten Reihe hielt. Tja, Pech gehabt, Alter …

»Boah!« entfuhr es ihr. »Ist das Ihrer?«

»Ja.«

»Der hat aber gekostet!«, rief Clarisse aus.

»Es geht. Zweite Hand. Achtzigtausend hatte der Kerl dafür verlangt.«

»Wollte?«

»Ich habe ihm ein Angebot gemacht, dass er nicht ablehnen konnte.«

»Aha!«, rief sie. »Sie sind ein Mafioso!«

»Nur seit Jahren bei dem Verkäufer Kunde. Er hat noch mal zehn Prozent nachgelassen. Dafür darf er allen Service daran ausführen.«

»Trotzdem«, beharrte sie.

Er drückte einen Knopf am Fahrzeugschlüssel. Das Verdeck der »Viper« klappte nach oben, faltete sich zusammen und verschwand summend unter der Heckklappe. »Darf ich bitten, M’dame?«

Sie warf die Haare nach hinten. Graziös stolzierte sie auf den Flitzer zu. Die Beifahrertür glitt nach oben. Clarisse glitt auf den Ledersitz.

»Bitte, Jean, fahren wir!«, befahl sie hochmütig, und wedelte unbestimmt mit der rechten Hand.

Er griente, sprang in den Fahrersitz und startete den Motor. Wrruuummm! Der Polizist und der Peugeotfahrer sahen auf. Er jagte mit überhöhter Geschwindigkeit vorbei, dann waren sie auch schon auf dem Weg, raus aus der Stadt.

Die milde Luft pfiff um die Windschutzscheibe. Das sonore Brummen des Motors, der warme Sonnenschein machte sie schläfrig. Sie kannte die Gegend. Erst ließen sie die maroden Vorstadthäuser hinter sich. Dann kamen die Supermärkte mit ihren aufdringlichen Werbeplakaten am Straßenrand, und endlich begann das freie Land. Die Luft wurde frischer. Er jagte mit hundertzwanzig die Departementstraße hinter V., zu einem verschlafenen Nest mit einer großen Marina an. Der Hafen verdankte einer Verbreiterung der Seine, seine Existenz. Hier lagen viele Boote der wohlhabende Städter an ihren Liegeplätzen.

Er bog auf den Parkplatz ein. Ein Teenager in einem verschlissenen T-Shirt stürzte sich auf sie. »Guten Tag, Madame, M’sieur René.«

»Morgen, Pierre. Stellst Du den Wagen an die alte Stelle?«

»Tut mir leid, M’ sieur. Da hat sich der dicke Generaldirektor mit seinem noch dickeren Mercedes breitgemacht. Ich war noch nicht hier …«

»Verschlafen?«

»Non, non, M’sieur. Er war wohl schon gegen sechs hier.«

»Ah so. Na egal. Stell sie irgendwo hin. Und vergiss nicht das Dach zu schließen!« Er drehte sich noch ein Mal zu dem Jungen um. »Ah, und achte auf Taubennester, Pierre!«, rief er im weggehen dem Jungen noch hinterher.

»Mach ich!«

Er schleppte ihre und seine Tasche zu einem Steg mit der Kennzeichnung »C«. An den Anlegern vertäut dümpelten neue und alte, wunderschöne, elegante Jachten, aus Holz oder Plastik an den Tauen. Sie sah sich mit großen Augen um.

»Mein Gott sind die alle wunderbar. Und welche ist Ihre? Die da?« Sie zeigte auf eine der Größten.

»Die hier.« Sie standen direkt vor einer zehn Meter-Jacht aus Mahagoni. »Sorbonne« stand am Heck und am Bug »Ann-Louise«.

»Und welches Boot ist ihrs?«

»Yacht. Oder Schiff. Vor Ihnen liegt es.«

»Hä, wo?« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. »Ah! Ihre Geliebte?« Clarisse zeigte auf den Namen.

»Was?«, fragte er geistesabwesend.

»Ann-Louise. Ihre Geliebte?«

»Ja, sehen Sie nur: Dunkelbraun, zehn Meter lang. Sie hat ein wirklich großes Herz: 200 PS, Diesel. Ach, und nicht zu vergessen: Sie hat mindestens siebzig Jahre auf dem Buckel.«

Sie schlug ihm neckisch mit der Faust vor die Brust. »Schuft!«

»Ann-Louise ist meine Mutter. Das Schiff ist ein uraltes Erbstück.«

»Ah. Sie sieht entzückend aus, die alte Dame.«

»Ich liebe sie!«

»Sind Sie sehr reich?«

Er winkte ab. »Nö«, sagte er schlicht. Er lenkte ab. »Die Yacht, sie stammt von meinem Großvater. Er war ein erfolgreicher Architekt, mein Vater war einer, meine Mutter eine erfolgreiche Schriftstellerin …«

»Muss ich sie kennen?«

»Sollten sie, so als Kulturtante.«

»Ann-Louise, Ann-Louise …« Sie wiederholte den Namen, doch ihr kam keine Erinnerung.

»Da kommen Sie sowieso nicht drauf. Aber Madame Sorbonne?«, half er ihr. »Sie hatte ihre beste Zeit in den Fünfziger, Sechzigern. Alles Liebesschnulzen. Kommen sie an Bord. Aber bitte die Schuhe …«

»Ich weiß.« Sie zog die Schuhe aus. Barfuß ging sie die enge Gangway nach oben. »Was ist mit Ihnen. Sind Sie erfolgreich?«

Er reagierte nicht auf die Frage, tat, als hätte er sie nicht gehört. »Dort geht es in die Kabine. Ich komme gleich, und bringe die Taschen mit. Sehen sie sich ruhig um.«

Sie stieg die fünf Stufen nach unten. Wärme empfing sie und Gemütlichkeit. Offensichtlich hatte er nichts verändert, denn alles strahlte den Stil der frühen Fünfziger aus.

»Hier kann man’s aushalten!«

Er klapperte an Deck herum. »Ja, wochenlang!« Sie spürte, wie sich das Schiff bewegte. Wellen plätscherte am Rumpf. Dann sprang der Diesel tuckernd an.

Er kam mit den Taschen herunter.

»Ihr Schrank, mein Schrank. Machen Sie es sich bequem.« Sachlich drehte er sich zu seinem Schrank. Er legte die Sachen ordentlich in die Fächer. »Wenn Sie fertig sind, kommen sie hoch. Und ziehen sie was Leichtes an …«

»Qui, mon Capitan!«, rief sie und salutierte linkisch. Er lachte.

Sie entschied sich für den Bikini. Die Sonne brannte und es war warm. Als sie nach oben stieg, musste sie sich festhalten. Das Schiff legte ab, schaukelte und ruckte.

Er stand am Steuerrad. Konzentriert mogelte er das große Schiff durch die enge Durchfahrt. Als er freies Wasser erreicht hatte, atmete er auf.

»So«, sagte er. »Ich hoffe, das wird ein schöner Tag.«

Sie stand etwas unterhalb vom ihm und dem Steuerrad. Sah seine behaarten Oberschenkel. »Der Wetterbericht hat Sonne befohlen. Wenn Neptun gehorsam ist ... Ah, ich weiß es jetzt schon! Es wird ein schöner Tag!«

Er sah zu ihr herunter. Was für eine Figur! Wie wenig Bikini! Der Anhänger an ihrer Kette blitzte.

»Glaube ich jetzt auch.« Clarisse sah konzentriert auf den Fluss.

Er drehte das Schiff in die Fahrrinne.

»Du bist so wunderschön. Oh Pardon …«

Sie wurde rot wie ein Schulmädchen. »Oh nein, danke, das ist … in Ordnung, René.«

Sie freute sich über das Kompliment. Es war ehrlich, da war sie sich sicher. Nicht diese blöde Anmache ihrer Kollegen. Die glaubten, mit ihr schnell ins Bett zu kommen. Und weg wäre die Konkurrenz. Da irrt ihr euch gewaltig, meine Herren!

»… Sekt«, hörte sie.

»Wie?«, fragte sie.

»Holst Du uns bitte etwas Sekt. Steht in der Pantry.«

»Mach ich. Was ist Pantry?«

»Die Küche, Cucina, Kittchen. Wenn Du nach unten steigst, gleich rechts hinter der hohen Tür.«

Sie war schon unten. Neugierig öffnete sie die angegebene Tür. »Aha, das also ist die Pantry. Hätte er doch gleich Küche sagen können. Männer!«

Sie fand die Flaschen im Kühlschrank, Gläser hinter einer weiteren Tür im Oberschrank. »Hübsch«, dachte sie. »Hier haben die Schrankböden Geländer.« Das Schiff machte eine Bewegung nach rechts, dann nach links. Oben fluchte und schimpfte er einem Schwimmer hinterher, den er fast überfahren hätte. Unten in den Schränken klapperte und klirrte es. Jetzt wusste sie, wozu man die Geländer an den Böden geschraubt hatte. Wieder was gelernt, M’dam Clarisse!

Sie ging nach zurück. Im Stehen öffnete sie die Sektflasche. Sie wollte ihn nicht knallen lassen, doch der Korken war schneller. Er flutsche ihr zwischen den Fingern hindurch, und flog im hohen Bogen ins Wasser. René lachte. »Du glaubst nicht, wie oft mir das schon passiert ist.«

»So?« Eifersüchtig dachte sie ‚Oft?’ Und so harmlos wie möglich fragte sie, »Oft? Passiert?«

Er merkte, dass da was nicht stimmte. »Na ja«, es sollte harmlos klingen. »Wenn ich mit Freunden …«

»… und Freundinnen …« ergänzte sie.

»… unterwegs bin.«

Sie goss ein, reichte ihm ein Glas. Ihre Hand zitterte. Er tat, als bemerke er es nicht.

»Auf eine gute Fahrt.«

»Auf eine gute Fahrt.«

Sie hatte sich auf die Lederbank an backbord gesetzt. Ihr Kopf lag auf den Händen. Versonnen betrachtete sie die Landschaft, die gemächlich vorbei zog. Der Dieselmotor tuckerte gleichmäßig.

Schön, dachte sie. Diese Stille und Ruhe. Sie atmete tief durch. Vom Ufer winkten Angler. Ab und an stand ein Graureiher im Schilf. Gespannt lauerte er auf einen Fisch. Wildentenpaare schwammen hin und her. Schwäne zogen ernsthaft ihre Bahn. Eine Blessralle tauchte aufgeregt ab und kam an einer anderen Stelle wieder hoch. Fieep, fieep, machte sie. Ein einsames graues Haus zog vorbei. Obstbäume, Blumenbeete, Felder, Weiden, Gärten. Ein ruhiger Sommertag, wie aus einem Gemälde. Wie wunderbar! An nichts denken! Nicht an die Arbeit, nicht an zu Hause. Nur genießen.

»Ist das nicht herrlich?«, rief er von oben. »Sieh’ dort hinten, die Kathedrale.« Im Dunst des Sommers flimmerte in weiter Ferne die Kathedrale »Notre Dame du V.«. Sie seufzte. Ja, es ist herrlich. Bitte lass es keinen Traum sein. Sie kniff sich heimlich. »Autsch!«

Er hatte sein Shirt ausgezogen, stand nur noch in Shorts am Steuerrad. Die Sonne verbrannte seine Schultern. Er schwieg und genoss es. René genoss die Wärme des Sommers. Er genoss die Gesellschaft dieser wunderschönen Frau, die still hinter ihm saß. Zum Glück keine Schwätzerin. Geistreich, amüsant, entzückend. Und ihre Augen!

»In einer Stunde erreichen wir ein kleines Städtchen. Wenn Du möchtest, legen wir an und gehen etwas essen.«

»Gern. Ich glaube, ich bekomme gerade einen gewaltigen Hunger.«

»Soll ich schneller ...?«

»Untersteh’ Dich.«

Schweigen.

»Was denkst Du?«, fragte sie.

»Nichts. Ist das nicht wunderbar?«

Schweigen.

»Übrigens, ich dachte, wir würden mit einem Ruderkahn …«

»Hättest Du doch was gesagt. Kein Problem. Das wäre auch gegangen. Bist Du nun enttäuscht?«

»Sehr.«

Lachen.

Clarisse: »Nein, nein. Lass es so, wie es ist.« Und dann, »Bitte nicht wecken!«

»Hää?«

 

Er hatte ihr beschrieben, was sie zu tun habe, wenn sie anlegten. Als Anfängerin stellte sie sich gar nicht so ungeschickt an. Nur hüpfte sie im Bikini barfuß auf dem Anlegesteg herum.

»Warum hüpfst Du so?«, fragte er von oben, obwohl er den Grund ahnte. Sie verbrannte sich die Sohlen an den heißen Holzplanken. »Es ist so heiß an den Füßen!«, rief sie von unten.

Er sah sie springen, lachte. Schnell warf er ihr Badeschuhe herunter. Sie zog sie an. Dabei sah er ihr zu. »Hab’ ich Dir schon gesagt, wie schön Du bist?«

»Nöö! Sag mal.« Sie machte einen Knoten in ein Tau.

»Du bist wunderschön!«

»Hä?«

»Duhu bist wuhunderschöhöön!«

»Schmeichler. Das sagst Du nur, um das Essen nicht bezahlen zu müssen.«

»Genau!«

Er kam die Gangway herunter. Über dem Arm brachte er ihr einen leichten Sommerrock und eine Bluse, die sie schon bereitgelegt hatte. Schnell zog sie die Sachen über. Schade, dachte er.

Wie alle ordentlichen Städtchen besaß auch dieses einen zentralen Platz. »Place du Concorde«. Das Hotel du Ville war schon etwas abgeschabt und auch die Gebäude um den Markt könnten auch neuen Putz und etwas frische Farbe gebrauchen. Es herrschte dichtes Markttreiben. Er nahm sie an die Hand. Clarisse ließ sich gerne von ihm durch das Gewimmel ziehen. Seine Hand fühlte sich weich und warm an. Aufgeregt sah sie sich um.

Vor einem uralten Haus blieb er stehen. »Sieh, das war das Haus des Henkers von Lille. Es wird erzählt, dass er darin wohnte, wenn er hier«, er zog grinsend einen Finger quer über seine Kehle, «zu tun hatte.«

»Da steht es ja auch«. Clarisse zeigte auf ein altes Bronzeschild. »Hier residirte der Henker von Lille, wenn er in dieser Stadt zugegen war«, las, sie vor. »Zugegen! Für die Delinquenten war das bestimmt keine angenehme Vorstellung, dass er ‚zugegen’ war.«

»Zum Henker von Lille« stand in abbröckelnder brauner Farbe auch auf einem Holzschild über der Eingangstür. »Hier hinein?«, fragte sie misstrauisch.

René nickte. »Henkersmahlzeit.«

Drinnen sah sie erst einmal nichts. Es dauerte, bis sich ihre Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten. Im Haus war es kühl, aber nicht unangenehm. »Wollen wir dort, unter dem Fenster?«, fragte er.

»Mir egal.«

Er brachte sie an den Tisch. Der Wirt, ein typischer Südländer schob seinen Bauch durch die Tischreihen. »M’dame, M’sieur René? Hatten Sie eine gute Fahrt?«

»Wunderbar, Jean-Jaques. Das sollten Sie auch einmal machen.«

»Das wird nix. Meine Liebste wird seekrank, wenn sie schon Wasser sieht, selbst beim Kochen.«

»Was gibt es heute Schönes, Jean-Jaques?«

»Wie wäre es mit köstlichen Schweinebäckchen an einer Rotweinsauce, dazu Reis, Gemüse en beurre und ein formidables Dessert vom Himbeereis?« Clarisse lief das Wasser im Mund zusammen.

»Genau das! Bringe Er es uns schnell, Herr Wirt.«

»Und zuvor einen Aperitif?«

»Ja, das, Eau con Gas und eine Karaffe leichten Weißen.«

Der Wirt huschte davon. Aus der Küche hörte man seine fröhliche Stimme und das lachende Zwitschern seiner Frau.

Langsam füllte sich der Gastraum. Sie sah, dass das Restaurant noch weiter ging. »Da hinten geht es noch weiter«, stellte sie fest.

»Ja, es geht ziemlich tief hinein. Selbst auf dem Hof kann man noch sitzen. Das war bei den alten Häusern immer so.«

»Ich weiß. Weil man seine Steuern nach der Anzahl der Fenster an der Straßenfront berappen musste.« Bilder hingen an den Wänden, Fackelhalter und seltsame Instrumente. »Schön ist es. Gemütlich.«

«Dieses Restaurant ist berühmt im gesamten Departement und darüber hinaus. Der Koch hat schon den vierten Michelin erkocht.«

»Wow. Ehrlich? Der sieht gar nicht so aus.«

»Er hat bei Bocuse gelernt. War in Paris und London, Chefkoch im Riz.«

»Und dann ist er hier gelandet?«

»Wo die Liebe hinfällt.«

Der Aperitif kam. Sie nippten an den Gläsern. Er griff über den Tisch nach ihren Händen, küsste die Fingerspitzen und den Handrücken. »Ich freue mich so, dass Du mich gefunden hast.«

»Und ich bin froh Dich getroffen zu haben. Danke.«

Ihr rieselte es warm durch den ganzen Körper. Wieder hatte er diesen Blick. Noch nie hatte ein Mann sie so angesehen. Immer gafften sie nur auf ihre Brust aber nie so in die Augen wie er. Sie hatte sonst immer die Augen niedergeschlagen, doch bei ihm war das anders. »Ich ertrinke«, hauchte er. Es kribbelt über ihre Haut, wenn seine Lippen ihre Finger berührten.

»Tu’s nicht. Nicht ertrinken! Wir müssen noch zurück.«

Er tat, als erwache er aus einem Traum. »Hallo, Willkommen in der Realität. Puhh.«

Die Wirtin steckte den Kopf durch eine Luke. Sie winkte ihrem Mann.
»Sieh mal, die beiden passen aber auch zusammen.« Clarisse schielte zu dem Wirtspaar.

Nach dem Essen bummelten sie über den Markt. Sie stöberte in den Kleidungsständen, er feilsche zum Spaß mit einem Antiquitätenhändler um einen alten Sekretär. Ein wahrlich schönes Stück. Er versprach, auf der Rückfahrt wieder vorbei zu kommen. Überzeugt war der Verkäufer nicht.

»Hier, sieh mal. Dieses Kleid.« Clarisse hüpfte aufgeregt vor seiner Nase herum. Geistesabwesend sah er auf das Stück Stoff. »Schön bunt. Und?«

»Kannst Du mir was auslegen. Ich habe mein Geld und die Karten auf dem Boot …«

Er unterbrach sie. »Schiff

»… Schiff gelassen. Pardon, mon capitan.«

Er kramte einen Hunderteuroschein aus der Hosentasche. »Reicht das?«

»Danke«, hauchte sie.

 

Sie dümpelten weiter die Seine aufwärts.

»Sag mal, Clarisse …«

»Ja?«

»Musst Du heute schon nach Hause?«

Clarisse kräuselte nachdenklich ihre Lippen. »Nein. Eigentlich nicht. Ich habe erst am Mittwoch wieder Redaktionssitzung.«

»Was hältst Du davon, wenn wir erst Dienstag zurückkehren?«

»Wenn Du mich zwei Stunden arbeiten lässt. Ich habe meinen Laptop eingepackt. Am Mittwoch muss ich eine Kolumne abliefern.«

»Sonst gibt’s Ärger?«

»Gibt es.«

»Okay.«

Sie hatte das Kleid vom Markt angezogen. Obwohl es schreiend Bund war, das leichte Baumwollgewebe lag angenehm auf der Haut. An den Schultern hielten es zwei dünne Träger und der Ausschnitt war rund und tief. Das Kleid stammte noch aus den Siebzigern; kurz, bedeckte gerade so den Po. Sie sah, wie er immer wieder den Kopf drehte und sie ansah. Einmal seufze er sogar.

Sie beobachtete ihn am Steuer. Gelassen bewegte er das Rad hin und her. Er trieb vielleicht irgendeinen Sport. Schwimmen? Sie würde ihn fragen, denn seine Schultern waren breit und muskulös. Die Brust leicht behaart. Zum Kuscheln. Und wenn er auch zu einem Bäuchlein neigte, das Sixpack war noch zu erkennen. In Gedanken strich sie ihm über den Bauch. Und auch die Arme und Beine hatten an den richtigen Stellen Muskeln.

Sie sah auf das Wasser. Dunkel zog es an ihr vorbei. Sie sich stellt sich sein Gesicht vor. Oval, mit einem energischen Kinn. Die Augenbrauen schwangen sich elegant über seine Augen. Die Augenfarbe? Blau, grau? Sie entschied sich für blaugrau. Sie standen nicht zu eng und auch nicht zu weit auseinander. Und die Nase? Gerade, nicht zu breit, nicht zu schmal. Ein sympathisches Gesicht, mit feinen Lachfalten an den Augen- und den Mundwinkeln. Er gefällt sicher nicht nur ihr, sondern vielen Frauen. Verdammte Weiber, dachte sie eifersüchtig. Bleibt ja weg von ihm.

Dann; Was soll das? Sie hatte doch keinen Anspruch auf ihn. Noch keinen Anspruch! Was zog sie zu diesem Mann hin? Es war ein Begehren, das sie nicht begründen konnte. Jedenfalls nicht mit dem Verstand. Ihr Gefühl befahl es ihr und ihr Bauch.

Er tat so geheimnisvoll. Schriftsteller! Offensichtlich war er wohlhabend. Da ging er drüber hinweg, wenn sie es ansprach. Nicht wichtig! Das erste Mal, dass sie einen Mann kennengelernt hatte, der nicht ein armer Schlucker, ein Knauser oder ein Angeber war. Der war einfach nur so: Er hatte Geld, er wusste es und musste es nicht zeigen und das war's. Wo wohnte er? Wer waren seine Freunde und Freundinnen? Wer seine Eltern? Lebten sie noch? Bestimmt. Hat er Geschwister?

Puh, wies sie sich zurecht, was bist du aber auch neugierig. Aber die schwarze Seele flüsterte: Du bist Reporterin, krieg’s raus. Die weiße Seele dagegen, sanft: sei vorsichtig, tu ihm nicht weh mit deiner Neugierde. Die Schwarze: Quatsch, weh tun! Er ist bestimmt ein Betrüger, ein Spinner, ein Spieler, ein Hochstapler! Die Weiße: Du bist gemein. Er ist ein netter Mann. Sieh ihn Dir doch mal an. Er verdient bestimmt sein Geld mit … Die Schwarze: Na, womit? Mafioso! Roulette! Ganz klar. Er hat‘s doch gesagt! Die Weiße: Ph! Du spinnst. Und zeigte ihr einen Vogel.

Sie lächelte ihrem Gesicht im Wasser zu. Die Wellen, die am Schiffsrumpf vorbeilflossen, teilten das Spiegelbild in viele Gesichter: ganze, halbe, Steifen, verzerrte.

Die Sonne versank knallrot hinter dem Horizont. Es wurde kühler, eine Gänsehaut lief ihr über die Oberarme. Es roch nach Wasser, Fisch, Mulm. Eine Entenmutter schwamm aufgeregt mit ihren Küken am Ufer entlang. Sie zählte, eins, zwei … zehn. Zehn Junge! Die Ärmste. Sucht bestimmt ihr Nest. Und das mit so einer Rüpelbande!

Er hatte angelegt und die Yacht an einen Baum, der schräg über dem Fluss hing, vertäut. Das Schiff dümpelte in der leichten Strömung.

»Zeit zum Abendessen! Backen und banken!«, rief er fröhlich. »Wir übernachten hier. Einverstanden?«

»Mir recht. Du bist der Boss!«

»Ich - Kapitän! Du - Moses!«

 

Müde und faul setzten sie sich an den Tisch. Die Fahrt, die Sonne, das angenehme Nichtstun, es machte schlaff. Er hatte aufgetafelt, was der Kühlschrank hergab. Butter, Kaviar, Lachs, Käse Schinken, Obst. Dazu Baguette. Für den Lachs hatte er Meerrettich aus Deutschland gekauft.

Verzückt sah er sie an. Das Kleid vom Markt konnte nur sie anziehen! Volles rotes Haar floss ihr über die Schultern. Der bunte Stoff machte ihren Teint dunkler. Sie hatte sich die Haut leicht verbrannt. Ihr Busen hob und senkte sich und mit ihm der Anhänger am Goldkettchen. Sein Blick hing daran fest. Clarisse griff hungrig zu. Zwischendurch trank sie mit Wasser verdünnten Weißwein. In jede ihrer Bewegungen war er verliebt. Sie spürte es.

»Isst Du nichts?«

»Doch, doch. Ich sehe Dir zu.«

»Tut man das?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin ein Mann! Ich darf das.«

»Was siehst Du? «

»Eine wunderhübsche Frau, mit der …«, er unterbrach sich. Sag jetzt nichts Falsches, Alter. »… ich gerne enger zusammen wäre.«

»Würdest Du das auch sagen, wenn wir schon vierzig Jahre verheiratet wären? Und ich zittrig und faltig, mit Hängebusen …«

»Vierzig Jahre. Das ist doch ein Klacks für Dich. Du wirst nur noch schöner! Und Dein Busen ...«

»Das reicht!« Sie wurde wieder ernst. »Ich bin auch gerne mit Dir zusammen.« Sie nickte bestätigend.

„Iss jetzt.“

„Ja, Mama.“

 

Draußen war es jetzt stockdunkel. Nach dem Essen hatten sie sich aufs Hinterschiff zurückgezogen. Die Bank ließ sich zu einer Liege vergrößern. Die Sommerabendluft war lau und leicht. Auf dem Fluss herrschte Ruhe. Nicht einmal die Mücken waren aufgeflogen. Er lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf. Sie, neben ihm, auf der Seite. Mit einem Finger strich sie über seine Brust. Es kribbelte, doch er rührte sich nicht. Er genoss diesen ganz zarten Moment, die süße, wachsende Vertrautheit. Er blickte zur Seite. Im Licht der Bordbeleuchtung glänzten ihre Augen. René schien es, als seien sie noch grüner und noch tiefer. Ihr Haar duftete, ihr Körper strahlte Wärme aus. Ihr Busen hob sich mit jedem schnellen Atemzug. Er sah auf ihre zarte Haut. Und dann in ihr Gesicht. Er hatte das Gefühl, als wäre sie näher gerückt.

Jetzt lagen sie, Auge in Auge, dicht an dicht. Er spürte ihren Atem, sah, wie sich ihre Lippen näherten. Und dann lagen sie warm und weich auf seinen. Und er fühlte, wie ihre Zunge suchend zwischen seine Lippen fuhr.

Nach einem langen, langen Kuss ließ sie ihn los. Jetzt lagen beide auf dem Rücken, René verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

»Eine Sternschnuppe.« Clariss’ Stimme klang heiser, etwas atemlos.

»Wünsch Dir was«, flüsterte er.

»Hmhm.« Ihre Hand lag wieder auf seiner Brust, und er genoss die Berührung und wollte, dass diese Nacht nie zu Ende gehen würde …

 

Als er erwachte, war es hell. Brummend und tuckernd zogen Frachtschiffer und Freizeitkapitäne an ihnen vorbei. Das Schiff schaukelte auf den Wellen. Clarisse hatte sich mit dem Gesicht zur Bordwand gedreht. Die leichte Daunendecke war verrutscht und ihr süßer, nackter Hintern leuchtete ihm entgegen. Er genoss Clariss’ Rückseite, wandte den Blick keine Sekunde von ihrem Po. René konnte nicht anders: er musste die zarte Haut berühren. Sie seufzte. Drehte sich um. Schade, dachte er.

Noch im Halbschlaf zog sie sich die Decke von Leib. Jetzt lag sie nackt und schlafwarm an seiner Seite. Eine Hand, wie Tizians Venus, zwischen ihren Schenkeln. Ihre Augenlider flatterten: »Na?«, fragte sie schlaftrunken. »Ist es schon Tag?«

Heiser sagte er »Leider, ja. So gegen zehn.«

Sie rollte auf ihn, gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Diese Stelle würde er heute nicht mehr waschen! Als sie aufstand, brannten ihre roten Haare im Morgenlicht, das durch die offene Kabinentür fiel.

»Ich gehe schwimmen. Kommst Du mit?« Ohne abzuwarten, stieg sie nach oben. Faul sah er ihr nach. Draußen reckte sie sich zum Vergnügen des Steuermannes eines Schubverbandes, der gerade stromab vorbeizog. Der Mann stieß einen schrillen Pfiff aus. Sie winkte ihm lachend zu. René beobachtete, wie sie ihre Haare zu einem wirren Dutt drehte. Mit einem Freudenschrei sprang sie ins Wasser.

Er ging ihr nach. Vorsichtig ließ er sich Sprosse für Sprosse die Badeleiter herunter. Das Wasser war kühl. Mit Getöse kam sie angeschwommen und spritze ihm einen Schwall in den Rücken. Er schrie erschrocken auf und sie tobte schon wieder davon. »Na warte, das schreit nach Rache!«

Er stieß sich heftig ab, und kraulte ihr wild hinterher. Und stieß gegen ihren Busen. »Vorsicht«, hauchte sie. Dann begann ein Jagen und Spritzen, bis sie außer Atem waren.

 

  1. Verrat

 

Der Mittwoch kam schneller, als sie es sich gewünscht hatten. Er brachte sie noch bis zur Wohnungstür. Sie hauchte ihm ein »Danke« ins Ohr, gab ihm ein Küsschen auf die Wange, schnappte sich die Tasche. »Ich ruf’ Dich morgen an«, sagte sie noch, dann stand er vor verschlossener Tür.

Er zuckte mit den Schultern.

Die Tage auf dem Wasser würde er wohl nie vergessen. Sie hatten eine einsame und verdeckte Bucht gefunden, lebten wie Adam und Eva im Paradies. Ihre Kleidung bestand aus Sonne. Sie badeten, aßen, tranken, faulenzten und schliefen miteinander, wann es ihnen gefiel. Sie genossen jede Sekunde fernab der Zivilisation und aller Konventionen, jede Stunde der völligen Ungebundenheit. Doch die Idylle wurde gestört: zwischendurch hatte sie etwas in ihren Laptop getippt. Er durfte nicht sehen, was sie da schrieb. Ihm war es auch egal. Völlig egal, denn er durfte ihr zusehen, wie sie da nackt und konzentriert an ihrem Computer saß, nachdachte, tippte und ab und an aus einem Weinglas nippte.

Langsam tappte er die Treppe ins Erdgeschoss. Die alte Concierge sah, wie er aus der Haustür schlich, und schüttelte den Kopf. Die jungen Leute!

 

Sein Verleger hatte angerufen und auf den Anrufbeantworter gesprochen. Lustlos machte er sich fertig. Er ahnte, was kommen würde: Arbeit. Und dazu hatte er eigentlich keine Lust.

Nachmittags kam dann ihr Anruf. »Hallo?«

»Ja, ich bin‘s«, sagte sie.

»Fein.«

»Kann ich kommen?«

»Jederzeit. Gerne. Ich freue mich.« Er stutzte. »Ist was?«

»Nein. Ich komme. In einer Stunde?«

»Gern. Was willst Du trinken. Soll ich etwas zu Essen bestellen?«

»Mach Dir keine Umstände. Bis gleich.«

 

Er sah sich um. Alles in Ordnung. Es war sauber, aufgeräumt und roch frisch. Seine Perle aus Tunesien war gewissenhaft und fleißig. Dafür teuer und natürlich angemeldet.

Es klingelte eine halbe Stunde eher. Das ist sie nicht, dachte er. Doch, sie war es! Ihr Gesicht flimmerte auf dem Display der Rufanlage. »Komm hoch. Der Aufzug ist gleich rechts den Flur runter. Drück’ einfach die Taste mit meinem Namen. Ich gebe die Durchfahrt frei.«

Der Gong schlug an. Die Tür zum Aufzug öffnete sich. Da stand sie.

Etwas stimmte nicht, spürte er.

René nahm ihre Hand. Er zog sie aus dem Fahrstuhl. Sie sah ihn an. Ihre Augen waren rot. Das passt nicht zu grün, dachte er völlig unpassend.

»Dein Chefredakteur?«

Sie nickte, ihr Blick ging durch den Raum. »Schön wohnst Du.«

Nicht ablenken, Clarisse, dachte er.

Er führte sie zum Sofa. »Setz Dich erst einmal. Ich habe da eine Medizin.«

In der Küche öffnete er die Rotweinflasche, die er vor Jahren von seinen Eltern für die Veröffentlichung seines ersten Romans geschenkt bekommen hatte. Er griff sich zwei Gläser.

Sie saß immer noch in der gleichen Haltung an der gleichen Stelle. Es klirrte leise, als er die Gläser auf den Glastisch stellte. Langsam goss er ein. Als sie zu ihrem Glas greifen wollte, hielt er sie zurück. »Momentchen noch. Lass den Wein noch drei Minuten atmen, damit er sein Aroma entfalten kann.«

Er setzte sich wieder neben sie, hielt ihr die Hand. »Und nun erzähle. Soll ich den Kerl verprügeln?«

Hinter Tränen lächelte sie. »Gern, mein Ritter.“ Clarisse schniefte. „Dieser gemeine Kerl!«

»Alle Kerle sind gemein«, stellte er fest.

»Du nicht«, sie legte ihm eine Hand auf die Wange. Er hielt sie fest, drückte leicht.

»Also, was war los?«

»Wir hatten heute Redaktionssitzung.«

»Du hattest es angedroht.« Er grinste.

»Jedenfalls hat Monsieur Ferrauld, der Chefredakteur, wieder von mir verlangt, den neuen Roman von dieser Andrea Grimaude zu verreißen.«

»Und?« Er hatte einen roten Kopf bekommen. Sie merkte es nicht.

»Na ja. Ich habe ihn gelesen. Er ist gut. Sehr gut sogar. Sehr weiblich, wenn es das gibt. Du verstehst?«

Seine Stimme war rau. »So ungefähr.«

»Das habe ich ihm gesagt. Und ihm gesagt, dass ich keinen Verriss schreibe.“

„Oha. War er einverstanden?“

„Ich habe ihn gefragt, woher sein Hass auf diese Grimaude kommt.«

Er sah sie interessiert an. »Und er?«

»Das geht mich nichts an, hat er plötzlich losgebrüllt. Und außerdem habe ich zu tun, was er verlange, sonst könne ich bald meine Papiere holen.«

»Und die Kollegen?«

»Jan-Pierre war der Einzige, der mir beigestanden hat.«

»Wie heißt doch gleich der Kerl?«

»Wer? Jan-Pierre? Der ist Lokales zuständig.«

»Nein, Dein Cheffuzzi.«

»Ferrauld, Michel Ferrauld.«

»Hm.« René runzelte die Stirn. »Woher kenne ich den Knaben? Na egal. Jedenfalls hast Du es ihm gezeigt.«

Sie nickte. »Genau!« Clarisse nahm sein Gesicht in ihre Hände. Dankbar drückte sie ihm einen dicken Kuss auf die Wangen. »Danke, dass Du zugehört hast.«

»Das ist alles?«, fragte er, scheinbar enttäuscht.

Clarisse sah ihn ernst an. Er ertrank wieder in ihren schönen Augen. »Du nimmst das alles nicht so ernst, René. Für mich geht es um meine Existenz.«

»Doch, schon! Schreib doch dem Affen seinen Verriss! Ob Du nun meckerst oder nicht. Man kann jedes Buch verreißen, wenn man sich Mühe gibt. Jedes Wort auseinandernehmen, jeden Satz in seine Bestandteile auflösen und etwas finden, jeden Sinn verdrehen und sich lustig machen. Wenn man will. So ist nun mal Sprache.“

René atmete auf. „Er hat seinen verdammten Willen und Du Deine Ruhe. Und was soll‘s. Diese Andrea Grimaude verdient doch so und so ihr Geld!«

»Ich will das aber nicht!«

»Frauen! Kein Wunder dass …«

»Was, Frauen und kein Wunder?«

»Lass es, war nicht so gemeint.«

»Männer!«

Jetzt lachten sie. Sie hob ihr Glas. Schnupperte an dem Wein. »Hm. Feines Tröpfchen.« Hielt das Glas gegen das Licht. Er leuchtete dunkelviolett. Sie kostete, ließ ihn auf der Zunge zergehen. »Hm. Fruchtig, mild und eine angenehme Säure. Sehr alt.«

Eine Kennerin auch noch, dachte er. Er prostete ihr zu. »Auf Andrea. Sie sei gepriesen, denn mit ihr verdienst Du Dein Geld.«

»Böses Geld, René. Ich wäre nicht ehrlich. Es ist nicht ehrlich. Es IST falsch! Und wenn ich ihre Existenz vernichte? Du bist doch Schriftsteller?«

Als er nickte, fuhr sie fort, »Gut, stell Dir vor: Du schreibst ein Buch. Alles ist gut, der Verleger glaubt an Dich, die Auflage stimmt. Dann kommt ein Jemand, Eine, die meint, alles besser verstehen zu können. Die Dich, ich meine Dein Buch, in seine Einzelteile zerlegt. Nichts taugt mehr. Alles falsch, Unsinn, alles Mist. Keine Literatur eben.«

»Kenn ich.«

»Ja? Siehst Du! Aber dann brauchst Du Dich nirgendwo mehr sehen lassen. Dann kannst Du in die Fabrik ans Band gehen und Schalter zusammenschrauben oder so.« Clarisse war ganz aufgeregt. Ihre schönen Augen blitzen jetzt empört. »Ich habe doch auch eine Verantwortung, als Journalistin.«

»Hm«, er stimmte ihr zu. »Stimmt, viele denken da anders. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Ja, ja, der alte Brecht.«

„Kritik. Wie stehst Du zur Kritik?“

„Wenn sie konstruktiv ist und ehrlich und lehrhaft, Okay. Niemand ist fehlerfrei. Wenn es nur darum geht, jemanden zu schaden oder ihn der Lächerlichkeit Preis zu geben, dann ärgert mich das schon.“

„Siehst Du.“

Stille.

Sie sah sich um. »So wohnst Du also? Alles mit Deinen Büchern verdient? Zeig sie mir.«

Ooops. Nicht jetzt! Er versuchte, abzulenken. »Nicht ganz. Einen Teil haben meine Eltern beigetragen.«

»Wie viel?«

»Sie haben mich studieren lassen. Das, was ich wollte.«

»Ah so. Also doch kein Mafioso.«

Rene zuckte komisch mit den Schultern. »Tut mir leid, wenn ich Dich enttäuschten muss … Und Du?«

»Meine Eltern waren, sind nicht wohlhabende Leute. Ich unterstütze sie, wie ich nur kann. Sie konnten mir nichts finanzieren. Sie waren froh, wenn sie über den Monat kamen.«

»Arme Eltern.«

»Nein, sie sind nicht arm. Sie sind reich, sehr reich.«

Er sah sie verständnislos an. »Doch? Also wie nun?«

»Sie haben sich. Seit dreiundvierzig Jahren. Philemon und Baucis nenne ich sie heimlich. Ich versuche zurückzugeben, was ich kann.« René saß jetzt dicht neben ihr. Sie spürte seinen warmen Körper.

»Verstehe. Du gibst ihnen Deine Liebe zurück! Ich glaube mehr wollen sie nicht.« Er hatte ihre Hände genommen, küsste ihre Fingerspitzen.

»Wenn ich frage, ob sie etwas brauchen, schütteln sie die Köpfe. Wir haben doch uns, Kind, und Dich. Was soll man da sagen?«

»Mögen sie lange leben!«

»Ja«, hauchte Clarisse. Sie hatte feuchte Augen.

»Willst Du Dich umsehen?«

»Gerne.«

Er führte sie durch seine Wohnung. Küche, Bad, Schlafzimmer. Oben, in seiner Klause, wie er das Obergeschoss nannte, schlug sie die Hände zusammen.

»Faszinierend! Hier könnte ich schreiben! Wo stehen Deine Bücher?« »Sieh Dir erst einmal die Terrasse an«, schlug er stattdessen vor. Sie ließ sich ablenken, ging zum Terrassenfenster. »Da liegt sie, die Stadt. Dir zu Füßen! Du Glücklicher!«

»Jetzt bin ich glücklich«, sagte er schlicht.

»Und vorher?«

»Vorher? Vor Dir? Na so …«

Sie hatte nicht zugehört. »Wie mag es in der Nacht aussehen?«

»Sieh es Dir an.«

»Ja?«

»Gerne, liebend gerne. Kannst Du denn bleiben?«

Clarisse sah immer noch aus dem Fenster. Kann ich? Will ich? Jetzt schon? Sie sah ihr Spiegelbild. Unsinn, entschied sie, was sollen die Bedenken. Ich war drei Tage mit ihm unterwegs, allein mit ihm auf einem B … Schiff. Wir haben uns geliebt. Aber das hier ist seine Wohnung. Ein angenehmer Mann. Er bedrängt mich nicht.Und wenn ich jetzt nein sage. Ob er enttäuscht ist? Bestimmt. Männer sind immer enttäuscht, wenn es nicht nach ihrem Willen geht. Aber er? Er hat gefragt, kannst du denn bleiben. Nicht gesagt, bleib!

Er stand neben ihr, sah mit ihr aus dem Fenster.

»Ich habe nichts dabei.«

»Wir finden schon was.«

»Siehst Du, dort.«

»Nee!?«

»Ein Bussard. Kreist über der Stadt. Das gab es früher nie.«

»Früher nie. Stimmt. Schön.«

»Für die Mäuse nicht!«

»Für die Mäuse nicht, nein.«

»Aber trotzdem schön …«

Sie hatte sich entschieden. »Ich bleibe. Ist Dir das Recht?«

»Absolut!« Sie sah, dass er sich freute.

»Ich habe noch einen wunderbaren Pyjama im Schrank.« Er sah an ihr herunter. »Wird etwas lang sein und weit. Wir krempeln die Ärmel und Hosen um, stecken alte Zeitungen an die Stellen, wo er zu weit ist.« Er zeigte auf ihre Brust. »Da nicht. Glaube nicht, dass wir da auffüllen müssen.« Sie lachten und stellten sich vor, wie das aussehen würde. Das Michelin-Männchen namens Clarisse!

»Oha, ich habe noch nichts für den Abend.«

»Dann ruf’ doch was Chinesisches oder Italienisches per Telefon oder Internet.«

»Gute Idee.« Er ging nach unten. Sie hörte, wie er verhandelte. Dann stand er wieder neben ihr. »Gerettet.«

»Chinesisch?«

»Italienisch. Hier gibt es, ein paar Häuser weiter, einen echten Italiener, aus Sizilien, sagt er. Fra Alberto!«

»Ein Bruder, ein Mönch«

»War er. Ist wohl geflohen.«

»Vor den Mafiosi?«

Er lachte. »Hab‘ in nicht gefragt.« Er zog eine imaginäre Pistole. »Ecco! Folgen sie-e mir-e, Senorita. Prego, sonste ische musse mache mit Pistole Buuumm-e.«

Er berührte einen Schalter. Die Fenster öffneten sich zu Seite, ein breiter Durchgang zu Terrasse entstand. Er drückte ihr die »Pistole« in den Rücken. »Gehen du-e zu Banka.« Sie erschauderte, als er ihren Rücken berührte. Sie hatte die Arme gehoben und ging vorsichtig vor ihm her. »Setzte du-e sich!«

Dann saßen sie nebeneinander auf einem Rattansofa. Er sah sie an, sie ihn. Die Sonne schien schräg über das Dach. Es war warm. Eine sanfte Briese wehte über die Terrasse. Hier oben war es erstaunlich still, als wenn der ganze Verkehr der Stadt auf einem Mal ruhte.

»Manno, vergessen! Was willst Du trinken? Kaffee? Einen Imbiss dazu? Kekse?«

»Einen Imbiss, Kaffee und Kekse. Wein«, gab sie zurück. Er verschwand in der Küche.

Sie stand auf. Ging zur Terrassentür und lehnte sich gegen den Pfosten. Sein Arbeitszimmer bestand aus Regalen voller Bücher. Alte, zerlesene, Verlagsreihen, Romane, Sachbücher, Hefte. Stapel von Papier, Manuskripte. Ein Regal voller Schallplatten, CD. Lehrbücher, Theorie des Schreibens. Ratgeber. Wörterbücher. Romane, Romane, Romane. Weltliteratur und Triviales. Englische Literatur. Da schau an. Also auch noch Englisches. Ein Paradies für Literaten. Mitten im Raum, mit Blick auf die Terrasse, thronte ein schwarzer, mächtiger Schreibtisch aus den dreißiger Jahren. Dahinter ein verschlissener, ausgeblichener, ehemals grüner Ohrensessel. Bücherstapel, rechts und links auf der Platte. Ein aufgeklappter Laptop balancierte gefährlich an der Kante. In der Mitte zwei Flachbildschirme. Der Computer stand eingeschaltet neben dem Schreibtisch. Der Ventilator summte.

Er hantierte immer noch in der Küche. Sie hörte ihn klappern. Es zischte. Neugierig ging sie zum Schreibtisch. Auf einem Bildschirm flimmerte ein Text. Ah, er ist dabei einen Roman zu schreiben. Sie las die ersten Zeilen. „Das Wetter war wirklich ideal. Marisse freute sich auf den Tag mit ihm …“, irgendein banaler Text. Aber den haben alle Romane zwischen ihren Seiten. Der zweite enthielt eine Mail seines Verlegers, M’sieur S. Ah! Eigentlich sollte ich nicht …, dachte sie.

»Lieber René, Deinen letzten Andrea Grimaude Roman habe ich bereits ins Lektorat gegeben. Nach dem großen Erfolg von ‚Sommertime’, den unsere Freundin Clarisse so hübsch zerreißen wird, erwarte ich wieder einen Bestseller. Da sind noch ein paar Stellen, die Du …« Warte mal. Andrea Grimaude, Clarisse. Ja spinne ich denn? Ich bin in der Höhle des Löwen und merke nichts davon? Er arbeitet unter dem Pseudonym Andrea Grimaude! René ist – Andrea?!

Sie ging auf die Terrasse zurück. Warf sich auf das Sofa. Ihr Busen hob und senkte sich erregt. Hecktisch arbeiteten ihre Gedanken. Deshalb ist der Kerl so freundlich zu mir. Er nutzt mich aus! Deshalb soll ich meinem Chefredakteur den Verriss schreiben. Er partizipiert auf jeden Fall davon. Die stecken alle unter einer Decke! Diese Mistkerle!

Clarisse sprang auf. Wütend rannte sie nach unten, schnappte sich ihre Tasche und sprang in den Aufzug.

Als es gongte, kam René aus der Küche. Er hatte noch ein Messer in der Hand. Irritiert sah er auf den Aufzug, dessen Anzeige nach unten wies. »Clarisse?«, fragte er.

 

 

  1. Flucht

 

Alle haben mich verraten! Alle! Sogar dieser Jan-Pierre. Er saß ihr in der Redaktionssitzung schräg gegenüber. Sah sie nicht einmal an! Ferrauld schoss in die Höhe, als sie ihm trocken mitteilte, er könnte sich seinen Verriss an den Hut schmieren, und außerdem wüsste sie … Hier hatte sie glücklicherweise geschwiegen. Ferrauld beugte sich zu ihr herüber. „Was wissen Sie?“ Seine Augen verengten sich gefährlich, als sie heftig den Kopf schüttelte. »So, es reicht, Clarisse«, fauchte er sie an. »Sie …« Weiter kam er nicht, denn sie knallte ihm ihren Hefter auf den Tisch, sprang auf. »Leck mich!« Die Tür knallte hinter ihr zu.

Sie hörte noch, wie er Jean-Pierre anfuhr, »Was weiß sie? Sag …«

Damit war sie draußen. Ganz draußen. Arbeitslos. Vor der Tür des Verlagshauses dachte sie nur noch »Scheiß…!«

Am Abend zuvor lies ihre Wut auf René sie nicht mehr vernünftig denken. Vor Ärger hatte sie nichts über diese Andrea schreiben können. Alles, was sie zu Stande brachte, waren Anfänge. Sie begann einen Satz und brach ab. Und wieder und wieder … Der Verräter!

Nicht einmal unter der Dusche konnte sie sich ihre Wut abwaschen. Sie stand so lange unter der Brause, bis es nur noch kaltes Wasser kam und sie frierend in den Bademantel schlüpfte. Jetzt war sie auch noch auf dem Vermieter wütend.

Sie trank fast zwei Flaschen Wein aus, was zu Folge hatte, dass sie, angetrunken, nicht mehr schlafen konnte. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um Ferrauld, René, dem Schuft, die Grimaude.

Morgens, es war Viertel vor zwölf, schleppte sie sich ins Bad. Sie bleckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. Bäh! Flüchtig putzte sie sich die Zähne, wusch sich, kämmte ausgiebig ihr langes Haar, bis es glänzte. Langsam wurde sie ruhiger. Der heißen Wut war eine kalte gefolgt. Rache?

Sie musste erst einmal mit Mutter reden. Clarisse kletterte in ihre alten Jeans, fand ihr Lieblingstop und zog es an. Hallo, das spannt aber am Busen!? Wie lange hatte sie das nicht mehr angehabt? Sie ging zum Spiegel. Ah, das geht schon.

Die U-Bahn-Station lag gleich um die Ecke. Clarisse fuhr bis zur Endstation. Dort ging ein Bus bis dicht bei ihrem Elternhaus.

 

Ihre Eltern fand sie im Garten. Papa las wie gewöhnlich seine Tageszeitung. Sonst werkelte er im Garten und beschnitt die Rosen. Das Haus hatten sich ihre Eltern vor fünfunddreißig Jahren regelrecht vom Munde abgespart. Aber sie waren glücklich darin. Von der Welt hatten sie nur gesehen, was es im Fernseher gab. Ein paar Mal waren sie an der Atlantikküste, auf einem entzückenden kleinen Campingplatz, gewesen. Sie erinnerte sich an den langen Weg ins Meer bei Ebbe, an die alten deutschen Bunker, die schräg im Sand steckten und das Plumpsklo mit den dicken, fetten Fliegenmaden im August. Sie hatten Bordeaux besucht. Davon schwärmten ihre Eltern immer noch: Bordeaux!

»Papachen, Mamon.« Sie gab beiden ein Küsschen auf die Wangen. Ihre Eltern hatten immer noch die glatte Haut, wie früher. Sie fühlte, gerade heute wieder, wie beruhigend es damals war, wenn sie sich an einen von ihnen gekuschelt hatte, weil irgendeine Sorge sie quälte.

»Nun, meine Liebe. Was gibt es?« Papa hatte die Zeitung auf den Rasen geworfen. Die frische Landluft bewegte knisternd die Blätter. Mutter schwieg, wie immer, wartete.

»Ich habe geschmissen!«

»Kaffee?«

»Gerne.« Keine Vorwürfe, keine ‚Blicke’, wie, ‚musste das sein?’

Nie gab es Vorwürfe.

Mama brachte den Kaffee. Er duftete schon, als sie die drei Stufen aus dem Haus herunter kam und auf den Gartentisch zukam.

»Danke, Mamon.«

Man schwieg. Sie würde schon anfangen.

»Dieser Drecksack!«

Papa lächelte. »Aber, aber.«

»Doch«, rief sie trotzig. »Er wollte seinen Kopf durchsetzen …«

»Und du Deinen stimmt’s.«

»Na ja!!« Sie trotzte.

»Wer? Ferrauld?«

»Jo.«

„Er ist, ähm, war Dein Chef.“

Schweigen. Sie sahen sich an.

»Ich werde dann mal nach meinen Rosen sehen. Die Shakespeare blüht nicht mehr so schön, wie früher.« Ihr Papa zog sich diskret zurück, denn er spürte, hier ging es nicht nur um Arbeit. Im weggehen murmelte er noch, »Frauensachen, da soll man …«

Clarisse stürzte sich ihrer Mutter um den Hals. »Ich bin ja so unglücklich …« Es klang wie im Film.

Und dann erzählte sie alles. Bis es später Nachmittag geworden war und sie Hunger bekamen. Ein paar Ecken weiter gab es einen Italiener. Dort konnte man die Pasta und ausgewählte Pizzen essen. Von dem Rest sollte man die Finger lassen. Sie taten es auch, aßen nur Pasta und tranken Rotwein dazu.

»Clarisse hat Liebeskummer«, erläuterte die Mutter. Vater nickte.

»Und deshalb schmeißt du deinen Job?«, fragte er nur.

»Nein, das war grundsätzlich. Ich lasse mir nicht befehlen, was ich zu schreiben habe. Und schon gar nicht Lügen!«

»Aha. Ja, das ist richtig«, sage Papa. So war er immer. Wenn sie ihren Kopf durchsetzen wollte, konnte sie es tun. Aber, wenn sie sich in eine schwierige Lage gebracht hatte, half, er ihr nur wenig. Da musste sie selbst herauskommen. Das war seine Meinung. Wenn Du etwas tust, musst Du Dir auch der Konsequenzen bewusst sein. Verstehst Du? So war das.

Er legte den Kopf schief. Das hieß: Sag schon, Töchterchen.

»Das andere ist ein Mann.«

»Sag bloß? Ein Mann?«

Papa bekam die Kurzversion und hatte trotzdem verstanden. Und zweifelte.

»Meist du wirklich, er hat dich«, er malte mit zwei Fingern seiner Hände Anführungszeichen in die Luft, »belogen?«

Sie nickte überzeugt. „Klar doch!“

»Und wenn er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, dir alles zu ‚beichten’.«

Clarisse war empört. »Er hatte alle Zeit der Welt! Wir waren drei Tage auf seinem Boot … Schiff«, korrigierte sie.

»Da hatte er Zeit? Wirklich. Ein Mann und eine Frau allein auf einem Boot? «

Clarisse korrigierte: „Schiff!“

„Von mir aus Schiff.“

»Bitte keine Anzüglichkeiten, mon Pére«, sagte sie lächelnd.

»Ich meine ja nur.«

Jetzt lachten alle.

Dennoch war sie immer noch unversöhnlich. René, du Schuft!

»Lass Zeit verstreichen, Töchterchen«, sagte er. Er nahm sie bei der Schulter. »Sieh hier.« Mit einer weit ausladenden Geste wies er auf die Rosen. »Alles braucht seine Zeit. Gefühle besonders. Sie sind wie Rosen. Sehr empfindlich. Schneide nur an der falschen Stelle, gib ihnen das falsche Wasser, schon gehen sie ein. Hab Geduld. Beobachte genau! Und liebe sie, auch die Stachligste unter ihnen. Und bedenke jeden deiner Schritte ohne Eile.«

»Kann ich heute bei euch bleiben?«

 

 

  1. Suche

 

Was war das denn? Plötzlich war sie weg. Einfach so. Kein Wort. Kein Anruf, keine Mail. Nichts!

Er ging nach oben. Der Abdruck ihres Körpers war immer noch in den Kissen des Sofas erhalten. Er wollte ihn nicht wegstreichen. War er noch warm? Obwohl er wusste, dass dieser Gedanke absurd war, strich er sacht über die Stelle.

Zurück in seinem Arbeitszimmer, setzte er sich an den Schreibtisch. Er sollte, er wollte es jetzt, noch einen Absatz beenden. Hatte es nur wegen Clarisse auf morgen verschoben. Arbeit ging dann doch vor. Danach …

Doch Clarisse ging ihm nicht aus dem Kopf. Spukte im Hinterstübchen. Sie war doch so gelöst. René lehnte sich in seinem Ohrensessel zurück. Womit, bei allen Geistern der Unterwelt, hatte er sie beleidigt? Was hatte er falsch gemacht? Er trommelte mit den Fingern auf den abgegriffenen, rauen Armlehnen. Es gab ein dumpfes Geräusch.

Entschlossen stand er auf. Wollte sich eben die Flasche Wein aus der Küche holen, die der Liefersevice mitgebracht hatte. Da sah er es! Verdammt! Der Brief seines Verlegers. Er schlug sich vor dem Kopf. Hatte sie ihn etwa gelesen? Hatte sie erkannt, dass er auch diese Andrea Grimaude ist? René glaubte alle Spuren beseitigt zu haben. Aber was ist so schlimm daran? Dass er es ihr bis jetzt noch nicht gesagt hatte? Wann denn? Warum denn? Das hätte sie doch nur in ihrer Meinung beeinflusst.

Auf dem Schiff hatte sie sinniert. Wer könnte die Grimaude sein. René hatte weise gelächelt. Weißt Du’s. Sag es! Er hatte ihr geraten, die Suche nach dieser Frau nicht zur Passion werden zu lassen. Doch sie hatte ihn mit schmalen Augen angesehen. Passion! Ph! Und bei ‚Ph!' hüpften ihre Brüste und er war abgelenkt.

Unruhig lief er hin und her. Er stellte sich vor eines der Regale. Sah die Buchrücken. Las die Titel, ohne sie zu begreifen. Ob jetzt sein Inkognito fiel? Doch das war ihm Wurst. Sollte es doch! Was ist so schlimm daran? Finden wir eben ein neues Pseudonym oder sind wir offen zu den Lesern! Was zählt?

Clarisse. Dunkle grüne Augen! Schöne, schöne Frau. Poch, poch.

René wählte ihre Telefonnummer. Der Anrufbeantworter meldete sich. Festnetz? Das Gleiche.

Besaß sie eine Mailbox? Sicher doch! Er suchte im Internet. Nichts. Auf der Homepage der Zeitung war sie nicht erwähnt. Als Kolumnistin. Seltsam, unverständlich.

 

Am übernächsten Tag ging er zu ihrer Wohnung. »Madame ist nicht da«, sagte die Concierge spitz. Und: »Ich weiß nicht, wo sie hingegangen ist.« Er fuhr zur Redaktion. Die Empfangssekretärin zuckte mit den Schultern. Heute nicht gesehen. »Kann ich Jan-Pierre sprechen?« Er sei unterwegs zu einer Demo. Recherchieren.

Enttäuscht verließ er das Gebäude.

So ein schöner Sommertag! Er saß wieder auf seinem Platz in seinem Café und blies Trübsinn.

Die Serviererin sah ihn mitleidig an. Sie stelle ungefragt einen Cognac neben die Espressotasse. Er grunzte nur. »Danke.«

Sie kann heute nicht.

Und auch nicht an den nächsten Tagen und in der nächsten Woche nicht.

Er hatte weiter noch kein Wort geschrieben. Er wich immer wieder vom Thema ab. Begann ein neues Kapitel. Wieder nichts.

Poch, poch, Clarisse.

Einmal war er auf seiner Bank gewesen. Sah gleichgültig auf den Kontostand, registrierte nebenbei, dass noch eine fünfstellige Summe hinzugekommen war. Sommertime, dachte er.

In seinem Lieblingsbuchladen: »Monsieur René! Welche Freude.« Der Verkäufer kam mit einem druckfrischen Exemplar seines, Andreas, Roman hinter dem Ladentisch hervor. »Würden Sie Madame Grimaude bitten, das Buch zu signieren? Das wäre schön.«

»Gerne. M’dame wird es eine Ehre sein«, log er. »Soll sie noch mehr?«

Bei einer Lesung, hier in der Bücherei und anderswo, hatte er immer wieder behauptet, nur der Vorleser zu sein, denn M’dame Grimaude wolle ihr inkognito bewahren. Man möge, bitte, verstehen … Und die begeisterten Fans verstanden. Eine Dame war trotzdem auf ihn zugestürmt. »Bitte, M’sieur René. Wie sieht sie aus, die Madame?« Doch er hatte ein schlaues Gesicht gezogen. Schelmisch mit dem Finger gedroht. »Wunderschön, Madame. Doch bitte, wahren wir das Inkognito!« Und die Frau war davongeschlichen. Er hatte ihr nachgerufen, dass er gerne ihr Buch signieren lassen würde. Und seitdem kam der Bücherwurm, und hielt ihm seine Bücher vor die Nase. In manche Büchereien brachte er gleich signierte Ausgaben mit.

»Sommertime« hatte selbst ihm gefallen. Er hatte es endlich geschafft, eine richtige, runde Liebesgeschichte aus der Sicht einer Frau zu schreiben … Das war interessant und aufregend. Ihn beschäftigte die Frage, wie Frauen Liebe erleben. Warum sie viel tiefer als Männer empfinden und wie sie ticken. Dem waren etliche Gespräche mit den weiblichen Fans vorausgegangen. Er hatte notiert, sich gemerkt. Erstaunlich, wie viel Intimes er erfahren hatte.

Und nun stand er da und verstand diese eine Frau nicht. Er, der Frauenversteher. HA!

 

Auf seine Anrufe hatte sie immer noch nicht reagiert, seine Mails nicht beantwortet (ja, er hatte die Adresse der Redaktionssekretärin abschwatzen können). Die Concierge wies ihn immer wieder ab, mit der Auskunft, Madame wäre nicht anwesend. Schon lange nicht. Seit seinem letzten Besuch. Ach ja? Ach ja!

Er schlich um ihr Haus. Stand lange an einem Baum gelehnt und beobachtete ihre Fenster. Tatsache! Sie war wirklich nicht da.

In der Redaktion erfuhr er endlich, dass sie geschmissen hatte. Hier sah er Ferrauld. Auch du liebe Sch … Sein alter Studienfeind.

Mit schadenfrohem Blick rief er René hinterher. »Tut mir leid, Alter. Ich weiß nicht, wo Deine Freundin ist.« (Es war also schon herum, das zwischen ihm und ihr?) Ferrauld hing noch einen gemurmelten Nachsatz an, der so klang, wie du Pfeife. René riss sich zusammen. Und Jan-Pierre? Der zuckte nur die Schultern. Arschloch. Von wegen, wir waren mal Freunde!

Angelique, die Volontärin, ein süßes kleines, flachbrüstiges Ding von achtzehn oder zwanzig Jahren, hielt ihn am Ärmel fest. Sie steckte ihm einen Zettel mit einer Adresse, draußen am Stadtrand, zu. Auf seinen fragenden Blick hin flüsterte sie, »Dort wohnen ihre Eltern.« Er gab der Kleinen ein Küsschen auf die Wange. Noch lange hielt das Mädchen ihre zarte Hand an die Stelle, als wolle sie den Kuss festhalten.

Er fuhr hin. Lies seine Viper einige Häuser davor stehen und ging zu Fuß zum Grundstück. ‚Schulz’ stand auf einem stumpfen Messingschildchen, neben einem ebenso stumpfen Klingelknopf. Zögernd drückte er. Wartete.

Eine elegante Dame um die Mitte sechzig kam aus dem Garten. »Ja, M’sieur?«

Er stellte sich vor.

»Ah, Monsieur René. Treten sie näher.«

Als er zögerte, sagte sie lächelnd, »Wir haben hier keinen Hund, keine Angst. Kommen Sie, kommen Sie herein.«

Sie führte ihn in den Garten, wies ihm einen Sessel zu.

Madame setzte sich, legte ihre gepflegten Hände übereinander auf den Schoß. »Sie sind also der Quell des Kummers unserer Tochter?«

»Madame, ich versichere sie …«

»Schon gut, René. Ich darf Sie doch René nennen?«

Er nickte. »Gern. Sehr gern.«

Er erklärte ihr Verhältnis aus seiner Sicht. Und das er sich nicht erklären konnte, warum …

Sie schwieg. Sah ihn interessiert an.

»Ich kenne alle Ihre Bücher.«

»Ja? Wie das …?«

»Jetzt weiß ich ja, wer die Dame Grimaude ist.«

»Und gefällt sie Ihnen, die Grimaude, M’dame?«

»Sie ist unrasiert. Das sollte eine Dame nicht sein.«

Jetzt lachten sie beide.

„Darf ich Sie bitten, Stillschweigen zu bewahren?“, fragte er Madame.

„Aber ja doch. Was denken Sie?“

Aus dem Garten kam jemand. »Mein Mann«, sagte Madame schlicht.

»Guten Tag. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Ich auch, M’sieur. Sehr erfreut, wirklich.«

Er sah Clarisses Mutter an. Ja, auch so schöne mandelförmige, grüne Augen. Und auch das ovale Gesicht. Was muss Madame in ihren jungen Jahren schön gewesen sein. Sie ist immer noch schön, nur älter, weiser.

»Sie suchen Clarisse?«, fragte M’sieur gerade heraus. René nickte. M’sieur setzte sich. Legte bedächtig eine Rosenschere auf das Tischtuch, was bei Madame ein Stirnrunzeln verursachte.

»Sie ist an die Cote Azur gereist. Irgendwo zwischen Aix, Cannes, Nizza, Frejus.«

»Ja …?«

»Wir wissen nicht, ob es richtig ist, Ihnen ihre Adresse zu nennen. Verstehen Sie?«

»Ja, klar. Verstehe», sagte René mit belegter Stimme. »Ich danke Ihnen für Ihre Ehrlichkeit. M’dame, M’sieur Schulz.« Er erhob sich. War enttäuscht.

»Immer wieder gerne, Sohn«, sagte der alte Herr ohne jeden Hintergedanken.
»Ich wünsche Ihnen Glück.« Madame stellte sich auf die Zehenspitzen, und hauchte ihm unerwartet einen Kuss auf die Wange. Sie mochten ihn. Na das war doch ein Anfang!

 

Im Auto entschloss er sich an die Cote Azur zu fahren. Er musste Clarisse finden! Sofort bog er auf die Autobahn ab. Rief S. über Handy an. »Ich bin eben mal weg. Wenn ich was habe, schicke ich eine Mail.«

»Wo fahren sie hin? Sagen Sie …«, doch er hatte schon unterbrochen.

Clarisses Eltern. Herzliche Menschen. Dabei fielen ihm seine Eltern ein. Bevor er in den Süden fahren würde, musste er sie unbedingt noch sehen.

 

Er bog auf eine Landstraße ein. Rundherum Felder, in der Ferne kleine Waldstückchen. Eine sanfte, ruhige Landschaft. Die Straße führte am Grundstück vorbei, dass von einem hohen alten schmiedeeisernen Zaun umgeben war. Viel Verkehr herrschte hier nicht. Er drückte den Türöffner.

Ein Haus im englischen Landhausstil, gemischt mit normannischen Elementen der Kanalküste. Eine halbrunde Auffahrt.

Mama stand an der Tür. Papa arbeitete bestimmt noch. Er war schwer vom Zeichenbrett weg zu bekommen. Das ist ernsthafte Arbeit, wie er immer betonte. Und tatsächlich arbeitete er hin und wieder für sein altes Büro, dass er vor Jahren an seinen Sozius verkauft hatte, da ja sein Sohn die Firma nicht erben wollte. Er erhielt einen sehr guten Preis dafür.

René drückte seine Mutter. »He, Vorsicht. Ich bin nicht Deine Geliebte!«, rief sie dumpf aus seiner Umarmung. Er ließ sie los, hielt sie mit weit vorgestreckten Armen von sich. »Aber ich liebe Dich doch!«, rief er, angeblich enttäuscht.

»Bah!«

Sie lachten.

»Papa?«

»Oben, Du kennst ihn doch. Willst Du Kaffee?«

»Gerne. Ich komme dann in den Garten.«

René stürmte die weitläufige Treppe nach oben. Papa stand vor seinem geliebten Zeichenbrett, dem man die Jahre deutlich ansah. Und auch seinem Papa. Seine Schultern waren noch gebeugter als zu seinem letzten Besuch. Er sollte öfter hierherkommen.

»René. Schön, das Du es mal wieder geschafft hast. Ich musste mir Fotos von Dir ansehen, um Dich heute wiederzuerkennen.«

»Und ich von Dir«, konterte René.

Papa legte seinen Skribent auf die Ablage. »Bleibst Du länger?«

»Bis morgen, wenn ich darf. Dann fahre ich an die Cote.«

»Schöne Landschaft, gut gegen Rheuma.«

Sie gingen in den Garten. Mama hatte bereits gedeckt. Die Kaffeemaschine arbeitete, deutlich hörbar, in der nahen Küche.

Sie setzen sich. »Und nun, erzähl, Sohn.«

 

René hasste Autobahnen. Er benutzte sie nur, wenn es unumgänglich war. Bis kurz vor Nizza raste er über die Autobahnen. Mautstellen hielten ihn auf und zweimal die Polizei. Er zahlte brav, diskutierte nicht. Einer der Polizisten grinste: »Verliebt, wie?« Das ging den einen Dreck an! Natürlich verliebt. Was sonst!

In Nizza bekam er im »Le Royal« an der Promenade de Anglaise nur noch eine Suite. Er schnaufte. »Aber wenn ein Zimmer mit Meerblick frei geworden ist, buchen sie bitte um.« Fünfzig Euro wechselten die Tresenseite. Die Concierge strahlte ihn an. »Natürlich, M’sieur René, gern.«

Oben hing er dann im Sessel. Da war er. Und nun? Was jetzt?

 

 

 

  1. Frejus

 

Clarisse stieg die enge Stiege hinauf in den dritten Stock. Es war dämmrig und roch nach altem Haus, Staub, schalem Wein und dem Duft des Südens. Unter dem Arm trug sie das Notebook, dass sie sich in einem kleinen Laden für IT-Technik gekauft hatte. Es war gebraucht. Windows lief darauf und Word und noch ein paar Autorenprogramme, die sie brauchte. Und das reichte. Es war leichter als der schwere Laptop. Den gab sie dem Verkäufer und hatte zusammen fünfzig Euro ausgegeben. Dafür hatte der Gute auch noch alle Daten und Programme überspielt.

Sie klopfte an die betagte Tür. »Herein!«

Quietschend ging die Tür auf. Sie machte einen Schritt. Blieb stehen.

Der Raum war viereckig. Mittendrin standen drei Schreibtischen aus den Fünfziger Jahren. Holzregale voller Ordner, Bücher und Zeitschriften an den Wänden. Zwei hohe Fenster gingen zur Hauptstraße hinaus. Dunkle Vorhänge hingen traurig von hölzernen Gardinenstangen. Die Fensterläden waren soweit geschlossen, dass nur feine Lichtstreifen durch den Raum geisterten. Die Bahnhofsuhr an der Gegenseite takte lautstark die Sekunden herunter. Eine Dame mittleren Alters saß in der Nähe des Fensters, ein ebenso alter Mann erhob sich hinter einem Schreibtisch. Er war groß und sah in der Dämmerung aus, wie De Gaulle. Er reichte ihr seine große Hand. »Mademoiselle Clarisse, nehme ich an?« Seine Hand war weich, warm und gepflegt. Ihre versank darin wie in einem dicken Sofa. Es war angenehm.

»Ja, M’sieur Perrieur? Ich freue mich.«

»Ha, die Freude ist ganz auf meiner Seite.« Er legte den Kopf schief, musterte sie freundlich. »Schön«, sagte er noch einmal. Clarisse fragte sich was er mit ‚schön’ meinen konnte. Die Madame räusperte sich.

Dann, als hätte er es vergessen. »Oh, Pardon. Meine Frau, M’dam Perrieur. Meine rechte Hand. Ohne sie …« Er machte eine Geste, wie wenn ihm eine Hand fehlen würde. Clarisse sah, wie er seine Frau liebevoll ansah und sie zurücklächelte. Ach wie hübsch! Und sie dachte schmerzhaft an René. Madame übernahm: »Setzen Sie sich, Clarisse«, sagte sie schlicht. Sie erklärte Clarisse, dass sie nur eine ganz kleine Provinzzeitung wären und dennoch dringend ihre Hilfe benötigten. Ihr Vorgänger sei doch nur ein Windhund gewesen und habe nach Höherem gestrebt. Es wurde still.

»Ja, wenn sie denn wollen?«, fragte Perrieur.

Dazu war sie hier. „Gerne. Was bekäme ich denn …“

Sie würde zum Anfang …

Clarisse nickte. Tausendfünfhundert auf die Hand reichten erst einmal. Hauptsache sie war weg von dieser Stadt und diesem Andrea-René-Grimaude-Schreiber. „Einverstanden! Darf ich mein Notebook heute hier lassen? Ich würde mir gerne die Gegend ansehen.“

„Aber natürlich! Dann bis morgen! Sehen sie sich erst einmal um. Frejus ist wunderschön, wissen Sie.«“

Frejus ist eine kleine, gemütliche Stadt an der Cote Azur. An der Küste, in Frejus-Plage, tobt der Touristenverkehr. Doch die meisten fahren durch, nach Cannes oder Nizza. Und in die andere Richtung, nach Saint Tropez, Toulon und weiter nach Marseille. Fast immer an der Küste entlang. Wer es eilig hatte, benutzte die Autobahn. Weiter im Hinterland liegt die eigentliche Stadt. Zentrum ist der Place Fevrier vor der Kathedrale du Ste-Leonce. Zuvor hatte Clarisse eine preiswerte Wohnung im Nordwesten, am Ausgang der Stadt, in der Avenue du Verdun, gefunden. Zu jeder Stunde rauschte ein TGV dicht am Haus vorbei, nachts seltener. Das machte die Wohnung preiswerter als anderswo. Weiter oben an den Hängen der Ausläufer der Alpes maritime, lagen die teuren Anwesen der Sommergäste und der reichen Ausländer.

Hier saß sie abends im Gärtchen des Vermieters, durchsuchte die Zeitungen nach einem Job, trank billigen Rotwein aus dem Super Marchè. In der Nähe gab es ein altes Theater, noch aus der Römerzeit, in dem Konzerte stattfanden, die gut besucht waren. Nebenan, die Boulangerie brühte einen schmackhaften Espresso. Es gab krosse, ganz frische Croissants mit Butter oder Hanuta. Und es war warm hier, ihre Nachbarn nett und wahrscheinlich nicht neugierig.

In Cannes zu wohnen, war eine nette Idee, jedoch hätte sie sich dort nichts leisten können. In Grasse war es zwar schöner, aber finanziell genauso wenig zu schaffen. Irgendjemand hatte ihr Frejus empfohlen. Frejus hatte sogar einen Strand, Frejus Plage, und eine Marina in der Motorschiffchen und Segelyachten an den Stegen dümpelten. Und schon dachte sie an René. Und es gab ihr einen Stich ins Herz, und der Magen drückte, und sie hatte plötzlich Schmetterlinge im Bauch. Aber sie wollte ihn doch vergessen!

Ihren Eltern hatte sie kurz mitgeteilt, wo sie jetzt lebte, dass es ihr gaaanz toll gefiele, es ihr gut gehe und so weiter. Und keine solle wissen, wo sie sei und was sie tue. Bitte!

Heute konnte sie ihnen sagen, dass sie Arbeit hatte und ein Fahrrad! Von ihrem Arbeitgeber, dem »Le Courier de Sud, Ausgabe Frejus«, war es nicht weit bis zum Strand. Sie hatte ein entzückendes kleines Restaurant entdeckt, dessen Terrasse auf der Meerseite lag. Über die Straße und die Marina hinweg sah sie das Mittelmeer. Segler und dicke Yachten glitten still über die Welle, Boote aller Arten fuhren hin und her oder lagen vertäut an den Stegen in der Nähe. Die Sonne schien auf die Menschen, die ruhig ihrer Arbeit nachgingen oder hier Urlaub machten. Weiße Wolken zogen dick und behäbig über den azurblauen Himmel. Clarisse atmete tief ein.

Sie piekte in einem Salade Niçoise herum. Der Rotwein wurde indeß warm. Doch das war ihr gleich. Sie kam langsam mit sich ins Reine. Sie hatte Arbeit, eine Wohnung, ihre Ruhe und war an einem Ort, von dem sie schon immer geträumt hatte: die Cote Azur.

Schläfrig lehnte sie im Stuhl. Ein netter Kellner trat an ihren Tisch. Ein Deutscher. »Hat es ihnen nicht geschmeckt?«, fragte er in seinem harten Akzent. Sie schrak auf. »Nein, alles okay. Lassen sie ruhig stehen.« Sie sah, wie es in ihm arbeite. Dann hatte er begriffen. Er verneigte sich höflich, fast altmodisch. »Möchten Sie noch Wasser oder Wein?«

Wein war ihr recht. Er brachte eine neue Karaffe.

Feierabendzeit. Die Restaurants füllten sich. Die Strandbesucher gingen zurück in ihre Hotels. Sie hatte die Beine ausgestreckt und beobachtete die Leute. Der Verkehr rollte hektisch, wie überall im schönen Frankreich. Man verständigte sich, in dem man notfalls mit den Händen winkte oder durch hupen. Die Gendarmen beobachteten das Gewusel. Ihre Hände lagen auf dem Rücken. Sie würden nur eingreifen, wenn es absolut nicht mehr weiterging. Doch es klappte alles und als der Verkehr nachließ und die Sonne bald hinter den Bergen verschwinden würde, verzogen sie sich auch. Madame wartete schließlich mit dem Abendbrot und einem Gläschen Wein.

Clarisse fragte sich, womit man hier die Zeitungen füllte? Ob sie es schaffte, an ihrem Buch weiter zu arbeiten? Sie war gespannt auf morgen. Waren die Perrieurs immer so nett?

 

M’sieur Perrieur gab ihr den Hörer in die Hand. »Der Präfekt«, flüsterte er.

»Ja?«, fragte sie.

»Mademoiselle Clarisse?« Eine warme Stimme. Voll und kräftig.

»Am Apparat. Monsieur …?«

»Tribaud, Gerard Tribaut. Ich bin der …« Perrieur blinzelte vielsagend mit den Augen.

»Ah ja, ich weiß. M’sieur Tribaut. Was kann ich für die tun?«

»Das ist so …«

Sie radelte eine sachte Steigung den Berg hoch. Hätte sie doch Perrieurs Angebot angenommen und deren alte Ente genommen. Jetzt quälte sie sich schwitzend die Straße aufwärts. Autos überholten sie hupend. Ja, ja, ich mach ja schon! Doch es waren Männer, die hupten. Und da wusste sie es. Sie sahen ihren Po und das verschwitzte Shirt … Männer sind eben Schweine!

Sie zeigte den Mittelfinger.

Huup!

An der rue borbonne bog sie scharf rechts ab. Es ging in das Viertel der Reichen und Schönen. In Wahrheit der nicht so ganz Schönen und Reichen, aber der Wohlhabenden. Hier war es nicht so mondän wie in Nizza, Tropez oder Cannes. Aber die Mauern um die Anwesen waren höher als weiter unten. Videokameras beobachteten die Fußwege, Straßen und ihre Anstrengungen. Sie nahmen sie beim Vorbeifahren auf. Ist das eigentlich erlaubt? Die Straße endete an einer Wendestelle. Und weiter geradezu verlief eine Privatstraße zum Anwesen der Familie Tribaut. Die doppelflügelige Tür zur Villa der Tribauts stand weit offen. Sie stieg ab, klingelte am Tor. Die Sprechanlage hatte eine Videokamera. »Kommen Sie herein, Mademoiselle«, sagte die Videoanlage mit der Stimme von Monsieur.

Ein Diener oder Angestellter oder was auch immer, nahm sie in Empfang. »Die Herrschaften befinden sich im Garten«, näselte er. »Ich darf vorgehen?« Was sonst, fragte sie sich und tappte hinterher. Ihr lief immer noch der Schweiß über die Stirn und unangenehm kribbelnd über das Rückgrat. Hier oben war es angenehm kühler. Das trocknete wenigsten die Stirn. Im Rücken ging es nicht ganz so schnell und zwischen den Brüsten schon gar nicht. Sie brauchte unbedingt eine Waschgelegenheit.

»Ah, Mademoiselle!« Tribaut.

Eine Party war im Gange. Uniformierte und Männer in legerem Zivil standen herum, schlürften Cocktails und schwatzen mit schönen Frauen in schönen Kleidern. Clarisse glaubte nicht, dass die Damen die Gattinnen der Herren waren.

»Oh«, hauchte sie. Wenn ich gewusst hätte …«

»Aber, aber«, rief Tribaut. »Kein Problem. Kommen sie.« Er nahm ihre Hand. Zog sie zu einer Gruppe von Männern, die angeregt miteinander sprachen. Gerade hatte einer einen Witz gemacht und alle lachten schallend.

»Messieurs! Mademoiselle Clarisse von der hiesigen Zeitung.« Die Männer drehten sich zu ihr. Maßen sie von oben bis unten, blieben mit ihren Blicken an ihrem Busen, wo sonst(!), hängen. Küsten ihr die Hand. Oha! Da hatten sich wohl alle Honoratioren der Stadt versammelt! Was, noch einmal, sollte sie hier? Warum ist Perrier nicht selbst …?

»Äh, ja«, sagte einer, ein Dicker mit gemütlichen Hängebacken. »Gestatten Sie?« Er nahm sie in den Arm, hielt sie fest. Dann schnippte er mit den Fingern. Ein hübscher Südfranzose kam mit einem Tablett voller Sektgläser. »Champagner?«

»Gern …« Dann flüsterte sie dem Dicken ins Ohr: „Ich müsste mal …“ Und er flüsterte zurück: „Dort, die Treppe rauf. Soll ich sie begleiten?“ Doch Clarisse lehnte höflich, aber bestimmt ab.

Wieder zurück, erfrischt und auch wieder gut riechend, stellte sich Clarisse zu dem Dicken. Sie sperrte die Ohren und Augen auf. Smalltalk überall. Höflichkeiten. Einige der Frauen lachten kreischend. Die Gruppe hatte sich um den Dicken und um sie versammelt. Man sprach von der Börse – oh je – und wahnsinnig hohen Zinserträgen, ohlala, und noch höheren Steuern, und, und. Als sie einwarf, dass am Wochenende ein Konzert im alten Theater stattfände, wurden die Augen der Männer stumpf. Ah, jahhh.

Dann sprach man über Grundstücke und die »Russen«. Ah, dachte sie, es geht los. Einer machte einen Witz über einen Geiger und einen Trompeter. Ein Russenwitz. Doch die Pointe war ihr zu schweinisch. Deutlich angewidert verzog sie das Gesicht und wollte schon gehen. Doch der Dicke hielt sie fest. Sie sah auf ihn herab, denn er war mindestens um einen halben Kopf kleiner.

»Verzeihen sie den Kerlen, Mademoiselle. Die Ärmsten müssen den ganzen Tag Unternehmer spielen. Da flippen sie abends manchmal aus. Dafür gibt’s in der Psychologie auch ein Wort.« Er lachte leise. »Wissen Sie. So etwas wie Kultur finden Sie hier in der Provinz seltenerer als in Paris.« Er drückte seinen Bauch gegen den ihren. Sicher aus Versehen entschuldigte sie den Dicken. Sie nickte höflich.

»Ich will damit sagen, dass mir Ihre Anwesenheit äußerst angenehm ist, Clarisse. Jemanden, wie Sie, aus der Hauptstadt, sieht man selten in diesen Kreisen. Was haben Sie bisher gemacht. Was triebt Sie in unsere schöne Provence?«

Sie log ihm eine harmlose Kurzgeschichte vor: dass sie schon immer an die Cote wollte und als Reporterin die Menschen im Süden studieren wolle, denn ihr schwebe ein Roman vor. Eigentlich sei sie ja eher eine Schriftstellerin.

»Sie schreiben? Wie schön! Sie müssen unbedingt meine Frau kennen lernen«, rief er. »Die wird sich freuen, sich mit Ihnen über Literatur auszutauschen …« Er stand jetzt dicht vor ihr, so dass er sie berührte. Sie hoffte nur, es wäre sein Schlüsselbund. Unauffällig trat sie einen Schritt zurück. Auch sie würde sich freuen und so weiter.

Mit Verschwörermine beugte sie sich zu dem Dicken. Ließ ihn tief in den Ausschnitt sehen. Er roch nach Eau de Parfum und Schweiß. »Über Grundstücke und die Russen müssen wir uns noch einmal dringend unterhalten. M’sieur…« Sie verabredeten sich auf die nächste Woche bei ihm. »Apropos, kennen sie die Romane der Grimaude? Meine Frau verschlingt dieses Zeu…, die Bücher nahezu. Was halten sie von dem neuen, ‚Sommertime’? Er war hier sofort ausverkauft und ich musste ein Exemplar über das internet bestellen.« Sie gab eine unbestimmte Antwort, und dass es sie freuen würde, dann, nächste Woche, seine Frau kennenzulernen. Nach und nach langweilte sie sich an der Seite des Dicken, der weiter krampfhaft ihren Arm festhielt. Sie konnte sich doch unauffällig von ihm lösen, trank noch zwei Gläser Champagner mit M’sieur Tribaut. Der stellte ihr die Gäste vor, immer verbunden mit einer witzigen Anekdote.

Am späten Abend wurde es immer schlüpfriger. Die Frauen fingen jetzt an, kreischend zu lachen und sich auszuziehen. Clarisse schlich sich unter einem Vorwand davon. Erfahren hatte sie nichts, wie sie es eigentlich auch erwartet hatte. Dazu war sie zu neu.

Müde ließ sie das Rad den Berg hinunter rollen. Sie schlief die ganze Nacht tief und fest und erwachte erst mit dem vierten TGV.

M’dam Perrieur schimpfte mit ihrem Mann, als Clarisse vom gestrigen Abend erzählte. Doch der lachte nur. »Da muss sie durch, meine Gute. Alle mussten da durch. Du auch.«

»Das ist es ja!« Sie kreuzte erregt die Arme unter ihren vollen Busen und sah ganz so aus wie eine Matrone aus dem Bild eines Impressionisten. Clarisse musste schmunzeln. Sie wusste nicht mehr, wer der Maler gewesen war. Aber dieses Bild hatte sie bei René gesehen. Wieder gab es ihr einen Stich.

»Mädchen, schreibe was über Grundstücksverkäufe und die Russen. Monsieur M. oder auch der Präfekt sing gute Quellen. Doch zuvor fahr’ nach Cannes. Das Filmfestival wird in wenigen Tagen eröffnet. Krieg mal was anders raus, als das Übliche. Irgendwas, das die anderen nicht haben. Und nimm die Ente!«

 

 

  1. An der Cote Azur

 

Renè bummelte über die Croisette. Rechts erhoben sich die vornehmsten Hotels der Cote Azur. Das »Majestique«, das »Carlton«, die Restaurants mit ihren breiten und tiefen Terrassen, die teuren Läden. Der Verkehr war hier wie jeden Tag: Alle Welt schien hier unbedingt hier lang fahren zu müssen. Links der breite Sandstrand mit den abgesperrten Bereichen der großen Hotels. Das breite Trottoir war voller Müßiggänger.

Er hatte es aufgegeben, Clarisse zu finden. Ihre Spur hatte sich hier unten im Süden verloren. Er war zutiefst enttäuscht. Zwar hatte er seine Schreibblockade überwinden können, er schrieb wieder, doch was er auch schrieb, es ging nicht so recht vorwärts. M’sieur S. schickte seine Manuskripte mit dem Vermerk zurück, er solle endlich seine persönlichen Dinge klären. Die hätten offenbar Einfluss auf seine Arbeit. Klar doch. Und schönen Dank auch für den Tipp!

Am Palais du Festival blieb er stehen. Der Strom der Bummler floss an ihm vorbei. Roller quetschen sich durch den Verkehr und rasten mit abenteuerlichen Schwüngen knapp an den wartenden Autos vorbei. Ein Pärchen blieb in seiner Nähe stehen. Eng umschlungen küsste sie sich inniglich. Etwas stach in sein Herz. Neid kam in ihm auf, als er die beiden so sah. Clarisse, poch, poch!

Wie das zusammenhängt, er wusste es nicht. Man kann sein Herz nicht überlisten. Nicht mit dem Verstand. Der winkt ab, sagt: »Lass es. Hat keinen Sinn. Fahr nach Hause.« Aber das Herz! Das Herz flüstert, «Es ist Hoffnung. So ein ganz klitzekleines bisschen. Gib nicht auf. Sie ist hier, im Süden! Such!« Poch, poch! Und wenn der Verstand meint, Überhand zu haben, meldet sich schnell das Herz, piekt und wieder ist die Hoffnung da. Clarisse! Schöne Clarisse mit den grünen Augen. Poch.

Auf dem roten Teppich vor dem Palais stand ganz alleine eine Frau. Weiße Hosen, ein knappes Top. Sie sieht zu dem imposanten Bau auf. Plötzlich breitet sie die Arme aus, als wolle sie es umarmen. Die späte Nachmittagssonne scheint durch ihr Haar. Es leuchtet rot wie Feuer.

René kann sich nicht mehr bewegen. Er will etwas rufen, doch seine Stimme versagt. Ein klägliches, »Clar…« kommt trocken aus seiner Kehle. Er starrt auf die Frau. Die Passanten sehen ihn. Ein Verrückter? Sie beschleunigen ihre Schritte, machen lieber einen großen Bogen.

Autos müssen mit quietschenden Bremsen halten, Passanten springen zur Seite. Der Verrückte hat seinen Schock überwunden. Er rennt quer über die Fahrbahnen, springt über Grünanlagen. Ein älteres Ehepaar sieht hinter ihm her. Sie kommen aus der Normandie. Er sagt: »Sieh nur, so rennt ein verliebter Gockel.« Und sie lacht, denkt an damals, drückt ihren Arm gegen den seinen. Und er sieht sie verliebt an, wie Damals, schien die Mittelmeersonne ebenso.

René hatte die Treppen erreicht, er stürmte über den roten Teppich, reißt die Schwingtür auf und steht drinnen.

Touristen! Keine Clarisse! Aber er hat sie doch gesehen! Das war sie! Die Figur, die Haare, die Haltung.

»Clarisse!!« Alle drehen sich um, starren ihn an. Er ruft nach einmal. Nichts. Mit hängendem Kopf geht er nach draußen in die spät nachmittägliche Hitze.

 

Die Rue D’Antibes glänzt mit ihren schönen Geschäften und den Straßencafés. Roller fahren hier und Autos, brav hintereinander und in eine Richtung, denn man hatte die Fahrstraße zu einer Einbahnstraße verengt, zu Gunsten der Flaneure. Er kannte sie noch von früher, schon lange her. Er war unentschlossen, ob sie ihm heute besser gefiel.

René war von Nizza nach Cannes, ins Eden Hotel, gezogen.

Als er es erreichte, war es schon dunkel. An der Rezeption drückte ihm der schwule Concierge einen Zettel in die Hand. »Ist vorhin per Fax gekommen, M’sieur«, flüsterte er mit spitzen Lippen und Verschwörermine. René griff nach dem Zettel. Ihm taten die Füße weh, er hatte Durst und er wollte seine Ruhe. Wenn ihm sein Verleger auf den Geist gehen wollte, dann … Ruckelnd hielt der Aufzug an, die Türen gingen auf. Er hatte versucht, den Zettel zu lesen. Deshalb stieß er mit einer Frau zusammen. Mit dem Arm stieß er gegen ihren Busen, der weich nachgab. Er erschrak. »Verzeihung, Madame, wie peinlich«, stotterte er. Doch die Gute nahm es nicht so übel. Sie lachte, »Für sie, Monsieur?« und stieg in den Aufzug. Zischend schlossen sich die Türen.

Vor der Zimmertür fummelte René die Karte aus der Hinterntasche. Das Schloss knackte. Ein Hotelzimmer, wie überall auf der Welt. Er hatte preiswerter gebucht. Aber die Küche war ausgezeichnet. Wellness, Swimmingpool inklusive, in der Nachtbar kostete es extra.

Der Zettel war der Ausdruck eines Fax von Clarisses Eltern. Immer wieder hatte er dort angerufen, gefragt, gebettelt. Doch sie hatten sich nicht erweichen lassen. Bis jetzt. Es stand nur ein Satz drauf: Suchen Sie in Frejus.

Sein Herz machte einen Hüpfer.

Er bestellte einen Tisch im Restaurant für sich allein (diskretes Staunen am anderen Ende der Leitung) und ließ die Zimmerrechnung für morgen fertigmachen.

Unter der Dusche pfiff er völlig falsch aber laut, »I Want To Hold Your Hand«. Nackt und noch feucht warf er sich aufs Bett, und wartete auf die achte Stunde. Abendmahl! Sekt!

 

  1. Es gibt kein Ausweichen

 

Der Artikel über die Bebauung eines Hanges sollte sachlich die Fakten wiedergeben. Clarisse redigierte und kürzte. Nahm Attribute weg, strich Wertungen heraus. Es ging darum, dass sich einige reiche Russen Grundstücke von den dortigen Bauern gekauft hatten und nun ihre Villen auf dieses Land bauen wollten. Doch die Stadtverwaltung und auch der Kreis hatten ihr Veto eingelegt. Es wurde viel zu viel Land verbaut. Das waren die Russen nicht gewöhnt. Sie drangen, sechs Mann hoch, in die Mairie ein und veranstalteten einen Tumult, der bis in die Präfektur schallte. Mit gezogenen Pistolen stürmten die Gendarmen in das Büro des Bürgermeisters, der seinerseits laut geworden war. Ein großes Gebrüll hub an und besorgte Nachbarn riefen die Polizei. Die Russen wurden verhafteten, ihre Bodyguards, die auch noch ihre Pistolen gezogen hatten, gleich mit. Peinlich! Nach einer Stunde ließ man sie frei. Die Russen, nicht die Leibwächter.

Clarisse und ihre Arbeitgeber hatten herzlich gelacht. Der Bürgermeister erzählte ihr, mit Lachtränen in den Augen, die Story. Die Russen waren an der Cote nicht sehr beliebt. Sie waren laut, soffen wie die Löcher, schleppten Nutten in die feinen Hotels und warfen mit ihrem Geld nur so um sich. So sagte man. Aber es musste ja nicht alles stimmen, obwohl immer ein Körnchen Wahrheit …

Clarisse schob, den Gedanken beiseite. Sie war fertig. Besah sich mit schräg gelegtem Kopf ihr Werk. Kann `raus, dachte sie. Per Mail ging der Text an Monsieur Perrieur, der heute in der Zentrale weilte. Seine Frau hatte frei genommen. Friseurtermin, Pediküre. Äußerst wichtig!

Heute wollte Clarisse früh Feierabend machen. Eine Gewitterfront näherte sich schnell aus dem Westen, sie kroch finster und drohend über die Berge. Riesige Wolken türmten sich am Horizont auf, und das ferne Wetterleuchten verhieß nichts Gutes. Sie wollte zu Hause sein, bevor das Unwetter losbrach. Noch war es windstill und schwül. Sie beeilte sich, radelte schwitzend die leichte Steigung zu ihrer Wohnung hinauf.

Die Wohnung bestand aus zwei kleinen Zimmern, einer winzigen Küche und einem großen Bad mit einer großen, breiten Dusche.

Sie warf ihre Sachen auf das Sofa, das sie, neben den anderen Möbeln, mitgemietet hatte. Da lag dann alles bunt übereinander auf der Rückenlehne. Langsam rutsche ihr Tanga herunter. Sie war zu faul ihn aufzufangen. Er fiel auf den Teppich, und blieb leblos als winziges Stoffhäufchen liegen. Die Dusche munterte sie wieder auf. Sie musste sich beeilen. Der Eigentümer hatte irgendeinen Trick um Wasser zu sparen eingebaut. Wenn sie zu langsam war, stand sie da, von oben bis unten in Schaum gehüllt und es floss in der nächsten halben Stunde kein Tropfen mehr.

Draußen tobte jetzt ein Sturm. Er riss an den Bäumen und Fensterläden. Irgend etwas im Garten fiel polternd um. Bestimmt ein Stuhl, vermutete sie.Die Fensterläden klapperten oder schlugen knallend gegen die Wände. Rauschend schoss ein TGV am Fenster vorbei.

Der erste Blitz und das kühler werdende Wasser trieben sie aus der Dusche. Der Donner folgte gleich unmittelbar, und ließ die Wände vibrieren. Schnell trocknete sie sich ab. Dann lief sie ins Wohnzimmer. So wie sie war, nackt, ließ sie sich aufs Sofa fallen. Ihr war heiß. So lag einfach nur da, starrte auf die Decke mit ihren Mückenleichen. Sie spürte, wie sie abkühlte und gleichsam mehr und mehr entspannte. Bis zum Abendessen ruhe ich noch ein wenig, dachte sie.

Kühl! Sie fröstelte, war wohl doch eingeschlafen. Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper. Das Gewitter hatte sich grummelnd verzogen, sie hatte es verschlafen. Draußen war es dunkel.

Clarisse ging ans Fenster. Der nächste TGV raste vorbei, die Scheiben vibrierten. Sie riss die Fensterflügel auf, öffnete die Läden. Frisch gewaschene Luft drang ins Zimmer. Sie atmete tief ein. Es roch intensiv nach feuchter Erde und Elektrizität. Unten pfiff jemand. Sie suchte nach der Pfeiffer. Ah, der! Hab’s mir doch gedacht! Nachbars Rotzlöffel. Ein fünfzehnjähriger Halbstarker, der ständig versuchte in ihr Fenster zu spannen. Ja, sie war immer noch nackt! Guck doch, Spanner! Sie drehte sich extra langsam um. Richtete umständlich ihr Haar. Dann ging sie ins Schlafzimmer, zog sich an: das Kleid, das sie sich in dem Nest an der Seine gekauft hatte. René. Schmetterlinge.

Mit leeren Augen starrte sie auf den toten Fernseher. Ihre wurden die Augen feucht. Das Herz pochte stärker. Die Hände verkrampften sich in den Stoff ihres Kleides.

Nein, ich will nicht an ihn denken! Nein, verdammt! Doch es ging nicht anders. Wie jeden Abend, wenn sie allein war. Wie ein Schmerz, der einen immer wieder befällt, wenn man allein ist und nicht abgelenkt. Den ganzen Tag tut man etwas und dann, abends oder nachts kommt der Schmerz. Wenn sie jetzt versuchen würde, zu arbeiten, kam eh’ nichts dabei heraus: weil sie die Wand anstarren würde und vielleicht Renés Rücken sah, wie er am Steuerrad stand oder neben ihr auf dem Polster seiner Yacht lag und er sie anstarrte.

Sie riss sich die Sachen vom Leib, schloss das Fenster, zog die Vorhänge zu und trabte ins Bett. Nichts mit Abendessen. Sie würde sowieso keinen Bissen herunter kriegen. Sie knipste die Nachttischlampe aus, zog die Decke bis zur Nase hoch, schniefte, rollte sich zusammen wie ein Baby und kniff die Augen ganz fest zusammen.

René.

René, du Schuft!

Tränen. Nun doch!

Schlaf, Erlösung.

 

 

  1. In den Bergen

 

Das Haus der Perrieurs lag nahe der Berge an einem sanften Hang. Pappel, Pinien, sogar Olivenbäume wuchsen verstreut auf den Feldern und wiesen oder in den Gärten der Bewohner. Wenn man die Stadt verlässt, am alten Theater vorbei, immer nach Nordwesten, hinter Frejus, dort lebte das Paar. M’dame Perrieur gab ihr noch die Schlüssel für die Ente. Im Weggehen sagte sie, »Um acht, Kindchen. Wenn Sie mit ihrer Arbeit nicht fertig werden, lassen Sie den Rest bis morgen liegen.« Kindchen! Schon wieder!

Clarisse wurde aber fertig. Sie hatte noch die letzten Fehler ausgemerzt, die die Rechtschreibprüfung ignoriert hatte. Mit einem stolzen Fingertipp auf die ENTER-Taste schloss sie den Bericht ab. So, dachte sie, noch speichern und dann ab zu den Perrieurs.

Die Einladung war überraschend, freute sie aber sehr. Und so war es nicht verwunderlich, dass sie sofort zusagte. »Morgen ist Samstag. Da werden wir faulenzen. Das ist beschlossen! Sie können bei uns übernachten, Clarisse«, schlug M’sieur Perrieur vor. Sie stimmte zu. Herrlich! Zwei Tage frei!

Die Ente stöhnte die Straße bergauf. Hinter ihr fuhr ein Holländer mit Wohnwagen und dahinter folgte eine lange Schlange Autos. Sie fragte sich, wer Schuld an der Schlange hätte. Sie oder der Holländer. Beinahe hätte sie den Abzweig verpasst.

Die Perrieurs besaßen ein Grundstück in einem neuen Quartier. Ein entzückendes Häuschen reckte sich über eine hohe Hecke. Clarisse parkte die Ente vor dem Grundstück. Umständlich quälte sie sich aus dem engen Autochen. M’dame Perrieur hatte sie kommen gehört. Vor dem Tor zum Grundstück erwartete sie Clarisse. »Schön, Clarisse. Und so pünktlich!« Clarisse wusste nicht, ob es eine Spitze war, denn immerhin hatte sie eine halbe Stunde länger gebraucht und war weit später nach den obligaten fünfzehn Minuten eingetroffen. Sie grinste also nichtssagend und ließ sich auf das Grundstück ziehen.

»Hier leben sie also. Schön.«

»Ja.« Madame Perrieur hatte die Hände vor ihren Schoß gefaltet. »Der Garten ist das Werk des Meisters. Ich bin für das Innere zuständig.« Dennoch sah sie stolz auf den Garten, der das Haus umgab. Eine Unmenge Blumen blühten gerade in allen Farben der Natur und dufteten gegeneinander um die Wette. Der Rasen war kurz geschnitten und satt grün. Um diese Zeit und in dieser Gegend eine Rarität! M’dame sah den Blick Clarisses. »Oh!«, rief sie, »Paul! Hast Du die Beregnungsanlage abgestellt?«

»Qui! Mon chère!« kam es aus einer Ecke.

Sie gingen auf eine Sitzgruppe aus Rattanmöbeln zu. Perrieur war aufgestanden. »Clarisse, wie schön, dass Sie gekommen sind. Setzen Sie sich, erholen Sie sich erst einmal.«

Clarisse tat wie geheißen. Im Sessel atmete sie erst einmal tief durch. Jetzt hatte sie mehr Zeit, sich umzusehen.

Das Haus der Perrieurs war ein Zweistöcker in der hier typischen Bauart. Neben dem Haus eine Garage. M’sieur hatte die Beleuchtung eingeschaltet. Insekten flogen gegen die Lampen und verbrannten sich knisternd die Flügel. Die armen Tiere taumelten zu Boden und verendeten.

Sie tranken Rotwein. Madame hatte den Tisch mit Tellern, Schüsseln, Schüsselchen, Bechern und Tabletts voller Speisen bedeckt, die für eine ganze Horde Teutonen ausgereicht hätte.

»Erzählen Sie von sich, Clarisse. Was haben Sie studiert. Französische Sprache, Journalismus?«

»Nein, Madame, Literatur, Schriftstellerei. Ich möchte einmal einen Roman schreiben.«

»Oh, wie schön. Einen Liebesroman? So mit Herz und Tränen?«

»Ich weiß noch nicht. Momentan eher mit Tränen.«

»E ça!, Sie?«

Ein bisschen bekam Clarisse feuchte Augen. Madame strich ihr über die Wange und sah sie an, als wäre sie ihre Mutter. »Unsere Clarisse hat Liebeskummer! Wie niedlich!«

»Nein, nein, Sie verstehen das falsch«, wollte sich Clarisse rechtfertigen. Doch die Perrieurs hatten ihre feste Meinung. »Das Kind müssen wir schonen«, flüsterte M’sieur seiner Frau verschwörerisch ins Ohr, aber so, dass Clarisse es hören musste. Sie wurde rot und nur die immer tiefere Dunkelheit verhinderte, dass sie sich deswegen schämte.

»Erzählen sie!« Madame war ganz Ohr und gespannt wie ein offener Regenschirm. Und so kam es, aus einer Anwandlung heraus, oder weil sie den Perrieurs vertraute, dass Clarisse über ihren Kummer erzählte. Und je mehr sie berichtete, desto leichter wurde es ihr und desto mehr Abstand glaubte sie zu bekommen, von diesem René.

Danach war Stille. Nur die Zikaden begannen ihren Gesang, immer lauter. Und immer mehr Zikaden setzten ein, bis sie alle im gleichen Rhythmus sangen und auf einen Schlag aufhörten. Erleichtert nippte Clarisse an ihrem Weinglas. Madame hatte feuchte Augen und der Blick von M’sieur Perrieur war ganz weich.

»Was soll man da sagen?«, rief M’dame, »Typisch Mann!«

»Na, na«, brummte Monsieur. »Alle sind nicht SO!«

»Ach kommt! Du warst ein Windhund!« Das klang eher stolz als beleidigt. »Vor Dir war doch keine sicher!«

»Und, was hat das damit zu tun? Nichts. Ich habe Dir immer alles erzählt, was auch immer es war.«

»Ha! Das glaube ich Dir erst, wenn Du es mir auf dem Sterbebett beichtest!«

Perrieur lachte. »Das kann lange dauern, meine Ärmste.« Jetzt lachten sie und Clarisse war erleichtert, weil sie einen Moment geglaubt hatte, die Perrieurs würden sich streiten.

Madame legte ihre warme, weiche Hand auf Clariss‘ Unterarm. »So ist das, Clarisse. Da hat jeder seine Geheimnisse. Und ich möchte auch nicht alles wissen, was Dieser«, sie sah streng auf ihren Gemahl, »so alles verbrochen hat.«

»Aber sollte man nicht immer offen und ehrlich zueinander sein?«

»Schon, meine Liebe. Aber es gibt Dinge, die will, oder sollte man nicht wissen. Bestimmte Geheimnisse, die man nicht oder noch nicht miteinander teilen kann, Ereignisse, wenn sie schon lange in der Vergangenheit liegen und abgeschlossen sind.«

»Wie fremdgehen?«, fragte Clarisse.

»Auch. Was ich nicht weiß …« Monsieur lächelte versonnen in sein Weinglas. »Sehen Sie sich diesen Kerl an. An was mag er sich jetzt nur erinnern?« flüsterte die Madame.

 

Am andern Morgen erwachte Clarisse nicht durch einen TGV. Ein Hahn, irgendwo in der Nähe, krähte. Das tat er nicht nur laut, sondern auch ausgiebig. Und es duftete nach frischem Kaffee!

Vorsichtig öffnete sie ihre Augen. Bitte, lass es keinen Traum sein, bat sie. Es war keiner!

Das Porträt eines alten Mannes, das gleich gegenüber ihrem Bett hing, sah sie streng an. »Jaja, ich stehe ja schon auf, Opa«, sagte sie dem Bild. Sie fröstelte, denn es war wirklich noch sehr früh. Ihr Schlafshirt, das sie mitgenommen hatte, musste sie ausziehen und auch die Höschen, die am Bauch drückten, denn sie hatte vor Hitze gebrannt und geschwitzt und konnte einfach nicht einschlafen. Wahrscheinlich der Wein, vermutete sie. Dann, gegen Morgen kamen die Träume. Irgendein Quatsch, der aber, Gott sei Dank, nichts mit René zu hatte, sondern mit M’sieur, den sie bei seiner Geliebten erwischt und dies brühwarm M’dame Perrieur erzählt hatte. Du heiliger Bimbam! Und René war überhaupt nicht darin vorgekommen. So, da hat er’s.

Nun stand sie nackt im Zimmer, und sah sich um. Das Fenster stand weit offen. Insektengitter verhinderten, dass die Mücken die Schläfen in der Nacht aussaugten. Einige besonders gierige saßen immer noch auf dem Gewebe. Das Fenster war auf der Südseite und die Sonne konnte schon jetzt ihre Strahlen schräg ins Zimmer schicken. Sie hielt einen Zeh in einen Sonnenstrahl. Warm!

Ein Stuhl, auf dem ihre Sachen lagen, stand neben dem Bett. Es war neu, wie alles im Haus (Sie hatten sich gestern, kurz vor dem Schlafengehen noch einen Rundgang durchs Haus erlaubt). Der Kleiderschrank stand bescheiden an der Wand neben der Eingangstür. Noch mehr Bilder hingen an den Wänden, alles Expressionisten. Ob er oder sie so etwas sammelten? Sie müsste Perrieur danach fragen.
Unten hörte sie M’dame in der Küche wirtschaften und Perrieur brummend etwas sagen.

Sie schlich zur Tür. Öffnete sie ein Stück und schmulte durch die Spalte. Alles frei. Schnell hüpfte sie, so wie sie war, zum Bad.

Frisch geduscht und duftend ging sie hinunter in die Küche.

»Guten Morgen, Clarisse«, sagten die Perrieurs im Chor. Clarisse dankte und setzte sich in den Korbsessel, der ihr angeboten wurde. Es knarrte anheimelnd. Frische Croissants, Baguette, Butter, Käse, Eier und Marmeladen standen auf dem Tisch. Frisch gebrühter Kaffee verströme einen betörenden Duft. Den Vormittag verbrachten sie faul in Relaxliegen. Sie tratschten über die Leute der Stadt, unterhielten sich über Kunst und Literatur, Clarisses Pläne. Tatsächlich liebten die Perrieurs Impressionisten und Expressionisten, besonders die des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Nach dem Mittag verabschiedete sich Clarisse.

 

Jetzt, auf der Rückfahrt, dachte sie über ihren Besuch nach. Diese Perrieurs! Nette Leute. Ob sie immer so sind, oder dräut ab und zu auch ein Gewitter? Bestimmt. Wer gibt dann nach? Sie, er? Beide? Auf jeden Fall gibt keiner nicht nach. Dann wären sie schon längst geschieden!

Sie musste scharf bremsen um einen Radfahrer, der plötzlich aus der Seitenstraße geschossen kam, nicht zu überfahren. Die alte Ente quietschte mit den Bremsen und kam gefährlich ins Schaukeln. Doch war zum Glück nichts geschehen, außer dass ihr der Schreck in die Glieder gefahren war. Ihr zitterten die Knie. Und sie sah, wie der Kerl den Mittelfinger hochstreckte. »Selber!«, rief sie ihm hinterher.

Wie ist das, wenn man den ganzen Tag zusammen ist? Morgens zu Hause, dann acht bis zehn Stunden in der Redaktion und abends wieder?

Der Verkehr wurde jetzt dichter. Sie musste sich konzentrieren, mit der Ente im Verkehr mitzuhalten.

Ich fahre nach Cannes, dachte sie. Ein bisschen angeben, mit meinem Straßenkreuzer. Sie lächelte jetzt. Und ich denke noch über die Perrieurs nach. Das tue ich! Wirklich!

 

 

  1. Louise

 

Sie hatte noch die Einladung des Dicken angenommen. Der Dicke hatte angerufen. »Haben sie Zeit?« »Weiß nicht, mal nachsehen.« Sie raschelte mit Papier, damit es klang, als habe sie einen Terminkalender. »Passt. Ich komme dann.« »Fein!«

Er war Bauunternehmer und nicht da. Ihm gehörte ein Werk für Fertigteilhäuser, mehrere Bauunternehmen in der Umgebung, eine Sanitärinstallationsfirma. Seine Frau, Madame Luise, eine entzückende, schöne Frau von fünfzig, war höchst erfreut, eine junge Frau aus der Stadt zu empfangen. Sie hatte elegante Hauskleidung angelegt und sah sehr sportlich aus.

»Mein Mann lässt sich entschuldigen. Ein dringender Termin.« Sooo?

»Wie sieht es in Paris aus? Ich war schon seit Jahren nicht mehr dort. Wissen Sie, Clarisse, ich verzehre mich regelrecht nach dieser Stadt«, schwätzte sie und verdrehte schwärmerisch die Augen. Sie unterhielten sich über Pariser Theater, die Galerien überall, den neuesten Klatsch und die Affären des Präsidenten mit seiner … Tststs. Auf Clarisses Frage nach Luises Figur, war die Gute ganz geschmeichelt. »Wissen Sie, ich mache viel Sport, schwimme. Esse italienisch.« Das sei schwer, vor allem hier unten im Süden, da die Gefahren der Verführungen durch die provencalische Küche gefährlich hoch seien.

»Sind Sie denn keine …«
»Ih' bewahre. Ich bin Pariserin. Was mich geritten hatte, diesen Mann zu heiraten und in die Provence zu ziehen, verstehe ich bis heute nicht.«

Clarisse war erschüttert. »Lieben Sie Ihren Mann nicht mehr?«

»Doch, liebste Clarisse, doch. Nur anders, nach fast dreißg Jahren.«

»Wie das?«

Sie Dame lachte herzlich. Doch ohne Hintergedanken? »Sie sind süß, Clarisse. Lesen Sie keine Liebesromane?«

»Doch, schon …«

»Sehen Sie, das ist so. Wie soll ich sagen.« Sie sah Clarisse schräg an. Madame Luise hatte mandelförmige Augen, die mit ihrer Kopfform und dem dunklen Teint, auf algerische Vorfahren schließen lies. Dunkel waren jetzt ihre Augen. »Mein Mann war ein schöner Kerl. Kräftig, selbstbewusst, schlank, sportlich. Ich hatte den Kampf gegen die anderen Weiber gewonnen. Fürs Erste«, sie hob theatralisch die Hände, »Honeymoon!« Sie schien in den Erinnerungen versunken. »Dann kommt der Alltag. Er ging arbeiten, in der Firma seines Vaters. Der starb an Herzinfarkt. Mathèo, mein Mann, erweiterte das Unternehmen. Er zog an die Cote, mit allem, was er hatte. Es war die Zeit des Baubooms, wie jetzt. Ich zog hinterher. Und erst war es schön, doch dann fehlte mir Paris.«

Sie wurde unzufrieden, mit allem, dachte Clarisse. Und er? Stürzte sich in die Arbeit und aufs Essen. Reden sie noch miteinander?

»Was haben Sie getan, in Paris? Was tun sie hier?«

»In Paris? Ich war in einem Architektenbüro. Da hatten wie uns auch kennen gelernt. Ich bin Architektin. Und jetzt? Hausfrau. Ich male. Wollen Sie sehen?«

»Gerne.« Sie gingen ins sogenannte Atelier, einem Flachbau mit großen Fenstern nach Norden. »Wie die alten Meister!«, rief Clarisse. Wo sind Kinder. »Haben sie keine Kinder.«

Madame überhörte die Frage. Clarisse sah sich weiter die Bilder an, während M’dame erzählte. »Dann kamen die Affairen. Man ist ja gewillt zu verzeihen. Aber muss es die Sekretärin sein?«

Wie im schlechten Roman. Oder auch im guten. Clarisse dachte an ‚Sommertime‘ von René.

Schöne Bilder. Expressiv, farbig, nicht bunt. Doch Luise war schon weiter. »Sehen Sie, das ist auch meine große Liebe. Kommen Sie.« Sie gingen in die Bibliothek. Clarisse zog die Luft durch die Zähne. Rundherum nur Bücher. Sie lief die Front der Regale ab. Klassische, moderne Literatur, alte Bücher, neue, Paperbacks, dicke Bände, kostbare Antiquitäten. Und was musste sie sehen? Madame Andrea Grimaude! Roman für Roman dicht aneinander gedrängt. »Die Nacht, der Nächte«. Das Erstlingswerk. Auflage drei Millionen! »Ich und der Zugführer von Verdun«. Eine Million! »Berta«, eine Million. »Die Glastür«. Milliarden Tränen, zu traurig. Sie lächelte, als sie daran dachte, wie schwer es ihr gefallen war, einen Verriss darüber zu schreiben. »Sieben Monate«, «Das Schloss an der Klippe«, »Claras Ängste.« Einer der Schönsten aus der Carla-Reihe, neben »Claras Hoffnung«. Fünf Romane über Clara und ihre unsterbliche Liebe. Und dann das Highlight: »Sommertime«! Und das alles geschrieben von einem Mann. Das geht doch nicht! Sie spürte, wie Tränen in die Augen traten. «Was haben Sie denn, Kindchen? Sie haben ganz nasse Augen.«

Kindchen! Sie hasste es, wenn sie jemand Kindchen nannte, obwohl das bestimmt nur gut gemeint war. »Schon gut. Nur Erinnerungen, Madame Luise.«

«Ach bitte, tun Sie mir den Gefallen und nennen Sie mich nicht Madame.«

»Gern, Luise.«

Sie saßen jetzt auf der Terrasse. Die heiße Mittagsonne hatte sich hinter den Bergen verzogen. Die Luft war immer noch warm und mild. Stille. Nur hier und da piepste ein. Eine Eidechse huschte an der Mauer entlang und verschwand in einen Spalt. Der sanfte Wind bewegte die Pappeln an der nahen Straße und strich leise über die Haut.

Luise sah jetzt zufrieden aus wie eine Katze auf dem Fensterbrett. Sie würde sich jetzt wochenlang damit schmücken können, das Neueste aus Paris erfahren zu haben. Ach, und kennen Sie Clarisse? Nicht? Die aus Paris? Sie wohnt jetzt hier. Wie, ich soll sie Ihnen vorstellen? Gerne doch, Madame …

Sie hatten noch schön geschwiegen. Ihren Wein genippt und sich angelächelt. Clarisse hatte keine Lust zu fragen und Luise? Sie sah, dass da etwas in ihrem Kopf vorging. Dass sie bereit war, eine Entscheidung zu treffen. Welche? Schade, sie würde es nie erfahren.

»Grüßen Sie ihren Mann, Luise«, sagte Clarisse zum Abschied. Nicht gut, dachte sie sofort, aber es war nun einmal passiert. Sie drückte ein Küsschen auf die erstarrte Wange ihrer Gastgeberin.

Als sie sich am Tor noch einmal umdrehte, stand Luise immer noch an der Tür und sah ihr nach. Sie hatte die Hände vor der Brust gefaltet, als würde sie beten, aber es sah eher nach Weinen aus.

Hupend kam Monsieur angerauscht. Er bremste seinen Sechhunderter Mercedes scharf ab. »Hallo, Clarisse. Wollen sie denn schon nach Hause?«

»Ja, Monsieur. Es war sehr schön mit Ihrer Frau. Entzückend. Vielleicht ein anderes Mal? Geben Sie Luise noch einen Kuss von mir.« Keine Reaktion. Doch dann rief er, »Mach ich.« Das Seitenfenster schloss sich und er rauschte in einer Staubwolke davon, zum Haus.

Clarisse zwängte sich in die Ente. Das war die andere Seite, dachte sie. Eine ganz, ganz andere. Ob er seiner Frau den Kuss gab?

 

 

 

 

 

 

 

  1. Gefunden und doch nicht

 

Und nun? René stand auf dem Platz vor der Kathedrale du Ste-Leonce. Sonntag. Die Kirchgänger kamen gerade aus der Kirche. Blinzelten in die Sonne. Er machte einen langen Hals. War sie dabei? Der Pater kam heraus. Blinzelte ebenfalls in die Sonne. René sah ihm an, dass er sich schon auf ein Gläschen Rotwein freute. »Vater?«, sprach er ihn an. Der zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Mein Sohn?«

»Verzeiht. Ich wollte Sie etwas fragen.« Er kramte sein Handy aus der Seitentasche seines Jacketts. Suchte nach dem Bild von ihr. »Hier, Vater. Habt ihr diese Frau schon einmal gesehen?«

Der schwieg, sah René streng an. Seine Rotweinnase leuchtete. »Warum, mein Sohn?« René druckste ein wenig herum. »Meine, nun sagen wir mal, Geliebte. Wir haben uns – verloren.«

Der Pater wurde misstrauisch. Er runzelte die Stirn, öffnete den Mund. Dem wollte René zuvorkommen, denn er ahnte, was der Pfaffe sagen würde. »Es ist nicht so, wie Sie denken. Ich liebe sie. Liebe sie wirklich und durch ein Missverständnis …«

»Du willst also beichten, mein Sohn«, sprach der Schwarze salbungs- und hoffnungsvoll.

»Nein, Pater, tut mir leid. Ich will sie finden.«

»Tja, mein Sohn. Ich habe sie noch nie gesehen.« Die Augen des Paters wurden kalt. Ungehalten wandte er sich ab, und ging seines Weges, dem Glas Rotwein entgegen, das ihm seine Haushälterin schon bereitgestellt hatte. Nebelkrähe, fluchte René leise hinterher.

Da war eine Bank auf dem Place Paul-Albert Fevrier. Er setzte. Sie kann ja nicht mondän wohnen, wenn sie hierher in die Provinz der Provinz gezogen ist. Vorausgesetzt, ihre Eltern haben ihn nicht in die Wüste … Nein, das glaubte er nicht.

Was würde sie hier machen? In einem der Supermärkte arbeiten? Irgendwo in einer Bar jobben? Oder bei der Presse arbeiten? Natürlich! Presse, Zeitung, irgend so was!

Er sah sich um. Suchte eine Touristeninformation. Einen Passanten, der aussah, als würde er hier leben und arbeiten fragte er danach. Der kratzte sich am Bauch, schob die Unterlippe vor. Lange dachte er nach, René wurde schon unruhig. »Nee, weiß ich nich. Vielleicht da hinden?« Nein, der war nicht von hier. Das war ein weicher Dialekt.

Handy! Holte die App auf den Schirm. Er tippte auf Suchen. Frejus. Warten. Touristeninfo. Warten. Ah dort. Nicht mal zweihundert Meter entfernt.

In dem klimatisierten Raum stand eine Frau hinter dem Tresen. Es war leer. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht. Rote Haare! Er holte Luft, da drehte sie sich um. Er bekam einen roten Kopf, so wie er da stand, mit aufgerissenem Maul. Sie war es nicht.

»Was kann ich für die tun?«

René hatte sich wieder gefangen. »Viel, Madame. Bitte helfen sie mir.« Und er schilderte ihr die Situation. Und weil er Schriftsteller war, konnte er das besonders theatralisch. Sein Gegenüber hatte schon feuchte Augen. Und Sommersprossen! Und eine lustige Nase.

Sie blätterte aufgeregt in einem Branchenbuch. Befeuchtete jedes Mal, ihren Zeigefinger. Das Papier raschelte.

»Madelaine!«, rief sie durch die Tür, die ins Office führte. »Madelaine, komm doch mal!«

Die beiden Frauen palaverten, diskutierten, hatten eine Idee, verwarfen sie wieder. Dann ein Gedankenblitz. »Gehen Sie zum Courier de Sud. Der Redakteur hatte doch einen Mitarbeiter gesucht. Vielleicht ist sie dort?«

René stöhnte innerlich. Warum dauerte es denn so lange. Das lag doch auf der Hand. Er bedankte sich trotzdem mit aller gebotenen Höflichkeit, entschuldigte sich auch bei den zehn Leuten in der Warteschlange. Er hörte noch, wie die eine, war es Madelaine(?), sagte, »Der ist aber sowas von verliebt! Bis über beide Ohren …« Und in der Schlange nickten sie verstehend und raunten miteinander und sahen hinter ihm her als hätten sie nie einen Verliebten je gesehen.

Er ging erst dreimal an dem Haus vorbei, bis er das Schild sah. »Le Courier de Sud«, »rédaction Provençale de Frejus. Msr. Perrieur, Mdm. Perrieur.«

Er erkletterte die Stiegen, klopfte an die Tür. »Entree!«

Eine ältere Dame sah ihn erwartungsvoll an. »M’dam Perrieur?«

»Oui. Eh?«

»Ich suche eine gewisse Clarisse …«

»Wer will das wissen?«, fauchte die Matrone.

»Ich, ihr Geliebter!«, rief er, wie ein Ritter - allerdings von der traurigen Gestalt.

Das Gesicht der Matrone wurde weich. »Ich habe es geahnt. Von wegen Studien. Liebeskummer!«

Rene sah konsterniert auf die Frau.

»Hallo, ich bin Frau genug, um das zu ahnen. Ich war nur gespannt, wer ihr Schmerzensbringer ist. Ha, Sie also! So sieht er aus.«

Sie sah ihn mütterlich an. »Wie heißen Sie, junger Mann?«

»René G.«

»Also, René. Ihre Freundin hat sich gestern verabschiedet. Gekündigt.« Sie schnippte mit den Fingern. »Eh voila!«

»Wo ist sie hin.«

Die Frau verschränkte ihre Arme unter dem Busen, der aufgeregt wogte. »Das hat sie uns nicht wissen lassen. Irgendwas mit Amerika.«

»Amerika?«

Sie Frau nickte. Ihr Doppelkinn wippte. Ihr Busen wippte mit.

René war noch mehr deprimiert. Amerika. Geht's denn noch?

»Vielen Dank, M’dam. Au revoir.«

Er schlich in sein Hotel. Telefonisch bestellte er zwei Flaschen Rotwein. Ja, bitte schnell. Dann hangelte er nach der Fernbedienung, suchte einen Sender mit irgendeinem sinnlosen Film. Fernandel. Die Flaschen wurden gebracht. »Brauchen sie sonst noch was, M’sieur?« Die Kellnerin war eine Hübsche. Klare blaue Augen (warum sah er immer erst in die Augen?), blond, nette Stimme. »Nein, danke. Jetzt nicht.«

»Wenn es noch etwas sein soll, rufen Sie ruhig an.« Sie verschwand nach unten.

Er konnte nicht lachen. Fernandel gab sich alle Mühe, fletsche die Zähne, grinste. Nix! Die zweite Flasche war noch halbvoll, als er einschlief. Das Licht brannte noch, der Fernseher lief. Ein Moderator langweilte sein Publikum mit einem Quiz. Einmal sah man einen Schilderträger. »Applause« stand auf seiner Tafel. Er verschwand schnell wieder vom Bild.

Mit dicker, belegter Zunge wachte er gegen Morgengrauen auf. Das Fenster war noch geschlossen, die Luft im Zimmer dick und klebrig. Er rollte vom Bett. Schlich an das Fenster, riss beinahe den Vorhang herunter und öffnete einen Fensterflügel. Frische Morgenluft drang herein. Er atmete tief ein und aus, bis ihm fast schwarz vor Augen wurde.

Die Kleidung landete auf dem Boden, blieb dort liegen, wo er auf dem Weg zur Dusche entlang gekommen war. Unter der Dusche versuchte er es mit kaltem Wasser. Buah! Nicht doch, wer tut denn sowas? Unter dem warmen Strahl aus dem verkalkten Duschkopf wurde ihm besser. Was war das denn für ein Wein gewesen. Winzige Teufel schlugen mit riesigen Hämmern feixend auf seine Schläfen ein. Poch, poch, poch. Im Bademantel ging er an den Kühlschrank. Klaubte eine Flasche Perrier heraus. Das Gesöff sprudelte in der Kehle und war kalt wie flüssiger Stickstoff. Aber der Kopfschmerz ließ nach.

Im Frühstücksraum, der gleichzeitig zu Mittag Restaurant war, kaute er lustlos an einem Croissant. Der Kaffee war alles andere als Kaffee. Heute würde er abreisen. Nach Hause. Es reichte.

Beim Bezahlen dachte er, Clarisse. Ein tiefer Seufzer erfasste ihn, die Concierge sah ihn mitfühlend an. Wer weiß, was sie dachte.

 

 

 

 

  1. Abreise

 

Das Notizbuch war voll. Gestrichen voll, sie brauchte ein Neues. Sie stand vor dem Palais du Festival auf dem roten Teppich, und kam sich vor, wie ein Filmstar. Blitzlichtgewitter, Clarisse, Clarisse, riefen die Fotografen und sie posierte in einem hautengen, weißen Kleid mit einem Ausschnitt; Ohlala!

Clarisse drehte sich um, breitete die Arme aus. Die Nachmittagssonne wärmte ihr Gesicht. Dann wandte sie sich nach rechts, wollte noch in die Altstadt von Cannes.

In einer Papeterie kaufte sie sich ein neues Notizbuch. Sie würde es heute Abend vorbereiten. Jetzt ging sie die schmale rue Georges Clemenceau aufwärts, denn sie wollte noch zum Musée de la Castre, in dem gerade alte Impressionisten ausgestellt wurden. Es war still. In der Ferne hörte sie das moderne Cannes brummen. Ein Mädchen auf einem Roller zog vorbei, dann war es wieder Ruhe. Sie hörte ihre Schritte. Bog rechts in eine Gasse, Treppen verliefen steil nach oben zum Kastell und zum Museum.

Die Ausstellung war interessant. Man hatte recht unbekannte Künstler des späten neunzehnten Jahrhunderts ausgestellt. Clarisse war über die Farben und die Pracht der Formen begeistert.

In der beginnenden Dunkelheit lief sie in die Rue D’Antibes, sah sich die Ladengeschäfte an, ignorierte tapfer die Preisschilder und erfreute sich an den schönen Dingen in den Schaufenstern und Auslagen. Das Straßenlicht ging an.

René.

Den ganzen Tag hatte sie nicht an René denken müssen. Warum jetzt auf ein Mal? Und nur, weil einer der Verkäufer eine verblüffende Ähnlichkeit mit René hatte. Es gab ihr einen Stich ins Herz. Schnell lief sie zur Tiefgarage, und holte ihre Ente aus der Kühle. Zum Ärger vieler Autofahrer bummelte sie nach Frejus. Morgen war wieder Montag und sie hatte eine Entscheidung zu treffen.

 

  1. Ein Abenteuer

 

Die Rückfahrt war chaotisch. Zu viele Unfälle hielten ihn immer wieder auf. Was war denn heute los? Hätte er bloß den Flieger genommen. Aber er war zu faul gewesen, die schwere Reisetasche über Flughafenwege, Bahnhöfe und zu Taxistationen zu tragen.

Er war runter von der Bahn und fuhr einen Schnörkel in der Route. Brauchte Zeit zum Nachdenken. In Burgh fand er ein Hotel. Er hatte genug vom Fahren. Vielleich würde es morgen besser gehen es gab solche Tage …

Das Abendessen nahm er in dem Restaurant ein, dass ihm der Concierge empfohlen hatte. Sehr gut! Musste er sich merken, wenn es ihn wieder einmal hierher spülte.

René blätterte in seinem Notizbuch. Irgendwann musste er wieder zu sich kommen. Musste in den Alltag zurückfinden. Das ist doch krank! Man Muss doch mal so ein Mädchen, wie Clarisse aus dem Kopf bekommen! Da, hier steht es. Das dritte Kapitel. Er las: »An einem Sonntagmorgen …«

 

»An einem Sonntagmorgen im April lief M’sieur Gerald am Strand von Luc-sur-Mer entlang. Es tat es regelmäßig, jeden Tag und jeden Morgen.«

Sein neuer Roman. Wieder aus der Sicht einer Frau, deren große Liebe zu diesem Mann sie fast vernichtet. Eine Tragödie.

»Gerald schwitzte heute stärker als sonst. Er fühlte sich nicht gut, trotz der klaren, frischen Luft, die ein Wind vom Kanal …«

Ein guter Anfang. René blätterte um.

»Frau, rotes Kleid, high heels, rote Haare (?)– wunderschöne Augen!!!« Wieder zurück, wieder vor. Hier fehlte was!

Rotes Kleid – Clarisse! Die Gedanken schweiften ab:

Sie saßen auf dem Washboard. Er hatte den Arm um sie gelegt. Blickte ihr lange und tief in die Augen, sie in seine. Ein leiser warmer Wind zog über das Land. Er roch nach Wasser. Ihr Körper fühlte sich kühl an. Sie zitterte leicht. »Ist Dir kalt?«, fragte er und sie schüttelte stumm den Kopf. Sie streichelte seine Wange. »Was ist das, mit uns?«, fragte sie leise. Ihr Busen wogte, streichelte seine Brust. Jetzt konnte er den Blick nicht davon lassen. »Weiß nicht. Schön?«

»Das ist mir noch nie passiert, weißt Du? Dass ein Mann mich sofort einnimmt.«

»Ein Mal passiert’ s. Das ist dann eben so.«

»Und Du?«

»Mir nicht«, versuchte er zu scherzen.

»Nein, im Ernst.«

Er überlegte. Er überlegte, ob es gut ist, zu überlegen und damit eine Pause entstehen zu lassen. Schnell musste er etwas sagen, irgendetwas, das Richtige.

»Ja. Es ist passiert. Es hat ‚KLICK’ gemacht.«

»Wie bei Magneten?« sie lächelte. »Ja, wie zwei Magneten. Zwei ganz Starke!« Er konnte endlich seinen Blick von ihrem Busen lösen.

Sie küssten sich. Lange …

René wurde ganz anders bei dem Gedanken daran. Er hatte doch schon öfter ein Mädchen geküsst. Warum erinnerte er sich an jeden Kuss von Clarisse? An jeden! Die anderen Frauen hatte er schon längst vergessen.

Er erinnerte sich genau an ihre Lippen. Feucht, weich, warm, nachgiebig. Er fühlte sie immer noch! Unwillkürlich berührte er seine Lippen. Er konnte ihren Duft riechen. Er spürte ihre Haut. Ihre zärtlichen Berührungen. Und wie sie ins Wasser fielen! Weil er sich zurücklehnen wollte. Zum Glück hatten sie nichts an! Mein Gott, hatten sie gelacht. Lange noch danach. Und, ‚danach’. Aber sie waren dadurch wieder warm geworden.

Der Kellner holte ihn in die Wirklichkeit. Ob er noch Wein wolle? Klar wollte er.

Der andere Morgen. Sie lag schon wieder an der Bordwand. Es war warm in der Kabine. Er sah ihre Haare, die über die Matratze flossen. Er roch den Duft ihrer Haut. Dann hatte sie sich umgedreht und gelächelt und ihm hatte es einen Stich ins Herz gegeben. So schön war sie! Dann kuschelten sie noch, bis es Mittag geworden war und sie den Hunger nicht mehr aushielten.

Beim ‚Henker’ gab es diesmal gefüllte Schweinsfüßchen. Köstlich! Clarisse hatte erst ‚Iii!’ gerufen, vorsichtig gekostet und dann reingehauen, dass der Wirt kam und zusehen musste. Er bekam für das Essen einen dicken Kuss von Clarisse. Dieser Kuss sei mehr Wert als jeder Stern, den er bisher erkocht hatte, meinte der Wirt. Seine Frau zog ihn aus dem Gastraum. Sicher ist sicher! Clarisse und er lachten.

Rene nippte am Weinglas.

»Ist noch frei?« Verwirrt sah er auf. Eine junge Frau um die Dreißig. Dunkel, südlicher Typ. Er erhob sich. »Bitte, ja.«

Sie setzte sich seufzend.

René schlug sein Notizheft zu. Gedankenverloren sah er auf sein Gegenüber, ohne sie wahrzunehmen.

Auf dem Markt hatte er doch den Sekretär erstanden. Lange hatten er und der Verläufer verhandelt, so gehörte es sich. Clarisse trippelte um die beiden herum und machte Fratzen. Kichernd schleppten sie das Möbel aufs Schiff. Irgendwie gelang es ihm den Sekretär sicher unterzubringen, indem er vorsichtig die Füße abmontierte. Dabei entdeckte er ein Geheimfach, in dem noch Briefe steckten. Alte, vergilbte. Er klaubte sie aus dem Fach.

Als er mit seiner Beute bei Clarisse erschien, griff sie aufgeregt danach. »Liebebriefe!«, rief sie und roch daran. »Muffig«, stellte sie fest. Sie drehte die Papiere in den Händen, versuchte sie alte, verschnörkelte Schrift zu entziffern. »Liebesbriefe, ganz klar!« legte sie fest. »Ob wir die lesen dürfen?«

»Ich habe sie mitgekauft. Sie gehören jetzt mir«, behauptete er, obwohl er sich nicht so sicher war. Sie sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an. »Wollen wir?«

Durch die Erinnerungen sah er, wie sich die Lippen seines Gegenübers bewegten.

»Sie haben etwas gesagt?«

»Ja, waren sie schön öfter hier?«

»Ich?«, fragte er blöd, »Nein, das erste Mal. Sehr guter Laden.« Der Wein, den die Frau trank, sah aus wie seiner. »Haben sie auch …?« Sie nickte. »Vom Kellner empfohlen. Schmeckt nach Süden, Provence, Camargue.«

»Ich sehe direkt die Schimmel vor mir, wie sie durch die Sümpfe stürmen …«

»Galoppieren, sagt man.«

»Sie sind Reiterin?«

»Aus der Camargue.«

Sie öffnete vorsichtig den ersten Brief. »Siebter Mai achtzehnhundertachtundneunzig«, entzifferte sie. »So alt schon!« Sie war begeistert. »Mein lieber Marc. Wie lange willst Du mich noch warten lassen? Mein Herz verzehrt sich nach Dir – Oh wie süß! – Keine Nacht kann ich schlafen. Immer drehen sich meine Gedanken um Dich. Was tust Du, wo bist Du, woran denkst Du …« »Typisch Frau«, stellte er fest und erhielt einen warnenden Blick aus dunkelgrünen Augen. »Ist doch so«, rechtfertigte er sich. »Das ist so. Als Frau will man eben wissen was … alles wissen, weißt Du?« Er hätte gewarnt sein sollen.

Sie las weiter. »Die Tage vergehen wie Jahre. Die Wochen wie Jahrzehnte! Wann bist Du wieder bei mir? Gestern war ich bei Tante Louise. Die Gute ist so nett zu mir … bla, bla. Nichts Wichtiges mehr«, meinte Clarisse enttäuscht. »Wer ist denn der Empfänger?«

»Ein Gewisser…«

 

Die Frau gegenüber hatte etwas zu ihm gesagt. Was nur? Er wollte nicht unhöflich sein. »Pardon?«

»Darf man fragen, was Sie hier in Burgh machen? Sind Sie dienstlich hier?«

»Nein, privat. Ich war auf der - Suche. Ja, auf der Suche«, wiederholte er nachdenklich noch einmal.

»Sie haben Liebeskummer!«, rief die Frau erfreut. »Stimmt’s?«

Was gibt es sich da zu freuen? Er wiegte unbestimmt mit dem Kopf.

»Entschuldigung. Das war nicht schön von mir.«

»Schon gut. Wie sollten sie wissen?«

»Ich habe gefragt. Schon unanständig!«

Die Gute ist witzig, dachte René.

»Sie müssen wissen, ich bin Schriftstellerin. Bin ständig auf der Suche nach Anregungen.« René verdrehte innerlich die Augen. Soso, Anregungen. Noch eine. »Aha«, sagte er lustlos. »Was machen Sie?«

»Was?« er hatte nicht zugehört. Sie blieb hartnäckig. »Was SIE machen. Handelsreisender? Rentier?«

»Sie werden es nicht fassen«, er sah sie jetzt genauer an, »Ich bin auch …«

»Nein!« Jetzt hatte sie große Augen. Sehr große! Und ein hübsches Gesicht und sinnliche Lippen und einen hübschen Busen und mehr sah er nicht. Da war der Tisch. Doch, die glatten weichen Hände. Lange Finger. »Was für ein Zufall!«

»Nicht war.« Er schwieg.

 

Der zweite Brief war noch viel drängender. »Mein Liebster, mein Allerliebster! Was soll ich thun? – Tun mit t-h, sieh mal an - Ich komme hier nicht weg. Alle passen auf mich auf, beobachten mich! Sie wollen nicht, dass wir zusammenkommen können. Wissen sie denn nicht, was wahre Liebe ist? Wie kann man so gemein und gefühllos sein?

Tante Louise nahm mich gestern zur Seite. Wir sind durch die Stadt spaziert. Vor die Kirche haben wir lange auf der Bank gesessen. Haben über Dich gesprochen. Sie ist die Einzige, die mich versteht … bla, bla.

- Ah hier! - Ich habe mich entschlossen! Wenn ich noch länger auf Dich warten muss, gehe ich ins Wasser oder springe von der Brücke. Oder ich mache es wie Cleopatra und lasse eine Giftschlange in meinen zarten Busen beißen!« »Oh! Ist das romantisch!«

»Was? Schrecklich! Wenn Du Dich …«

 

»Was ist schrecklich?«, fragte die Frau. Er schrak hoch.

»Ich habe nichts gesagt.«

Sie runzelte die Augenbrauen. Das sah süß aus. Es gab ihm einen Stich ins Herz. Defätistisch fragte er sich, für eine Nacht?

»Das sieht süß aus«, er zeigte auf ihre Stirn.

»Was?«

»Wenn Sie so die Augenbrauen zusammenziehen. Süß.«

Sie zog sie noch mehr zusammen. »Süß? Das sollte nicht süß aussehen, Sie Banause.«

»Wie dann?«

»Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht einmal, wie es ausgesehen hatte.«

»Süß.«

Er bestellte noch eine Karaffe von dem Roten und eine für sein Gegenüber. »Ist doch Recht, oder?«

Sie witzelten miteinander. Ob oder was und warum wer süß aussieht. Schon leicht angeheitert sagte sie plötzlich, »Du ssiehst auch süsss aus, siehst Du.« Er lachte. »Ich glaube, ich bringe Sie nach Hause.«

»Gerne.«

 

Sie gingen Arm in Arm durch Burgh. Keine große Stadt, jedenfalls was das alte Burgh betrifft. Und sie wohnte nicht weit weg. Ein paar Mal um die Ecken, in einem Haus aus der Gründerzeit. Als er sich vor der Haustür verabschieden wollte, sagte sie: »Nix da. Wir trinken noch einen Kaffee! Sonst habe ich morgen wieder Kopfweh. Und Du«, sie tippte mit ihrem Zeigefinger auf seine Brust, »auch! Also, keine Widerrede!«

Es war dann gegen zwei Uhr, als er wieder in seinem Hotelzimmer war. Ja, stellte er fest, süß. Nette Person. Er warf sich auf das Bett, löschte das Licht und dachte an – Clarisse.

 

Sie las den dritten Brief. Ihre Hände zitterten leicht. ‚Oh Gott, ist das traurig’, rief sie mit feuchten Augen. ‚Hör nur:’ »Schuft! Betrüger! Was musste ich von Dir hören? Du bist verheiratet? Mein einsames Herz ist gebrochen. Ich bin zutiefst beleidigt! Gestern kam Tante Louise – die scheint recht rührig zu sein – zu mir. Unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit offenbarte sie mir Deine Schuld, Deinen Verrat. Ich hasse Dich! Ich werde mir nicht das Leben nehmen, Du hast es nicht verdient! M.« Sie sah ihn an. ‚Mon dieu! Was hat man der Guten nur angetan? Aber wie stark! Sie wird es überwunden haben.’

Der vierte Brief trug einen Trauerrand. Vorsichtig drehte Clarisse den Umschlag um, las die Anschrift, den Absender. »Bitte nicht«, sagte sie traurig. Vorsichtig, mit zwei Fingern zog sie das Blatt aus dem Umschlag, faltete es auf. »Mein lieber Monsieur C. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass unsere geliebte Tochter, Claudette, einem tragischen Unfall zum Opfer gefallen ist. Wir wissen, dass Sie unserer Tochter ein guter Lehrer waren, - Lehrer?? - weshalb wir Sie nicht …«

Clarisse sah empört auf. »Da stimmt was nicht! Die lügen doch!«

»Stoff für nen Roman. Direkt aus der Realität entnommen! Wenn auch etwas angestaubt.«

»Du bist unromantisch, wie kannst Du jetzt an sowas denken?« Und ihr Busen bebte vor Empörung. Er fand, sie könnte noch empörter sein.

Doch er küsste sie einfach und Clarisse hatte sich beruhigt. Leider bebte ihr Busen nun nicht mehr.

 

Von Burgh nach V. kam er ungestört durch den Verkehr. Es war, als wäre gestern nicht gewesen. Zwischendurch, als er an einer Tankstelle einen dünnen Espresso schlürfte, fiel ihm ein, dass er die Frau nicht einmal nach ihren Namen gefragt hatte. Oder doch? Manuelle, Emanuelle. Quatsch, das verwechselte er. Sie waren schnell zur Sache gekommen. Und wenn er es recht überlegte, war sie es, die schnell zur Sache gekommen war. Sie hatte sich regelrecht an ihn geklammert. Wer weiß, vielleicht hatte sie auch Liebeskummer? Sie sah süß aus dabei.

 

Später sagte Clarisse, »Dann schreib doch einen Roman. Vielleicht wirst Du berühmt?« Er hatte über einen Titel nachgedacht. Komisch! In einem Nebenstübchen seines Gehirns hatte jemand gesagt; ‚Unter deinem richtigen Namen, Alter’. Und er hatte im Stillen genickt. »Siehst Du, das meinst Du auch.« Sie hatte ihn nur nicken gesehen. Schade, dass er ihr nicht die Wahrheit sagen konnte …

 

 

 

 

  1. Nach Hause

 

Der Morgen in dem winzig kleinen Hotel in Frejus, in dem sie sich für die Nacht eingemietet hatte, begann angenehm still und ruhig. Es lag in einer Nebenstraße, weit entfernt von allem Verkehr. Sie hatte tief und traumlos geschlafen. Alles war im Lot. Kein Gedanke an René mehr.

Merde, da war er wieder! Jetzt ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf. Wie eine Melodie, die man stundenlang im Kopf vor sich her sang und wiederholte.

Enttäuscht von sich selbst, schlich sie ins Bad.

Clarisse komponierte eine alberne Melodie auf den Namen. René, René. Bla, bla. Es half nichts. Immer waren diese Stiche im Herzen und das komische Bauchgefühl.

Sie putzt die Zähne, bis es blutete. René. Wusch sich gründlich. Gründlicher als sonst.

René.

Sie holte ihre letzte Wechselwäsche aus ihrem Koffer. Kritisch sah sie sich die Sachen an. Was würde René …?

Verdammt, ja, René. Geht ihn nix an!

Sie stieg in ihren Slip, zog ein dunkelbraunes Shirt mit einer albernen Ami-Werbung über den Kopf. Ein grinsender Burger. Die Jeans mit den altmodischen Löchern am Oberschenkel tauschte sie gegen leichte, weiße Leinenhosen. Barfuß stieg sie in die schwarzen high heels. Lange kämmte sie sich die Haare. Bei jedem Strich: René.

Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. In Ordnung. Für die Provinz reicht es, für Paris allemal und in V. fiel sie damit nicht auf. Hatte sie einen dickeren Hintern bekommen? Sie zog den Bauch ein. Nein, nur schlechte Körperhaltung! Aber die Hose war sehr eng. Sie hatte sie schon lange nicht mehr angezogen. Das sah man an den Liegefalten. Sie zog die Schultern nach hinten, drückte den Rücken durch. Na also!

Gestern hatte sie dem Vermieter gekündigt. Der war sauer. Sie hatte ihm versprochen, bis zum Monatsende zu zahlen. Er steckte sich eine Kippe zwischen die Lippen, brummte etwas, was sie nicht verstand. Als er abzog, winkte er resigniert mit der Hand ab. Na und? Sie kam sowieso nie wieder hierher.

Renés Verleger, Monsieur. S., hatte ihr eine Mail geschickt. »Liebe Clarisse. Ich habe von Ihrem Ärger vernommen. J.-P., sie wissen, wen ich meine -Jan-Pierre?- hatte mich vor kurzem aufgesucht. Er erzählte mir von der Auseinandersetzung mit Ferrauld. – er kommt immer gleich zur Sache - J.-P. ist ein wirklicher Freund, nur etwas ängstlich. – Nicht jeder ist Superman - Was soll‘s. Ferrauld war mir schon immer unsympathisch. Hat seine beste Frau verloren. Haha. Können Sie sehen, wie ich mir die Hände reibe? – Witzbold –Wie Sie sicher noch nicht wissen, muss ich meinen Verlag personell aufstocken. Wie wäre es? Da sind noch drei Stellen vakant, die ich Ihnen frei halte. Darf ich? Sie wissen, ich schätze sie sehr – und zahle gut? -. Kommen Sie bald, damit wir uns darüber unterhalten können. Darüber und über noch ein wenig mehr. Ich muss nicht erwähnen, dass ich mir um meine ‚Lieblingsschriftstellerin‘, einer gewissen A.G.-R., Sorgen mache – und ich? Was ist mit mir? Sie ist seit einigen Wochen spurlos verschwunden. Reden wir gar nicht von dem, was sich die ‚Dame’ zurzeit erlaubt abzuliefern! Ist das nicht merkwürdig?

Also, nicht vergessen, sich bei mir zu melden! Ich freue mich, liebe Clarisse. Ihr Ihnen immer sehr verbundener S.

P. S. Schreiben Sie mir, wann Sie kommen, doch warten Sie bitte nicht zu lange. S. – Ich liebe ihn! - «

P. S. P. S. Wissen Sie, wo der Kerl steckt? Nein, will ich auch gar nicht.

 

»Rufen Sie mir ein Taxi«, bat sie die Concierge. Von Cannes aus fuhr ein Zug direkt nach Paris. Dann war es nicht mehr weit bis nach Hause.

Der Taxifahrer schwatzte die ganze Zeit. Lang und breit erläuterte er seine Familienverhältnisse. Fluchte über die Araber (aha, ein Rassist). Ein paar Mal wäre er auf einen Vorausfahrenden aufgefahren, was er mit endlosen Tiraden gegen Touries und »Unfähige« kommentierte. Sie schwieg, hörte nicht mehr zu und dachte einmal nicht an René. Sie sah die Autobahn und die Gegend.

In Cannes musste sie noch drei Stunden verbummeln, bis ihr Zug fuhr. Sie ging in die Rue D’Antibes. Witzig dachte sie. René wohnt auch in einer Rue D’Antibes. Sie spazierte an den Schaufenstern entlang, konnte sich gerade noch beherrschen, ein Kleid zu kaufen. Ein Traum in schwarz und weiß, wie ihre gegenwärtige Stimmung. Dann musste sie sich doch noch beeilen.

Der Zug fuhr an ihrer ehemaligen Wohnung in Frejus vorbei (die sie ja noch bezahlte), bevor er sich in einem großen Bogen über Brignoles und Aix-en-Provence nach Norden wandte. Die Alpen zogen an Ihr vorbei. Ade Abenteuer Provence, dachte sie als sie an Sisteron vorbeirasten.

Sie schlief den Schlaf der Gerechten.

»Aufwachen, Demoiselle. Wir sind kurz vor Paris.« Demoiselle? Schläfrig öffnete sie die Augen. Tatsache! Sie suchte ihre Tasche, zog eine Wasserflasche hervor. Durstig trank sie warme Flüssigkeit. Der taube Geschmack im Mund ließ nach.

Um Paris regnete es. Tief hängende dunkelgraue Wolken begrüßten ihre Wiederkehr. Wenn das ein Omen ist! Ausgerechnet. Sie würde ihre Regenjacke auskramen müssen, die ganz, ganz sicher ganz, ganz unten im Koffer lag.

Die grauen Wolken waren schneller weggezogen, als sie befürchtet hatte. Das Taxi brachte sie zum Haus ihrer Eltern. Die waren ganz aus dem Häuschen. Ihre Mutter wuselte durch die Zimmer, wollte alles gleichzeitig tun. Und wischte sich immer wieder verstohlen Tränen aus den Augen. Papon saß ruhig in seinem Sessel, und lächelte sie still an.

»Groß bist Du geworden, Clarisse«, sagte er plötzlich. Sie sah ihn konsterniert an.

»Keine Angst, das ist nicht Alzheimer. Ich meine es im übertragenem Sinne.«

»??«

»Ernster, gesetzter. Du bewegst Dich anders.«

René?? Ach bitte nicht!

Sie zuckte mit den Schultern. »Die Provence. Alle großen Künstler waren in der Provence, um zu lernen. Vielleicht habe ich gelernt.«

»Sicher. Große Künstlerin. Wann kommt Dein erster Roman heraus?«

»Noch nicht. Ich brauche erst einmal Geld. M’sieur S. hat mir ein Angebot gemacht. Eine Stelle ist bei ihm frei.«

»Schön. Das hört man heutzutage selten.«

»Morgen fahre ich in den Verlag. Mich vorstellen, aushandeln, was auch immer.«

Papon nickte.

»Was hast Du gelernt, dort in der Provence?«

Sie dachte lange nach. »Es ist schön dort. Warm, die Menschen freundlich, fast immer scheint die Sonne. Aber ich gehöre hierher.«

Papon und Mamon nickten jetzt gemeinsam.

»Das ist gut«, sagte Mamon. Schweigen.

»Ich geh‘ dann mal ins Bett. Bin furchtbar müde, obwohl ich fast die ganze Fahrt verschlafen habe.«

Nicken. Wie schön. Ich liebe euch!

Sie winkte müde und verschwand nach oben, in ihr ehemaliges Mädchenzimmer. Sie blickte noch einmal aus der Tür zurück. Sah ihre Eltern, die dicht nebeneinander saßen und sich an den Händen hielten. Es wurde ihr warm ums Herz.

 

Der Verlag lag im fünfzehnten Stockwerk des einzigen Hochhauses in der parkähnlichen Gegend in V. Eines der x-beliebig austauschbaren Glas-Beton-Aluminium-Monster der siebziger und achtziger Jahre. Man findet sie in ganz Europa und dieses eine hier in V. Langweilige Klötze die sich arrogant über die Städte erheben. Seht, hier bin ich! In mir herrscht der Kapitalismus! Ist Reichtum, Geld! Das einzig Schöne dieses Hauses, ist die Aussicht bis nach Paris, dachte Clarisse, als sie im Entrée stand.

»Von hier oben kann man davon träumen, mit seinem Verlag in Paris zu sitzen. Aber denken Sie nur an die Preise! Kann sich doch keiner leisten.« S. lachte dennoch. Er lachte gern. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt, drehte den Sessel hin und her und sah versonnen aus dem Fenster.

»Ich bin ein verkappter Schriftsteller«, hatte er ihr einmal gestanden. »Nur wollte keiner meine Bücher lesen. Da bin ich auf die Idee gekommen, Bücher zu verlegen, statt zu schreiben. Haha.« Es hatte ja auch geklappt. Ein erfolgreicher Verleger.

Er schwenkte seinen Cognac im Glas, schnupperte misstrauisch daran, zog die Augenbrauen hoch und kippte sich den Inhalt in den Mund, schmeckte ihn schmatzend. Das muss ein scharfes Zeug sein, dachte sie, wenn ihm dabei Tränen in die Augen steigen. Wie gut, dass sie höflich abgelehnt hatte, zumal sie so früh am Tage alles zu sich nehmen konnte, ausgenommen Alkohol. Er hüstelte. »Hmjah. Sie sind ja nicht hier, um mich beim Cognactrinken zu beobachten.«

Er kramte auf seinem breiten Schreibtisch herum. Warum haben kleine Männer immer die größten Autos, Häuser, Frauen und Schreibtische, fragte sie sich. »Da ist es! Eine schöne Stelle als Lektorin. Suchen Sie sich das Genre aus. Wie sieht‘s aus?« S. schob ihr ein Blatt Papier über den Tisch. Sie las: Stellenbeschreibung. Er sah sie gespannt aus seinen mausgrauen Augen an. »Übrigens, sie haben wunderschöne grüne Augen, Tschuldigung, aber das musste raus.«

Ich weiß, und es gibt Spiegel, dachte sie. Und, das hatte ich doch schon ein paar Mal gehört.

René. Schmetterlinge.

»Wir haben noch nicht über die Bezahlung gesprochen, M’sieur S.«

Seine Gesichtszüge entgleisten, wurden ernst. Typisch Kaufmann, dachte sie.

»Nun«, er stützte sein Kinn in die Hände. »Ich dachte an«, er wiegte mit dem Kopf, als würde er erst jetzt entscheiden, wieviel. Seine Augenbrauen flogen wieder nach oben. »Dreitausend? Zum Einstieg? Für ein Jahr? Dann sehen wir weiter.«

Erleichtert lehnte er sich in seinem Sessel zurück, als hätte er eine schwere Entscheidung getroffen. Jetzt sah er schlau und zufrieden aus.

Soviel hatte sie gerade in zwei Monaten in der Redaktion bekommen, nicht zu reden von dem Hungerlohn in Frejus! Aber es waren wirklich nette Leute gewesen, die Perrieurs. Ehrlich, sauber, gerade zu. Provencale eben. Was zahlte S. denn eigentlich seinen alt eingesessenen Lektoren?

Nichts anmerken lassen! Sie tat, als müsse sie überlegen. Ihr Gesicht drückte aus: eine schwere Entscheidung! Erwartungsvoll zog S. die Augenbrauen noch höher. »Nun?«

»Bon! Und vierzig Tage Urlaub. Und ich arbeite überwiegend zu Hause.«

Er sprang von seinem Sessel auf, kam um das Riesending von Schreibtisch gelaufen, beide Arme vorgereckt.

»Très Bon! Alles wie Sie wollen. Aber einmal in der Woche sollten Sie schon hier sein.«

»Natürlich. Jeden Dienstag ab zehn?«

Sie war aufgestanden. Dachte immer noch über die Frage nach. Was zahlt er seinen Alteingesessenen? S. ergriff ihre Hände, schüttelte sie. Clarisse sah von oben herab auf ‚Monsieur S.’

Er ließ sie los. Ging an die Tür, einem Mahagoniungetüm. Mit aller Kraft riss er die Tür auf. »Therese, den Vertrag für Madame Clarisse!«

Clarisse saß schon wieder, hatte ihre langen Beine übereinandergelegt. Sie sah mit ihrem lässigen Shirt und den weißen Hosen nicht unbedingt wie eine Bewerberin aus. Musste sie auch nicht.

Er flitzte hinter seinen Schreibtisch, legte die Hände erwartungsvoll auf die Platte. Trommelte mit den Fingern einen Rhythmus.

René, René, trommelte es.

Mit fröhlichem Gesicht sah er Clarisse an, nickte. Der Mann freute sich!

Seine Sekretärin trippelte herein. Olala! Wo hatte S. denn die aufgegabelt. Blond (natürlich, alle Sekretärinnen müssen blond sein), lang, schlank, hübsches Näschen. Diese Sekretärin kam auf meterhohen high heeles, in einer hautengen Bluse mit tiefem Ausschnitt und einem noch hautengeneren Rock ins Büro. Die Gute konnte nur trippeln. Ihr ausladender Po wurde durch den engen Rock extra betont, der großen Busen wogte vor ihr her. Clarisse fand, dass es von S. nicht nett war, die Ärmste eine solch lange Strecke laufen zu lassen. Sie griente schadenfroh, was auch als Freude über den geschlossenen Vertrag gelten konnte. Das Mädchen vollführte eine Drehung, sah kalt auf Clarisse herunter. Gekonnt warf sie ihre blonden Haare über die Schulter, und trippelte hinternschwingend aus dem Zimmer.

S. zeigte mit dem Ende seines Kugelschreibers auf die Tür. »Nicht meine Wahl. Nicht mein Typ. Die Tochter eines Freundes. Aber egal. Manchmal ist sie ganz brauchbar.«

Er las den Text, wobei sich seine Lippen mitbewegten. »Ich trage hier noch Ihr Gehalt ein und den Urlaub«, murmelte er. »Urlaub mit ‚B‘, nicht mit ‚P‘!« Er sah auf die Tür, seufzte. Er kritzelte, dann drehte er das Werk um. »Wenn Sie bitte unterschreiben wollen?«

Sie erhob sich aus dem Sessel. Schwebte zum Schreibtisch, beugte sich vor und nahm ihm den Kugelschreiber aus der Hand. Er sah ihr in den Ausschnitt, solange sie unterschrieb. Soll er nur. Und in einem Nebengedanken ist er eigentlich verheiratet? Ich werde ihn bei Gelegenheit fragen.

»Sind Sie verheiratet, M’sieur S.«, fragte sie ihn dann doch.

 

Sie hüpfte die Stufen vor dem Hochhaus abwärts bis aufs Trottoir. Ein Mann der Straßenreinigung ging mit einem Müllsack an ihr vorbei. Er lächelte sie an, sie lächelte zurück. Ein schöner Tag! Sie drehte sich zurück, sah an dem Hochhaus hoch, suchte die Etage des Verlages.

René, dachte sie. Die Sonne verursachte einen blendenden Fleck auf der Glasfassade. Nach ein paar Schritten war sie in der U-Bahn. Sie hatte ihre Tasche auf dem Schoß, in einem Umschlag befanden  sich der USB-Stick und ein ausgedrucktes Exemplar des Romans von einem Neuling der Branche. Sie sollte den Text vor allem dramaturgisch durchsehen. »Etwas altmodisch geschrieben, das«, sagte M’sieur S.

Sie freute sich schon darauf, am Computer zu sitzen. Heute würde sie aber erst einmal mit dem Lesen des Manuskriptes beginnen.

Sie kam aus der Kühle der U-Bahn-Station auf die Straße. Wärme! Hochsommer. Ein paar Meter weiter war das Café, wo ER immer saß. Sie ging mit verhaltenen Schritten vorbei, schielte vorsichtig zur Seite. Wenn er dort saß? Was tun? Würde er sie ansprechen? Sie erwartete jeden Moment, angerufen zu werden. Drückte beim Gehen den Rücken durch. Doch nichts geschah.

Die alte Concierge freute sich, sie zu sehen. »Wieder da, Mademoiselle? Wie schön. Ihre Koffer sind schon hier.«

»Die hole ich nachher. Ist Post für mich da?«

Sie bekam einen Riesenstapel Briefe, Zeitschriften und Werbung in die Arme gedrückt. Im Fahrstuhl begann sie eine Vorauswahl. Doch dann rutsche ihr ein Umschlag aus der Hand. Sie versuchte ihn zu fangen, doch der Stapel begann zu rutschen und verteilte sich auf dem Teppich des Aufzuges. »Verdammt«, fluchte sie. Der Aufzug hielt ruckend. Sie versuchte immer noch, die verstreuten Papiere aufzusammeln. Als sie es endlich geschafft hatte, setzte sich der Aufzug in Bewegung und bummelte wieder nach unten. Sie sah ergeben zum nicht vorhandenen Himmel auf. »Mon dieu. Immer ich.«

Mit den Papieren im Arm drückte sie auf den Knopf ihrer Etage. Doch der Aufzug blieb erst einmal stehen. Wartete. Keiner kam. Wieder eines der Rotzgören aus der ersten Etage?

Die Tür ging auf. Ihr dicker Nachbar! Er riss das Gitter zur Seite. Dann zwängte er sich hinein. »Tach«, schnaufte er. Dann sah er sie erwartungsvoll an. »Schon gedrückt?«, frage er sie, indem er ihr unverwandt in den Ausschnitt guckte. Sie nickte, drückte die Brust noch weiter heraus. Dann soll er auch was davon haben! Oben zog er das Gitter auf, trat aus dem Aufzug und trampelte zu seiner Wohnungstür. Der Ärmste, dachte sie, immer allein. Jetzt muss er sich wieder den Porno auflegen, den sie anfangs, nachdem sie hier eingezogen war, immer mithören musste. Jetzt setzte sie sich Kopfhörer auf und hörte klassische Musik. Ob er jetzt einen anderen sah?

An ihre Wohnungstür klebte ein Zettel. René?

Clarisse warf den Papierstapel auf den Boden. Lange suchte sie nach ihrem Schlüssel. Natürlich ganz unten!

In ihrer Wohnung roch es muffig. Sie holte die Post herein, warf sie auf das Sofa, knallte die Tür zu und schwang sich neben den Poststapel, der wieder gefährlich wankte und dabei drohte auf den Boden zu fallen. Ihre Taschen und Koffer musste sie ja auch noch holen. Die Concierge passte darauf auf. Also hatte sie noch etwas Zeit.

 

Die Schlepperei der Taschen und Koffer hatte sie schwitzen gemacht. Clarisse saß nach dem Duschen im Bademantel in ihrem Sessel. Ihre Haare ließ sie durch die Luft trocknen. Auf dem Tisch stand ein kleiner Imbiss, ein Glas, gefüllt mit Weißwein von der Mosel und der Flasche dazu. Moselwein ist schweineteuer, aber sie hatte sich schon vor langer Zeit eine solche gegönnt. Und die wollte sie leeren, wenn es einen guten Grund dafür gab. Dass sie jetzt einen Job hatte, einen gut bezahlten dazu, war ein guter Grund.

Was sie lesen musste, war das Gegenteil. Der Autor verbreitete sich in schwülstigen Sätzen und in einer altmodischen verdrehten Sprache über das Verhältnis einer Gräfin zu einem armen, armen Stallknecht, in dem sie furchtbar verliebt war. Clarisse stöhnte bei jedem zweiten Satz. Ab dem zweiten Kapitel hatte sie Lachtränen in den Augen.

Sie legte das Machwerk zur Seite. Als sie aufstand lies sie den Bademantel von den Schultern rutschen. Sie brachte ihn ins Bad, schlüpfe dann ins Schlafzimmer, wo sie sich einen Hausanzug aus dem Schrank holte. Zuvor drehte sie sich kritisch vor dem Spiegel und war zufrieden.

 

Beim Anziehen kam ihr ein Verdacht. Irgendetwas stimmte nicht, mit dem Text. Sie hielt an, zog noch schnell die Hosen hoch und rannte barbusig ins Wohnzimmer. Der Schuft, der raffinierte Schuft, dachte sie. Monsieur S.! Sie suchte im Bücherregal. Da fand sie es! Ein schmales Büchlein mit dunkelbraunem Rücken. Ihr Exemplar war uralt. Theodore Laudair. »Die Gräfin und der Stallknecht«. Gottchen, wollte S. sie hereinlegen oder prüfen? Oder war der Autor des Textes ein raffinierter Schwindler. Sie drückte das Büchlein vor die Brust. Ging zum Sessel.

Rechts las sie aus dem Druckexemplar, links verglich sie mit dem Büchlein.

Es gab Abwandlungen. Aber Satzbau, Sprache, Aufbau der Story, alles war genauso wie im Original. Triumphierend sah sie sich um. Seht ihr? Doch die Bilder sahen gleichgültig auf sie herab.

Sie klappte das Buch zu. Legte den Ausdruck zusammen. Morgen bin ich bei S.!

Der Zettel!

Sie öffnete die Wohnungstür, klaubte ihn vom Holz. Auf dem Weg zum Sofa las sie: Warum? R.

Dann. Die Hände im Schoß, den Zettel noch zwischen den Fingern saß sie so da. Starrte geistesverloren auf die Wand. Der Wein duftete. Er wurde warm. Sie fühlte, wie ihr Busen sich hob und senkte. Die Herzstiche setzten wieder ein und die Schmetterlinge im Bauch erhoben ihre Flügel …

Warum?

René.

 

  1. Carleen

 

Das Orchester gab sich alle erdenkliche Mühe, den Weisungen des Dirigenten zu folgen. Der wedelte mit seinen Armen, drohte mit seinem Taktstock, winkte ab, streichelte. Und die Musiker gehorchten - nicht. Jedenfalls war das sein Eindruck. Man gab einen Zeitgenossen moderner Musik. René verstand nicht viel davon. Jetzt saß er ergeben in seinem Sessel, ließ das Quietschen und tuten über sich ergehen.

Er hatte das Pech gehabt, einer ehemaligen Studienfreundin nicht ausweichen zu können. Die hatte ihn sofort mit Worten belegt, in den Arm genommen, ins »Chez Charles« gezogen. Wein wurde gebracht und Muscheln und Froschschenkel, die er verabscheute. Sie textete ihn zu. Er nickte ergeben und kraftlos. Irgendwo im Hinterkopf flüsterte wer ‚Clarisse’ und er verglich sie mit der Frau gegenüber.

»Komm, sag schon. Wie lange ist es her? Zehn Jahre? Sind wir wirklich schon so alt?«

»Du siehst aber noch so aus wie damals«, sagte Renè lustlos, nur um höflich zu sein.

»Schmeichler.« Sie strich mit beiden Händen ihre langen, dunklen Haare von der Schulter. Das betonte ihren Busen. Sie blieb so sitzen. Betrachte ihn genauer. Ihre Augen flitzten hin und her.

»Was machst du so?« Irgendetwas musste er ja fragen oder sagen.

»Bin jetzt auch bei der Bank, wie Papa. Oben im Vorstand.« Oben im Vorstand. Leicht, wenn der Vater schon im Vorstand sitzt. »Fein, dann hast Du ja ausgesorgt.« Sie lachte. »Hast Du ’ne Ahnung. Die Bilanzen … Ach was solls.« Sie winkte ab, schlürfte aus dem Weinglas. Bah, schlürfen!

»Und Du, bist Du verheiratet? Hast Du Kinder? Ich habe zwei. Junge und Mädel im frühpubertären Alter. Mein Gott, was die für Probleme haben! Zum Glück gibt es Gouvernanten.« Sie holte kurz Luft. »Mein Mann ist im Verteidigungsministerium. Hohes Tier. Aber wir sehen uns nicht oft. Wie wir das mit den Kindern gemacht haben? Keine Ahnung. Vielleicht Luftbestäubung …« Sie lachte herzlich, sah ihn aber unverwandt an.

Was soll das? Was willst Du? Etwa? Ohne mich. Clarisse … Poch, poch.

Er schluckte Speichel herunter. »Ich schreibe …«

»Was, Du bist Schriftsteller? Du hattest schon immer so ne Ader, wie, wie ... Na eben so.« Kurz Luft holen. »Wie heißen Deine Romane? Modernes Zeug oder Liebeskram? Wie kommt es, dass ich noch nie was vor Dir gelesen habe??«

Er wiegte unbestimmt den Kopf.

»Ah! Du schreibst unter Pseudonym!« Schlaues Mädel. »Wie heißt Du?«

»René…«

«Quatsch, Dein Pseudo. Alberner Kerl. So warst Du immer.«

»Darf ich nicht sagen. Heilige Eide!«

»Schön. Sie schmollte. Nicht ernsthaft aber schwieg. Schön.

Er nippte an seinem Glas. Nun ja. Schlecht sieht sie nicht aus. Sehr gepflegt, sehr businesshaft, aber dennoch fraulich. Französin eben. Und auch ihre Figur, ohlala! Ist ihm bisher nicht aufgefallen. Wo siehst du den hin, Alter? Aber schwatzhaft. War früher schon so, ist sie immer noch! Sie schnattert schon wieder. Er sah, dass sich ihre Lippen bewegten, nickte zustimmend, wozu, wofür, wogegen, hatte er keine Ahnung.

Clarisse?

»Schön, dann sehen wir uns heute Abend. Ich hole Dich um acht ab. Und zieh Dir was Ordentliches an. Wie Du aussiehst.« Sie rümpfte ihr Näschen. Worum geht es? Um nicht in Verlegenheit zu geraten, fragte er »Smoking?«

Ihr Blick war konsterniert. »Nee, für das Konzert reicht nen Anzug. Also, ich muss los. Geld wartet nicht, Alter.« Sie schwebte kopfschüttelnd davon. Die Rechnung bezahlte er.

 

Zur Strafe für seine Unaufmerksamkeit saß er in der dritten Reihe des Konzerthauses und hatte Schmerzen in den Ohren.

Pause, endlich! Carleen zog ihm am Ärmel zum Buffet.

»Na, was sagst Du?« Sie wedelte gefährlich mit ihrem Sektglas.

Er tat schwerhörig. »Hä?«

»Banause.«

»Entschuldige.« Aber sie schnatterte schon wieder. Sie kannte den Dirigenten, den Kapellmeister, den Solisten …

»Und, hast Du schon mit ihnen geschlafen?«

»Mit dem Dirigenten«, gab sie zu. »Aber der ist einfach schon zu alt. Naja, der Kapellmeister …« Sie lachte herzlich, gab ihm eine zarte Schelle. »Du böser, böser René. Eine arme Frau so auszufragen!« Sie drückte ihren Oberkörper gegen seinen Arm. Er musste grinsen. »War nur ein Scherz, Carleen.«

»Weiß ich doch. Aber es stimmt. Du warst schon immer so.« Und schon war sie mit den Gedanken woanders. »Wo gehen wir danach hin?« Wie schaffte sie es, die alten Männer da ‚oben’, im Vorstand, nicht zu nerven? Hatte sie ein eigenes Büro? Und wenn ja, im Keller?

»Weiß nicht?«

Sie entschied: »Zu Dir! Ich will wissen, wie Du wohnst.«

»Oooch, nur ne Mansardenwohnung. Ganz klein, mit dem Klo auf der halben Treppe.«

»Iii! Das muss ich sehen!«

Pech. Aber es wäre sowieso egal gewesen, was er vorgeschlagen hätte. Sie hatte sich schon längst entschieden.

Es klingelte zum dritten Mal. Sie zog ihn in den Saal. Drückte ihn mit beiden Händen in den Sessel. »So, schön hier sitzen bleiben und nicht schwatzen. Schön zuhören, mein Kleiner.« Sie drohte spaßhaft mit dem Zeigefinger. Hübsch. Schon wieder war ihr Vorbau dicht vor seinem Gesicht. Er roch ihr Parfüm und etwas Schweiß, sah die süße Falte zwischen ihren Brüsten.

Der Taxifahrer sah ständig in den Innenspiegel und griente über das ganze Gesicht. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und schwatzte, gab ihm Küsschen auf die Wange und schwatzte. Nebenbei lernte Renè einiges über moderne Musik, dass er sich unbedingt merken wollte. Ja, davon schien sie etwas zu verstehen! Und bestimmt auch von Geld. Ob er bei ihrer Bank sein Geld anlegen sollte? Sie war damals schon sehr musikalisch und hatte eine schöne, klare Singstimme. Stoff für einen Roman. Mit einem Zwinkern verabschiedete sich der Taxifahrer von ihm. »Bon Chance!« Quietschend rauschte er um die Ecke.

René atmete tief durch. Der Fahrstuhl brachte sie nach oben. Da sie nicht angehalten werden konnten, wenn er bis in seine Wohnung fuhr, nutze Carleen die Situation aus. Sie fuhr mit kühlen Händen unter sein Jackett, und streichelte seine Brust.

»Oh, oh«, sagte sie und drückte ihren Unterkörper gegen seinen.

Als sich die Aufzugtür öffnete, flüsterte sie dicht an seinem Ohr »Schade, schon oben!« Er nickte, schob sie aus der Kabine. Sie rauschte aufgeregt durch seine Wohnung. »Ein Träumchen! Von wegen Mansarde!« Sie schlug sie Hände zusammen. Riss die Tür zum Schlafzimmer auf. »Oh, wie bequem«, war schon im Bad. »Komme gleich!«, rief sie dem Bad zu. Sie sauste durch die Küche, klapperte mit Messern und Töpfen, riss die Kühlschranktür auf. »Sekt! Kochst Du hier?« Dann stürmte Carleen nach oben. »Wo ist denn Dein Klo? Und wo die halbe Treppe?« Weg war sie. Im Arbeitszimmer sah sie sich nur kurz um, entdeckte die Terrasse.

»Komm«, rief sie von draußen. »Was für eine Aussicht!« Das hatte er schon einmal gehört.

Poch, poch, Clarisse.

Inzwischen hatte er es geschafft, sein Jackett auszuziehen, eine Flasche Sekt zu öffnen, sich zwei Gläser zu schnappen. Nun stand er im Türrahmen zu Terrasse. Und schluckte. Da stand Carleen. Nackt, wie sie der liebe Gott erschaffen hatte. Ihre Sachen lagen verstreut am Boden. Er hob den Arm mit den Gläsern. »Kannst Du mal …?«

»Nein.«

Sie zog ihn zur Liege.

Unten klingelte das Telefon.

 

 

  1. M’dame S.

 

M’sieur S. gab eine Party. Das tat er immer, wenn einer seiner Romane ein großer Erfolg geworden war. Clarisse war natürlich eingeladen.

Sie fuhr mit dem Taxi vor. Als der Fahrer vor der Einfahrt halten wollte, sagte sie ihm, er solle bis vor die Eingangstür fahren. Der zuckte die Schultern und fuhr los. Clarisse stieg aus, ganz die Dame! S. kam aus dem Haus gestürmt. War er immer so?

»Clarisse! Schön, dass sie gekommen sind. Wir sind schon mittendrin!« War das ein Vorwurf? Wo ist seine Frau.

Er stellte sie allen möglichen Leuten vor. Welche aus dem Verlag, dem Prokuristen, Lektoren. Nachbarn, Geschäftsleute, Druckereichefs. Aha und auch der Präfekt war zugegen und noch ein paar Uniformierte. Als sie durch war, hatte sie schon wieder die Namen vergessen. Nicht schlimm, denn die, die wichtig waren, würde sie sich schon im Laufe des Abends merken. Therese, die Sekretärin war zugegen und noch die Gattinnen einiger wichtiger Gäste. Sie schnappte sich ein Sektglas von einem Tablett, dass ihr ein süßer Junge im Frack hinhielt. Student im Nebenjob. Kannte sie, hatte sie auch gemacht. Die geilen Blicke der Männer und ihre Anzüglichkeiten, wenn sie mit einem Tablett durch die Reihen geschoben ist.

S. hakte sie unter. Er flüsterte ihr ins Ohr, »Sie sind mein Lieblingsgast, Clarisse. Glauben Sie mir.« Es kitzelte und sie musste den Kopf schief legen. »Ich sollte es nicht tun.« Er zog sie zu einer Gruppe Männer, die angeregt in ein Gespräch vertieft waren. Als sie vor der Gruppe standen, drehten sich alle wie auf ein Zeichen hin, ihnen zu. »Das ist M’sieur M.« Der Mann war zwei Meter groß. Unter seinem blanken Schädel lächelte ein fröhliches Kindergesicht. Sein Revers hatte Flecken, der Schlips saß schief. »Mein ärgster Konkurrent und irgendwie doch ein Freund.« M. reichte Clarisse die Hand. Sie versank darin. Er hob ihre Hand an seine Lippen. Wie schön altmodisch, dachte Clarisse. Doch es freute sie. »Meine Empfehlung für die Zukunft, lieber M. Clarisse! Nicht nur bezaubernd, sondern klug. Ich glaube sie weiß mehr, als sie zeigt. Aus ihr wird einmal eine große Schriftstellerin.« Sie war beschämt. War das alles echt?

»Eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Clarisse.« M. verbeugte sich. »Wenn Sie es einmal nicht mehr mit dem Kerl aushalten, und das wird bald sein«, alle lachten, »kommen Sie zu mir. Unbedingt!« Sie versprach, daran zu denken. Was doch Beziehungen ausmachen. Noch vor Kurzem war sie eine Redakteurin in einer Provinzzeitung. Und nun wurde sie herumgereicht, als wäre sie ein Star. Therese kam angeschwebt. Das kann ja heiter werden. Da war noch ein Monsieur Leblanc, Chef der Druckerei Leblanc & Leblanc. Völlig farb- und humorlos. Wer weiß, wie seine Bilanzen aussehen, dachte sie. Ein Uniformierter, der sich als Major Mueller vorstellte, einer der Lektoren, M’sieur Trueville. Nett, höflich. Er sah ihr nachdenklich in die Augen, wie: Na? Wie werden wir zusammenarbeiten? Gut, denke ich. »Sehen wir uns bald«, fragte er stattdessen. »Ja, nächsten Dienstag.«

Therese war heute nicht so geschminkt, wie sonst im Büro. Heute Abend ein nettes Mädchen, das jeder gern sah. Das war sie heute. Hatte sie sich einen Stilberater genommen? »Clarisse«, rief sie schon von Weitem.

»Sie sehen heute wunderschön aus«, entfuhr es Clarisse. »Oh, danke, wie lieb. Ich dachte, sie können mich nicht leiden.«

»Warum das. Ich kenne Sie ja noch nicht einmal?« Therese strich sich ständig ihr Kleid glatt, das über ihre Hüften hochrutschte. Sie hätte auf Stretch verzichten sollen, dachte Clarisse, die in ihrem luftigen Sommerkleid nicht solche Probleme hatte. Thereses Figur war aber doch zu schön, um sie nicht zu betonen. Therese gab ihr zwei Küsschen auf die Wangen. »Danke.« Ihre Hand berührte Clarisse leicht an der Schulter und sie spürte einen angenehmen Schauder. Nicht doch, rief sie sich zurecht.

»Ich möchte auch Schriftstellerin werden. Wie macht man das?« Du heilige Einfalt! Clarisse lehnte sich gegen eine niedrige Mauer. Kommen Sie her, Therese.« Sie zeigte neben sich. »Studieren, lernen, lesen, lesen und nochmals lesen.«

»Ich dachte, dass man was erlebt haben muss, bevor man darüber schreiben kann?« Clarisse sah Theres von der Seite an. Was war an dem Mädchen, das es sie … anmachte?

»Süße Therese«, sprach Clarisse mütterlich, »zwei Dinge muss man haben: Phantasie und Wissen. Man muss das lernen oder man kann es haben. Was haben Sie gelernt? Haben Sie schon einmal geschrieben?«

Therese schwieg mit gesenktem Kopf. Clarisse spürte, dass Sie einen wunden Punkt getroffen hatte. »Nicht viel?«, fragte sie leise, fast verschworen.

Therese nickte. »Zehnte Klasse. Dann bin ich ’raus. Wollte was erleben.«

»Und?«

»Papa hat mich zurückgeholt. War nicht leicht für ihn und für mich. Er hat mich zu M’sieur S. geschickt.«

Jetzt verstand Clarisse Thereses »Kriegsbemahlung«. Keiner hatte ihr je gesagt, dass sie wie eine Nutte ausgesehen hat.

»Therese?«

»Ja?«

»Machen Sie ihren Job gut. M’sieur S. ist eine Perle. Gehen sie abends zu Schule. Machen Sie ihr Abitur …«

»Ich habe mich schon angemeldet. S. hatte gesagt, ich solle Sie fragen, ob sie mir helfen wollen …«

»Gerne.«

»Ich hatte da mal was versucht.«

»Bring es Dienstag mit, ja? Ach, und, Therese, wir müssen noch über etwas Anderes reden …«

 

Irgendwie war sie gut drauf. Der Abend verging mir Lachen und Scherzen. Sie merkte sich viele Namen und die Gesichter dazu. Dann war sie mit S. und Therese allein.

»Alle gegangen«, rief S. Er sah auf die Uhr. »Gerade mal eins. Noch ein Glas Wein?«

»Ich habe Ihre Frau nicht gesehen, M’sieur S.«

S. wurde ernst. »Sie ist nicht da. Sie wird auch nicht hierher zurückkommen.« Oh jeh, dachte Clarisse. Jetzt kommt’s. Der verlassene Ehemann, der nicht verstanden wird …

»Sie liegt seit Monaten auf der Intensivstation. Krebs im letzten Stadium.«
»Oh, verzeihen Sie. Ich wusste ja nicht …« S. hatte jetzt feuchte Augen. Sie nahm S. in die Arme. »Tut mit so leid.«

Therese war dazu getreten.

»Schon gut. Mein Frauchen würde jetzt schimpfen.«

»??«

»Nun, sie würde sagen: Was denn Pierre, du bist mit den schönsten Mädchen der Stadt zusammen, und amüsierst Dich nicht?« Er lachte wieder sein fröhliches Lachen. Nur die Augen sagten etwas anderes. »Morgen bin ich wieder bei ihr. Wenn Sie munter ist, muss ich ihr immer alles erzählen. Alles, verstehn Sie?«

»Schön. Eine tapfere Frau. Und sie?«

»Oh ja! Sehr tapfer! Sie freut sich mit mir. Sie will, dass ich lebe.« Und jetzt brach es aus ihm heraus. »Sie weiß nichts.« Er klopfte sich auf die Brust. »Hier ist alles zerstört. Es schmerzt, es pocht. Nicht im medizinischen Sinne. Nein, ich bin kerngesund!«

Er lehnte seinen Kopf auf Clariss’ Schulter. Dann fasste er sich. »Verzeihen Sie.«

 

Der Taxifahrer schwatzte. Nicht lange, dann schwieg er betroffen, als er im Innenspiegel Clarisses Gesicht sah. Sie war mit S. im Krankenhaus gewesen, hatten seine Frau besucht. Clarisse hatte darauf bestanden. Nicht weil sie neugierig war. Sie wollte sich damit auch ein wenig bei S. bedanken. Sie wusste nicht, dass sie etwas lernen würde, von dem sie überhaupt keine Vorstellung gehabt hatte.

Sie standen am Bett. Clarisse hörte die Maschinen ticken und leise piepen. Eine Pumpe arbeitete. Schläuche zogen sich zum Bett, in dem eine Frau lag. S. stand neben ihr, wartete geduldig. Es roch nach Krankheit und Desinfektionsmitteln. Das Deckbett war bis zum Kinn hochgezogen. Ein Gesicht, blass, nahezu weiß, spitze Nase, hager, trockene Haut, lange, schneeweiße Haare. S. schlich auf Zehenspitzen an das Bett. »Süße? Bist Du munter?« Clarisse konnte sich kaum der Tränen enthalten. »Ich habe jemanden mitgebracht.« Unendlich langsam drehte die Frau den Kopf. Ihr ehemals schönes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Lieber«, flüsterte sie, »dass Du da bist. Du hast doch so viel Arbeit. Wer ist das?«

»Clarisse, meine neue Lektorin. Sie wollte Dich auch besuchen.«

»Clarisse.« Eine weiße Hand kam unter der Decke hervor. Clarisse nahm sie vorsichtig in die Hand. Papierne Haut. Aus einer Anwandlung heraus gab sie dieser Hand einen Kuss, und dachte dabei an ihre Eltern. »Behandle sie gut, Pierre. Sie ist eine schöne Frau«, flüsterte M’dame.

»Und leider schon vergeben, meine Liebe.« Er zuckte komisch mit den Schultern. Dann begann er, über den gestrigen Abend in allen Einzelheiten zu berichten. Seine Frau lag mit glücklichen, entspannten Gesichtszügen, durch die ab und zu ein schmerzhaftes Zucken ging, im weichen Kopfkissen. Eine Schwester schlich still herein, kontrollierte die Instrumente, nickte und verschwand geräuschlos. Clarisse hatte bis jetzt nicht ihre Hand losgelassen. Sie spürte einen sanften Druck. Und ihr liefen die Tränen über das Gesicht. Sie verschmierten die Schminke, rollten nass und salzig über die Wangen, tropften auf ihre Brust und hinterließen dort dunkle Flecken. Aber es war ihr egal.

Dann war mit einem Mal Stille. Sie stutzte. Warum war es so ruhig? Menschen waren im Raum. Weiße Kittel huschten hin und her. Sie spürte S. Hand, der sie vom Stuhl hochzog, wie er sie aus dem Zimmer schob. Er flüsterte, »Sie hat es überstanden. Danke, Clarisse. Das werde ich Ihnen nie vergessen. Sie hat gelächelt.«

Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie geheult wie ein Schlosshund. Irgendjemand in einem weißen Kittel hatte sie in den Arm genommen, ihren Kopf gestreichelt, als wäre sie ein Kind. »Eine Verwandte?«

Sie hatte einen Moment gezögert und dann genickt. »Mein Beileid.« Dann war der Kittel verschwunden. S. kam aus dem Zimmer. Er lächelte, wie immer. Und war auch erleichtert.

 

Erst im Taxi war sie wieder zu sich gekommen. Sie versuchte, das Erlebte einzuordnen. Es ging nicht. Die Gedanken kreisten, keine Ordnung. Zu Hause trank sie einen starken Kaffee mit viel Milch. Bitter und mild. So war ihr auch!

Sie setzte sich vor ihren Computer, begann zu schreiben. Der erste Satz. »Es war noch nicht zu Ende …« Es sollte ihr erster großer Roman werden.

Erst spät in der Nacht kroch sie müde, aber zufrieden ins Bett: René, dachte sie und die Schmetterlinge im Bauch flogen unruhig hin und her, bis sie eingeschlafen war.

 

 

 

  1. Ein Freund

 

Clarisse ließ es klingeln. Dann meldete sich die Mailbox. »Hallo hier ist die Mailbox von Re…« sie legte auf. Ist wohl unterwegs, dachte sie.

Schmetterlinge.

Dienstag. Morgens war sie bei S. ins Büro gestürmt. »Wissen Sie, was das ist?« Er sah sie erstaunt an. »Clarisse?« Sie zeigte auf den Papierstapel des ‚Romans’. »Ein Plagiat. Ein ganz dummes Plagiat dazu!« Klatschend flogen das Büchlein des Herrn Laudair auf den Stapel, dem folgte der USB-Stick. »Hier das Original, M’sieur.«

»Ist es wahr?« S. war wahrhaftig empört. Er blätterte mit dem Daumen durch die Blätter. Las im Buch, las im Manuskript. »So ein, so ein …« Er sprang auf, rannte um den Tisch herum, riss Clarisse mit beiden Händen den Kopf herunter und gab ihr einen satten Schmatz auf die Lippen. Verstohlen wischte sie mit dem Handrücken über ihre Lippen.

»Komm!« Er schob sie zur Sitzecke. »Setz Dich.«

S. setzte sich Clarisse gegenüber.

»Therese!!« Clarisse zuckte zusammen.

Therese stöckelte ins Büro. »M’sieur?«

Oh mein Gott. Jetzt hatte sie auch noch ihr Gesicht bemalt! Mit dicken schwarzen Strichen um die Augen! Sie benötigt unbedingt Hilfe!

Sie nickte Therese freundlich zu. »Cognac!« Er streichelte Clarisse väterlich den Oberschenkel. Sie lies es zu, obwohl eine Gänsehaut über ihren Rücken strich. »Und keine Widerrede. Diesmal musst Du mit.« Plötzlich duzte er sie.

»M’sieur S. ich …«

»Papperlapapp! Ich heiße Pierre!« Bitte nicht wieder so einen nassen Kuss!

Es kam nicht dazu. Therese hatte es geschafft, zwei wohlgefüllte Cognacgläser auf den Tisch zu stel. Das Top bot Durchblick bis zum Bauchnabel. Was sie offensichtlich genoss, denn sie brauchte lange, sich von S. zu lösen und wieder aufzurichten. Auch Clarisse hatte genug gesehen. Ein schöner Busen, dachte sie. Neidisch?

»A Santè!«, rief S. Sie tranken, Therese stöckelt in ihr Büro. Clarisse sah ihr verstohlen hinterher. Was für ein schöner runder Hintern! Ist doch so, oder?

Sie machten noch etwas Smaltalk. Dann schickte S. Clarisse nach Hause. Sie würde heute noch eine neue Arbeit per Mail bekommen. »Bis Dienstag!«

»Bis Dienstag.«

»Und danke, dass Sie mitgekommen waren …« Sie würde zur Beerdigung gehen.

Therese drückte ihr noch einen Hefter in die Hand. »Ah, ja! Ich lese es mir gleich durch.« Sie wedelte mit dem Hefter, »Ich rufe Dich an, dann werden wir uns irgendwo treffen!« Sie beugte sich zu Therese. »Und bitte, nimm die Hände von Tuschkasten«, flüsterte sie. Sie roch Thereses Parfüm und den Duft ihrer Haare.

 

Zu Hause wurde sie erwartet. Die Concierge blinzelte mit einem Auge. »Da wartet ein schöner, junger Mann auf sie.« Sofort schlug ihr Herz bis zum Hals.

René!

Jean-Pierre.

Sie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Er umarmte sie, gab ihr das obligate Redaktions-Guten-Morgen-und-Tschüss Küsschen.

Sie schnupperte. Er hatte ein süßes Parfüm mit der Tendenz zu einem etwas herben Duft im Hintergrund, aufgelegt. »Komm«, sagte sie schlicht. Sie fuhren mit dem Aufzug. »Poah, der hat Geduld«, rief Jean-Pierre. »Wie hältst Du das aus?«

»Morgens geht’s zur Arbeit, abends in den Feierabend. Ich bin ja schließlich nicht auf der Flucht.«

»Stimmt«, gab er zu. Höflich riss er das Gitter auf. »Madame?«

Sie schloss auf. Durch den Spion lugte ihr Nachbar. »Los, ’rein mit Dir.« Sie klopfte ihm gegen den Po. Ooops. Er hüpfte über die Schwelle.

»Wollte nur sehen, wie es Dir geht. Du warst lange verschwunden.« Will er sich jetzt ein Lob abholen oder ist das ehrlich Sorge? Sie saßen sich auf dem Sofa gegenüber.

Sie zählte auf: »Ich war in der Provinz. Nizza, Cannes, Frejus. In Frejus…«

Sie berichtete in Kurzform. Auch von der Redaktion und den Perrieurs und von der schönen Gegend.

»Und was machst du jetzt wieder in V. ?«

»Ich habe Arbeit, wenn Du das meinst. Dank Deiner Intervention. Danke nochmal.«

»Quatsch, dafür braucht es keinen Dank. Das war selbstverständlich, nachdem ich so feige …«

»Lass mal. Ich verstehe das jetzt. Zu Anfang war ich noch sauer. Aber da hängt ja auch Dein Job dran.«

»Danke Dir«, sagte er.

Schweigen.

»Bist Du bei S. gewesen?«

Sie nickte.

»Passabler Mann. Sehr ordentlich.«

»Bin jetzt Lektorin bei ihm.«

»Nein! Ja? Fein.« Sein Blick wurde stumpf. »Ich schreibe immer noch über Lokales …«

Sie schwiegen.

»Hör mal. Trinken wir ein Gläschen?« Sie holte eine Flasche Sekt, die Letzte stellte sie fest, drückte sie ihm in die Hand. »Da, mach mal auf.«

Während er an den Drähten hantierte und mit einem Knall den Korken aus der Flasche schießen ließ, holte sie Gläser.

Sie prosteten sich zu.

»Sag mal, was sind das für Geräusche!«

»Von neben an?«

»Ja.«

»Mein Nachbar guckt wohl wieder einen Porno …«

»Ach ja?«, fragte er. »Wie hältst Du das aus?«

»Kopfhörer.«

Jean-Pierre schien sich ein Herz zu fassen. Er nahm ihre Hand und küsste ihre Finger. Es durchfuhr sie wie ein Blitz. Doch, ja, Jean-Pierre war schon ein attraktiver Bursche. Sie schürzte sie Lippen. Zwei Jahre jünger als sie. Ein hübscher Südländertyp, der in Paris aufgewachsen war. Ein echter Pariser. Sie zog seine Hand an sich, führte sie an ihren Busen. Er wurde rot. Dann nahm er sie in seine Arme. Seine Lippen suchten ihre und sie ließ es geschehen. Seine Hände fuhren unter ihr Top, und sie ließ es geschehen …

Clarisse wurde ganz weich und sie ließ noch mehr geschehen …

 

Danach war sie wieder bei sich. Sie hatte nicht an Therese gedacht: ‚René’, pochte es in den Schläfen.

Sie hatte Jan-Pierres Kopf gestreichelt und ihm dann unmissverständlich klar gemacht, dass sie das beide gebraucht hatten, mehr nicht. Er hatte genickt, einen Finger auf die Lippen gelegt, mit dem Auge verschwörerisch gezwinkert. »Geht klar«, sagte er rau. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, streichelte ihr die Wange. Sie hielt noch einen Moment seine Hand fest. Dann zog er sie weg, drehte sich um und ging. Armer Jan-Pierre.

Luise hatte angerufen. Clarisse war baff. »Clarisse?«

»Ja?«

»Ich habe mich entschieden.«
»Wozu, Luise?«

»Ich gehe wieder arbeiten. Als Architektin.«

»Schön. Gratulation. Und was sagt Ihr Mann?«

»Wohnt jetzt woanders, wissen Sie …«

 

Clarisse stand im Bad. Vor dem Spiegel bleckte sie die Zunge heraus. Nein, alles gesund. Sie fühlte sich heute nur so leer und schwer. Ob das der Cognac gewesen war? Oder Jean-Pierre?

Vom Computer her klang ein Gong. Eine Mail!

Aha. Das neue Manuskript.

Alles?

Ja.

Thereses Mappe lag noch ungelesen auf dem Couchtisch. Clarisse setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Unwiderruflich würde sie jetzt klar Schiff machen. Poch, poch.

‚Neue Mail’ ENTER. Wie war das nochmal. Rene, ät ? ät? Was hing da hinter dem ‚ät’ ?

Sie suchte in einem Stapel Notizzettel einen bestimmten. Da! Gott sei Dank. Nicht weggeworfen. Sie tippte die Adresse ein. ENTER. Betreff: Treffen? Was tust du gerade? Verzeihung? Warum meldest …

»Ich bin’s, Clarisse«, schrieb sie dann.

»Lieber René. Ich bin eine Idiotin«. Schreibt man Idiotin oder Idiot? Frauen sind Idiotinnen! Und Männer? Schweine … »Die Zeit in der Provence …«

 

 

  1. Ärger

 

»Bilde Dir bloß nichts darauf ein!« Carleen sammelt ihre Sachen zusammen. Wenn sie sich bückte, sah er ihre Brüste, rund, straff und fest. Er fühlte noch ihre festen Brüste in den Händen. Silikon? Silikon! Was ging ihn das an?

Worauf sollte er sich was einbilden? René zuckte mit den Schultern. Warum?

Sie war entspannt. Das merkte er, daran, dass sie nicht so viel schwatzte, wie sonst. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Warum eigentlich? Er war frei wie ein Vögelchen. Nun gewissermaßen, was seine Beziehungen betraf.

Carleen marschierte an ihm vorbei. Ihr Hintern wackelte vor seinem Gesicht. Sie war schön und begehrenswert. Und reich!

»Wie sieht’s aus, mit ’ner Kahnfahrt?« Er wollte mal wieder auf’s Wasser. Den Kopf frei bekommen.

»Wann?« Immer noch nackt stand sie wieder vor ihm. Er sah auf ihren Bauch. »Gleich jetzt, am Samstag?«

»Geht nicht. Golfen mit wichtigen Leuten.« War er nicht wichtig? Ach ja, er sollte sich ja nichts darauf einbilden. »Ach, weißt Du was«, sagte er, wie beiläufig. »Ruf mich an, wenn du Lust hast. Ich kann mir auf jeden Fall Zeit nehmen.« Nichts darauf einbilden!

Sie drehte ihm den Hintern zu. Straff wie ihre Brüste. Warum fiel ihm jetzt der Pickel auf. Er klatschte mit der flachen Hand auf eine Hinterbacke. Sie kreischte amüsiert. »Ich bin in der Dusche!«, rief sie, schon auf der Treppe.

Sollte er hinterher? Er sollte sich doch nichts einbilden.

Poch, poch.

Clarisse …

Carleen: »Kommst Du nun?« rief es aus der Dusche. Kann sie sich nicht mal selber waschen, dachte er launig. Er stand auf, und ging zum Bad. An der Tür blieb er stehen. Alles voller Dampf, darin ein sich wiegender und biegender Schatten. Sie sang ein albernes Lied. »Schön!«, rief der Schatten. »Hier gefällt es mir.«

Poch, poch.

»Wo steckst Du?« Sie versuchte, ihn durch den Dampf zu entdecken.

Er hatte sich entschieden. Jetzt!

»Hier«, sagte er mit belegter Stimme. Dann: »Hab noch was zu tun. Dusch’ mal schön.«

Sie kam aus der Dusche geschossen. »Du hast nichts zu tun!«, zischte sie scharf. »Heute nicht mehr! Komm!« Sie wollte ihn ziehen.

Doch seine Entscheidung stand fest. SIE sollte sich nichts einbilden. »Entschuldige, Carleen.« Er zog seine Hand zurück, »Doch, ich habe zu tun. Wenn Du fertig bist, sei so lieb und zieh die Tür leise hinter dir zu.«

Sie verschwand im Dampf. Stille.

Er ging nach oben. Setzte sich an den Schreibtisch. Carleen. Sie wollte ihn auch nicht wirklich.

Er schrieb, »Liebe, liebe Clarisse. Ich war ein Idiot. Hätte ich Dir doch gleich gesagt, wer ich bin. Oder, was ich NOCH bin. Doch Du warst so neu für mich. So besonders und gleichzeitig so vertraut. Ich war, bin verwirrt. Hatte einfach Angst, dass unsere Beziehung, die doch noch so jung und zerbrechlich war, nicht hält. Wie viel Wahrheit vertragen solche zarten Bande? Was darf man sagen? Was sollte man NICHT verschweigen? Was ist wichtig, was nicht. Was befriedigt nur die Neugier, was verursacht Schmerzen oder Zweifel.

Es hatte gleich von Anfang an gekracht. Ich hatte Dich gesehen, bin in Deinen schönen grünen Augen ertrunken. Du hattest mich am Haken, und ich bin nicht mehr von Dir losgekommen. Die ganze Zeit über machte es in meinem Kopf: Poch, poch, Clarisse!

Was kann ich tun, dass Du mir verzeihst, was immer ich auch getan habe?

Rufst Du an? Oder soll ich?

René

P.S. Ich liebe Dich! Ich bin nur halb. Bitte, mach mich ganz.«

Enter, senden, pling!

Unten knallte die Tür. Er zuckte zusammen. Leise! Jetzt musste er sich auch noch bei Carleen entschuldigen, der schönen Nervensäge.

 

 

 

  1. Post!

 

Pling!

René sah sich suchend um. War das …Ah, der Computer. Er öffnete die Mail. Clarisse!

Schon eine Antwort. So schnell?

»Ich bin’s, Clarisse.«

Sein Herz machte einen Luftsprung. Tatsächlich, Clarisse! Nein keine Antwort, Sie hatte zur selben Zeit geschrieben. Er las aufgeregt weiter:

»Ich bin eine Idiotin! Ist sie nicht! Die Zeit in der Provence hat mir einiges klar gemacht. Wo warst Du, süßes Biest? Wie konnte ich erwarten, dass nach so kurzer Zeit des Zusammenseins keine Geheimnisse mehr zwischen uns stehen könnten. Mit welchem Recht verlangte ich von einem Menschen, den ich doch gerade erst angefangen habe Kennen zu lernen, dass er sich mir gegenüber völlig öffnet? Was glaubte ich denn, wer ich bin? Wieso musste ich die gekränkte Eitelkeit spielen? Ja, wieso eigentlich?

Was kann ich tun? Ich kann Dich um Verzeihung bitten und um Geduld, wenn das noch geht, wenn Du Dich darauf noch einlassen kannst.

Alles, was ich mir wünsche ist, mit Dir zusammen zu sein, Dein Leben mit Dir zu teilen, ohne zu tief in Dich einzudringen, und Dir anbieten, mein Leben mit mir zu teilen.

Ich habe dort in der Provence ein Ehepaar kennengelernt. Wunderbare Menschen! Stimmt! Stimmt? Madame war sehr zurückhaltend. Von wegen Amerika! Ehrlich, offen, direkt. Sie leben schon seit dreißig Jahren zusammen, arbeiten zusammen. Man sollte meinen, er gäbe nichts, was der eine nicht vom Anderen weiß. Doch weit gefehlt! Sie drängen sich nicht auf, sie ergänzen sich! Das ist ihr Geheimnis. Den anderen seine süßen Geheimnisse lassen und gespannt zu sein, was man noch Besonderes an ihm entdecken kann.

Ist das wirklich so? Und meine Eltern: So ganz anders und leben schon seit einer Ewigkeit zusammen. Ich hatte sie neulich unbemerkt beobachtet. Und ich habe geweint, vor Liebe und Neid. Haben solch eine ungeduldige Tochter erzogen. Haben sie das wirklich?

Und von Monsieur S. muss ich Dir unbedingt erzählen … Ich bin ja so aufgeregt!

 

Ich küsse Dich!

 

Darf ich hoffen? C.«

 

René las das Ganze noch einmal. Doch, es ist wahr! Natürlich darf sie hoffen, was denn sonst? Was tun? Lauf ich sofort zu ihr hin? Hat sie meine Mail schon? René rannte vor lauter Freude verwirrt im Zimmer herum, tat nutzlose Dinge, legte einen Papierstapel auf den anderen um ihn nachher wieder umzustapeln. Nahm den Hörer ab. Legte ihn wieder auf. Dann rannte er an den Computer. Antwortete: »Ich komme!!!!! Geh bloß nicht weg!«

 

* * *

 

 

 

 

  1. Zweites Buch

CLARISSE 2




  1. Widmung

 

Auch diesen Teil der »Grüne Augen«-Reihe widme ich meiner lieben Frau.

Und meinen Eltern, seligen Andenkens, die mir immer erlaubt hatten, meine Luftballons im Kopf fliegen zu lassen, wann immer ich wollte.

 

 

 

 

 

 

Hinfallen

Aufstehen

Krone richten

Weitergehen

Spruch, AutorIn unbekannt

 

 

  1. Abschied

 

Ein unangenehmer grauer Tag. Das Tief über der Biskaya, das ausgerechnet Clarissa hieß, brachte ein Gemisch aus nasser Luft, kühlen, widerlichen Wind und Nieselregen mit. Hunderte Menschen waren gekommen. Ein Wald von Schirmen! Der Platz auf dem Friedhof von V. hatte nicht ausgereicht, viele warteten auf der Straße auf die Beisetzung von Madame S.

Monsieur S. fuhr mit dem Wagen bis vor die Kapelle. Respektvoll hatten die Trauergäste eine Gasse gebildet. René war mit im Auto, hielt Clarisses am Arm fest. S. winkte Clarisse zu sich. »Bleiben Sie an meiner Seite?« »Gern, Pierre.« Ein müdes Lächeln, dunkle, braune Augen.

Sie gingen langsam in die Kapelle, der verdammte Regen hatte noch zugenommen. »Yesterday« von den Beatles erklang, von einem Streichquartett gespielt. Vor dem Sarg ein Bild von Madame. Große, leuchtende Augen in einem vor Freundlichkeit strahlenden Gesicht. Clarisse fand keine Ähnlichkeit zu der Frau, die sie gesehen hatte. »Verdammter Krebs«, dachte sie. Zwischen ihren Tränen erkannte sie Kränze und Blumengebinde, die sich um das Bild stapelten. Große Kirchenkerzen flackerten. Das Streichquartett hatte das Thema gewechselt. Das D-Dur Quartett, von Joseph Haydn. Man nahm Platz. Als müsse er sich vergewissern, dass sie noch da ist, nahm S. Clarisses Hand, hielt sie fest. Auf der anderen Seite hielt er Therese. Wie süß. Wie ein Papa mit seinen Töchtern. Trotz des traurigen Anlasses lächelte sie Therese zu.

»Wo ist Deine Familie?« fragte sie flüsternd, sah sich um.

»Du bist da und René, Therese. Das sind alle.« Clarisse wurde rot. »Entschuldigung.« S. gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie sah immer noch die kranke Frau, dort im Krankenhaus, hatte den Geruch in der Nase.

Der Pater begann seine Rede…

 

Die Totenfeier fiel aus. Es war Madames Wunsch. Wenn jedoch genügend Zeit verstrichen wäre, solle S. eine Party für sie geben. Eine laute, fröhliche!

Sie fuhren zum Haus: Pierre, Clarisse, Therese, René und der Riese M., Verleger, alter Kollege, immer noch freundschaftlicher Konkurrent. Still gingen sie in das Wohnzimmer, setzen sich, wie die Orgelpfeifen aufgereiht, auf das Sofa. S. stand am Fenster, sah auf den Nieselregen. Er zuckte mit den Schultern. »Tja. Es hätte ja wenigsten die Sonne scheinen können. Das hätte ihr gefallen.«

Therese stand auf. Elegant sah sie aus, in dem schwarzen Kleid. Sie flüsterte mit S., ging in die Küche. Man hörte sie wirtschaften. Clarisse hielt es nicht aus, und folgte ihr.

Therese hielt ihr eine Rotweinflasche hin. »Machst Du bitte auf?« Heißer Dampf zischte aus der Espressomaschine. Sie stellte Gläser und Tassen auf ein Tablett. Fand eine Schüssel mit Gebäck.

»Hat S. eine Haushälterin?« Therese zuckte mit den Schultern. »Wohl nicht. Er ist ein ordentlicher Mann. Sieh Dich nur um.«

»Was macht Dein Roman?«

»So lala.« Clarisse selbst kam momentan nicht weiter.

Sie sah sich Therese genauer an. Hinter der Schminke (Sie trug jetzt schon bedeutend weniger als noch vor einer Woche) steckte ein kleines blasses, armes Mädchen. Sie wollte mehr über sie herausbekommen, denn sie fühlte dass hinter der Fassade von Jungendlichkeit und Härte eine gequälte Seele steckte. Der Blick des Mädchens flatterte unstet wenn man ihr in die Augen sah.

Therese schnappte sich das Tablett. »Bringst Du den Kaffee?« »Na klar«, sagte Clarisse.

Vor den Männern lag ein Fotoalbum auf dem Tisch. Sie blätterten, zeigten, lächelten. Erzählten Geschichten. Erinnerungen.

M. wies auf ein Foto. »Hier, das war«, er schielte zu Decke, »fünfundachtzig, glaube ich! Bei Calais. Wenn ihr genau hinseht, könnt ihr die ‚Strümpfe’ erkennen.« Er lachte leise.

»Strümpfe?«

»Ja, aus Öl. Irgendein Frachter hatte wohl seine Bilge gespült und die ganze ölige Brühe ins Meer verteilt und der Wind hatte den Dreck gegen die Küste getrieben. Wir hatten später dann lieber darauf verzichtet, weiterhin dort zu baden.« Das Bild zeigte S., Madame und M. die lachend auf ihre Beine zeigten.

Clarisse sah genauer hin. Madame war eine sehr schöne Frau gewesen. Genauso groß wie Pierre, schlank, gut gebaut. M. hielt sie beide rechts und links im Arm, unter den Armen. Pierre hatte feuchte Augen. Doch er lächelte in der Erinnerung daran. »Wir waren später nur noch in Calais, wenn wir die Fähre benutzen mußten«, ergänzte er.

Gemächlich zogen sich die Erinnerungen dahin. Die Reise nach Peru, als sie beinahe von einem Berg gestürzt wären. Die USA, einmal quer durch. Grässliches Essen! Schreckliche Motels. Über die Rockies nach Kanada. Alaska. Furchtbar kalt, aber wunderschön. Clarisse staunte. Damals, dreiundsiebzig als Studenten: Vietnam, mitten im Krieg. Singapore, Malaysia.

René flüsterte ihr ins Ohr: »Da fahren wir auch noch hin.«

»Mit dem Schiff?«

»Wenn es Dir gefällt?«

»Darf ich meine Eltern mitnehmen?«

»Klar doch. Und ich meine. Das wird lustig.« Meinte er das ernst? Sie wollte nur einen Scherz machen.

»Die werden sich prächtig verstehen.«

»Und wir haben unsere Ruhe«, scherzte sie.

»Genau!«

Sie tranken noch ein Glas Rotwein auf Madame, möge sie selig ruhen. Dann fuhren alle nach Hause. Nur Therese blieb noch.

 

Anderentags war Clarisse im Verlag. Pierre hatte ihr ein Büro zu Verfügung gestellt, falls sie mal ihr ‚Ruhe’ haben wollte. Neben den üblichen Büromöbeln hatte er eine Chouch mit zwei Sesseln hineinstellen lassen und einen niedrigen Glastisch. Therese saß in einem Sessel. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, wartete auf Clarisses Urteil. Clarisse sah ihre Oberschenkel unter dem knappen Rock.

»Was macht die Abendschule?«

»Schwer. Ich bin müde und unkonzentriert.«

»Das muss man lernen, das Lernen«, sagte Clarisse. »Wenn ich mir vorstelle, ich müsste jetzt wieder zur Schule gehen. Oh Gott!«

Therese wartete geduldig. Sie nippte mit spitzen Lippen an einer Cola. Dabei zog sie ihre Augenbrauen zusammen. Bei ihr sah es niedlich aus.

»Nun zu Deinem Roman«, Therese sah sie gespannt an. »Du hast einen roten Faden. Das merkt man. Dem gehst Du konsequent nach. Sehr schön«

»Aber?«

»Jetzt musst Du der ganzen Geschichte noch etwas mehr Fleisch geben. Die Figuren sind zu blass, haben zu wenig Charakter.«

»Hm.«

»Stell’ Dir jeden einzelnen auf den Schreibtisch. Sieh ihn Dir an. Verstehst Du, was ich meine?«

»Ich glaube ja. Wie ein Bild, so in drei-D.«

»Gut. Das wäre das Äußerliche. Jetzt dringst Du nach Innen. Erfasse ihre Gedanken, Gefühle. Such nach ihrer Geschichte, ihrem Herkommen, ihre Träumen. Mach mal so weiter. Lies Dir das Manuskript nochmal und nochmal durch, bis Du jede Person, jeden Ort vor Augen hast. Beschreibe ihn. Achte auf den Kontext.«

Therese nippte am Glas. Das süße Zeug, dachte Clarisse. Das Mädchen sah sie an. Nicht mehr so hart. »Ich mag Dich sehr«, flüsterte sie plötzlich. Sie stand auf und setzte sich neben Clarisse aufs Sofa. Dann legte sie ihre Arme um Clariss’s Hals, küsste ihr den Mund.

Clarisse saß starr. Was war das denn? In einem ersten Impuls wollte sie Therese wegstoßen, doch dann ließ sie es zu. Es berührte sie tief. Nicht mütterlich. Anders. Und sie erwiderte den Kuss. Schmeckte die Cola auf den Lippen. Theres’ Zunge war hart, drängend. Ihre Hände neugierig. Clarisse schob sie von sich. »Ähm, das ist lieb von Dir«, flüsterte sie heiser. Und, »Nicht hier.« Das hätte ich nicht sagen sollen, dachte sie sofort.

Therese Augen waren feucht. »Bist Du mir böse?« fragte sie Clarisse.

»Nein, Therese, bitte. Nein!« Sie hätte sagen sollen, dass sie einen Mann hat, dass sie nichts mit Frauen am Hut hätte. Aber sie wollte dem Mädchen nicht weh tun.

»Komm heut’ abend zu mir, dann reden wir weiter. Und - darüber.« Therese nickte. Und Clarisse pochte das Herz bis zum Hals.

 

 

 

 

  1. Eine merkwürdige Erfahrung

 

René war in der Normandie unterwegs. Er rief zweimal am Tag an, erzählte, wo er war, was er erlebt hatte. Seine Geschichten waren lustig und blumenreich. Immer brachte er sie zum Lachen.

 

Vor kurzem waren sie zusammengezogen, was heißen will: Sie, Clarisse, mit Sack und Pack, zu ihm in die Maisonettwohnung. Tagelang hatten sie geschleppt, sich gestritten, geschoben, verworfen, weggeworfen, neu gekauft. Und hatten es doch endlich geschafft. Sie waren, einigermaßen zufriedenstellend eingerichtet.

Wenn sie zusammen zu Hause arbeiteten, saßen sie sich gegenüber. Er hinter seinem mächtigen, schwarzen Familienerbstück, sie an einem funkelnagelneuen gläsernen, futuristischen Schreibtisch.

In der ersten Zeit unterbrachen sie oft ihre Arbeit. »Wasguggstdu?«

»Dich guggen«, antwortete René. Und umgekehrt.

»Je t‘aime.«

»Hm…« Luftküsschen.

Die Tastaturen klapperten. Leise CD-Musik spielte. Klassik. Klavierkonzerte, Symphonien, Quartette, Opernmusik. Wenn René mal etwas zu sagen hatte. Er liebte Chopin, Verdi und Puccini. Sie Wagner, Beethoven, Brahms, Bach. René nannte Wagner immer Bagner, weil das besser zur Reihe ihrer Lieblings B’s passte. Clarisse hatte ihr eigenes Regal mit allen Ausgaben einer gewissen Andrea Grimaude, darauf hatte sie bestanden.

 

Clarisse hatte es sich auf der Terrasse gemütlich gemacht. Heute gab es einen sanften Rosé mit einer Blütennote, wie sie es noch nie geschmeckt hatte. Der Wein kam aus Südafrika.

Ihre langen Beine hatte sie ausgestreckt. Sie sahen aus sehr knappen Shorts heraus. Das Top, ihr Lieblingsstück, saß immer noch so eng. Doch sie mochte es, genau so. Die Haare trug sie nach hinten gesteckt zu einem unordentlichen Knoten.

Es läutete. Sie lief zum Aufzug. Im Display sah sie das Gesicht von Therese. Ach ja, sie hatte sie ja eingeladen. »Komm hoch. Einfach nur auf den Namen drücken.«

Therese hatte sich chic gemacht! Ihr Gesicht war dezent geschminkt. Die sonst langen, blonden Haare aufgesteckt. Ihre Bluse saß so eng, wie das Top bei Clarisse, vielleicht sogar noch enger. Sie sahen sich beide auf ihre Oberteile. Theres Rock war kurz. Sehr kurz! Eine Kette mit einem Kreuz schmückte ihren Hals, und ein schlichtes Armband trug sie um das linke Handgelenk. Unter dem Arm trug Therese ihr Notebook wie eine Schülerin. Wenn ihr nicht alle Männer hinterher pfeiffen, dachte Clarisse, dann weiß ich auch nicht. Und hoffentlich musste sie sich nicht bücken.

»Da hinauf«, sagte sie zu Therese und wies zur Terrasse. »Magst Du auch ein Glas Rosé?«

»Gern«, flötete das Mädchen, als es die Treppe erklomm. Clarisse sah ihr hinterher, konnte Therese unter den Rock sehen: nackte Pobacken!

»Autsch!« Clarisse hatte sich gestoßen. Sie schnappte sich ungehalten ein Glas für Therese und stieg ihr hinterher.

»Bist du mit der U-Bahn gefahren?«

»Ja?«

Mon dieu!

»Warum?«

»Hm …«

Das Mädchen stand an der Brüstung. »Schön ist es hier. Und welch eine Aussicht auf die Stadt.«

»Nicht wahr? Wir sitzen oft hier oben und genießen die Ruhe.«

»Ist M’sieur René nicht da?«

»Nein, unterwegs, irgendwo in der Normandie.«

»Ah.«

Clarisse setzte sich, schenkte ihnen beiden ein. »Komm, trink einen Schluck.«

Sie stießen an. »A Santé.«

»Erzähle mir von Dir, Therese«, forderte Clarisse das Mädchen auf.

Dessen Augen wurden hart. »Was soll ich erzählen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Da ist nix!«

»Na, zum Beispiel, wer Deine Eltern sind, Deine Freunde und so.«

»Warum?«

»Ich will wissen, wer Du bist. Damit ich Dir helfen kann, bei allem … und so.«

Therese nahm noch einen Schluck. Sie überlegte, ob sie der fremden Frau einfach so alles erzählen konnte. Was sagte ihr Bauch? Tu es! Gut, sie entschied, dass Clarisse wohl die Frau wäre, der man sich anvertrauen könne.

Erst stockend, dann immer schneller, als hätte sie Angst, etwas zu vergessen, berichtete Therese von sich. Und es war so, wie Clarisse es befürchtet hatte, nein schlimmer.

Ihre Mutter hatte die Familie verlassen, vielleicht hatte der Vater auch die Frau vergrault, denn sie war eine Trinkerin. Eines Tages war sie verschwunden. Auf Therese Fragen antwortete der Vater, sie sei verreist. Eine lange Reise. Und lange hatte Therese gewartet. Wann kommt Mama wieder?

So wuchs Therese allein mit ihrem Vater auf. Er versuchte alles, um ihr eine gute Kindheit zu bieten. Therese war überzeugt, dass er sie abgöttisch geliebt hatte.

Hatte?

Ja, er war vor einem Jahr bei einem Betriebsunfall umgekommen. Eine Mauer war auf ihn gefallen. Und sie hatte ihn noch gesehen, wie er da zerquetscht auf einer Bahre lag, voller Blut, das sich mit dem Kalk vermischt hatte. Er atmete noch und flüsterte, »Wo ist meine Kleine?« Er konnte sie nicht mehr sehen.

Clarisse hatte Thereses Hand genommen und streichelte ihr den Handrücken. Die zarte Haut war warm und weich. Therese hatte ihre Fingernägel machen lassen: kleine Flammen, die aus dem Nagelbett schlugen.

Sie tranken sich zu.

Therese ging gerne in die Schule. Sie hatte dort viele Freunde.

Wo sind die jetzt? Weg! Sie wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben. Mit einem Mal hatte sie sich Vorwürfe gemacht, geglaubt, dass sie am Verschwinden ihrer Mutter Schuld gewesen wäre. Ihre Leistungen sanken, sie schwänzte. Man drohte, sie aus ihrer kleinen Familie zu reißen.

In ein Heim wollte sie auf keinen Fall! Da war sie nach Paris gegangen. Ausgerissen! Traf dort ähnliche Kinder, Entgleiste, Ausreißer, Vergessene. Kiffen, faulenzen, saufen, bumsen. Tagwerk. Betteln um ein paar Cent. Und dann kam einer, bot einen Job als Model. Taffer Typ, sah schick aus. Anzug und so. War klar, dass sie zugesagt hatte.

Vater hatte sie gesucht. Nur nicht dort, wo sie hingeraten war.

Was war dann?

Die Polizei hatte das Bordell schon lange beobachtet. Eine Woche nach ihrer Ankunft: Razzia. Sie war noch in der »Ausbildung«. Am ganzen Körper blaue Flecken, denn sie wollte nicht. Auch nicht nach Hause. Hatte jedoch noch einen Zettel in der Tasche mit ihrer alten Adresse. Die Polizei ist zu ihrem Vater gefahren. Sie war ja noch minderjährig. Der kam, holte sie ab. Sagte nichts. Strich ihr über die Haare. Mein armes, armes Kind, sagte er. Er hatte sich Vorwürfe gemacht, dass er sich keine Frau mehr gesucht hatte. »Ich habe geheult, geheult, geheult, bis es nicht mehr ging. Ich hatte mich so geschämt.«

Clarisse streichelte ihr die Wange. »Unsinn. Dann?«

Papa hatte Urlaub genommen. Er sah ganz fertig aus. Wir haben was für mich gesucht, einen Job. Pierre hat mich dann eingestellt. Ein gemeinsamer Freund hatte geholfen. Und dann der Unfall…

Therese war näher an Clarisse herangerückt. Die Tränen in ihren Augen waren echt. »Ich wollte nicht mehr so leben!«

»Brauchst Du doch nicht.« Sie gab ihr einen Kuss auf die Stirn, spürte, wie das Mädchen erschauderte. Zitternd langte sie nach Clarisses Händen, legte sie sich auf die Brust. So weich! Ihre Augen verlangten nach ihr. Clarisse stand auf. Komm!

 

Therese war gegangen. Sie hatte ganz ruhig ausgesehen. Ihre Augen waren groß, tief und sanft. Nicht mehr diese Härte, die sie sonst immer zur Schau trug. Sie umarmten sich noch lange vor dem Aufzug. Dann löste sich Therese von Clarisse. Das Mädchen sagte nichts, nickte verstehend und fuhr nach unten.

 

Clarisse war immer noch verwirrt. Was war an diesem Mädchen, dass sie alles um sich herum vergessen hatte?

Eine leise Musik hatte im Radio des Schlafzimmers gespielt. Es war nicht mehr hell, aber auch nicht finster. Thereses Kleidung lag verstreut auf dem Boden, es war nicht viel. Im Zwielicht der Straßenbeleuchtung sah sie Thereses Körper leuchten. Sie lag auf dem Laken und wartete. Etwas zog Clarisse zu diesem Mädchen, das leise atmete und sich ihr anbot.

Sie hatten Zärtlichkeiten ausgetauscht, sich geküsst, an Stellen gestreichelt, die Clarisse bisher noch nicht kannte. Thereses Lippen waren herrlich anzufühlen, ihre Hände spielten eine Melodie auf ihrem Körper. Zitternd hatten sie sich aufeinander zubewegt und lange nicht losgelassen.

 

 

  1. Geständnisse

 

René war wieder da. Der holte sie auf den Boden zurück. Zurück in die Wirklichkeit. Es war nur ein unbedeutendes Abenteuer beruhigte sie sich.

»Wie war’s«, fragte sie, als er unter der Dusche stand.

»Kühl, windig, ungemütlich. Ich habe gelernt, dass man Liebesromane am besten im Süden spielen lässt.«

»Da regnet es nicht! Stimmt’s?«

»Stimmt, Dennoch. Wir sollten einmal gemeinsam hinfahren. Die Landschaft!«

Er erzählte von dem Ferienhaus, dass er dort bewohnt hatte. Dem Garten davor, mit Blumen und seltenen Gewächsen. Der harten Steilküste und den sandigen Stränden. Vom Kanal mit den riesigen Schiffen. Und einsamen Fischern. Und dem herben Menschenschlag. Clarisse lehnte an der Wand, sah René an. Ganz langsam, von oben bis unten. Ich will dich, dachte sie. Jetzt!

»Beeil Dich«, sagte sie, als er sich abtrocknete.

 

Was er verschwieg, war die junge Bäuerin, die mit ihrem Wagen in einen Graben gerutscht war.

Ratternd bremste das ABS seinen Wagen auf der glitschigen Straße ab. Ein paar Meter weiter, hinter dem Auto im Straßengraben. Er stieg aus, ging zurück. Am Straßenrand eine Frau mit einem bunten Kopftuch. Sie saß an der Kante des Grabens, und stützte den Kopf auf ihre Hände.

»Alles in Ordnung?« rief er.

»Nichts ist in Ordnung. Sie sehen doch«, kam es wütend.

Oh, oh! »Kann ich trotzdem helfen, Madame?«

Inzwischen stand er neben ihr. Ein Mini lag halb auf der Seite, die Fahrertür stand offen. Airbags hingen schlaff aus ihren Behältern. Sie sah auf das Dilemma. »So ein Mist! Wie komme ich da wieder heraus?«

»Ich fragte doch, ob ich Ihnen helfen kann.«

Die Frau sah auf. Eine sehr, sehr junge Frau, mit verweinten Augen. Er konnte Tränen nicht sehen. Da wurde er immer weich. Sein Beschützerinstinkt erwachte.

»Können sie aufstehen? Haben Sie sich verletzt?«

»Ja und nein und ja!«

»Was heißt ja, nein, ja?«

»Ja, ich bin in Ordnung. Nein, ich bin nicht verletzt. Ja, mein Selbst ist verletzt.«

»Ah, verstehe. Konnten sie schon einen Hilfsdienst rufen?«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein! Das Handy ist irgendwo in dem Schrott da verschwunden.«

René sucht nach seinem. Fand es endlich in der Brusttasche seines Jacketts. Wählte die Nummer des ACF. »Sie sind doch im ACF?«

»Ja.«

Er setzte sich zu ihr. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah sie ihn von der Seite an. »Danke, aber jetzt müssen Sie nicht noch weiter warten.«

»Doch, doch. Ich kann doch eine Frau nicht einsam und verlassen in der Wildnis …«

»Das können Sie!«

Er blieb sitzen. Atmete tief ein. Sie hatte den Blick nicht von ihm gelassen. »Sie sind stur«, stellte sie fest.

»Nöhö. Nur konsequent.«

»Schön. Bleiben Sie eben sitzen. Ich kann es ihnen nicht verbieten. Ist ja ein freies Land.«

»Richtig.«

Sie schwiegen.

Ein Auto raste vorbei. Bremste kurz. René winkte ab, das Auto fuhr weiter.

Stille. Auf den Feldern versammelten sich Zugvögel. Sehr früh dran, die Biester, dachte René.

»Und nun?« fragte sie unerwartet.

»Wie, und nun. Ich warte mit Ihnen gemeinsam.«

»Ich meine, was erwarten Sie dann von mir?«

»Ich? Erwarten? Was sollte ich erwarten?«

»Na eben … so was!« Sie machte eine Bewegung.

»Bitte?«

»Na so was.« Wieder diese Handbewegung.

Er setzte zu einer längeren Erklärung an. Doch dann sagte er nur, »Keine Angst. Ich will wirklich nur helfen. Mehr nicht.«

»Versprochen?«

»Hoch und heilig!«

Schweigen. Noch mehr Zugvögel waren eingetroffen.

»Sie sehen nett aus. Wie heißen Sie?«

»René.«

»René«, wiederholte sie. »Marga.«

»Hallo, Marga.«

»Sie kommen nicht von hier, nicht war?«

»Nein, ich lebe in V. bei Paris.«

»Paris! Schön.«

»Ah! Laut, groß, dreckig.«

»Sehen sie sich um: Still, einsam, sauber. Wollen Sie tauschen?«

Er schürzte die Lippen. »Nein, wohl doch nicht.«

»Sehen Sie.«

Der Abschleppdienst des Clubs kam. Geschäftig wuselte der Fahrer um sein Auto. »War’n sie dis?« fragte er René. »Nein, die nasse Straße.«

Der Clubfahrer sah sich irritiert um. »Nasse Straße?«

René zuckte mit den Schultern.

»Na gut«, gab sich der Fahrer zufrieden.

Der Mini schaukelte auf dem Abschlepper hin und her. René hatte die Frau mit in sein Auto genommen. »Haben Sie denn Zeit?« und »In sowas wollte ich schon immer mal fahren.« Sie saß im Beifahrersitz. Das Kopftuch hatte sie abgenommen. Rotes Haar wie Clarisse. Sommersprossen, eine gerade Nase. Wie sehen sinnliche Lippen aus? Sinnlich? Dann eben sinnliche Lippen, rot, feucht, voll.

Sie lebt in der Nähe, erzählte sie. Ein Bauernhof. Musste sie übernehmen, weil Vater nicht mehr konnte. Lebt jetzt in einem Pflegeheim. Alzheimer. Sie verstehen? Er verstand und verstand nicht. Und die Mutter?

»Sie sorgt sich um Vater. Ist mit ihm zusammen ins Heim gezogen. Sie wollte es so, obwohl, der Hof…«

»Haben Sie den keinen Mann?«

»Wer nimmt schon eine Bäuerin?!«

Sie hatte studiert. Agrochemie. Wollte in die Forschung. Öko und sowas. »Jetzt betreibe ich echte Feldforschung«, scherzte sie.

Nach dem sie das Auto in der Werkstatt abgeliefert hatten, brachte er sie noch zu ihrem Hof.

»Jetzt rechts!« rief sie. Der Hof lag hinter einer hohen Steinmauer. Ein schmiedeeisernes Gittertor stand offen. Er fuhr knirschend über einen Sandweg auf ein altes Herrenhaus zu.

»Hier wohne ich«, sagte sie schlicht. »Links die Ställe für die Tiere, rechts Scheunen, Garagen und so weiter.« Sie stieg aus.

»Kommen Sie noch auf einen Kaffee!«

Sie fragte nicht, sie befahl. Und René brauchte dringen einen.

Als sie vor ihm die Stufen zum Haus hochging, konnte er sie sich zum ersten Mal in Ruhe ansehen. Die roten Haare hatte er schon bewundert. Sie trug ein graues Jackett, das ihre Taille betonte. Helle, eng sitzende Reithosen und braune Reitstiefel. Ein schöner Hintern, dachte er, beweglich. Unter dem Jackett eine karierte Bluse und eine Weste. Die Kleidung sah das sehr maskulin aus. Doch ihr Gang, ihr ganzer Habitus war ausgesprochen weiblich, ganz zu schweigen von dem hübschen Hintern. Die Tür zum Haus war unverschlossen.

»Gehen Sie schon vor. Dort geht es in den Salon. Ich ziehe nur etwas anderes an.« Und verschwand.

Als sie wiederkam, trug sie ein Tablett mit Tassen und einer Kaffeekanne. Sie hatte ein Kleid angezogen. »Heute mache ich nichts mehr! Das war genug für einen Tag.«

»Und Ihre Tiere?«

»Darum kümmern sich meine Leute. Ich habe sie schon angewiesen.«

Angewiesen. Au weih! Ein straffes Regime, Frau Agrochemikerin. Sie tranken Kaffee, schwiegen. Sie sah ihn über den Rand der Kaffeetasse an.

»Stört Sie doch nicht?«

»?«

»Ich laufe gerne barfuß. Nur wenn ich unterwegs…«

»Stört nicht.« Ich würde sie gerne barfußer sehen.

»Wollen Sie sich umsehen?«

»Gern. Ich war schon seit meiner Jugend nicht mehr auf einem Bauernhof.«

»Nun, es ist weniger ein Hof, als ein Gut, Sie verstehen?«

»Nö, ich habe keine Ahnung. Was ist der Unterschied?«

Sie erklärte ihm den Unterschied, zeigte die Ställe.

»Alles ökologisch!« Es roch trotzdem nach Schwein und Rind und Geflügel. Doch die Tiere waren anders, das sah er sogar als Städter.

»Sie bleiben doch noch zum Abend. Ich lasse was Schönes kochen. Bitte«, sagte sie. Und sah ihn so an, mit schräg gelegtem Kopf und bittend zusammengelegten Händen.

Sie fand ihn jetzt sympathisch.

Und er? Er sie auch! »Gern. Ich habe eh’ nichts vor.«

 

Er hätte nicht bleiben sollen. Das Essen dauerte. Es wurde dunkel. Sie tranken eine Flasche Wein. Er unterhielt sie mit Geschichten. Sie ihn mit ihren Öko-Plänen für das Gut. Sie tranken noch eine Flasche und die dritte …

 

Draußen krähte ein Hahn, andere setzten eifersüchtig mit ein. René schlug die Augen auf. Automatisch griff er nach rechts. Clarisse.

Er berührte eine Schulter. Kühl, rund. Die Schulter seufzte. »Morgen.«

Oh! Das war nicht Clarisse!!

Jetzt war er putzmunter. Auch du meine Güte! Er hatte mit Marga geschlafen!

»Geht’s gut?«

Er schluckte. »Schon, ja. Und selbst?«

Eine Hand kam unter dem dicken Daunenkissen hervor, streichelte seinen Kopf. »Wunderbar! Schön war’s. Bleibst Du noch?«

Er schwieg. Sie stieg aus dem Bett. Es schaukelte ein wenig. Stolz stellte er fest, dass er immer Frauen kennen lernte, die auch gute, richtig gute Figuren hatten…und schlug sich innerlich auf die Finger.

Ja, war das nötig? Er sah ihr hinterher, wie sie langsam ins Bad ging. Sie schwang mit den Hüften, wie ein Model, ihre Pobacken bewegten sich aufregend. Es rauschte. »Ich bin unter der Dusche!« rief sie von drinnen. Das hört man. »Kommst Du?«

»Ja, ja«, rief er lustlos und fühlte sich schuldig. Er musste sich seine Junggeselleneinstellung abgewöhnen, dass er jederzeit mit anderen Frauen … Das gehört sich eben nicht mehr, seit er mit Clarisse zusammen war.

»Na, komm schon!«

Er ging zum Bad, sah ihr zu. Es erregte ihn. Sie sah es, lächelte.

»Marga, ich muss Dir gestehen …« begann er. Sie kam aus der Dusche, stellte sich platschnass, mit in die Hüften gestemmten Fäusten vor ihm auf. Schaum und Wasser liefen über ihre Brüste, den Bauch, sammelte sich an ihrer schönsten Stelle. »Brauchst Du nicht. Wirklich nicht. Du hast es gestern oft genug gesagt.«

»Was gesagt?«

Sie hob theatralisch die Arme. »Was weiß denn ich? Clara, Clarissa!?« Sie sah zu ihm hoch. »Seid ihr verheiratet? Ist sie Deine Geliebte?«

»Nein, noch nicht.«

»Was?«

»Verheiratet. Nein.«

»Dann ist es ja O.K. Und nun komm, duschen.«

»Marga, ich wollte Dir sagen ...«

»Das ich ein Kumpel bin?«

»Mehr als das.«

Sie strich ihm über die Wange. »Es hat gut getan, Lieber, weißt Du. Ich war zu lange allein. Da bekommt man Tagträume und solche Wünsche.« Mit beiden Händen schob sie ihn in die Dusche, und kam hinterher. Sie duschten ausgiebig. Danach schnurrte sie wie eine Katze an seinem Hals.

 

Nach einem ausgiebigen Frühstück verabschiedete er sich von Marga. Beim Abschied küsste sie ihn noch einmal lange. »Zum Andenken«, sagte sie. Und er wischte ihr mit den Fingern die Tränen von den Wangen. »Danke«, sagte er.

 

Clarisse und René saßen sich gegenüber an ihren Schreibtischen. Ab und zu sahen sie sich an. Holten Luft, als wenn sie etwas sagen wollten. Doch dann klapperten die Tastaturen weiter.

»Duhu …«, sagten sie beide gleichzeitig und lachten. »Duhu zuerst«, sagte Clarisse. »Nein, Duhu. Ladys first. Ist halt so.«

Sie druckste.

»Komm. Gehen wir auf Terrasse«, schlug er vor.

»Auf die Terrasse!«, korrigierte sie ihn.

»Auf Terrasse!«, wiederholte er eigensinnig.

Schweigen.

Dann sahen sie sich an. Und jeder spürte, da ist ein Geheimnis, über dass der Andere nicht reden möchte, aber muss. Sie fassten sich an den Händen.

»Wie soll ich es Dir sagen?« Clarisse hatte Mut gefasst. »Wenn Du böse mit mir bist, gehe ich ins Wasser.«

»Wie das Mädchen aus den Briefen?«

»Tiefer, viel tiefer!«

»Ich schwöre Dir, dass ich nicht böse sein werde, was immer Du mir auch zu erzählen hast.« Und setzte gleich dazu »Und Du mir?«

Schlicht sagte sie, »Das gleiche.« Und um gleich fortzusetzen, »Du bist fremdgegangen!?« Er nickte schuldbewusst. »Ich auch.«

»Hä, Du? Du auch?« Und sie hielten sich an den Händen fest, als hätten sie Angst sich zu verlieren. Und die hatten sie auch.

 

Aufmerksam hörte er zu, stellte keine Fragen. Und als sie fertig war, begann er zu erzählen. Sie hielten sich immer noch an den Händen. Langsam wurden sie feucht, doch keiner wollte den anderen loslassen. Es war, wie wenn ein fester Bund des Schweigens über diese Geständnisse geschlossen werden sollte durch Handschlag, mit dem man zeigt, ich lasse Dich nicht los. Ich will Dich nicht loslassen. Nur, was jetzt? Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

 

Völlig verwirrt sah ihm Clarisse ins Gesicht. Sie liebte ihn wie verrückt. Konnte sich keinen Tag ohne ihn vorstellen. Als er in der Normandie unterwegs gewesen war, hatte sie sich jeden Tag nach ihm verzehrt. Und er hat eine Affäre! Steigt einfach zu einem Weib ins Bett und bummst sie! Schuft. Rene las es in ihrem Gesicht. Er fühlte sich schuldig und gleichzeitig unschuldig. Wir sind nicht verheiratet, dachte er, noch nicht. Jetzt kräuselte sie die Augenbauen. Oh, oh. Clarisse ist wütend! Dann entspannten sich ihre Gesichtszüge. Ihr Blick wurde tief, sie sah durch ihn hindurch. Jetzt ist sie mit Therese beschäftigt, mutmaßte er. Und so war es. Clarisse erinnerte sich an den Moment, an dem sie zu Therese gesagt hatte, ‚komm’. Und sie sich einmütig hingegeben hatten. Den langen Moment eines unbekannten, seltsamen und betroffen machenden Gefühls. Und dann kam Schuldgefühl. Schmerzhaft. Und sie hatte an René gedacht und was er sagen würde, wenn er hörte … Steht es jetzt eins zu eins? Sie zog ihre Hände zurück. Legte sie auf ihren Schoß.

Schmerz und Schuld. Schuld und Schmerz. Sie stand wortlos auf, und ging ins Schlafzimmer. René blieb sitzen, wo er war, starrte auf den Horizont.

 

Im Spiegelbild saß eine schöne Frau. Und Clarisse kannte diese Frau nicht mehr. War sie jetzt lesbisch? Oder sexversessen? Sie prüfte ihre Gefühle für Therese. Sicher, ein hübsches Mädchen. Knackig, sexy bis zum Abwinken. Doch sie würde nie einen Partner abgeben. Wahres Glück hatte sie immer nur mit René empfunden. Auch davor. Es war nicht so, wie mit René. Das mit Therese war schön, so anders, zarter, stiller, weicher. Doch René! Tief, noch tiefer, ganz tief bis in ihr tiefstes Inneres. Dort hatte er ihr Herz in der Hand und hielt es fest. Und sie wollte es nicht auch freigeben. Nein, was auch immer passiert war. Sie nickte dem Spiegelbild zu. So war es. Merken wir es uns, flüsterte die weiße Seele. Lernen wir daraus. Und die schwarze? Schwieg beleidigt, denn was sie auch sagen würde, bedeutete: Rausschmiss. Oder mindestens, halt die Klappe!

 

René saß immer noch dort, wo er gesessen hatte. Nicht einmal bewegt hatte er sich. Er wird ein sehr, sehr schlechtes Gewissen haben, dachte Clarisse. Auf leisen Sohlen trat sie hinter ihn.

»Warme Hände«, stellte er fest. »Du hast wunderbar warme Hände.«

»Und ich liebe Dich.«

»Ich Dich auch.«

»Du Idiot!«

»Selber.«

»Idiotin. Das heißt Idiotin. Sei doch einmal nicht sexistisch, Mann.«

Sie schwiegen, erleichtert, glücklich.

»Wirst Du drüber schreiben?«

»Über Therese?«

»Hm.«

»Weiß nicht. Vielleicht. Wenn es erleichtert.«

»Muss ich jetzt im Bett anders sein?«

»Nein, bleib wie Du bist. Grob, unbeholfen, tapsig. So mag ich Dich.«

»Ich Dich auch.«

»Wie? Grob, unbeholfen, tapsig? Kannst Du haben. Gleich, jetzt!«

 

 

  1. Reise

 

Ein ganzes halbes Jahr später fanden sich Clarisse und René auf Rèunion wider. 680 Kilometer von Madagaskar, 180 Kilometer bis Mauritius und Zehntausend von Paris entfern. Schön weit weg vom Verlag, von allen Verpflichtungen. Und mit den Eltern, die erst heftig protestiert hatten.

Auf einem Vulkan zu leben, der vor Millionen Jahren, als sich Madagaskar von Afrika trennte und in den indischen Ozean hineindümpelte, in der Absicht Indien noch einzuholen, ist seltsam, wenn man daran denkt. Auf jeden Fall gibt es genügend Erinnerungsstücke auf der Insel.

Urlaub! Sie hatten sich fest vorgenommen, nicht zu arbeiten. Gemeinsam faulenzen, herumschippern, Eltern ärgern.

Faulenzen klappte. Eltern ärgern weniger. Die sahen sie nur abends bei Tisch. Sie verstanden sich tatsächlich prächtig. Clarisses Eltern lieben Renés, Renés Clarisses. Sie hatten sich einen Jeep gemietet und waren dabei, die Insel bis in die letzte Bucht und den höchsten Gipfel zu erkunden. Clarisse ging das Herz auf, wenn sie ihre Mutter sah, wie sie aufblühte! Und René Mutter hatte stolz verkündet, ihrer Schwiegertochter in spé in Sachen Schönheit von nun an Konkurrenz zu machen. »Zieht dich warm an«, drohte sie.

Herumschippern war schon schwieriger. Er hätte rechtzeitig ordern sollen. Man bot ihnen zwar Kähne an, zu Mondpreisen und in einem Zustand, den René mit »Seelenverkäufer« beschrieb. Zum Glück schlenderte der Hotelchef beim Frühstück über die Terrasse. René stürzte sich auf ihn und beklagte sein Schicksal.

Monsieur Clubot, ein Südfranzose wie er im Buche steht, reagierte entsprechend wort- und gestenreich. Warum man ihn denn nicht gleich angesprochen hätte? Und, »Ohlala, ich habe da …!« Und siehe, er hatte! Einen Bekannten an der Westküste. Der besäße … Haben Sie denn ein Patent? Ja? Alle Meere. Auch das für den indischen? Voila! Morgen haben Sie ihr Boot. Soll er dem Flieger Bescheid geben? Und wäre er mit (hier flüsterte er mit René, der die Augenbrauen sehr weit hochzog) ...einverstanden? Freudig und sich die Hände reibend hüpfe Clubot von dannen.

Ein paar Sekunden später stand eine entzückende Kellnerin mit einem Tablett am Tisch. Sie übergab René einen Umschlag. Vorsichtig öffnete er ihn, und schmulte hinein. Er bekam rote Ohren. »Gei… Wow! Wollt ihr mit?«, fragte er die Eltern. Doch die lehnten ab. Macht mal. Genießt es. Wir werden sowieso seekrank.

 

Kurz vor Sonnenaufgang fanden sie sich an der Landebahn des Hotels ein. Ein kleiner Hochdecker stand bereit. Der Pilot schüttelte beiden kräftig die Hände. »Dann wollen wir mal.« Er half Clarisse beim Einsteigen. Sie saß auf dem Copilotensitz, das hatte sie sich ausbedungen, weil René, trotz ihrer Interventionen nichts verraten wollte. Männer! Jetzt saß René schmollend hinter ihr.

Die halbe Nacht war sie um ihn herumgeschlichen. »Sag schon. Komm, Du musst mir alles sagen, sonst …«

»Sonst?«

Sie kreuzte die Arme unter der Brust, was René sehr gefiel, denn sie hatte nichts an. »Nur weiter so«, empfahl er. Sie bemerkte seinen Blick, und hielt die Hände vor ihre Brüste. »Jetzt bräuchtest Du noch eine dritte Hand«, stellte er fest.

Sie rauschte ins Bad. »Ph!!«

Im Bett dann: »Sach maah, wasn dis fürn Boohot?«

»Schiff, man nennt solches, welches. Schiff. Boot ist was mit Riemen, weissu, wo der Mann immer dran zieht - an den Riemen - und die Frau, die ruft: Schneller, schneller.« Sie fuhr mit dem Finger über seine Brust. Kreiste seinen Bauchnabel ein und trippelte mit Zeige- und Mittelfinger zu seinem Schoß. »Los, sag es endlich. Sonst bringe ich deinen Turm zum Einsturz!«

Er zeigte auf ihre Hand. »Damit?« Und dann war sie ‚mit ihm’ beschäftigt und er, es zu genießen …

Er drehte sich auf die Seite. Seufzte tief. Ihre Hand kribbelte über seinen Rücken. »Duhu?«

»Ja?« fragte er schläfrig.

»Dieses Boohoot..«

»Schiff!«

»Boohot! Ist es groß?« Er nickte.

»Ist es laaaaaang?«

»Sehr.«

»Wie lang?« Sie griff um ihn herum. »So lang?«

»Kürzer…«

 

Das kleine Flugzeug plumpste auf die Landebahn. »Hoppla«, rief der Pilot fröhlich und linste schadenfroh zu Clarisse. Doch er hätte nach hinten sehen müssen. Clarisse hatten den Flug genossen. Ununterbrochen geschnattert, aufgeregt gezeigt. »Sieh doch da! Und da!« Und geschwärmt. René saß blass in seinem Sitz und war froh, dass sie irgendwie unten waren.

Mit zitternden Knien schleppte er sich durch das kleine Verwaltungsgebäude. Sie wurden bereits erwartet. Clarisse hatte sich eingehakt und staunte. »Mann, was für ein Mann!«, flüsterte sie. Vor ihnen stand ein schwarzer Riese mit einem Pappschild in der Hand. »Msr. René« stand drauf. Mit tiefer, sympathischer Stimme fragte er, »Monsieur René?«

»Ja«, hauchte René, noch immer etwas benommen.»
»Ich hoffe, sie hatten einen guten Flug?« Er gab Clarisse die Hand.

»Oh, es war wunderbar. Was für ein schönes Land!«, schwärmte sie. René schwieg.

»Mein Name ist Thomas. Ich bringe sie zum Hafen. Mein Freund hatte mich gebeten ihnen meine Yacht …«

René wurde hektisch. »Jaja, wir wissen, Thomas. Vielen Dank, Lassen Sie uns fahren.«

Der schwarze Riese schwieg. Sie gingen zu einem knallroten Jeep. »Grand Hotel Réunion« stand auf der Seite. »Bitte.«

Atemberaubend schnell jagte Thomas durch die belebten Straßen. Jetzt roch es nach Wasser, und bald hatten sie den Hafen erreicht. Mit quietschenden Bremsen hielt Thomas an. Eine Staubwolke stieg auf.

»Folgen Sie mir.« Er hatte sich die Taschen der beiden gegriffen, obwohl René protestiert hatte. »Sie sind meine Gäste. Also …« Er zeigte mit der Hand zum Hafen.

Clarisse trippelt zu Thomas. »Sie dürfen ihm nicht böse sein, Thomas.« Sie hakte sich bei ihm ein, sah zu ihm hoch. »Er hatte keinen guten Flug.«

»Weil ich die ganze Nacht nicht schlafen durfte!«, hielt René dagegen.

»Verstehe.« Thomas grinste Clarisse anzüglich an und die grinste anzüglich zurück, wobei sie unschuldig mit den Augen blinzelte.

»Wir sind da«, verkündete Thomas.

Clarisse schnappte nach Luft, suchte irgendwo Halt, und fand ein Geländer am Steg. »Nein?« Sie schlug die Hände vor dem Mund zusammen.

Da lag sie, die Yacht! Schwarzer Rumpf, zwei Masten, hölzerne Aufbauten. Die Farben glänzten, das Deck spiegelte. Drei Matrosen standen an der Reling. »Willkommen an Bord.«

Clarisse sprang René an den Hals, bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Dann Thomas, er war auch noch dran. Clarisse stürmte die Gangway hoch. Die Matrosen salutierten.

Aufgeregt lief sie zum Bug, sauste über backbord zu Heck. Sah in das Steuerhäuschen und war schon wieder an steuerbord, von wo sie aufgeregt in das trübe Hafenwasser blickte. Die Männer standen dabei, und staunten.

»Ahäm. Ihre Kabine ist gerichtet, Monsieur. Wollen wir dann los.«

»Gerne, Thomas. Eine gute Fahrt.«

»Eine gute Fahrt, Monsieur.«

»Ablegen!«, brüllte er plötzlich.«

 

Clarisse sah nach oben in den Himmel. Die Segel blähten sich straff im sachten Wind. Das Schiff glitt weich über die Dünung. Hoch, runter, hoch… Es schaukelte und kränkte eine wenig nach steuerbord. Am tiefblauen Himmel wetteiferten die Wolken mit den weißen Segeln der Yacht.

Sie hatte ihre Hand nach René ausgestreckt. Er lag direkt neben ihr auf einer Relaxliege.
»Schläft Du?« fragte sie.

»Tief und fest.«

»Warum?«

»Warum warum?«

»Du schläfst?«

»Was soll ich sonst machen?«

»Das Meer betrachten. Wellen zählen. Wale suchen?«

»Hier gübs keine Walen!«

»Nüsch?«

»Nee, nüsch. Nur bösen Haien. Weiße! Mit solchen Zähnen!« Er breitet die Arme aus.

 

»Willst Du nicht ein bisschen baden gehen?«

»Mit Dir?«

»Nee, mit den Haien.«

»Das wäre ja, als wenn ich mit Dir baden täte.«

 

»Duhu?«

»Jep!«

»Ich habe mir was überlegt.«

»Behalt's für Dich, ich habe Urlaub!«

»Aber, ich habe mir was gaaanz Schönes überlegt.«

»Tut mir leid. In der Kabine ist es jetzt zu warm und hier draußen, vor aller Augen? Ich weiß nicht?«

Sie ignorierte ihn. »Wollen wir nicht zusammen …«

»Ich sagte ja, nicht vor aller Augen!«

»Ferkel. Was Du immer denkst. Immer nur das Eine!«

»Ich bin ein Mann, ich darf das!«

»Schmoll.«

»Schmoll. Das sagt man nicht. Was da über den Sprechblasen steht, sagt man nicht.«

»Schmoll, schmoll, schmoll!«

»Na sag schon.«

»Nöööö. So nüch!«

Er kniete neben ihr. Legte seinen Kopf auf ihren Bauch und sah sie von unten her an. »Bitte.«

Clarisse streichelte ihn. »Wollen wir nicht gemeinsam - keinen Kommentar jetzt - einen Roman schreiben?«

»Ja«, sagte er trocken.

»Wie jetzt, ja? Keine Begeisterung?«

Er blieb in dieser Stellung, sie streichelte weiter.

»Du hast meine Idee gestohlen! Was soll ich da begeistert sein, eh?«

»Oooch, tut mir leid. Heißt das jetzt ja?«

Jetzt war er über ihr. Gab ihr einen mächtigen Schmatz. »Gerne meine Liebe.«

Sie wischte sich die Lippen ab. »Nass!«

 

Von da ab machten sie Projekte. Sie schlug vor, er schlug vor, sie lehnte ab, er lachte, sie nahm wieder auf, er lehnte ab. Dann lachten beide, stellten fest, dass sie ja Urlaub hätten und schliefen in der Sonne ein.

Der große schwarze Thomas weckte sie. Vorsichtig berührte er Clariss‘ Schulter. »M’dame, es ist Zeit.«

»Sind wir schon da?«

»Abendessen.«

»Oh. Ich habe so schön tief geschlafen.«

 

Nach dem Abendessen genossen sie den Sonnenuntergang. Thomas hatte sich zu ihnen gesetzt. »Thomas, erzählen Sie von sich und von dieser Insel«, forderte Clarisse.

 

 

Nachdem sie Mauritius umrundet hatten, drehte der Wind auf Ost. Das Meer wurde grau. Wolken zogen auf. Thomas flüsterte mit René, der nickte.

Die Mannschaft holte die Segel ein, der Diesel sprang an.

Sie fuhren vor dem Wetter her. Thomas sah wieder etwas ruhiger aus, nicht so angespannt. Rèunion kam in Sich, sie fuhren in einen winzigen Hafen ein. Dann ging es los.

Erst war es windstill. Die Wolken schwarz. Es wurde finster wie in der Nacht. Blitze zuckten. Ein Sturm fuhr über sie hinweg, fegte Schmutz, Papier und Unrat von der Mole. Dann kam der Regen: Senkrecht, in dicken Tropfen pladderte er laut auf das Deck. Das Wasser floss wie breite Bäche durch die Speigatten. In der Wasserwand war der gegenüberliegende Ort nicht mehr zu sehen. Clarisse und Renè sahen dem Unwetter zu. »Sieh nur!«, rief Clarisse und zeige auf die Brecher, die über die Mole fegten. »Man kann gar nichts mehr sehen!« Gischt versperrte den Blick auf das Meer.

Das Ganze dauerte eine halbe Stunde. Dann hörte der Regen schlagartig auf, der Sturm legte sich. Das Meer wurde wieder ruhiger.

»Packst Du bitte Deine Sachen?«

»Warum, René?«

»Wir fahren von hier zum Hotel zurück. Ich hoffe, unsere Eltern haben sich keine Sorgen gemacht.«

 

Im Hotel wurden sie bereits erwartet. Lachend erzählten die alten Herrschaften von ihren Abenteuern.

Sie hatten das aufziehende Unwetter nicht kommen sehen und als der Regen losging, befanden sie sich gerade in einem Dorf, mitten auf der Insel. In letzter Sekunde rief sie ein Bauer in ihr Haus. Dennoch waren sie patschnass geworden.

Als sie hörten, dass Clarisse und René dem Unwetter in letzter Minute entgangen waren, atmeten alle auf.

»Hast Du Dich auch schön bedankt, bei Deinem Kapitän?«

»Aber Mama! Was denkst Du nur. Natürlich.«

»Deinem Kapitän, René?«

»Äh, ja?«

»Und das Schiff, dieses Segelboot?«

»Hab ich mich auch bedankt. Und bei den Matrosen und dem Dieselmotor und jedem Segel persönlich!«

»Spinner!«

 

 

  1. Angst

 

Bin ich eine Nymphomanin? Halte ich es keinen Tag aus, ohne mit René zu schlafen?

Er war schon wieder unterwegs. Hatte hoch und heilig versprochen treu zu bleiben. Ein kleiner Zweifel blieb.

Auf dem Bildschirm leuchtete der Text von einer jungen Frau. Es war ihr Erstlingswerk. Die Sprache war klar, ohne Schnörkel, der rote Faden ging unbeirrte durch das ganze Werk, die handelnden Personen genau beschrieben und auch der Kontext und die Handlungen der Nebenakteure stimmten. Es war ein einfacher, aber sehr sinnlicher Liebesroman. An manchen Stellen aber schon oder überhaupt pornographisch.

Clarisse starrte auf den Bildschirm. Sie hatte hier und da einen klitzekleinen Lapsus herausgearbeitet, das war alles. Wegen der pornographischen Stellen müsste sie sich mit Pierre besprechen. Es war ja sein Verlag.

Das Handy lag neben der Tastatur. Es wartete, hatte Geduld. Sie griff danach.

»Ja?«

»René, was tust Du gerade?«

»Ich sehe aus dem Fenster.«

»Was siehst Du?« Sie sah René, wie er am Fenster stand.

»Sch ... Wetter. Es regnet. Der Wind fegt die Blätter auf der Straße zusammen. Alles grau. Willst Du mehr wissen?«

»Vermisst Du mich?«

»Ja, Liebste!«

»Wie?«

»Wie wie?«

»Wie vermisst Du mich?«

»So: hmmmhmhmmmm!«

»Schön.«

»Hast Du nichts zu tun?«

»Du bist gemein! Ja, ich habe zu tun.«

Sie hörte, wie René am anderen Ende kicherte. »Der Roman, von der Kleinen?«

»Nein. Oh Gott! Ich wollte ja nach Thereses… Tschüss!«

»Hall…«

Therese hatte die Fortsetzung gebracht. Und den ersten Teil überarbeitet. Jetzt stimmte alles. Sie hatte einen schönen Stil, beschrieb, wenn auch an einigen Stellen langatmig, die Situation bis ins kleinste Detail. Clarisse staunte, was man alles beobachten und dann niederschreiben kann.

Ihr eigener Roman stockte. Sie kam an einer Stelle nicht mehr weiter, musste sich entscheiden, ob ein Kriminalfall daraus wird oder ein – ach, was weiß denn ich?

Sie speicherte das Manuskript der jungen Autorin, und lud sich Thereses auf den Bildschirm.

 

»Was soll ich tun? Das Mädchen saß in einer Ecke des Zimmers, dessen Wände mit roter Seide bespannt waren. Fein eingewebte Rosengirlanden zogen sich durch die Tapete. Die Einrichtung bestand aus Art-Deco-Möbeln und auch die Bilder entstammten dieser Zeit.« Clarisse sah das Zimmer vor ihrem geistigen Auge. »Ein Bett aus weißgestrichenem Eisen dominierte die Einrichtung. Das Betttuch schneeweiß. Am Kopfende hing von der Decke eine grüne Schnur herab, mit der man das Licht im Zimmer schalten konnte. Einziger Fehler waren Zeitungsseiten, die das Licht der Nachtischlampen dämmte. Es roch alt und nach Schlafzimmer. So hatte es im Schlafzimmer der Großeltern des Mädchens gerochen. Aber etwas fehlte. Nur was?«

Therese hatte ihr kurz die Story beschrieben; Ein Mädchen sucht seinen Vater, der eines Tages verschwunden war. Ihre Mutter war bei der Geburt gestorben. Sie flieht aus dem Heim, in das sie gezwungen wurde. Auf ihrer Suche macht sie Bekanntschaften mit guten und bösen Menschen, machte Erfahrung und hat abenteuerliche Erlebnisse, bis sie endlich ihren Vater findet. Er liegt auf dem Friedhof einer Stadt in der Bretagne. War es ein natürlicher Tod oder ein Verbrechen? Daraus soll dann der zweite Roman werden. Clarisse fand, das der Anfang vielversprechend war. Therese war ihrem Ratschlag gefolgt, zu Anfang ähnliche Erlebnisse niederschreiben, wie sie gehabt hatte. Natürlich verfälscht und künstlerisch überhöht. Aber wie sie das machte, toll!

 

Sie ging, wie René, in das Café unten im Haus. Die Serviererin hatte sich an sie gewöhnt und akzeptiert, seit sie sie regelmäßig zusammen mit René gesehen hatte. Wahrscheinlich spuckt sie mir nicht mehr in den Kaffee, dachte Clarisse. Sie kaute an einem Croissant mit Schokoladenfüllung. Ein Café au Lait dampfte vor ihrer Nase und verbreitete einen verführerischen Duft.

Das Handy summte. René! Endlich!

»René, wie schön, dass Du anrufst!«

Doch eine unbekannte Männerstimme sagte, »Sind Sie Clarisse Schulz?«

»Ja?« Ihr Herz begann zu rasen.

»Hören Sie, ihr Mann ist im Krankenhaus. Können sie kommen?«

»Mein Gott, ja. Wo liegt er?«

 

Mit quietschenden Bremsen hielt Clarisse direkt vor dem Eingang zum Krankenhaus. Sie rannte in das Entreé stützte an den Tresen. »Wo ist er? Wo finde ich meinen Mann?«

Die Schwester sah ungeduldig auf. »Wer?« Sie sah übermüdet aus und hatte rote Augen.

Clarisse nannte Renés Namen. Umständlich suchte die Frau im Computer. »Hier! Chirurgische. Gehen sie zur Station A-Drei.«

»Wo ist das?«

»Station A-Drei. Da lang und dann die Treppe in die dritte Etage.«

Clarisse lief los.

Sie war so, wie sie im Café gesessen hatte zum nächsten Autoverleih gerannt. Die Serviererin hatte ihr noch den Mantel hinterhergebracht.

Bevor sie die Treppe hochrannte, zog sie ihre high-heeles aus. Auf Strümpfen kam sie atemlos in der dritten Etage an. »A-3« stand in großen Buchstaben an der Wand. Nach rechts ging es in den OP-Bereich. »Eintritt nur für OP-Personal«.

Da stand sie nun: die Schuhe in der Hand. Ein langer Gang, hell, freundlich, Bilder. Es war still.

Aus einem Seitenflur kam eine Schwester in einem lindgrünen Kittel auf sie zu. »M’dame Clarisse?«

Immer noch auf Strümpfen lief sie der Schwester hinterher. Sie bogen nach rechts, dann wieder nach links und standen vor einer Tür. Die Schwester öffnete.

Es war dämmrig. Die Jalousie vor dem Fenster war heruntergelassen und ließ wenig Licht durch. Zwei Betten standen an der linken Wand. Gleich im ersten lag er: René. Die Schwester hielt einen Finger vor die Lippen. »Er schläft.«

»Was ist mit ihm«, flüsterte Clarisse.

»Wir wissen es nicht. Er soll mitten auf der Straße gelegen haben.«

Die Tür ging auf. Hinter einem Zweimetermann in einem weißen Kittel traten noch drei, offenbar wichtige Personen, in weißen Kitteln und mit Kladden unter den Armen, in das Zimmer. Der Zweimetermann blieb stehen, sah sich Clarisse von oben bis unten an und lächelte. Ein sympatisches Lächeln in einem ansonsten farblosen Gesicht mit farblosen Augenbrauen und hellen blaugrauen Augen. »Professor M., ich bin der Klinikchef hier und das«, er zeigte in die Runde, »meine besten Leute. Und Sie?«

»Clarisse.« Beinahe hätte sie einen Knicks gemacht.

»Guten Tag Clarisse.« Er gab ihr galant einen Handkuss. Der Professor strahlte vor Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein. »Ich gehe doch Recht in der Annahme, das Sie die Gattin dieses Unglücklichen sind?«

Unglücklich? Was ist mit ihm?

»Was ist mit …meinem Mann? Wieso unglücklich?«

Er legte ihr seine große, weiche Hand jovial auf die Schulter. Sie war warm und hatte auf dem Handrücken blonde Härchen und Sommersprossen. »Es ist so, Clarisse. Wer in dieses Krankenhaus kommt, ist entweder angestellt oder krank. Im ersten Falle, betritt er dieses Haus mehr oder wenige freiwillig, wird aber dafür bezahlt und sollten glücklich sein. Anderen Falls haben wir mit dem zweiten Personenkreis, der nicht freiwillig hier ist, zu tun. Man nennt sie Patienten. Ich, Unglückliche, denn sie erfreuen sich nicht bester Gesundheit, sonst wären sie nicht hier.«

Er ging zum Bett, in dem René tief in den Kissen lag und - offenbar schlief.

Er zeigte auf René. »Dieser hier«, der Professor drehte seinen Kopf zu Clarisse zurück, »gibt uns Rätsel auf. Er ist kerngesund. Blutdruck, Herzschlag, Lunge, Blut, alle Werte vom Besten. Doch er liegt im Tiefschlaf. Vielleicht sollte man ihn glücklich nennen. Andererseits … Wenn ich mir Sie so ansehe …« Seine Paladine schmunzelten breit und voller Zuversicht. »Ist er ein Ünglücklicher, für den Moment. Heute geht, nein, rollt er ins CT. Dann sehen wir weiter.«

»Und …«

»Und Sie bleiben bei ihm, denke ich. Oder?«

»Ja.«

»Wunderbar«, rief der Professor. »Nach dem CT wird ihr Mann verlegt. Er ist Privatpatient hier, wissen Sie.« Und rauschte davon, die weiße Wolke mitziehend. Clarisse schnupperte. Sehr, sehr teures Parfüm, stellte sie fest.

»Sehen Sie.« Clarisse zuckte zusammen. Die Schwester stand noch im Zimmer. Sie sah auf den Turm von Messinstrumenten und Anzeigen. Diese Geräusche hatte sie vor nicht allzu langer Zeit gehört: Piep, piep. Herzschlag, Blutdruck, Puls, Atmung. »Alle Anzeigen sind normal. Keine Gefahr.«

Seine Eltern! Sie hatte seine Eltern noch nicht verständigt!

 

Am späten Nachmittag saß sie an Renés Bett in seinem Privatzimmer. Man hatte ein zweites Bett für sie dazugestellt. Keine Maschinen, keine Messgeräte. Unter dem breiten Fenster mit Gardinen und Vorhängen stand ein Tischchen mit zwei Sesseln. René atmete ruhig. Clarisse wartete auf Renés Eltern. Sie versuchte dem Manuskript von Therese zu folgen, doch es ging nicht. Immer wieder lenkten ihre Gedanken sie ab.

Das CT hatte nichts ergeben. Die Hirnfunktionen waren normal, vielleicht etwas reduziert. »Innen sieht er aus, wie es im Schulbuch steht«, verkündete der Professor stolz, als habe er René erschaffen. Halbgott in Weiß.

»Warten wir. Haben wir Geduld.« Wie geht es uns? Mir geht es gut Herr Doktor, wie geht es Ihnen? »Als wenn er Winterschlaf hielte«, brummte der Professor noch und schüttelte den Kopf. Leise sprach er mit seinen Assistenten, die eifrig notierten, und nickten und verschwand mit ihnen im Schlepp.

 

René Eltern waren eingetroffen. Jetzt saßen sie in der Cafeteria. Die beiden alten Herrschaften waren sehr gefasst. Sie hatten mit dem Professor gesprochen; Als Kind und als Jugendlicher hatte René schon dreimal solch einen »Aussetzer«. Niemand konnte feststellen, woran das lag. »Das ist zentral bedingt, wissen Sie?«

Clarisse wusste nicht.

»Na, das setzt das Gehirn auf Notaus. Stress, Ärger, Aufregung. Alles Mögliche kann die Ursache sein.«

Also kam René jedesmal »frei«, mit der Auflage sich genau beobachten zu lassen. Männer und sich beobachten lassen! Clarisse und auch seine Mutter lächelten mit einem Seitenblick auf Renés Vater. »Was?« fragte der mit Unschuldsmiene.

»Ich habe ihm verboten, weiterhin zu arbeiten.« Renés Mutter nickte zu ihrem Mann hin. »Wir machen jetzt ‚Architekturreisen’.«

Sie waren in einem Hotel eingecheckt, dass noch ein Zimmer frei hatte und da sie nichts ausrichten konnten, zogen sie sich bald zurück.

 

»Ich habe Hunger!«

Clarisse fuhr aus dem Bett auf. »René!«

»Hallo. Wo bin ich? Clarisse? Was machst Du hier.«

Clarisse drückte die Ruftaste, dann warf sie sich auf René, überschüttete ihn mit Küssen und brabbelt lauter dumme Sachen, bis der Professor höchstselbst erschien.

»Wie schön!« rief er mit lauter Stimme. »Doch wenn sie so weitermachen, Clarisse, wird unser Patient ertrinken und nicht genesen. Ich darf doch mal?«

 

René war jetzt draußen. Man sah ihm seine Erleichterung an. Der Professor hatte ihm freigegeben, unter vielfältigen Auflagen und Bedingungen. Unter anderem mußte er ein Armband tragen, das wichtige Informationen an den Computer des Krankenhauses senden und bei Abweichungen Alarm geben würde. Die beiden Männer hatten miteinander geflüstert und amüsiert Seitenblicke auf Clarisse geworfen. Dann klopfte der Professor René auf die Schulter. »Keine Angst. Das löst ganz sicher keinen Alarm aus, es sei denn, Sie überteiben oder sie…«

»Was meinte der Professor mit ‚übertreiben’?«

»Äh, - Radfahren?«

»Du fährst doch gar nicht Rad!«

Er lachte und schlug sich auf die Schenkel. »Du Schuft! Also das! Männer sind Schw …« Er hielt ihr einen Finger auf die Lippen. »Pst, wenn das der Professor hört.«

»Der ist auch nur ein Mann«

Sie verschränkte die Arme und stiefelte los, zum Auto. Dabei fand sie die Vorstellung gar nicht einmal sooo schlecht. Und in einem zweiten Impuls konnte sie es kaum erwarten.

 

Das Häuschen war nah an die Steilküste gebaut. Vor hunter Jahren hatte es noch Platz gehabt, doch der stete Abbau der Küste hatte es immer näher rücken lassen. Und einmal würde es verschwunden sein. Der Blick von der Veranda über sein niedliches Blumengärtchen und eine niedrige Sanddornhecke ging direkt auf das Meer hinaus. In weiter Ferne, im Dunst, sah sie ein Containerschiff. Die Wolken hingen tief und rasten nach Osten, das schüttere Gesträuch vor dem Zaun und an der Kante der Klippe duckte sich vor dem Wind, der steif aus West blies.

René hatte sich hier »eingenistet«. Und da er ein ordentlicher Mensch war, mußte Clarisse nur noch ihr »Zeug« unterbringen. Es war nicht viel. Und ihre Kleidung für dieses Wetter und diese Gegend war völlig ungeeignet.

Im Ort in der Nähe fanden sie einen winzigen Kleiderladen. Hier staffierte Clarisse sich aus, fand passende Hosen, einen dicken Wollpullover und sogar Stiefel. »Ich brauche noch Unterwäsche!« René sah ihr neugierig zu, wie sie hinter dem Vorhang der Kabine probierte, verwarf, anderes auswählte. Ihn interessierten weniger die Kleidungsstücke. Das Waschzeug und die Kosmetiksachen fanden sie in einem Seifenladen über dem großartig »Parfumerie« stand. Die alte Dame, bestimmt weit über achtzig, freute sich über den seltenen Besuch aus der Stadt und dann noch aus der Nähe von Paris. Sie flitzte durch den Laden, schleppte an, was eine Frau so braucht und fragte gleichzeitig die Beiden aus.

»Ohlala!, Madame! Monsieur! Als ich noch jung war, da war hier was los! Alles was man nicht durfte, auf dem Land und in der Stadt, das gabs hier: Rock’n Roll, wilde Liebe. Hier kamen die Künstler aus Paris her, und malten nackte Mädchen am Strand und taten es auch dort.«

»Und Sie?«

»Nein, nein! Ich war nicht dabei. Ich hätte mich ja so geschämt. Jaja, damals..:«

Wusch! War sie im Hinterzimmer verschwunden und kam mit einem dicken Album voller Schwarzweißbilder wieder. »Sehen Sie. Das bin ich. Und hier: Ich mit Jean Gabin! Gott, was für ein Mann!«

Gabin lachte und hatte Madame im Arm. »Eine Kraft hatte der! Als Schauspieler!«

Nach einer Stunde hatten sie sich losgeeist. Das Restaurant am Markt hatte schon bessere Zeiten gesehen. Auch hier überall Fotos von berühmten Schauspielern, Musikern, Sängern. Der Wirt kam ins schwärmen. Leider hatte er wenig Zeit, da er auch der Koch war. Aber seine M’dame übernahm den Part des Erzählers. Das tat sie gern, wie Clarisse und René spüren mußten.

René sammelte sie trotzdem, die Geschichten. Er war mit seinem letzten Roman fast am Ende. Nun suchte er Stoff für einen nächsten und er hatte sich in den Kopf gesetzt, ihn in den fünfziger und sechziger Jahren spielen zu lassen. Warum nicht hier?

An den Abenden saß er bis spät in der Nacht. Sondierte sortierte. Sie lachten viel, aber es waren auch traurige Geschichten dabei und solche, von denen man nicht wußte, ob man sie überhaupt verarbeiten wollte oder durfte.

 

René war unterwegs. Clarisse genoß die Zeit allein. Pierre hatte sie in Ruhe gelassen. In seiner Mail schrieb er ihr, sie solle mal Pause machen. Wenn sie wieder wolle, solle sie kommen, es lägen ein paar Sachen bereit.

Sie hatte sich in die dicken Kissen gekuschelt und wartete auf René. Ihre Gedanken gingen im Kreis. Sollte sie Pierre mailen, das er Arbeit schicken sollte? Therese wartete bestimmt auch auf ihr Urteil und ihr eigener Roman? Sie hatte ihn verworfen. Nicht in der Neuzeit sollte er spielen, sondern im späten siebzehnten Jahrhundert. Eine elegante Zeit, aber auch gefährlich.

Dann war er zurück, spät abends und totmüde. René kroch seufzend ins Bett. Sie rückte zu ihm hinüber, und kuschelte sich an ihn an. Seine Finger strichen über ihren Rücken. »Aber, du hast ja gar nichts an«, flüsterte er.

»Mir war eben kalt!«

»Äh, kalt?«

»Ja, ja, kalt eben.«

Ihre Hände suchten und fanden und er seufzte. Vor ihren Augen entstanden Bilder aus dem Roman der jungen Autorin, und sie stellte sich vor, sie würde die junge Frau sein und er ein knackiger Bursche vom Lande. Sie kicherte in sich hinein. »Los, zieh Dich aus«, flüsterte sie ihm ins Ohr und jetzt musste René kichern.

 

 

  1. Gustave

 

René hielt sie fest. Von der Kante der Klippe ging es gleich senkrecht in die Tiefe. Unten prallte die Brandung gegen Felsen, und die Klippen. Die Sonne schien warm in den Rücken. In der Ferne begegneten sich zwei Riesenschiffe. »Da, siehst Du? Das rechts, das ist ein Tanker und das an backbord ein Containerschiff.«

Clarisse war nicht so sehr an Schiffen interessiert als eher an Renés Gesicht. Von der Seite sah er energischer aus. Ein Glücksgefühl durchströmte sie, und sie drückte seinen Arm fest an ihre Brust. Er sah von oben auf sie herab.

Gab es so etwas wie Sinnesübertragung? Sein Blick war weich. »Wasser«, sagte er, »Tiefes grünes Wasser. Ich liebe es.«

Sie schloss die Augen. »Schade«, sagte er. »Ich will nicht, dass Du ertrinkst. Wer bringt mich dann zum Haus zurück?«

»Zehn Meter?«

»Viel zu weit. Ohne Dich verirre ich mich und lande beim Nachbarn.«

»Untersteh’ Dich!«

Gestern war in das Nachbarhaus, fünfzig Meter weiter, ein uralter Mercedes vorgefahren. Ein Mann um die fünfzig hatte Koffer und Taschen ins Haus geschleppt. Sie hatten aus der Ferne zugesehen. Der Mann winkte, als er sie sah.

Dann hatte er an ihre Tür geklopft, stellte sich vor. Er sei Maler und wolle hier das Licht des Nordens in sich aufnehmen. Und er erzählte von sich und von sich und … Clarisse hörte ihm aufmerksam, mit offenem Mund zu, und der Gute fühlte sich geschmeichelt.

Als er wieder weg war, eine und eine halbe Flasche Wein hatten sie beseitigt, meinte Clarisse, »Schöner Mann …« Sie blickte in das Feuer des Kamins, und schwieg vielsagend. Und René? »Soooooo …« Dann war er im Bad vor den Spiegel getreten, hatte sich betrachtet. Schweigend setzte er sich.

 

»Oh, wie schön!« Sie schraken zusammen. Ihr Nachbar stand hinter ihnen, eine Feldstaffelei unter dem Arm, einen Rucksack auf dem Rücken und einen albernen breitkrempigen Hut auf dem Kopf. »Sehen Sie, die Farben des Meeres!« rief er begeistert aus. Renés Blick wurde stumpf, Clarisse sah auf das Wasser. Wohl wahr, dachte sie. Grün, blau, grau, weiß und darüber der blassblaue Himmel des Nordens mit seinen schnell dahinziehenden Wolken. »Ja«, hauchte sie und dachte an die Cote Azur.

René brummte. »Komm, wir müssen gehen.« Aber Clarisse hatte noch keine Lust. Sie blieb stehen, sah weiterhin auf das Wasser. Mit einem trotzigen Ruck zog sie ihren Arm aus Renés Hand. Der stand verblüfft da. Dann drehte er sich um. »Ich geh’ dann mal vor.«

»Jaja«, sagte Clarisse abwesend.

 

Nach einer Stunde saß sie auf der Veranda. »Hör mal, wie das klingt«, rief sie in das Wohnzimmer. »Der Kiel des Seglers schrammte über den Kies des Strandes. Zwei Matrosen sprangen von Bord, fingen die Leinen und liefen schnell zu zwei großen Felsen um das Schiff daran fest zu machen… Was meinst Du?«

Aus der Stube brummte René irgendetwas, dass Clarisse nicht verstand.

»Der Kapitän reichte der jungen Frau die Hand. Er begleitete sie zur Reling. ‚Ab hier muß ich Sie auf den Arm nehmen, Mademoiselle Olivia.’ ‚Oh ja, tun Sie das, mon Capitan, hauchte die Schöne. Sie klammerte sich am Hals des Kapitäns fest, und sah ihm tief in die Augen.«

Stille. »Na, was meinst Du?«

»Na ja. Is’n Anfang.« Es klang lustlos.

»Was ist los, René?«

»Nichts, nichts.«

»Doch. Ich merke es doch. Du bist - sauer!«

»Bin ich nicht.«

»Doch. Du bist eifersüchtig! Nur weil ich mit Gustave an der Klippe gestanden habe.«

»Auf den Pinselquäler? Ich?« Er lachte sarkastisch auf. »Gustave heißt der Kerl?«

»Er ist kein Kerl! Er ist nett und nicht so mufflig wie Du.« Clarisse klappte ihr notebook hörbar zu. »So, jetzt hast Du mir die Laune verdorben.« Sie war ernsthaft verärgert.

»Iiich? Dir? Wer hat denn …?«

»Na hör mal! Seit wann ist es denn verboten mit …?«

»Mit so einem Kerl durchaus!« rief René. Er war aufgestanden und in die Veranda gekommen. Zum ersten Mal sah sie sein Gesicht. So, so ernst, so wütend!

Clarisse versteifte sich. Noch nie hatte es jemand aus ihrer nahesten Umgebung gewagt, so mit ihr zu sprechen.

 

»Ich will aber!« rief das Kind und stampfte mit dem Fuß auf. Dann drehte es sich so um, dass sie Zöpfe flogen. Mit durchgedrücktem Rücken und geballten Fäußten ging es die Stufen nach oben in sein Zimmer. Hier warf es sich auf das gemachte Bett, und heulte.

Clarisse heulte nicht, weil sie nicht ihren Willen bekommen hatte, sondern weil ihre Eltern - in Kompanie und unisono und knallhart! - ihr verboten hatten, in die Disco zu gehen. Sie war immerhin schon Dreizehn! Fast. Zwölfeinhalb und zwei Monate. Na und?! Trotzdem! Sie war schon erwachsen! Als wenn sie nicht auf sich … Und schon heulte sie wieder. »Nein«, hatten beide gleichzeitig gerufen. Und aus ihren Einwand, dass ja ihre Freundinnen dürften (was natürlich eine Lüge war), kam ein noch strikteres »Nein!«

Was sollte sie machen? Paul, der Junge aus der Klasse über ihr, würde nicht warten, das war klar. Und bei der Vorstellung, dass Paul mit einer Anderen tanzen würde, flossen noch mehr Tränen. So konnte keiner mit ihr reden. So nicht! Sie war aus dem Fenster geklettert und hatte sich zur Disco geschlichen. Paul war schon da. Mit einer Anderen. Er hatte sie nicht einmal angesehen, der Mistkerl.

Lange hatte sie auf der Brücke gestanden, nach unten gesehen und die Ringe gezählt, die ihre Tränen auf dem vorbeifließenden Wasser hinterließen. Zu Hause holte sie sich die einzige Ohrfeige ihres Lebens ab. Und fand es nicht einmal ungerecht, denn sie hatte es verdient. Wie konnte sie diesem Paul vertrauen?

 

Clarisse fuhr herum, drehte René den Rücken zu. Vor verhaltener Wut hob und senkte sich ihr Busen. In den Fensterscheiben sah sie ihr Gesicht und seines. So bist Du also?, dachte sie. Siehst mich als Dein Eigentum an. Aber denkste! Nicht mit mir!

Sie zwängte sich an René vorbei, ohne ihn anzusehen, schnappte sich in dem kurzen Flur die Jacke vom Haken. Draußen holte sie Luft. Mit einer kurzen Handbewegung knallte sie die Tür zu.

So, nun erst recht!

 

René sah sie nach links gehen. Zum Nachbarn. Erst steigerte sich sein Zorn, doch dann kam er zu sich. Was war in ihn gefahren? Der ist doch keine Konkurrenz. Der doch nicht! Was mache ich nun? Das verzeiht mir Clarisse nie!

Er rannte zur Tür, erreichte die Zaunpforte. »Clarisse!« rief er, doch sie wollte ihn nicht hören. Warf den Kopf in den Nacken, dass ihre schönen Haare nur so flogen und ging steif davon. Und er hatte Herzrasen. Da stand er nun wie ein begossener Pudel. Langsam ging er ins Haus.

 

 

Sieben

 

Der Mann langweilte sie mit Schweigen. Du heiliger Bimbam, dachte sie. Worauf habe ich mich bloß eingelassen? Sie sah zu, wie er Farben mischte und auf eine Leinwand brachte. Was da im Entstehen war, ließ sich gut an. Gustave gelang es, die Farben des Nordens zu erfassen. Sie sah ihr Haus, es versetzte ihr einen Stich ins Herz, in der blassen Nachmittagssonne des Herbstes. Gustav hatte einen kräftigen, breiten Strich. Er schwieg, konzentrierte sich. Mit der rechten Hand hielt er die Palette, seine linke fuhr raschelnd mit dem Pinsel über die Leinwand.

Er trat zurück. Schloss die Augen zu einem schmalen Strich.

Clarisse sah ihn im Profil von links. Gustave band seine langen und lockigen Haare mit Gummi und einem Stoffstreifen im Nacken zusammen. Die hohe Stirn ging in eine glatte Nase ohne jeden Makel über. Die kräftigen Augenbrauen waren ständig in Bewegung, ebenso, wie seine Augen.

Der Mund war schmal aber nicht hart und sein Kinn rund.

»Darf ich Sie malen, Clarisse?«

Sie überlegte. Er wollte sie bestimmt als Akt sehen.

»Und wie, Gustave? Angezogen, halbnackt, nackt« fragte sie mit weicher Stimme. Und in ihrem Bauch flatterten Schmetterlinge, René. Das kannte sie doch!

»Wie Sie wollen. Sie sind in jeder Hinsicht eine wunderschöne Frau. Jeder Maler würde Sie malen wollen. Verstehen Sie?«

»Nicht ganz.«

»Gehen Sie zum Spiegel. Was sehen Sie?«

»Mich.«

»Sehen Sie genauer hin. Mit fremden Augen.«

»Warten Sie, Gustav. Ich trete mal eben einen Meter beiseite. Ja, was sehe ich denn da? Sie, Ihren Rücken!«

Er kam zu ihr. Drehte sie wieder zum Spiegel.

»Da!«

»Clarisse! Ich bin’s. Hallo …« Doch dann schwieg sie. Ganz langsam, als würde sie tatsächlich einen Meter neben sich stehen, sah sie an sich herunter. Ja, sie wars. Doch jetzt sah sie mehr. Gustave hatte Recht. Und René!

Wie sieht man sich in einem Spiegel? Sie wusste bisher nicht, was für Augen sie hatte. Andere hatten ihr geschmeichelt, René ist sogar mehrfach ertrunken darin. Doch sie hatte nur Augen gesehen, die morgens dringend Schminke benötigten, um über den Tag zu kommen. Manchmal müde, manchmal putzmunter und lustig, manchmal rot umrändert.

Und das Gesicht. Die Stirn, Augenbrauen, Nase, die Lippen, der Bogen des Kinns. Der Hals. Lang? Ja ziemlich, wenn sie ‚so’ machte. Sie machte ‚so’. Dann die Schultern. Sie zog den Pullover über den Kopf. Jetzt! Der Busen, die Taille, die Hüfte. Der Rest versteckte sich unter einer einfachen Hose aus grobem Stoff. Sie legten den Kopf schief.

»Malen Sie mich!«, forderte sie aus einer Anwandlung heraus.

»Gern, sehr gern.«

»Unter der Bedingung, dass …«

»Ja?«

»Dass ich das Bild behalte. Es ist meins, ich bezahle Sie dafür.« Sie dachte an René.

»Und zwei Bilder? Eins für mich, eins für Sie, ohne Bezahlung?«

»Deal!«

»Wann wollen Sie?«

Clarisse wollte ‚Morgen’ sagen doch sie entschied: »Jetzt. Sofort.«

»Gut. Warten Sie einen Moment. Ich brauche neue Leinwände.« Er verschwand in einem Nebenzimmer. Sie hörte ihn kramen, währenddessen sie die Kleider ablegte. Da stand sie nun.

Er kam herein. Blieb stehen, sagte nichts, sah nur. Erst wie ein Mann, doch dann änderte sich sein Blick. Er komponierte, gestaltete, positionierte. Licht, Schatten, Bögen. Und sie fühlte sich nicht unwohl unter seinen taxierenden Blicken.

Gustav nahm sie an die Hand, führte sie zu einem Hocker. »Hier. Setzen Sie sich.«

»Wie?«

»Einfach so, wie Sie sich hinsetzen würden. Ja, so. Aha. Und sehen Sie mich an.«

Er begann mit den Umrissen. Sie konnte ihn nur teilweise sehen. Mit einem feinen Pinsel zog er Linien, es kratzte und schabte. Dann nahm er seine Palette, holte einen breiteren Pinsel aus einem Etui. Stellte sich auf, sah lange auf sie. Seine Augen schienen jede Einzelheit ihres Körpers zu erfaassen. Eine Gänsehaut zog über ihren Körper, sie spürte ein leises Ziehen in der Brust.

Dann war er hinter der Staffelei verschwunden und arbeitete. Ab und zu tauchte sein Kopf auf. »Oh mein Gott«, stöhnte er und verschwand wieder. Was meinte er damit? fragte sich Clarisse. Nach einer Stunde tat ihr der Hintern weh. »Gustav?«

»Ja?« Er kritzelte.

»Können wir eine Pause machen?«

»Oh, pardon. Natürlich. Ich mache uns einen Tee?«

»Gern.« Sie zog den Pullover über den Kopf. Stand auf, ging zum Sessel. Der weiche Stoff schmeichelte ihrem nackten Hintern. Jetzt wurde sie wieder ein wenig warm, obwohl es im Zimmer nicht kalt war.

Gustave kam mit einem Tablett. Er stellte eine Tasse vor Clarisse, sah dabei ihren Schoß, bekam rote Ohren und verzog sich auf seine Seite des Tisches.

»Wie ist das eigentlich?« fragte Clarisse und nippte an ihrem Tee.

»Was?«

»Wenn Sie eine nackte Frau malen. Wie ist das?«

Gustav schürzte die Lippen. »Verstehen Sie es nicht falsch. Ich sehe Farben, Formen, Licht, Schattierungen. Eine Komposition. Es ist nicht so, dass Sie nur Gegenstand sind, das nicht. Ich sehe natürlich auch eine Frau, ihre Reize und finde sie wunderbar. Aber dort, an der Leinwand, sind sie nur ein Modell. Tut mir Leid.«

»Das muß es nicht.« Und sie erzählte ihm, das sie einen Roman schreibe und Eindrücke sammle und so weiter.

Und in einem Nebengedanken fragte sie sich, was ist, wenn er fertig ist? Ist sie dann immer noch Modell oder mehr? Sie fragte ihn danach, als sie aufstand und direkt vor ihm stand. »Wollen wir weiter.« Er starrte auf die Stelle unterhalb ihres Pullovers.

 

Zufrieden mit dem ersten Ergebnis ging sie wieder zurück zum Haus. Es war dunkel, kein Licht brannte. René? Schlief er schon. Ist doch erst zehn?

Die Tür war unverschlossen. Sie ging ins Haus, sah ins Wohnzimmer. Aufgeräumt, kein René. »René«, rief sie. »René??« Stille. Im Schlafzimmer waren die Betten gemacht. Die Küche war sauber. Kein René. Im Kamin, das Feuer, war heruntergebrannt. Auf dem Tisch lag ein Zettel.

»Clarisse!

Ich bin dann mal weg. Muß überlegen. Wir sehen uns zu Hause. Irgendwann. R.«

Clarisse las den Zettel noch einmal und noch einmal. Es war immer noch derselbe Text. Mit leerem Blick starrte sie auf das Papier. Nasse Flecken breiteten sich aus, dort, wo ihre Tränen auf das Papier getropft waren.

 

Sie lag noch genauso unter der Bettdecke, wie sie sich hingelegt hatte: Zusammengekauert wie ein Fötus. Clarisse hatte sich nicht bewegt. Das Kopfkissen war naß. Alles tat ihr weh, besonders die Seele, und sie tat sich vor allem selbst unendlich Leid.

Müde und zerschlagen warf sie das Deckbett von sich, und ging, nackt und frierend zur Dusche. Unter dem kalten Wasser, das erst langsam wärmer wurde, erwachten ihre Lebensgeister. Trotzig zuckte sie die Schultern. Na dann eben nicht! Ich bleibe noch! Und verbrannte sich an dem jetzt kochenden Wasser die Schulter.

Pfeifend, wenn auch laut und falsch, bereitete sie sich ein Frühstück. Gustave würde warten müssen, denn sie brauchte nun mal ihre Zeit.

 

In der Pause zog sie sich nichts über. Gustave hatte ordentlich geheizt. So saß sie nackt, mit untergeschlagenen Beinen vor dem Meister und schlürfte aus der Teetasse. Ein Glas Kognac stand neben der Untertasse, etwas weiter entfernt die ganze Flasche.

Sie bemerkte natürlich die Blicke Gustavs. Wie er sie maß. Sie drückte die Brust etwas heraus, zog den Bauch ein, schwieg. Er räusperte sich. »Weiter?«

Sie hob das Kognakglas. »Auf gutes Gelingen. Darf ich mal sehen?« sie zeigte mit dem Glas auf die Staffelei.
»Ja klar.« Sie tranken sich zu, bevor sie aufstand und zum Bild ging. Er stand jetzt dicht neben ihr, war etwa einen halben Kopf größer als sie. Sie roch Parfüm und Seife und Ölfarbe. Er atmete tief, sah immerzu auf ihre Brust, sie auf das Bild. Clarisse zog Luft durch die Zähne.

»Das bin ich?«

Etwas abgelenkt fragte Gustave, »Wie? Ja natürlich.«

So hatte sie sich noch nie gesehen. Es war nicht die Nacktheit. Es war, was das Bild zeigte: Eine verletzliche Frau. So hatte sie gesessen? So geblickt? Sie hatte nicht bemerkt, wie René sie beschäftigte und Gustv hatte es gesehen und gemalt. Bewußt oder unbewußt? Oder hatte er nur wiedergeben, was er sowieso nur sehen konnte?
»Es ist ja noch nicht fertig. Noch ein paar…«

Sie zog seinen Kopf zu sich herunter, gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Schön. Meisterhaft!«

Er zuckte mit den Schultern, hielt aber plötzlich ihre Hände. Sie sahen sich an. Es war ganz still, selbst das Feuer im Kamin knackte nicht mehr. »Komm«, flüsterte sie.

 

Es war nicht die Erfüllung gewesen. Es war, das gestand sie sich ein, nur ein Ersatz. Schnell sollte es gehen. Und es hatte nicht an Gustave gelegen, sondern an René. Wollte sie sich nur rächen? So, jetzt hab` ich es Dir aber gegeben?

Sie hatte Gustave gestreichelt, ihm ein Küßchen gegeben und er hatte sie mit roten Ohren angesehen und nichts gesagt. Sie nur angesehen.

Clarisse hatte entschieden, dass das Bild fertig wäre. Gustave bestand noch auf einen Hintergrund. »Nix«, hatte sie gesagt. »Es ist fertig. Morgen muß ich nach Hause.« Und: »Machen Sie sich eine Kopie, malen Sie meinetwegen dort einen Hintergrund hin, wie und wieviel Sie wollen, dieses hier bleibt so, wie es ist.«

Sie hatte ihn noch eimal umarmt und gedrückt. Und er hatte ihr ins Ohr geflüstert, dass es schön war mit ihr, obwohl er mehr auf Männer…

»Oh mein Gott!« Clarisse war lachend ins Haus gelaufen, hatte alles zusammengepackt und im Auto verstaut. Dann fuhr sie zurück nach V.

 

  1. Bretonische Abenteuer

 

Wenn man der Küstenstraße folgt, kommt man über Lannion und Neiz Vran, an die äußerste Spitze der Bretagne, dort, wo der Atlantik in den Kanal strömt.

Neiz ist eine lose Anhäufung von gepflegten Häuschen, vor allem neuen, die noch nicht so lange hier stehen.

Das Land ist flach, und wird nur von hohen Deichen vor den Unbilden der Natur, vor allem des Meeres, geschützt. Die Leute hier haben seit hunderten von Jahren dem Wasser das Land abgetrotzt, mit Sturmfluten gelebt, ihre Angehörigen an den Atlantik verloren. Sie sind zuerst pragmatische Menschen, die mit den Tatsachen leben. Und in zweiter Linie sind sie gläubig. Ein Widerspruch in sich?

Hinter einer hohen Hecke, die ein wenig gegen den steten Westwind schützt, steht das Haus der Familie Leguelece. René bekam das Zimmer mit Meerblick im ersten Stock. Es war einfach eingerichtet, ein Bett, ein Schrank, ein viereckiger Tisch mit zwei harten Stühlen. Ein Bild von Vincent van Gogh. Dieses, wo ihm ein Ohr fehlte. Das Bad war auf der anderen Seite des Flures. Zum Arbeiten konnte er auf eine gemütliche, überdachte Terrasse ausweichen, die Küche, wann immer er sie brauchte, benutzen. Die Familie wohnte nur ganz selten hier draußen. Sie hatten einen Hof weiter im Hinterland. Hier kam sie nur her, wenn der Mann zum Fischen aufs Meer wollte, wie überhaupt der größte Teil der Häuser Ferienhäuser waren.

 

Heute stand er direkt am Wasser. Der Atlantik rauschte und versuchte sich in das Land zu schneiden. Doch der Boden war sicherer Fels. Da hatte er viel zu tun!

Was mache ich eigentlich hier, fragte er sich. Er hatte er seine Studien abgeschlossen. Den Rest kann ich auch googeln. Die Menschen, na ja, verschlossen, ist wohl die naheste Charakterisierung. Man musste schon dazugehören, um tiefer einzudringen.

Wenn er meinte, weit genug vom Clarisse zu sein, dann hatte er sich geirrt. Er wusste jetzt, dass es egal war, wo er sich versteckte. Sie würde immer in seiner Nähe sein. Sie mußte nicht physisch anwesend sein. Es genügte ein einziger Gedanke.

Außerdem hatte er genug vom Spätherbst in Nordfrankreich.

Er packte seine Sachen (viel hatte er nicht mitgenommen), rief die Vermieter an, dass er abreisen würde und fuhr los.

Die Autobahn war mal wieder verstopft. Sein Navi empfahl vor der nächsten Mautstation abzufahren, und einen anderen Weg zu nehmen. René wunderte sich nur, dass er die Gegend kannte, das heißt, dass er sie schon einmal gesehen hatte. Genau, hier wohnt doch die junge Bäuerin, die keine sein will. Jedenfalls nicht so richtig. Er bog in die Straße ein, fand zu Zufahrt. Eine Angestellte bat ihn, zu warten, Madame käme gleich wieder.

Sie kam. Nach einer Stunde und erkannte seinen Wagen. Sie parkte ihren Mini genau neben ihm.

»Nanu, was verschafft mir die Ehre?« fragte sie.

»Der Zufall. Ich kam hier vorbei, wirklich, und da dachte ich, dass ich bei Ihnen vorbeischaue. Sie können mich auch wieder wegschicken.«

»Kommt nicht in Frage. Nicht um diese Zeit.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, und gab ihm einen Kuß.

»Kleine Jungens müssen jetzt schon im Bett sein.«

»Und kleine Mädchen?«

Sie nickte weise.

»Oh, sie duften so gut«, sagte er und schnupperte an ihrem Hals.

»Ja, nicht? Etwas Pferd, dazu ein ganzer Rinderstall und bei den Schweinen war ich auch noch.«

Er hob einen Finger: »Das ist die interessante Note im Abgang. Schweinisch. Hmmm.«

»Wollen Sie was essen? Es ist noch was vom Abendessen übrig. Wenn sie nicht unbedingt auf vier Michelin Wert legen.«

In der Küche setzte sie sich ihm gegenüber. »Erzählen Sie.«

»Miff fommem Mumb?«

»Klar doch. Wir haben wenig Zeit.«

»Ohlala. Was heißt das denn?«

»Was es heißt. Bilden Sie sich ja nichts ein!«

Das hatte er doch schon einmal gehört. Nachdem er mit Carleen geschlafen hatte. Er wedelte mit dem Messer in der Luft, schluckte. »Mach ich nicht. Niemals.«

»Wer‘s glaubt. Ihr Männer bildet euch doch immer was ein.«

Er erzählte vom Haus am Meer, von der Bretagne, von seinen vergeblichen Versuchen mit seinem Roman weiter zu kommen. Und dass nur Bruchteile übrig geblieben sind, die er dringend sortieren müsse und so weiter. Und dachte die ganze Zeit an Clarisse.

»Aber das ist doch gut. Aus Bruchteilen kann man doch etwas zusammenfügen. Ein Ganzes.«

Marga stand auf. »Ich hole uns noch eine Fasche Wein. Setz Dich mal schon in den Salon. Ich muss ja auch noch duschen, so, wie ich rieche!« Sie drehte sich kokett um. »Oder willst Du zusehen?«

»Klar will ich das.« Und er ging mit.

Im Bad, einem mittelgroßen Saal, in dessen Mitte eine riesige Wanne stand, schnupperte sie an ihm. »Du riechst auch!«

»Männerduft, meine Liebe. Auto, Öl, Whiskey«

»Ich nenne es Schweiß und – lassen wir das. Automief ist auch dabei.« Sie zog ihm das Jackett aus, den Rest besorgte er selbst. Sie stand mit verschränkten Armen dabei, wippte mit einem Fuß und lächelte versonnen.

»Und wo?«

Marga zeigt mit dem Daumen hinter sich. »Dusche, dort.« Doch sie sprach nicht mehr so burschikos. Sie wandte keinen Blick von ihm.

»Kannst Du mir den Rücken …?«, fragte sie ihn und hielt eine Bürste über ihre Schulter.

»Gern, aber kann ich da nicht bestraft werden?«

»Wieso. Weil Du mir den Rücken bürstest?«

»Wegen des Folterinstruments, das Du mir in die Hand gedrückt hast. Das ist doch keine Bürste. Das ist eine Forke!«

»Mach nur.«

Also legte er los. Vorsichtig zuerst. »Stärker«, forderte sie. Er drückte stärker. »Ja, das ist schön!« Sie stöhnte und bückte sich ein wenig. Die Berührung mit ihrem Hintern machte ihn unruhig. Er spürte eine gewisse Reaktion. »Los, hab Dich nicht so. Mach es endlich. Oder soll ich selber?«

»Gern, mach es.«, sagte er anzüglich. Sie schoss herum. Sah ihn lange an. Sehr lange. Zu lange. So lange, bis sich ihre Lippen fanden und ihre Hände anfingen zu suchen.

 

Krähen Hähne auch im Herbst? Ja. Es war nicht der Wecker. Es war ein Hahn. Einer allein. Glücklicher Hahn.

Marga war schon weg. Auf dem Nachttisch ein Zettel.

»Hallo R., wenn Du mal wieder hier vorbeikommst, schau doch einfach ‘rein. Es war wieder schön mit Dir, nur zu kurz. Und diesmal hast Du nicht nach dieser Clari-Dingsbums gerufen. Na geht doch.

Gute Reise, mein Lieber.

M.

P.S.

Bilde Dir bloß nichts darauf ein.«

Er hätte ihr doch nichts davon erzählen dürfen.

 

Die Einfahrt zum Haus seiner Eltern stand offen. Mit einem eleganten Schwung kurvte er vor die Haustür. Staub stieg auf.

Niemand empfing ihn. Er klingelte. Nach langer Zeit hörte er leichte Schritte. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Mutter.

»Hallo, was ist …«

Sie zog ihn ins Haus. »Papa ist krank. Es geht ihm nicht gut.«

»Warum hast Du nicht angerufen oder gemailt?«

»Habe ich doch.«

»Äh?« Er holte sein Handy vor. Nichts! »Etwa aufs Festnetz?«

»Natürlich, René.«

Sie waren indes nach oben, im elterlichen Schlafzimmer angelang. Sein Vater lag im Bett. Blass, mit spitzer Nase. Atmete flach.

»René. Wie schön, dass Du doch noch hergefunden hast. Wie geht es Clarisse?«

»Wie geht es Dir. Was hast Du?«

»Ein lateinische Krankheit. Die Ärzte wissen es. Sie labern lateinisch, in der Hoffnung ich würde es nicht verstehen. Pech. Ich kann ja Latein.«

»Und?«

»Herz, Kreislauf, alles zusammen. Sie haben mich ins Bett verfrachtet, die Ignoranten und geben mir Medikamente, von denen ich mit Sicherheit nicht genese.«

»Siehst Du, wie krank Dein Vater ist? Er redet lauter wirres Zeug.« Im Beisein ihres Mannes war Mutter die starke Frau. Unten hatte sie anders ausgesehen. Besorgter, mit wenig Hoffnung.

Aus dem Deckbett tauchte eine weiße Hand auf. Deutlich waren die Adern auf dem Handrücken zu sehen. Sie gehörte seinem Vater. Er wedelte mit dieser weißen Hand. »Schafft mir die Halbgötter in weiß vom Hals und schon werde ich gesund!«

»Komm, lassen wir den Dickkopf allein. Einen Kaffee?«

»Mir auch«, rief es aus dem Bett. Nur nicht mehr so burschikos. Und: »Wo ist Clarisse?«

Im Wohnzimmer nahm René die Hand seiner Mutter, und hielt sie fest. »Was ist wirklich mit ihm?«

»Er hatte einen Infarkt. Lag am Boden, vor seinem geliebten Zeichenbrett. Der Notarzt wollte ihn gleich ins Krankenhaus verfrachten. Aber Du kennst ja Deinen Vater. Nix!«

»Und Du?«

»Vielleicht ist es besser so. Ich würde mir Vorwürfe machen. Und, um ehrlich zu sein, hier habe ich ihn unter Kontrolle.«

Sie schwiegen, sahen auf den Boden, als wenn im Teppichmuster die Lösung stehen würde.

»Schön, dass Du gekommen bist. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, weil Du Dich so lange nicht gemeldet hattest.«

»Du hast Recht. Ich war so mit mir selbst beschäftigt …«

»Clarisse?«

»Auch, ja. Der Roman. Es hakt. Ich komme nicht so recht weiter. Naja, und Clarissae … Wir haben uns zerstritten.«

»Zerstritten? So hart?«

»Gestritten? Ja, gestritten. Ich bin dann einfach abgehauen.«

»Tststs.«

 

 

  1. Versöhnung

 

Man roch, dass lange kein Mensch mehr in der Wohnung gewesen war. Clarisse lief die Treppe hinauf zur Terasse, und öffnete alle Schiebefenster. Frische, kalte Herbstluft strömte in die Zimmer.

Das Bild stellte sie an eine Wand des Wohnzimmers. So, dass jeder, der den Raum betrat, es sehen musste. Weil es ein Meisterwerk war! Weil SIE es war und weil es hier in diesen Raum passte und hier sein musste.

Oben schaltete sie ihre Computer an, und während diese anliefen, kochte sie sich einen starken Kaffee.

Ihr Schreibtisch war aufgeräumt, wie immer. Sie öffnete Outlook. Pling! Zweihundert Nachrichten. Pierre hatte sich gemeldet, als sie unterwegs war: »Hab was für Dich. Alles Liebe P.« Fein, ich brauche Arbeit! Therese: »Liebe! Wie sieht es aus? Kann ich so weitermachen?« Aber unbedingt! Louise? Louise, die Frau des dicken Bauunternehmers aus Frejus: »Hallo Clarisse, ich bin am Freitag in Paris. Können wir uns sehen? Es gibt viel zu erzählen.« Freitag? Das war übermorgen. »Ja, komm bitte in die Rue D’Antibes. Wir treffen und unten im Café. Oder ruf mich besser an, damit wir uns nicht verfehlen. Ich freue mich ja so! C.«

Sie rief Therese an. »Therese! Entschuldigung. Ich war unterwegs im Norden …«

»…Dein Roman? Es wird. Du hast Dich an alles gehalten …«

»…Ja, die Hauptfiguren sind sehr schön gezeichnet. Halte Dich nicht … Wie?

»… genau das meinte ich eben. Halte Dich nicht an zu kleinen Details auf …«

»… schick es her. Meine Bemerkungen gehen gleich an Dich ab. Küsschen!« Sie legte auf. Pierre? Auf morgen vertagt.

René? Nichts.

Sie schaltete den Anrufbeantworter ein. Pierre: wollte gerne mit René sprechen, Pierre: wollte gerne mit René sprechen, Renés Mutter: Vater hatte einen Infarkt. Kannst Du kommen? Oh. Ich muß ihn anrufen! Wenn er noch nicht …

Sie wählte seine Handynummer. Die Anrufbox. »Ja, Clarisse. Ich weiß nicht, ob Du schon bei Deinen Eltern bist. Deine Mu … Hallo?«

»Clarisse?«

»René?«

Stille. Sie hörte ihn atmen.

»Clarisse. Kannst Du herkommen?«

Sie schrie fast, »Ja, ja, ich komme. Lieber …« Er hatte aufgelegt. So schlimm?

 

Sie wartete. Drückte noch einmal die Ruftaste. Auf dem Display leuchtete Madames Gesicht auf. »Ja?«

»Ich bin’s, Clarisse.«

»Oh, komm herein.«

Das Tor öffnete sich widerlich langsam. Clarisse trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad.

Die Haustür stand offen. »Madame?«

»Komm hoch, Clarisse. Wir sind oben.«

René stand am Geländer. Er hielt sich mit beiden Händen fest. Beobachtete Clarisse, wie sie die Treppen hochstieg. Dann standen sie sich gegenüber. M’dame G. lugte aus dem Schlafzimmer. Macht schon, dachte sie.

»Clarisse«, flüsterte er. Dann warf sie sich ihm um den Hals und er um ihren. Und sie heulte!

Dann löste sie sich von ihm. »Dein Vater. Was ist mit ihm?« Ihre Augenschminke war verschmiert.

»Mir geht es bestens, Clarisse!« rief es schwach aus dem Schlafzimmer. Sie lief hinein, blieb wie angewurzelt stehen. Der Geruch von Krankheit.

G. lag tief in die Kissen versunken. Sie erkannte ihn fast nicht mehr. Spitze Nase, blass, eingefallene Wangen, blaue Lippen. Es roch nach Kampfer. Wie bei Pierres Frau, dachte sie. Fehlt nur noch dieser Piepsturm.

Clarisse setzte sich behutsam auf die Bettkante, nahm vorsichtig die weiße, schmale Hand und drückte sie vorsichtig. Renés Papa! Da lag er,und sah sie an und sie wusste nicht, wo sie hinsehen und was sie sagen und tun sollte. »Sie sind eine wunderbare Frau«, flüsterte es aus den Kissen. »Schöne Frauen dürfen nicht weinen.« Das fremde Gesicht lächelte. »Meine Frau weint auch nicht.« Ein schöneres Kompliment konnte es nicht geben. Renés Mama streichelte die Wange ihres Mannes.

»Es ist Herbst, nicht war?« fragte Renés Vater.

»Ja..?«

»Da sterben die meisten Leute, wissen Sie. Eine schlechte Zeit für Krankheiten und alte Leute.«

»So ein Unsinn. Sie sterben doch nicht. Denken Sie daran, dass wir noch quer durch Afrika wollen, nächste Jahr.« Sie gab sich stark, und Renés Mutter lächelte versonnen. Clarisse wandte sich um. Da stand René in der Tür. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Sein Blick ging in die Leere. Was sah er? Oder, was sieht er nicht?

»Darf ich?« sie deutete mit den Augen auf René. »Aber natürlich, meine Liebe.« Seine Hand streichelte die ihre. »Gehen Sie. Was wollen Sie am Bett eines alten Zausels? Gehen Sie!«

Sie gingen Hand in Hand die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer setzen sie sich auf das Sofa. »Es sieht nicht gut aus«, begann René.

 

Seit einer Woche war Clarisse in Renés Elternhaus. Sie hatten sich, soweit es ging häuslich eingerichtet. Tagsüber schrieben sie an ihren Büchern oder Clarisse bearbeitete und überarbeitete Manuskripte. René Vater verfiel von Tag zu Tag. Es war, wie wenn eine Kerze langsam verlischt. Clarisse hatte das Gefühl, als wenn er immer kleiner und kleiner wurde, immer durchsichtiger. Und sie wusste, dass er darauf vorbereitet war. Gefasst erwartete er die Stunde, den Moment. Er machte seine üblichen Scherze, schimpfte auf die Ärzte - wenn sie nicht mehr im Hause waren - machte seiner Frau Avancen und ein Kompliment nach dem andern. Sie gab ihm Küsse, und meinte eines Tages, »Nun ist es aber gut. Du weißt, dass Du Dich nicht aufregen sollst!«

»Ich will aber«, tönte es aus dem Kissenberg.

Clarisse hatte Luise abgesagt, aber ihre Verabredung beibehalten, bis alles hier geklärt sein wird. ´Geklärt’, dachte sie. Was für ein Wort. Luise war enttäuscht, doch sie hatte verstanden. »Wir sehen uns, Clarisse. Ich mag Dich.«

Am Sonntagmorgen stand Renés Mutter in der Tür. Sie hatte geweint und allen war klar, warum: »Heute nacht …« sagte sie und »ganz still. Er hat einfach aufgehört, zu atmen.«

 

Clarisse hatte sich mit Luise getroffen und dabei René vorgestellt. »Vorsicht, Clarisse«, hatte Luise geflüstert, »dass ich Dir den Mann nicht abnehme. Hast Du ein Glück.« Es hatte sich ein herzliches Verhältnis zwischen ihnen entwickelt. Luise war locker, amüsant und voller Geschichten. Ob ihr Mann sich denn nun …?

»Der?« sie lachte sarkastisch. »Eher blühen Orangenbäume am Nordpol!« hatte sie ausgerufen.
»Wollt ihr euch scheiden lassen?«

»Nein, bloß nicht! Warum sollten wir?«

»Na, um genügend Rechtsanwälte zu beschäftigen!« lachte René und Luise musste unbedingt einen darauf trinken.

»Nein, im Ernst. Mein Mann ist, wie er ist. Soll er doch! Ich lebe jetzt in meinem geliebten Paris, mache meine geliebte Arbeit. Ich lebe wieder. Und vielleicht liebe ich auch wieder.«

»Und ihr spart euch beide viel Geld«, setzte René fort. Luise nickte dazu.

»Ihr glaubt es nicht« Luise machte es spannend. »Jetzt schreibt er mir jeden Tag eine E-Mail. Was er so tut. Wen er kennen gelernt hat. Wie es mit den Firmen läuft. Alles Dinge, über die er mit mir nie gesprochen hat. Könnt ihr euch das vorstellen?«

»Nee. Und seine Geliebten?«

Luise lächelte versonnen. »Geliebte? Ich bitte euch.« Sie lies offen, was sie wirklich darüber dachte.

 

Die zweite Beisetzung im Jahr, dachte Clarisse. Es reicht!

Die Trauerrede hielt der ehemalige Sozius. Es war die schönste Trauerrede, die Clarisse bisher gehört hatte. Sie zeugte von großer Hochachtung und Verbundenheit. »Er war ein Mann mit Phantasie. Ein großer Künstler und Ingenieur. Er konnte aus ein paar Strichen, aus ein paar wenigen Fixpunkten eine ganze Stadt entwickeln. Als er ging, entstand ein Riesenloch. Doch er konnte es immer wieder stopfen …« »… seine ganz große Liebe galt seiner Frau und seinem Sohn. Es gab keinen Tag, an der er nicht an sie dachte, sich nicht um sie sorgte…«

 

 

 

  1. Porträts

 

René stand in der Schlafzimmertür. Er hielt das Bild von Clarisse in den Händen. »Gustave?« fragte er.

»Ja.«

»Darf ich?« Er hielt das Bild gegen eine Wand. »Hier?«

»Warum dort?« fragte sie.

»Hier sehe ich Dich, wenn ich einschlafe und wenn ich wieder aufwache.«

Sie gab ihm einen langen Kuß. »Ich möchte auch von Dir ein Bild.«

»Aber nicht von diesem Gustave!«

»Lieber nicht. Der steht nämlich auf Männer.«

René schlug sich vor die Stirn. »Ich Trottel. Habe ich das nicht gesehen?«

Sie hockte auf ihrer Bettseite, sah ihn schräg an. Als sie Luft holte, um etwas zu sagen, fiel er sofort ein, »Schon gut, schon gut! Ich weiß was Du sagen willst.«

»Nein, weißt Du nicht. Ich wollte sagen, Du warst so süüüüß eifersüchtig.«

»Hattes Du keine Angst, dass ich Dir weglaufe?«

»Nö. Ich kann Dir ja auch nicht weglaufen. Sieh uns doch an.«

»Aber ich war sauer auf Dich.«

»Vielleicht gehört das dazu, weißt Du. Ich auch.«

Er holte Hammer und Nagel. Lange entbrannte ein Streit, wo das Bild am besten hinge. Es ging um fünf Zentimeter! Dann saßen sie davor und waren unendlich stolz. »Ich habe meine Frau in nackt«, sagte er.

»Ich will meinen Mann auch in nackt.«

»Kriegst Du. Ich kenne da eine Malerin…«

»Ich meinte, jetzt!« Verwirrt sah er sie an. Dann schlug er sich zum zweiten Mal an diesem Tag vor die Stirn.

 

Pierre umarmte Clarisse. »Ich freue mich, Dich zu sehen.« Er nickte, um diese Aussage zu bekräftigen. «Wie stehts?«

Sie zuckte mit den Schultern. Therese kam ins Zimmer. Sie bückte sich. Hatte wieder diese Bluse mit dem großen Ausschnitt an und keinen BH. Ein Küsschen rechts, eins links. »Kaffee?«

»Was soll ich sagen. Es geht.«

»Das klingt irgendwie … na ja.«

Sie schwiegen.

»Übrigens, wie ist’s. Ich geb eine Party zu Ehren meiner Frau. Wie versprochen.«

»Ja?«

»Kommst Du? Und René?«

»Zu Ehren Deiner Frau. Ja, klar.«

Er langte unter seinen Schreibtisch, holte einen Packen Papier vor und knallte ihn auf die Tischplatte.

»Was ist das?«

»Ein Manuskript.«

»??«

»Weiß nicht. Weiß nicht, ob das was für Dich ist…«

»Männerphantasien?«

»So ungefähr.«

»Doch nicht ein Porno?«

»Um Gottes … Nein. Aber merkwürdig. Die Spache, Diktion, Satzbau. Sprunghaft und trotzdem versteht man, worum es geht. Oder glaubt zu verstehen.«

»Gib her.«

 

René hatte tatsächlich eine Malerin gefunden, die auch bereit war, zu einem angemessenen Preis ein Bild von ihm zu malen. Er hatte ihr ein Foto von Clarisses Bild mitgebracht. Sie sah lange auf das Foto. Als sie ihn ansah, hatte sie große Pupillen. »Stell sie mir vor«, hauchte sie.

Clarisse hatte gefordert bei den Sitzungen zugegen zu sein. So saß sie mit ihrem notebook bewaffnet im Atelier der Dame. Ein erster Rundgang hatte ihr nicht beweisen können, dass Cloè, die Malerin, was konnte. Für Clarisse war das, was sie an den Wänden hängen und stehen sah, Sachen fürs Museum oder Klo.

Sie hatte sich so gesetzt, dass sie Cloè und René beobachten konnte. Cloe hatte lange an René herumgeschoben, gebogen und gebaut. Dann gab sie auf. »Setz Dich einfach hin, wie es Dir gefällt«, hatte sie resigniert. Und da saß er nun. Lässig auf einem Stuhl. Nackt, die Beine leicht gespreizt. Na das habe ich nun nicht gemacht, dachte sie gereizt. Aber Frauen machen das ja sowieso nur wenn…

Einen Arm hatte er lässig über die Lehne gelegt, die andere lag auf dem Oberschenkel. »Ja, so, bleib so.« rief Cloè mit einem Seitenblick zu Clarisse. Die tat so, als wenn sie das nichts anginge. Cloè stellte sich hinter Clarisse, beugte sich herunter, bis ihr Kopf mit Clarisses auf gleicher Höhe war. »Was meinst Du?«, fragte sie mit tiefer Stimme. Sie berührte mit ihrem Kopf Clarisses. Clarisse schluckte, »Hm jaa…« Sie hatte ein komisches Gefühl. Cloè, so weich.

Ihr Strich ähnelte dem Gustaves. Nicht ganz so breit. Cloè arbeitete schnell. Nur wenige Blicke, und sie hatte die Umrisse Renès erfasst. Aber anders als Gustave entstand erst der Hintergrund: Die Andeutung des Ateliers, schattenhafte Bücheregale. Alles leicht, schemenhaft. Schatten.

Dann arbeitete sie René aus. Clarisse erkannte die Liebe der Malerin zu ihrem Beruf und auch zu ihrem Auftrag.

 

Sie gingen eine Straße weiter in ein kleines Restaurant. Cloè sagte, sie kenne den Koch, ein ganz besonderer. Der gemütliche Raum war mit einfachen Möbeln ausstaffiert. Ölbilder, Aquarelle, Grafiken verdeckten die graue Farbe der Wände. Plakate hingen dazwischen, Autografien, Blätter mit Gedichten und auch Prosa.

Es war voll. Gerade verließen Gäste das Restaurant, so dass sie einen Tisch am Fenster ergatterten. Cloè spielte die Gastgeberin. Sie empfahl Schweinehaschee mit Gemüse und Bandnudeln. Obwohl Clarisse bei dem Wort Haschee zusammenzuckte, war sie doch mutig genug die Empfehlung zu probieren.

Scheinbar war Cloè hier bekannt wie ein bunter Hund. Alleweil kamen Leute an ihren Tisch. Bussi hier, Bussi da. Ah Cloè! Wann stellst Du wieder aus? Wo warst denn Du die ganze Zeit …?

»Tut mit Leid, Leute, aber hier wohnen fast nur Künstler. Bekannte, weniger bekannte und ganz arme Schweine.« Sie winkte ab. »Mancher von denen ist so gut, aber kann sich nicht verkaufen. So ist das eben.«

»Und mit dem Galeristen schlafen?« spöttelte Renè.

»Wenn Du einen weiblichen kennst.«

»Oh.«

Das habe ich mir schon gedacht, bei Clarisse läuteten die Alarmglocken. So wie sie mich ansieht und vorhin ihren Kopf … Aber süß ist sie. Nicht so aufgetakelt. Ein natürliches Wesen. Gut gebaut, wobei – sie wackelte mit dem Kopf, und schob den Gedanken beiseite. Das hatten wir doch schon mal.

Sie aßen schweigend.

»Sag mal, Cloè, läuft denn da irgendeine Ausstellung von Dir?« fragte Clarisse.

»Zurzeit bei Margot, Galerie Margot, gleich hier ein paar Ecken weiter. Willst Du Dir was ansehen?«

»Gerne. Dann malt man schön und ich gehe in die Galerie.« Sie ließ sich noch einmal den Weg beschreiben.

 

Die Galerie Margot hatte sich voll und ganz den Künstlerinnen verschrieben. Madame Margot kam sogar aus ihrem Hinterzimmer, um Clarisse zu begrüßen. Vielleicht roch sie ein Geschäft.

»Ist das alles von Cloè?«

»Oh, sie ist eine begnadete Künstlerin!« schwärmte Margot. »Hier. Sehen Sie? Das absolut Neueste von Cloè«

Clarisse sah farbige Flächen. »Das Grau! Wie es erst flimmert, und dann übergeht in die neutralste aller Farben: Grau.«

»Aha« Clarisse kniff die Augen zusammen, trat zurück, öffnete sie wieder.

Cloè war eine Malerin der großen Flächen. Keines unter vier Quadratmetern. Viele Werke waren dabei, die Clarisse sehr gefielen. Eine Landschaft in der Normandie, Protraits, Abstraktes. Und ein Rückenakt. »Selbst.« Stand darunter. Helle Haut, die in einer zerrissenen Welt wie von selbst leuchtete. Ruhe strahlte sie aus und Spannung, und auch Ängste. Clarisse war fasziniert. »Was kostet …«

»So viel? Können wir nicht …?«

«Zehn Prozent?«

»Halten Sie es mir zurück. Ich muß erst mit meinem Mann …«

Margot sah sie sehr freundlich an. Doch Clarisse konnte hinter ihrer Stirn lesen. »Doch, doch. Es geht nicht um den Preis. Ich bin mir sicher, dass er das Bild … Ach was. Machen Sie alles fertig. Ich kaufe es.« Du bist verrückt, dachte sie. Ein Bild zu kaufen! Was denn noch?

 

Sie holte René ab. Hand in Hand liefen sie zur U-Bahn. »Ich bin ganz schön fertig. Wusste gar nicht, das Modell sitzen so anstrengt.«

»Wie findest Du Cloè?«

»Wie? Zuck die Schultern.«

»Comicsprechs! Nein, sag mal ehrlich.«

»Ich bin ehrlich.« Sie blieben stehen. Er nahm sie bei den Schultern, drehte sie zu sich. »Clarisse! Ich ertrinke.«

Sie gingen weiter. »Und außerdem ist Cloè lesbisch. Keine Gefahr, wenn Du das meinst.«

»Du hast das erkannt?«

»Sie hat es mir gesagt. Und ich habe bedauert, dass so eine schöne Frau nicht vakant ist, auf dem Heiratsmarkt.«

Sie hat gelacht und gemeint, dass sie Dich gerne wiedersehen würde. Läuft da was?« Er machte ein unbestimmte Handbewegung.

Die U-Bahn fuhr ein, bremste zischend. Im Wagen sah Clarisse ihr Spiegelbild im Fenster. »Dann bleibe ich ihr lieber fern.«

»Musst Du?«

»Besser isses.«

 

Der Notar verkündete das Testament. René hatte nicht damit gerechnet, doch er bekam einen Anruf von einem Notar. Also ging er hin. Seine Mutter war mit einer Taxe gekommen.

Jetzt saßen sie wie die Schulkinder vor dem gewichtigen Schreibtisch des Advokaten.

Es war ein vernünftiges Testament. Selbstverständlich erbte er, klar. Doch er mußte seiner Mutter ein lebenslanges Wohnrecht einräumen. Was sonst, dachte er. Als er die Summe hörte, die er erben würde, wurde ihm schwindlig. Draußen rief er begeistert, »Mama, damit machst Du endlich die Weltreise, die Du Dir immer gewünscht hast und dann ist immer noch genug für mich übrig«, flüsterte er. Und sie: »Unsinn. Du könntest endlich heiraten.«

Sein Blick wurde stumpf. Heiraten? Ach du meine Güte! Damit kann ich Clarisse doch nicht kommen.

»Was ist?« fragte Mama.

»Das wird kompliziert.«

 

 

  1. Pläne

 

Es wurde kompliziert! Er redete und redete. Clarisse hörte zu. Im Sessel zurückgelehnt. Einen Fuß hatte sie auf das Sitzpolster gestellt, hielt ihr Bein mit beiden Händen am Knie fest. Den Kopf hielt sie schief, ihre grünen Augen, in denen er immer ertrank, waren halb geschlossen.

Er war fertig. Hatte alles gesagt, nur eines nicht: Willst Du mich heiraten?

Clarisse schwieg. Jetzt rollte sie sich auf dem Sessel zusammen. Zur Seite sagte sie, »Jetzt bist Du ein richtig reicher Mann.«

»Selbst wenn man die Steuern abzieht, auch noch«, meinte er bedächtig. »Außerdem, vorher war ich das auch schon.«

Er stand auf, ging zu ihr, kniete sich vor ihren Sessel. Streichelte ihr Knie. »Was ist, Clarisse?«, flüsterte er. Los, sag es, flüsterte es in ihm. »Clarisse? Willst …«

 

Clarisse Kopf war leer. Völlig leer! Was soll sie davon halten? Dabei war es doch abzusehen gewesen. Ihr wurde schwindelig.

Sie legte die Stirn auf ihre Arme. »Liebst Du mich?«, es klang dumpf.

»Wie?«, fragte er. René hatte nicht verstanden.

Warum sprang sie nicht herum? Jubelte, tanzte mit ihm durchs Zimmer. Warum war sie plötzlich so enttäuscht? Es gab doch gar keinen Grund! Keine Sorgen mehr, nie wieder die Frage, darf ich?

Unsinn! Sie waren nicht verheiratet. Es war sein Erbe. Was geht mich das an? Er kann mich jederzeit…

»… heiraten?«

Was? Was hat er gesagt? Sie sah auf. »Was hast Du gesagt?«

»Willst Du mich … heiraten?«

»Warum?«

»Weil ich Dich liebe? Weil ich mit Dir alt werden will! Weil ich Dich liebe? Weil ich alles mit Dir teilen will! Weil ich Dich liebe

In Filmen sagen die Frauen: ‚Nein’ oder ‚ich brauche noch Zeit’ oder ‚ich muß erst meine Eltern fragen’. Was sollte sie jetzt sagen. »Wie viel?«

»Hä, was, wie viel?«

»Kinder willst Du?«

»So viel, wie Du willst. Ich habe gar nicht an sowas gedacht.«

»Aber das gehört doch dazu!«

»Bist Du schwanger?«

Bin ich das? Ich habe noch nichts bemerkt. Es geht mir gut.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, nein.«

»Wovor hast Du dann Angst?«

»Vor Dir. Davor, dass Du Dich änderst. Dass Du anders wirst.«

»Willst Du Dich nicht erst einmal mit Deinen Eltern …«

Sie tat es! Sie war zu ihren Eltern gefahren. Wie schön, dass die so cool sind, hatte sie gedacht, als sie sich wieder verabschiedete. Geholfen hatte es nicht viel.

Mutter: »Wir können Dir nicht raten. Es ist Deine Entscheidung, Dein Leben, Deine Zukunft.«

Und Vater: »Er ist ein netter Kerl. Wenn er generös ist, dann merkt man es nicht. Es ist ihm eine Freude, zu sehen, wie andere, ihm nahestehende, sich freuen - glaube ich.« Und dachte dabei an Rèunion.

»Wie war das bei Euch? Ich hatte nie danach gefragt.«

»Das waren andere Zeiten. Wir waren schrecklich jung und bis über beide Ohren verliebt. Da fragt man nicht nach der Zukunft. Da ist die Zukunft die Gegenwart.«

»Dein Vater hatte bestimmt gedacht: Lass kommen, wird schon!«

»Und Du? Du doch auch!«

»Stimmt und dann kam unser Mädel. Kennst DU sie?«

»Ja. Und nein.«

 

Clarisse war gerade vierzehn. Während die anderen Mädchen schon mit ihren Freunden herumknutschten und ‚Dinge‘ machten, war sie allein. Sie bereite sich vor, sagte sie immer, sie wolle studieren. Wenn sie ehrlich war, hatte sie Angst.

Sie wusste nicht, wo diese Angst herkam. Sie war einfach vorhanden. Vielleicht war es ein Film oder eine Geschichte gewesen. Nicht, dass sie nie den Drang verspürt hätte! Aber …

Da war der süße Louis. Ein großer Bursche aus der Elften, braungebrannt, sportlich, muskulös. Schwarze Haare und einen Blick hatte er! Wenn sie ihn sah, schmolz sie innerlich dahin. Und er sah ihr immer hinterher, sagte nichts, tat nichts. Schaute nur, bis sie eines Tages auf dem Flur zusammenstießen. Ihre Bücher flogen in alle Richtungen und er stand da und starrte sie an. »Kannst du nicht aufpassen«, polterte sie los, um dann fortzusetzen: »Oh Verzeihung.« Und er stand da und starrte, der Volltrottel!

Später: Die Angst ‚davor’ hatte sie überwunden, aber keiner konnte sich an ihren Vorstellungen messen. Von da an hatte sie Freunde aber keine Geliebten gehabt. Bis sie René gesehen hatte. Sie korrigierte: angestarrt.

Ach ja, da war dieser Typ. Lange vor René. Während des Studiums. Eigentlich ein hübscher Knabe. Wie hieß der doch gleich? Er hatte sich ihr vorsichtig genähert. Das war dann schon im dritten Studienjahr. Plötzlich fragte er sie, ob er sie ausführen dürfe. Ausführen! Was für ein altmodisches Wort. Sie waren tanzen. Schwitzend, beschwingt und leicht angetrunken brachte er sie nach Hause. Und vor der Tür wollte er sie küssen und das durfte er. Doch als er ihr unter das T-Shirt griff und grob wurde, schubste sie ihn weg. Und da war sie wieder, die Angst. Es ging ihr danach noch oft so. Sie konnte sich nicht überwinden, bis sie Amou traf. Er war es der ihr die Angst ‚davor’ genommen hatte, mit seiner Zärtlichkeit und Geduld. Sie war geradezu explodiert.

Doch leider hatte er auch anderen Mädchen ‚die Angst genommen’. Und sie war wieder allein. Nun, in ihrer kleinen Wohnung und arbeitete für die Redaktion als Volontärin. Ferrauld war gerade zum Redakteur aufgestiegen.

 

 

  1. Hoffnung

 

Wenn René auf den Balkon seines Elternhauses trat, konnte er über die ganze Landschaft sehen. Gleich hinter der hohen Hecke begannen die Felder. Kühe und Pferde weideten auf satten Wiesen. In der Ferne verstreute Waldflächen und Bauernhöfe. Als Kind hatte er oft am Geländer gestanden und nur geschaut.

Als er in die achte Klasse kam, stellte ihm sein Vater einen Schreibtisch vor das Balkonfenster. Jetzt konnte er, wenn er Schularbeiten machte, hinaussehen. Jeden Tag entdeckte er Neues. Und es trieb ihn, darüber zu schreiben.

Schüchtern gab er sein erstes »Werk« seinem Vater. Der sah ihn ernst an. »Was willst Du einmal machen? Schriftsteller oder Architekt?« Und er hatte, wie aus der Pistole geschossen, geantwortet: »Schriftsteller!«

Drei Tage später legte ihm sein Vater das Manuskript auf den Schreibtisch. »Mach weiter so. Das ist gut, was Du da geschrieben hast.« René wollte es kaum glauben. Das sagte sein Vater zu ihm?

Nie wieder wurde darüber gesprochen. Es war beschlossen und fertig!

Das Studium beendete er summa cum laude. Ein Grund zum Feiern, ein Grund Gratulationen entgegen zu nehmen, sich zu freuen. Und dann kam Ferrauld. »Glückwunsch«, flüsterte er René ins Ohr. »Gut geschlafen, mit Professor Dampierre?«

Dampierre, seine Professorin in französischer Sprache mochte ihn und er sie. Aber geschlafen hatten beide nie miteinander. Weshalb Ferrauld eine gerade Linke auf die Nase bekam. Er landete auf dem Hintern und halb unter dem Tisch des Buffets. Zu allem Unglück fiel dabei eine Schüssel mit Suppe um und auf seinen Anzug. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass die Suppe heiß war.

Seine Wohnung kaufte er sich von seinem ersten, selbst verdienten Geld und verließ endlich seine Studentenbude. Es war viel Geld, sehr viel. Hätte S. nicht die Idee gehabt, aus René eine Madame Andrea Grimaude zu machen, wer weiß, was dann passiert wäre.

René war es gewohnt immer Geld in der Tasche zu haben. Aber es war ihm nicht wichtig. Es gab keinen Grund für ihn, damit zu eine Schau zu machen, wie andere in seiner Situation das taten. Mama hatte ihm immer gesagt, »Junge, denke daran, dass andere, viele, nie ausreichend Geld haben werden. Lass sie teilhaben an Deiner Freude, doch gib ihnen nicht das Gefühl, ausgehalten zu werden.«

Er verstand Clarisse. Sie glaubte, wenn sie sich an ihn binden würde, dass er sie ‚gekauft‘ hätte. René hatte überhaupt nicht an eine solche Möglichkeit gedacht.

Doch wie sollte er ihr klarmachen, das er sie liebte und nichts anderes?

»Nun, Sohn. Wie steht es mit euch?«

»Ich weiß nicht. Sie zweifelt.«

»Das ist gut und schlecht zugleich.«

Es sah seine Mutter erstaunt an. »Wieso?«

»Nun ja, eine Frau will einen Mann heiraten. Das steckt so in den Genen, glaube ich. Sie will ihn nur für sich. Eine Heirat bestätigt diesen Anspruch. Sie will ihn nicht teilen.«

Rene holte tief Luft. Doch seine Mutter erriet den Einwand.

»Bis auf Ausnahmen. So ist das bei uns Franzosen. Eine Affaire ist nicht so schlimm. Es darf nur nichts Ernstes ‘draus werden.«

»Doch zurück zum Thema: Deshalb prüft sie lange, denn unser weiblicher Instinkt warnt uns. Wird er so bleiben, wie er vor der Hochzeit war? Wird er sich an die Versprechen halten, die er einmal gegeben hat? Und wird er treu sein?«

René nickte verstehend.

»Und dann? Sie denkt und denkt und zweifelt und zweifelt. Wenn es dem Mann zu lange dauert, husch, ist er weg. Also muss sie sich irgendwann entscheiden. Hab Geduld. Sie wird ja sagen. Soweit kenne ich sie schon.«

 

 

  1. Veränderungen

 

»Ja, ich will.«

Und willst Du, Clarisse …«

Sie hörte gar nicht zu. Sah ihren René an und er sie. Sein Gesicht verschwamm, das Gebrabbel des Standesbeamten verschwamm, das ganze Standesamt verschwamm. Sie fühlte mehr, dass sie »Ja« sagte. Dann bekam sie einen Ring aufgesteckt, sie tat mit zitternden Fingern das Gleiche und schwebte irgendwo im All auf Wolke Siebenunsiebzig. Bis zum Restaurant »Zum Henker von Lille«. Sie bekam sie nichts mit. Nicht, wie sie aus dem Rathaus traten, nicht wie sie in das Auto stieg, nicht die Fahrt. Nicht die Glückwünsche, die sie automatisch entgegen nahm. Ihr Blick blieb unverwandt auf Renés Gesicht geheftet.

Cloè kam angeflogen. Sie fiel ihr um den Hals, gab ihr laute, schmatzende Küsse auf die Wangen. »Du Schuft«, rief sie René zu und küsste auch ihn schmatzend. »Ich habe euch das Bild mitgebracht. Als Hochzeitsgeschenk.« Dann stand sie vor den beiden, faltete die Hände vor der Brust, betrachtete sie mit schrägem Blick und rief »Schööön!«

Gustave war auch gekommen. Die Männer sahen sich erst feindselig an. Dann schlug Gustave René auf die Schulter. »Was hast Du für ein Glück, Alter.« Und kümmerte sich nur noch um Cloè.

»Guck mal.« Clarisse stieß René den Ellenbogen in die Seite. Cloè küsste Gustave. Oder umgekehrt?

 

Als sie aufwachte, sah sie ihren Mann. Er saß auf einem Stuhl, nackt und sah sie an. Das Bild! Eine Hand kroch zu ihr unter die Decke. Es kitzelte, Clarisse musste kichern.

Sie hatten heute Nacht - oder war es schon Morgen? - lachend und albernd Cloès Bild ausgepackt. René nahm das hässliche Hotelbild vom Nagel, und hängte sein »Portrait« auf.

»Na?«

Clarisse verglich Original und Bildnis. »Er ist kleiner«, stellte sie fest. Schnell verdeckte er ‚ihn‘ mit den Händen. »Wie peinlich. Das musst Du reklamieren!«

»Das Original, Du Träumer! Cloè hat sich ihr Wunschbild gemalt.«

»Dann lass das besser mit der Reklamation.«

»Vielleich hat sie geglaubt, dass ich sonst enttäuscht wäre.« Sie saßen nebeneinander, betrachteten das Bild mit schräg zueinander geneigten Köpfen. »Du bist noch angekleidet, Frau. Was soll das für eine Hochzeitsnacht werden …« Sie hatte sich auf ihn gestürzt. Und erst ‚danach‘ das Licht gelöscht.

René hatte nur noch geflüstert, »Drei Kinder? Oder vier?«

 

Die Wohnung sollte verkauft werden. Beide wollten in das Haus seiner Eltern ziehen. Ihr gefielen die Stille, die Umgebung, der Geruch, der Garten. Wieder hatte sich ein Makler angemeldet. René empfing ihn unwillig, denn trotz der Aussicht auf ruhigeres Wohnen konnte er sich nicht mit der Tatsache abfinden.

 

Die Wohnung in der rue D’Antibes hatten sie doch nicht verkauft. So konnte Renés Mutter mit ihrer neuen Haushälterin ruhig in dem Haus auf dem Lande wohnen.

Cloè und Gustave zogen ebenfalls ein, und nahmen den ganzen ersten Stock in Beschlag. Wer hätte das gedacht! Zwei Konvertiten! Clarisse lächelte bei der Erinnerung an Gustave. Gemeinsam schafften die beiden, als hätten sie ihr ganzes vorheriges Leben nachzuholen.

Ihre Regel blieb aus. Aha, klar, jetzt war es passiert. Und auch der Indikator aus der Apotheke bestätigte: »positiv«.

Am anderen Morgen flüsterte sie es René ins Ohr. Er schien noch tief zu schlafen, doch dann stand er im Bad hinter ihr und streichelte ihren Bauch. »Merkst Du schon was?« Männerfrage! Er griff ihr zart unter die Brüste, hob sie an. Legte den Kopf schief. »Schwer. Diagnose, Sie sind schwanger, Madame.« Sie schob ihn weg. »Hau ab, neugieriger Kerl. Und, nein, ich merke noch nichts.«

Sie merkte es dann doch, eine Woche später. Ausgerechnet bei Pierre S. im Büro. Als sie wieder zurück war, fragte er trocken, »Schwanger?«

Schwangerschaft ist keine Krankheit. Sie ist ein Ausnahmezustand der Frau. René war so vorsichtig wie möglich. Er formulierte lange an seinen Sätzen, bevor er sie auf Clarisse losließ. Und das machte sie hinwiederum misstrauisch. Da stimmt doch was nicht!

Beide schrieben wie besessen. René hatte eine Liege ins Arbeitszimmer gestellt, damit sich Clarisse ausruhen konnte, wenn es zu schwer wurde. Jedoch lag er meist darauf, und sie musste ihn verscheuchen.

Der Spätherbst hatte das Land braun gefärbt. Über den Winter hielt sich die Farbe, denn es schneite nicht, ja selbst Frost war die Ausnahme. Jetzt, im Februar sah die Welt so aus wie im November. Nur die Sonne schien anders, heller.

 

 

  1. Flucht

 

Clarisse schob ihr Bäuchlein vor sich her. Wenn sie unten im Café frühstückten, setzte sie sich schon vorsichtiger auf den Stuhl. Seit einiger Zeit trank sie Tee, von Kaffee oder Wein, selbst verdünnt, wurde ihr schlecht. Überhaupt fand sie, dass sie nicht gut aussah.

Ihre und Renés Mama meinten, das sei normal. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass man sich nach der klitzekleinsten Kleinigkeit schlecht und abgespannt fühlte. Im April sollte es soweit sein, doch ihr war, als würde es gleich morgen losgehen müssen.

Hatte sie zu viel gearbeitet oder sich im Tag verschätzt? Der ganze Tag verlief wie im Zeitlupentempo. Sie hatte ein Singen in den Ohren und die Welt drehte sich bei jeder Bewegung, die sie machte, gegen sie in die andere Richtung.

»Ich fahre ins Krankenhaus«, rief sie René an.

»Soll ich Dich nicht besser bringen?«

»Nein, wird schon. Eventuell brauch ich nur ein Medikament.«

 

Es war spät geworden. René hatte nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Draußen ging die Sonne knallrot hinterm Horizont unter. Wo ist Clarisse? Er rief sie über Handy an. Anrufbeantworter. Jetzt fühlte er wie sein Herz laut schlug. Poch, pochpoch, Poch. »Mama, ich fahre ins Krankenhaus. Etwas stimmt nicht.«

»Soll ich kommen?«

»Nein, warte auf meinen Anruf.«

Im Krankenhaus erfuhr er, dass Clarisse noch hier war.

»Warum?«

Schulterzucken. »Gehen Sie zur Station.«

René raste förmlich die Treppen in den dritten Stock. Er hätte den Aufzug nehmen können, aber der war ihm zu langsam. Eine ahnungslose Schwester, die gerade beide Hände mit Instrumenten voll hatte, schickte ihn mit einer Kopfbewegung zum Schwesternzimmer. Doch da kam ihm einer der Halbgötter in Weiß entgegen.

»Clarisse G., Clarisse? Ah ja. Sie sind M’sieur René G.?«

»So ist es.«

Der Doktor sah René scharf an. »Kommen Sie.«

Sie liefen ein Stück den Gang hinunter. Leise öffnete der Arzt eine Tür. »Aufwachraum« stand auf dem Schild.

Aufwachraum?

»Was ist mit…«

»Psst«, machte der Doc. »Sie schläft noch.«

»Was ist…!«

»Kommen Sie.« Sie traten ein. »Ihre Frau hatte eine Fehlgeburt.« René wurde blass. »Es war knapp. Verdammt knapp. Der Fötus war tot. Erstickt an der Nabelschnur. Zum Glück war ihre Frau rechtzeitig zu uns gekommen. Die angehende Blutvergiftung hätte sie sonst umgebracht.«

Der Arzt sah geschäftig nach den Instrumenten, als wolle er René nicht in die Augen sehen.

Meine arme, kleine Clarisse, dachte René. Warum Du? Er ging zu ihr. Eine blasse Hand hing schlaff von der Bettkante. Clariss’ Gesicht war ruhig, fast entspannt. Renè flüsterte »Clarisse?«

»Alles in Ordnung. Alle Werte wieder normal.« sagte der Arzt. Renè sah ihn durch einen Schleier von Tränen.

»Wird sie wieder ganz gesund?«

 

Der Professor lehnte sich zufrieden zurück. Dabei quietschte der Sessel. Er verzog sein Gesicht. Doch dann leuchtet es wieder voller Zufriedenheit und Zuversicht. »Sie hatten Glück im Unglück«, tönte er mit lauter Stimme. »Sie haben ihr Leben gewonnen, meine Liebe. Und«, er hob einen Finger, »sich die Chance erhalten, einen weiteren Versuch zu unternehmen. Von mir aus auch mehrere.«

»Wie meinen Sie das, Versuche.« Clarisse sah den Professor irritiert an.

»Na, Kinder machen!«

»Nie wieder!« Sie schrie es fast.

»Nun, nun. Liebste Clarisse! Es gibt nichts besseres, als Kinder zu machen.« Wie er es sagte, klang es nicht einmal anzüglich, sondern wie das normalste Ding der Welt. Kinder machen! Na los, machen sie Kinder, los, los. Der Professor strahlte über das ganze Gesicht. Er stellte die Ellenbogen auf seinen Tisch, und führte seine Fingerspitzen zueinander. »Sehen Sie, Clarisse, es kommt vor, dass die Natur uns nicht gewogen ist. So ist sie. Doch wir sind Menschen. Wir haben Verstand - neben den Gefühlen. Sie sind eine starke Frau und kerngesund! Nehmen Sie es hin oder trauern Sie. Aber nicht zu lange! Was immer Sie jetzt tun, es ist richtig. Denken Sie daran, dass Sie ein Kind wollten. Unbedingt, nicht wahr?«

Clarisse nickte schüchtern.

»Wunderbar!« polterte der Professor. »Ruhen Sie sich ein wenig aus. Und dann beginnen Sie von neuem. Und wenn Sie Hilfe oder Rat benötigen, kommen Sie zu mir. Ich werde Sie im Auge behalten!«

»Danke«, flüsterte Clarisse. Sie fühlte sich noch schwach und hilflos. Sie brauchte jemanden, an den sie sich anlehnen konnte. Als sie aufstand, war schon der Professor um seinen Tisch herum. Er schloss sie in seine Arme, drückte sie voller Herzlichkeit. Dann hielt er sie von sich, strahlte wieder. »Es wird, Clarisse, es wird. Und nun, au revoir!« Und flüsterte ihr ins Ohr: »Machen sie Kinder!« Der Gute! Der hatt doch keine Ahnung!

Als Clarisse aus der Tür heraus war und der Professor allein, griff er zum Hörer. »Madame Schulz? Guten Tag. Wir müssen reden…«

 

Clarisse hatte alleine mit dem Professor sprechen wollen. Deshalb wartete René unruhig auf dem Flur, den er mehrfach in seiner vollen Länge abgeschritten hatte. »Clarisse!« Er breitete die Arme weit aus. Clarisse stürzte sich ihn seine Arme, und dann heulte sie, heulte, heulte und heulte. René legte den Arm um sie. »Naa, naaa. Komm, wir fahren nach Hause.«

»Können wir verreisen? Ganz, ganz weit weg?« fragte sie René zwischen zwei Schluchzern. Sie sah mit ihren grünen Augen, in denen ganze Fässer an Tränen schwammen, traurig auf René. Der Blick brach ihm das Herz.

»Soweit Du willst, solange Du willst, wohin Du willst.«

Und Clarisse sage »Nur weg.«

 

Die Tickets waren teuer. Sehr, sehr teuer. Aber der Flug sollte auch weit gehen, sehr weit und Clarisse sollte es bequem haben. Stundenlang telefonierte er mit der Fluggesellschaft. Gerade waren Plätze frei geworden. Na so ein Glück!

»Clarisse?« Er rannte ins Schlafzimmer. Clarisse lag auf dem Rücken, und blickte zu Decke. »Komm, mach Dich schön. Wir hauen ab. Ich sage nur noch allen Bescheid.«

Clarisse fragte nicht einmal, wo es hinging. Apathisch erhob sie sich, blieb einen Moment sitzen und ging dann ins Bad. Draußen hörte sie, wie René telefonierte.

Es klingelte. »Ihr Taxi, Monsieur.« »Wir kommen.«

 

Sanft setzte der Flieger auf. Nur das Tock, tock, der Rinnen auf der Landebahn drangen nach oben durch. Clarisse hatte beinahe den ganzen Flug über geschlafen. Nur in Singapur war sie munter. Sie stiegen in die New Seeland Flights um.

Jetzt sah sie aus dem Fenster. Noch flogen die Gebäude des Flughafens vorbei, doch das Flugzeug wurde immer langsamer und bog zum Terminal ab.

Die Pass- und Zollkontrolle war lax. Die Beamten sahen das Paar, und vor allem die junge Frau mit den furchtbar traurigen Augen, und winkten sie einfach durch. Vielleicht wunderten sie sich, dass sie kein Gepäck dabei hatten. Aber was hatten sie nicht schon alles erlebt!

Ein Mietwagen stand bereit. Die Formalitäten waren schnell erledigt. René half Clarisse in den Wagen. »Dann los«, sagte er und startete. Oh, hier ist Linksverkehr, erinnerte er sich, ordnete sich ein und hatte sich schnell daran gewöhnt.

Clarisse schwieg und sah aus dem Fenster …

 

Der Schock war groß. Ein Stationsarzt hatte sie untersucht. »Bleiben Sie liegen. Nicht bewegen, nicht wegrennen!« hatte er gesagt, war verschwunden und kam mit dem Professor wieder. Der, groß und breit wie ein Stier, strich ihr mit seiner weichen Hand über den Kopf. »Clarisse«, sagte er, wobei er ihr tief in die Augen blickte. »Bitte, seien Sie jetzt stark. Sie verlieren Ihr Kind. Wir müssen es holen. Sie kommen sofort unters Messer.« Er winkte mit der Hand. Und gleich stand jemand neben ihr und, gab ihr eine Spritze. Eine seltsame Ruhe überkam sie, sie wusste nicht mehr, was sie hier sollte.

Als sie aufwachte, stand René neben ihrem Bett. »Na?« fragte er.

Sie sah ihn an. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie sein trauriges Gesicht sah, das er ungeschickt unter Optimismus tarnte. Ich bin Schuld, ich bin Schuld, ich bin …

»Wir haben unser Kind verloren«, sagte sie mit trockenem Hals. Ich bin Schuld, ich bin … Der Satz ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. »Ich weiß.« Er geht darüber hinweg, als hätten wir nur vergessen, in der U-Bahn zu bezahlen. »Du musst gesund werden, Liebes.«

Sie schwieg. Ich bin …

 

… Schuld. Die Stadt wurde niedriger. Die Häuser mit ihren gepflegten Vorgärten hatten nur noch ein Stockwerk. Weiden und Felder flogen vorbei. Eine helle, warme Sonne schien. Hier Down Under war Sommer. Die Leute hatten helle Kleidung an, die Luft wurde leicht und roch ein wenig nach Salzwasser.

Sie bogen auf die Küstenstraße ein. »Es ist nicht mehr weit, Liebes. Dann kannst Du Dich ausruhen.«

Nett gemeint. Ich habe mich lange genug ausgeruht.

Ein Wäldchen begann. Tropische Pflanzen säumten den Straßenrand. Sie erreichten eine Einfahrt. »Blue Sea Ressort« stand mit schreienden Farben auf einem Schild zwischen den Torpfosten. An den Pfosten eine Kupfertafel mit fünf Sternen und irgendeiner Erklärung auf englisch. Damit machte man klar, dass dies hier nicht Jedermanns Ressort war. Es kostete eben.

Ein Concierge kam die drei Stufen vom Eingang zum Wagen herunter. Er öffnete Clarisses Tür. »Welcome, Ma’am, Sir. Nice to see you. «

Er sah sich um. »Ihr Gepäck, Sir?«

»Haben wir nicht. Wir kaufen uns hier, was wir brauchen.«

Clarisse bewunderte in Stillen die Körperbeherrschung des Concierge. Er verzog keine Miene, was immer er auch denken mochte. Höflich begleitete er sie zur Rezeption.

Langsam nahm sie mehr und mehr ihrer Umgebung war. Sie sah sich um. Wir sind nicht mehr in Frankreich. Ein Plakat wies auf die Sehenswürdigkeiten Neuseelands hin. Neuseeland?

Sie stellte sich auf Zehenspitzen. »Sag mir nicht, dass wir in Neuseeland sind«, flüsterte sie René ins Ohr. Der nickte, denn er war mit der Empfangsdame beschäftigt. Da stand sie nun. In Neuseeland! Sie erinnerte sich. »So weit weg wie möglich«, hatte sie gefordert. Nun, sie war so weit weg wie möglich!

So etwas, wie Humor kam in ihr auf. »Sind wir auf der Flucht?« Die Empfangsdame, die sicher französisch verstand, hob die Augenbrauen. Renè nickte, »Vor Allen und Allem!« Das Gesicht der Dame verschloss sich. Ob sie die Polizei ruft?

Sie gingen zu ihrem Haus. Natürlich! Sie hatten ein Haus! Drinnen setzte sie sich in einen Sessel mit wunderbar weichen Polstern. Sie schwitze. War ja noch angezogen, als wäre sie im alten Europa.

»Ich geh’ duschen.« Sie warf ihre Sachen von sich. Die landeten auf dem Boden. René hob sie auf. Im Bad fand sie alles Nötige. Vor dem Spiegel, der bis zum Boden reichte, blieb sie stehen. Blass sah sie aus und grau. Sie hatte befürchtet, eine Narbe zu sehen, doch ihre Haut war makellos wie immer. Nicht einmal Schwangerschaftsstreifen hatte sie davongetragen. Sie stellte sich unter die Dusche.

René kam hinzu. »Du duschst schon eine halbe Stunde.«

»Na und?« fauchte sie und heulte sofort los. Er nahm sie in die Arme. »Pscht, pscht.« Seine Sachen wurden nass, doch es kümmerte ihn nicht, und Clarisse drängte sich an ihn. Am liebsten hätte sie ihn in sich aufgenommen. Langsam versiegten die Tränen, die sich mit dem Duschwasser vermischt hatten. »Komm, Du wirst ja ganz nass.« Sie zog ihn aus der Kabine.

»Wir müssen uns morgen Kleidung und alles Zeug kaufen.«

»Ja.«

»Ja.«

Ihre nackten Körper trockneten in der Luft. Er hatte seine Sachen über ein Geländer gehangen. Bis morgen wäre es wieder anziehbar, erklärte er. Dann legten sie sich auf die Betten. Erst lag sie auf dem Rücken, und blickte auf die Zimmerdecke. Dann drehte sie sich zu ihm. Kuschelte sich zusammen und presste sich an seinen warmen Körper.

Da war es wieder: Ich bin Schuld, ich bin … Sie zitterte.

»Ist Dir kalt?«

Clarisse schüttelte den Kopf. Krabbelte noch näher. »Halt’ mich fest.« Und René tat es. »Noch viel fester.«

 

Nach dem Frühstück fuhren sie in die Stadt. Sie liefen eine Straße hinunter, an der sich Laden an Laden reihte. Am Ende war dann noch ein Supermarkt. Schwer bepackt schleppten sie sich wieder zurück zu ihrem Wagen.

Still fuhren sie zum Ressort. Still stiegen sie aus und still gingen sie zu ihrem Haus. René wusste beim besten Willen nicht, was er sagen sollte. Wenn er seine Frau ansah, hätte er losheulen können. Ihre Augen, in denen er immer ertrank, und sie ihn, Gott sei Dank, rechtzeitig herausholte, waren voller Traurigkeit. Dunkel flackerten sie unstet hin und her, hielten ihn nicht fest.

Lustlos probierte sie die Sachen an. Passt! Dann saß sie wieder im Sessel, und stierte Löcher in die Luft. Ich bin Schuld …

Er hielt es nicht mehr aus. »Ich bin mal draußen.«

In der Mitte der Ansammlung von ähnlichen Hütten, wie die, die sie bewohnten, war eine winzige Bar aufgebaut. Der Keeper, ein Franzose aus Lion, der hier studierte und in den Ferien im Ressort an der Bar arbeitete, freute sich einen Landsmann zu treffen. »Der erste geht auf mich!«, rief er und schenkte einen gewaltigen Cognac ein. René kippte ihn herunter, und musste husten.

Sie lachten. Dann, mit ernstem Gesicht: «Ihrer Frau geht es nicht gut, nicht war? Der Flug?« René schüttelte den Kopf. Er wollte nicht, dass irgendwer es erfuhr. »Ein Unglück. Wir sind hierher gekommen, um es zu verarbeiten. Bitte reden Sie …« Der Keeper nickte ernst. »Ein guter Ort, dafür.« Und René war sich sicher, dass es niemand erfahren würde.

René war gespannt, wann es aus Clarisse ausbricht und wie. Er war auf alles gefasst. Der Professor hatte vorher mit ihm gesprochen. »Lassen Sie sich Zeit, René. Lassen Sie vor allem ihrer armen Frau Zeit.« Er legte ihm seine große Hand auf die Schulter. »Eigentlich ist Clarisse beneidenswert. Sie kann, wenn sie will Abstand finden, wissen Sie. Sie hat alles: einen guten Mann, das sind sie doch?« Er schmunzelte. »Geld und Zeit. Ich habe Frauen hier, die zweimal Fehlgeburten hatten. Sie hatten aber keine Zeit lange zu trauern, denn sie müssen arbeiten. Und kamen wieder und haben gesunde Kinder bekommen. Was ich sagen will, versuchen Sie ihr den Schmerz zu nehmen. Schnell, damit er sich nicht manifestiert. Wecken Sie das optimistische in ihr.« René hatte nur genickt und den jovialen Schlag des Professors auf seine Schulter ertragen.

 

Der Keeper machte hunderte von Vorschlägen, was er alles besuchen, was sie sehen mußten.

»Ein Boot?«

»Ein Boot? Ich kümmere mich darum.«

 

Zum Frühstück reichte die Kellnerin René einen Zettel. Clarisse sah auf, und versank wieder in ihren brütenden Zustand. Egal, dachte René.

»Wir fahren heute zum Hafen, das ist Dir doch Recht?«

»Ja.«

»Fein.«

Im Hafen fand er schnell den Hafenmeister. Er gab ihm den Zettel. Der sah ihn erstaunt an. »Haben Sie das … Patent?«

»Yes, Sir. Hier.«

Er zeigte das Patent, das er immer bei sich trug.

»Kommen sie. Ihre Frau?«

»Ja, meine Frau, meine Geliebte, meine Arbeitspartnerin.«

Der Meister grinste breit. »Schön, dann lernen Sie mal meine kennen – oder lieber nicht!« Er lachte rau, doch es klang nicht böse. Männerscherz eben.

Die Yacht war gepflegt und im besten Zustand. »Ist denn in der letzten Zeit mal jemand damit auf See gewesen?«

»Schon lange nicht mehr, Sir.«

»Und sie ist seetüchtig?«

»Absolut!«

»Na dann, an Bord mit uns.« Er half Clarisse an Bord.

Zum ersten Mal blickte sich Clarissa aufmerksam um. »Ein Boo…«, sie verbesserte sich selbst: »Schiff. Wie schön.«

»Eine Yacht«, verbesserte er.

Der Meister half ihnen noch, die Yacht loszumachen.

Er segelte einfach geradeaus nach Osten. Die Yacht wurde durch einen Computer gesteuert. Je nach Wind, Himmelrichtung und Ruderstellung wurden die Segel gesetzt. René kannte die Sorte, er war schon alleine auf dem Atlantik damit gewesen. Einfach herrlich, aber nahezu unerschwinglich.

»Wohin fahren wir?«

Er zeigte mit der Hand geradeaus. »Dorthin. An den Horizont, wo die Welt zu Ende ist.«

»Liegt da Hawaii?«

»Nein. Wenn wir nicht aufpassen, fallen wir runter.«

»Dann pass auf!«

»Ich Kapitän, du Moses. Du passen auf! Ab in die Wanten.«

»Was ist da vorne?«

»Südamerika, Chile.«

»Wie weit?«

»Sechstausend Meilen.«

»Laß uns segeln…«

Schweigen.

»Erinnerst Du Dich? Auf der Seine?«

»Ja. Du hast wunderbar ausgesehen.«

»Hast?«

»Du siehst wunderbar aus, meine Schöne.«

Sie gab ihm einen Kuß. Erst kurz. Dann nahm sie seinen Kopf in ihre Hände. Ihre Augen waren klar, als sie in seine sah.

»Du Lieber …« Sie fühlte sich leichter, war es die Seeluft. So klart, so rein?

»Ich ertrinke!«

»Aber nicht in voller Montur. Komm nach unten …«

 

Sie kamen erst kurz vor Sonnenuntergang wieder nach oben. Am Himmel zogen Cirruswolken in großer Höhe schnell nach Westen. Weit im Osten türmten sich Stratocumuli. René sah nach dem Wetterbericht. Alles in Ordnung. In den nächsten drei Tagen würde sich das ruhige Wetter nicht ändern. Er stellte den Autopiloten auf Nord. Das Schiff schwenkte elegant ein, und wiegte sich in der Dünung.

Clarisse saß an der Bordwand, das Kinn auf die Hände gelegt. Sie sah den Wellen zu, zählte, Ein, zwei, drei…sieben. Das ist sie. Der Kawenzmann. Natürlich winzig im Vergleich zu den wirklichen, die dreißig Meter-Wellen, die ganze Schiffe einfach verschlingen konnten.

Sie fühlte sich beschwingt. Hier auf See spürte sie, wie sich die Schwere ihrer Gedanken verflüchtigte. Sie war bereit ihr Schicksal anzunehmen.

War sie das? Wirklich. Und René?

Der saß gelassen am Ruder, hielt es fest, obwohl er das nicht musste. Der Autopilot…

Die gleiche Haltung. Der Blick nach vorn. Was dachte er gerade? Eine leise Briese trieb sie mit fünf, sechs Knoten über das Wasser. Sie hinterließen eine weiße Spur aufgewühlten Meerwassers.

»Was denkste Du?« fragte sie.

»An eben. An Dich. An uns.«

Eine spitze Rückenflosse tauchte aus den Wellen auf. Schwamm mit dem Schiff mit. »Ein Orka!« rief René. »Hier unten?«

Er nahm sie in die Arme. »Ich liebe Dich«, flüsterte er.

Ruhe überkam sie. Egal, ob hier oben oder sonst wo.

An eben, an Dich, hatte er gesagt. Sie hatte befürchtet, dass sie nie wieder mit ihm schlafen könnte. Doch als sie seine Lippen auf den ihren spürte, seine Zunge ihre suchte, sein großer Körper sie fast umgab, da wusste sie: Ja ich will!

Sie sah den großen, dicken Professor vor sich. Strahlend, fröhlich, voller Optimismus. Er klatsche in die Hände vor Freude. Ja, tun Sie es, Clarisse, machen Sie Kinder! Und sie hörte sein Lachen, so voll und sympathisch.

 

Nach vier Tagen waren sie zurück. Kein Sturm hatte sie erfasst, kein Monsun ertränkt, keine Wellen wollten sie kentern. Clarisse war, als wäre sie nicht auf dieser Welt, sondern einer anderen. Und es war, als hätte sie etwas hinter sich gelassen. Was, das hatte sie vergessen.

Vergessen? Wirklich?

Sie erinnerte sich an einen Spruch. Wer hatte ihn geagt? Egal: »Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen!« Contenance! Das galt für Außen. Aber Innen. Immer bleibt etwas, das sich einnistet. Schmerz, Angst. Man hat es vergessen. Und dann, mit einem Male, Schwupp ist es, sie da! Hoppla, jetzt komm’ ich. Angst, Schmerz. Und es liegt an Dir selbst, sie wegzuschicken. Geht. Heute brauche ich euch nicht. Und dann gehen sie schmollend zurück, in ihre Kammer und warten. Nicht vergessen die Krone zu richten!

 

 

 

  1. Erinnerungen

 

Ein Fax war gekommen. »Bitte kommt! Mutter geht es schlecht.« Madame Schulz!

René wurde blass. Bitte nicht noch eins in diesem Jahr! Bitte!

Sie packten. Zwölf Stunden Flug! Ohne weiteren Aufenthalt fuhren sie zu Clarisses Elternhaus. Papa stand schon vor der Tür. Hatte er die ganze Zeit aus dem Fenster gesehen?

Als er Clarisses sah, schüttelte er den Kopf. Zu spät!

Sie umarmten sich lange im gemeinsamen Schmerz.

Aufstehen! Krone richten!

»Sie hatte ein erfülltes Leben.«

Weitergehen!

Was heißt das ‚Sie hatte ein erfülltes Leben’, fragte sich Clarisse. Es hatte Arbeit bedeutet, Verzicht, Sorgen, steter Kampf um ein bisschen Wohlstand. Mehr wollte Mama nicht. Liebe vor allem. Aber was ist die Erfüllung? Der Dank dafür ist der Tod?

Sie musste sich damit abfinden. Papa sagte, so ist das Leben. Er war gefasst. Hatte er sich darauf vorbereitet? Geht das, vorbereitet sein? Sie hielten sich an den Händen.

René stand daneben, fühlte sich, als wäre er im falschen Film.

Anhaalten, Film anhaaalten!

Doch der Film Leben ist nicht anzuhalten. Er spult ab, bis die Rolle zu Ende ist. Es gibt keinen Schalter, und nur der große Schwarze Operator mit der Sense steht daneben und beobachtet. Und wenn der Film vorher reißt, heißt das, Du bist weg vom Fenster. Dahingeschieden. Hast ein »erfülltes« Leben gehabt. Ha! Und der Rest der Rolle dreht sich noch, bis sie ausgedreht hat. Doch Dein Tod trifft andere. Du bist wirklich raus!

Der große schwarzgewandte Vorführer legt eine neue Rolle auf, schmeißt die leere weg. Dunkelheit. Schluss. Sense in die Ecke. Schnell ein Zigarettchen. Bis zum Nächsten …

 

Vater wollte im Haus wohnen bleiben, so wie Renés Mutter in dem Ihren. Recht so! Sie fühlten sich wohl, und die Erinnerungen an die gemeinsamen Zeiten steckten noch in jeder Ritze, jedem noch so kleinen Gegenstand. Clarisse sog die Erinnerungen ein, nahm sie in sich auf. Sie strich mit ihrem Vater vom Raum zu Raum, vom Dachboden bis in den Keller. Überall war Mama! Das ist alles unser, sagte Papa. Und er hatte Recht. Der Körper hat sich aufgelöst, nicht der Mensch. Er ist noch da, hat untilgbare Spuren hinterlassen und erst nach Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten werden sie verblassen und verschwunden sein. Oder nie.

 

Clarisses Schmerz war aber auch die Erlösung. Sie war nicht allein, hatte sie erfahren und sie war nicht Schuld, hatte sie gelernt. Wenn wer Schuld hatte, dann war es das Schicksal, Kismet, der liebe Gott, der für alles zuständig sein soll. Also, lieber Gott, nimm Deine Schuld an und gib meiner Mutter und meinem ungeborenen Kind in liebevolle Engelshände. Sie haben es verdient. Clarisse schmunzelte.

René hatte es gesehen.

»Du lächelst.«

»Ja. Ich bin mit einem Male glücklich.«

»Wie das?«

»Ich habe meine Krone gerichtet. Es geht weiter.«

René sah sie an. Wie jetzt, ist sie durchgedreht. Welche Krone? Oder hat sie zu Boden gefunden? Ist sie endlich gelandet?

Clarisse stand ganz dicht vor ihm. Ihre Brüste berührten ihn. Ihre Augen! Dunkelgrün! Waren sie im Laufe der Zeit dunkler geworden? Sie nahm seine Wangen in die Hände, kam näher und näher und er glaubte, wieder am Anfang ihres Films zu stehen. Er nahm den Kuß entgegen, schmeckte die weichen, warmen Lippen und fühlte ihren Körper, der sich an ihn drückte. Ich will Dich ganz, sagte ihr Körper. Ganz dicht bei mir.

Geh nicht weg!

 

Niemals! Und er schwor ihr ohne Worte: Ja, niemals. Ich schwöre.

 

* * *

 

 

 

 

  1. Drittes Buch

THERESE






  1. Widmung

 

Auch diesen Teil widme ich meiner Frau. Sie hat es verdient, so oft wie möglich genannt zu werden.

 

 

 

Gib Liebe mir - wer wärmt mich noch?

Wer liebt mich noch - gib heiße Hände

Friedrich Wilhelm Nietzsche

 

  1. Trauer

 

Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Sie war munter, lange bevor das Weckradio sich melden würde. Therese drehte sich auf den Bauch. Sie kniff die Augen zusammen, und drückte ihren Kopf ins Kopfkissen, doch es half nichts. Entweder würde sie im Kissen ersticken oder die Sonne im Gesicht haben. Sie entschied sich für die Überlebensvariante und lag wieder auf dem Rücken. Schmale Streifen Sonne wärmten ihr den Bauch und das Gesicht.

Sommermorgen. Es war schon warm, mindestens zwanzig Grad. Vorsichtig öffnete sie ein Auge. Es blendete. Sie setzte sich auf, hielt die Hände vors Gesicht. Jetzt ging es.

Da sie nun schon saß, konnte Sie auch aufstehen.

Wütend sah sie auf das Weckradio. Sieben Uhr! Sie hätte noch eine halbe Stunde Zeit gehabt. Na klar, war es gestern etwas spät geworden. Daher hatte sie vergessen, die Jalousien vollständig zu schließen. Barfuß tappte sie ins Bad. Bleckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus.

M’sieur S. hatte die Party zum Andenken an seine Frau gegeben. Therese hatte ihm geholfen eine Cateringfirma zu finden, die in der Lage war, seine Wünsche zu erfüllen. Das war schwer genug, ging es doch nicht nur um Essen und Trinken, sondern auch um Unterhaltung.

Eine Band spielte die Lieblingssongs von Madame S. Die konnten sogar, etwas modernisiert, Jaques Brel. Doch meist brachten sie Musik der sechziger bis in die achtziger Jahre.

 

M’sieur S. bot ihr das Du an und gab ihr einen schmatzenden, nassen Kuss auf die Lippen. Heimlich wischte sie sie ab.

Oh nein, sie fand Pierre, wie sie S. jetzt nennen durfte, sehr nett. Er war ein guter Arbeitgeber. Er wusste, dass sie noch Defizite hatte. Sie verstand ja, als sie bei ihm anfing, nicht das Geringste von Büroarbeit und von den Aufgaben eines Verlages erst recht nichts! Aber sie lernte schnell. Das hatte er ihr auch gesagt und dass er mit ihr zufrieden sei. Therese wollte damit den letzten Willen ihres Vaters erfüllen: Raus aus dem Leben, dass sie in der letzten Zeit geführt hatte.

Thereses Erfahrungen hatten sie misstrauisch gemacht, gegenüber jedem Angebot, das man ihr unterbreitete. Und sie war misstrauisch jedem Mann gegenüber, der ihr Angebote machte, so gut es auch klang.

Ja, sie hatte Erfahrungen gemacht und kannte die Kerle und ihre Blicke, damals, als sie mit ihrem Vater und seinem Freund auf Arbeitssuche für sie waren. Zuletzt besuchten sie Pierre (endlich), der in seinem Verlag eine freie Stelle für eine Vorzimmerdame hatte und jemanden suchte.

Pierre kümmerte sich nicht um ihr Aussehen und nicht um ihre Unwissenheit.

Manchmal verdrehte er heimlich die Augen, wenn er dachte, die sieht es nicht. Aber er wollte seinem Freund einen Gefallen tun. Und als ihr Vater an einem Unfall starb, kümmerte er sich um sie, als wäre er ihr Vater.

In einer ruhigen Stunde hatte Pierre ihr erzählt, dass er sehr gerne eine Tochter gehabt hätte. Doch sie, er und seine Frau, konnten keine Kinder bekommen.

M’dame S. hatte Therese nie kennen gelernt. Als sie bei S. anfing, lag diese bereits im Krankenhaus und musste eine Chemotherapie nach der anderen über sich ergehen lassen. Brustkrebs. Manchmal sah sie Pierre, wie er an seinem Schreibtisch saß und mit feuchten Augen Löcher in die Wand starrte, das Bild seiner Frau in den Händen.

 

 

  1. Mam ?

 

Therese kam aus der Schule. Sie warf die Tasche im hohen Bogen auf ihr Bett. Im Vorbeigehen schaltete sie den Fernseher an. Dann lief sie in die Küche. Der Kühlschrank war so gut wie leer. Konserven fand sie nicht und auch kein Fertigfutter. Die Alte ist wieder unten am Kiosk, und holt Nachschub, dachte sie. Lustlos angelte sie sich eine Cola hinter dem Küchentisch. Dabei sah sie die Kompagnie leerer Wein- und Schnapsflaschen. Wütend stapfte sie ins Wohnzimmer. Im Fernsehen lief eine der idiotischen Sendungen über Leute, die zu fett oder zu doof waren, um jemanden kennenzulernen. Dicker sucht Doof, nannte sie diese Formate. Sie ärgerte sich über den Mist. Trotzdem setzte sie sich auf das Sofa. Dann starrte sie auf die bewegten Bilder.

Hausaufgaben musste sie noch machen. Mathe, Französisch. Sie hatte sie nicht verstanden. Madeleine, ihre beste Freundin, würde ihr schon helfen können. Sie liebte die Schule, war eine ausgezeichnete Schülerin. Wenn sie in der Schule war, war sie weg von zu Hause, von ihrer versoffenen Mutter und ihrem immer müden Vater, der auf ihre Fragen mit einem »Jaja« oder »Keine Ahnung« antwortete. Er meinte es nicht böse, das wusste sie, er hatte wirklich keine Ahnung. Und abends auch keine Kraft mehr. Er arbeitete auf dem Bau. Das machte ihm Spaß, das konnte er, da hatte er Kollegen, mit denen er sich auf der gleichen Ebene unterhalten konnte. Schüchtern gab er ihr einen Kuss auf die Stirn. Schlaf schön, Liebes.

Mutter arbeitete, wenn sie arbeitete, im Büro. Sie sah immer schick gekleidet aus, auch wenn sie besoffen im Sessel hing und lallend Befehle ausgab oder sich über ihren Chef, ihre Kollegen und die ‚blöden Weiber’ beschwerte. Es war Therese unangenehm. Dann ekelte sie sich vor ihrer Mutter. Und wenn diese dann auf sie zugetorkelt kam und sabbernd, »Meine liiiebe Toochter…«, lallte, rannte sie in ihr Zimmer. Sie verriegelte es und lag weinend auf ihrem Bett, bis Vater spät von der Arbeit kam, und versuchte sie zu beruhigen.

Eines Tages war Mutter weg. »Wo ist Mutter?« fragte sie nach ein paar Tagen. »Verreist. Wird lange wegbleiben«, antwortete Vater einsilbig. Es dauerte lange, bis Therese realisierte, dass sie nun ohne Mutter aufwachsen würde und obwohl sie sie verachtete, wenn sie getrunken hatte, liebte sie sie doch. Sie war ja gerade erst einmal zehn.

 

 

  1. Ein Anfang?

 

Gleich am ersten Tag hatte Pierre ihr einen Vorschuss gegeben, damit sie sich Sachen fürs Büro kaufen konnte. Denn als sie am ersten Tag bei Pierre antrat, hatte sie ein farbloses T-Shirt mit einer albernen Aufschrift einer Futterkette auf Brust und Rücken und abgewetzte Jeans an. Nicht zu reden von den Turnschuhen! Aber sie hatte ja kaum etwas anderes.

»Therese, hier hast Du Geld. Geh bitte und kaufe Dir neue Klamotten. Blusen, Röcke, Schuhe, Du weißt schon, und wenn Du nicht weißt, frag!« Also ging sie los, die Fußgängerzone hinauf und hinunter, fand einen Laden, der fast alles führte. Und eine Verkäuferin, die fast alles verkaufen wollte. »Ich brauche was fürs Büro«, sagte sie zu der Verkäuferin. Und die schnupperte Umsatz! So kam sie zu Blusen, Röcken, Strümpfen (Strumpfhosen lehnte sie kategorisch ab), Höschen – genauer Tangas-, BH, Hemden und dem Tipp, unbedingt im Nebenladen passende Schuhe zu kaufen. Die Verkäuferin linste ständig in die Kabine. »Süß!«, rief sie, als sie Therese im Tanga und BH sah. »Sie müssen unbedingt diese Strümpfe probieren. Die halten von selbst.« Dann stand sie da, die Verkäuferin, hielt den Kopf schief und schlug die Hände zusammen. »Tres chic! Tres, tres chic!« Prüfte kritisch den Sitz der Bluse, richtete ihr die Brüste im BH, zupfte an den Strümpfen. »So muss das sitzen!« Es gefiel Therese und auch wieder nicht. Die Hände der Frau waren warm, hektisch und kribbelten auf ihrer Haut. Die war lesbisch, wusste Therese.

Nebenan erstand sie Schuhe. Balancierte vorsichtig über den Teppich. Die hohen Hacken machten sie größer, länger, schlanker. »Nehme ich, lasse ich gleich an.« Die Dame war begeistert (Sind hier alle begeistert oder habe ich nur keine Ahnung?). Sie hatte keine Ahnung.

Pierre, also M’sieur S. damals noch, fiel aus allen Wolken, als sie anrückte, auftrat, erschien.

»Ja?« fragte er aus seinem Büro heraus mit langem Hals. »Warten Sie einen Moment, Madame, meine Sekret… Therese?« Sie schwebte in den Raum, drehte sich, posierte. »Geht das so, Monsieur S.? Gefalle ich Ihnen?« Der schwieg erst, sah sie lange an, hüstelte. »Ich habe keine Ahnung, aber Sie sehen aus, wie, wie…« Aber er strahlte. Also ließ sie es so.

 

 

 

 

  1. Frau werden

 

Es fühlte sich nass, warm und klebrig an. Therese schrak auf. Hatte sie ins Bett gemacht? Ängstlich schlug sie die Bettdecke zurück, Blut! Alles voller Blut! »Papaaa!!«

Der kam angerannt, sah das Dilemma. »Was ist das, Papa?« Mit spitzem Finger zeigte sie auf die Blutlache auf ihrem Laken und ihrem Nachthemd.

Doch Papa schien keineswegs erschrocken. Er setzte sich auf die Bettkante, lächelte sie an. Stolz war in seinem Gesicht. Er nahm beide Hände, drückte sie. »Meine Tochter wird zur Frau«, sagte er. Und dann hatte sie begriffen! So ist das also!

Es streichelte ihr über den Kopf. »Du gehst heute zur Frauenärztin. Lass Dir alles erklären und was Du tun musst.« Und in einem Nachsatz sagte er noch, »Ich hätte mir doch eine Frau nehmen sollen.« Doch da war er schon aus dem Zimmer.

Zwölf war sie vor kurzem geworden. Es war eine kleine Feier. Therese war in der letzten Zeit mürrisch und abweisend geworden. Sie gab sich die Schuld daran, dass ihre Mutter weggelaufen war. Sie hätte ihr helfen müssen, warf sie sich vor. Sie traute sich nicht, Schulfreunde einzuladen. Keiner verstand sie. Und so wurden es immer weniger Freundinnen und Freunde hatte sie sowieso nicht. Kerle, Bengels. Spielten noch mit der Eisenbahn und grapschten sie trotzdem ständig an.

Dr. Anabelle Phillipot thronte hinter ihrem Schreibtisch, als Therese bei ihr eintrat. Sie sah auf ihren Bildschirm. »Therese, zwölf Jahre«, sprach sie. »Nimm Platz, Kind.«

»Ich bin kein Kind, Madame«, verkündete sie trotzig. »Gut. Also, setz Dich. Dort in den Stuhl, wenn Du kein Kind mehr bist. Lass sehen.«

Da saß sie nun zur ersten Mal in ihrem Leben auf diesem Untersuchungsstuhl und schämte sich. Vor einer Ärztin! Oder lag es am Stuhl. Er machte so hilflos.

»Wunderbar!« rief Frau Doktor am Ende der Untersuchung. »Willkommen in der Welt der Frauen, meine Kleine.« Dabei lächelte sie voller Güte, half ihr von diesem Ding. Beim Händewaschen verkündete sie: »Alles in bester Ordnung!« Und dann erklärte sie ihr das, was ihr sonst ihre Mutter erklärt hätte. Und der Biolehrer nur kurz angerissen hatte, während die ganze Klasse mit roten Ohren dasaß. Die Jungen grinsten und taten, als wüssten sie alles, die Mädchen kicherten verschämt. Nachdem der Lehrer verschwunden war, machten die Bengels ihre Zoten und die Weiber kreischten und hielten sich die Ohren zu.

So war das also. Mutter hätte es ihr schon vorher … Aber sie war nicht da. Weg! Perdue! Armer Papa.

Die Geburtstagsfeier zu ihrem Fünfzehnten fand nicht statt. Sie wollte nicht. Es wäre eh‘ niemand gekommen. Am nächsten Tag griff sie sich eine Tasche, warf die wenige Wäsche und Kleidungsstücke hinein und marschierte zum Bus nach Paris. Nur ganz kurz dachte sie an ihren Vater, der sich Sorgen machen würde. Aber sie hatte ja einen Zettel hingelegt: »Mon petit père, mach Dir bitte keine Sorgen. Ich muß einfach mal weg! Bitte versteh mich. (Eine Träne löste ‚mich‘ langsam auf). Ich liebe Dich. Therese.«

 

 

  1. Hass

 

Therese fühlte sich wohl. Sie hatte S. getestet. Wenn sie ihm etwas bringen sollte, knöpfte sie ihre Bluse noch weiter auf. Natürlich, er war ein Mann. Er sah in ihren Ausschnitt, aber durch! Als wenn er dahinter etwas anderes sehen würde, etwas Wichtigeres. War das wegen seiner Frau? Er nahm sie als Mitarbeiterin wahr. Im Gegensatz zu den Typen, die regelmäßig hereingeschneit kamen. Sie brachten Hefter, Ordner, volle Manuskripte mit oder hatte sie auf Sticks gespeichert. Und da sie nun einmal diejenige war, über die sie an den großen S. herankamen, machten sie ihr Avancen, luchsten nach ihrem Busen oder Hintern und schnalzten mit der Zunge. Schweine! Am schlimmsten waren die, die versuchten um ihren Schreibtisch herum, um an sie heranzukommen. Haben sie heute Zeit? Ich weiß da ein Restaurant … Und wo Dein Bett steht! Alle Männer sind Schweine, ausgenommen M’sieur S.! Das war ihr Credo.

Sie lernte René kennen. Introvertiert, still, freundlich. Der setzte sich in den Sessel, und wartete. Keine Anzüglichkeiten. Bitte. Danke. Ja, gerne, einen Espresso. Er fragte nicht nach ihren Namen, und ob sie Zeit hätte, heute …

Drinnen bei S. hörte sie ihn lachen. Sie erfuhr, dass er Madame Andrea Grimaude, die große Schriftstellerin war. Ein Pseudonym. S. bat, befahl, gegenüber jeden Fremden Stillschweigen zu bewahren. Er drohte nicht. Er sagte einfach nur, »Kindchen (warum nannten sie alle Männer Kindchen?), daran hängt unsere Existenz. Sie verstehen?«

Sie verstand, schwieg und fand neuerdings neben M’sieur S. auch diesen René ganz nett.

Die Tür öffnete sich. In der Füllung stand sie: Rothaarig, in einem roten Kleid, schlank, eine Figur zum träumen und High Heels an den Füßen, dass sogar Therese schwindlig wurde, bei der Vorstellung, sie müsste damit laufen. S. sah sie von ihrem Schreibtisch aus und rief, »Clarisse! Kommen sie. Wie freue ich mich!« und sofort wurde Therese eifersüchtig auf diese Frau. Die Tür fiel ins Schloss. Was haben DIE für Geheimnisse. Ist sie seine Geliebte? Ist er doch nicht so, wie sie ihn sich vorgestellt hatte?

»Therese!« Sie schrak auf, denn schreckliche Rachegedanken gingen ihr durch den Kopf. Sie hatte an Strychnin, scharfe Küchenmesser oder eine hohe Brücke gedacht. »Den Vertrag bitte und zwei Cognac.« Weg war M’sieur S.

 

  1. Pariser Abenteuer

 

In Paris fand sie schnell Anschluss. Man erkannte sich. Dazu bedurfte es keiner großen Erklärung. »Suchst ‚ne Bleibe?«

»Hm.«

»Komm.«

In dem Viertel lebten die weniger betuchten, die unbetuchten und die ganz Armen. Und die Aussteiger, die Ausgestoßenen und Ausreißer. Er gab Häuser, in denen man wohnen konnte und es gab Häuser, die besetzt waren, von denen ganz unten. Dazu gehörte jetzt auch Therese.

Der Junge, der sie mitgenommen hatte, hieß Jules. Das Haus in das er sie führte verdiente nicht den Namen Haus, es stand eben noch, da es nicht ganz verlassen war. Der Treppenflur stank nach Urin, Müll und Fäulnis. Die Toiletten befanden sich hier noch auf halber Treppe, waren aber nicht benutzbar. Jule zog sie in die dritte Etage, darüber war nur noch der Dachboden. Dass er nicht mehr ganz dicht war, sah Therese an den Flecken auf der Zimmerdecke.

»Da wohne ich.« Jules wies auf eine Matratze, ein Regal und einen alten brüchigen Stuhl. »Mein Reich«, meinte er stolz. Wenn Du willst, kannst du dor t…« Er wies auf die gegenüberliegende Ecke. »Da isses nass«, ein Mädchen im Trainingsanzug kam ins Zimmer. Sie zeigte Jules einen Vogel. »Das weißt du doch, du Ochse.«

Jules grinste hilflos. »Hab nich dran gedacht:«

»Komm mit, nach nebenan. Da wohnen die Frauen.« Und als Therese zögerte, »Mach schon. Raus hier.«

»Danke«, flüsterte sie in den Raum. Was sollte sie sonst sagen`?

Bei den »Frauen« war es sauberer. Nicht viel sauberer, aber auf dem Boden lagen kein Kalk und auch kein Abfall, wie nebenan. Dafür Lumpen, alte Zeitungen, leere und angebrochene Wein- und Schnapsflaschen. Matratzen wie nebenan, marode Möbel, Kondompackungen. An der Wand ein emailliertes Waschbecken was von allen auch als Urinal benutzt wurde. Der Hahn tropfte.

Zwei Mädchen, eine älter, die andere viel jünger als Therese saßen auf ihren Matratzen. »Willse eine rauchen?« Die ältere hielt ihr einen Joint hin. Therese wusste nur vom Hörensagen und von Bildern, was ein Joint ist. Sie nahm ihn, zog daran und atmete den Rauch ein. Sofort musste sie husten und es wurde ihr schwindelig.

»Willst Du neben mir?« Die ältere sah sie an. »Hier is noch’n Platz.« Die jüngere hatte einen verschleierten Blick und schaukelte apathisch hin und her. »Is high. Isse eigentlich immer.«

Therese warf ihre Tasche neben die Matratze der älteren. Hinter ihr stand immer noch das Mädchen, das sie aus dem Jungenszimmer gerettet hatte. »Das ist Inès, die Schaukeltante Lilou und ich heiße Lea.«

Sie nahm Therese an die Hand. »Komm, wir besorgen ne Matratze.«

  1. Eine neue Freundin

 

Clarisse arbeitete jetzt auch hier. Und im Gegensatz zu allen anderen, hatte sie jederzeit Zugang zu M’sieur S. Wie sie Clarisse hasste! Sie hatte Therese nichts getan, aber wie die schon guckte, wenn Therese in Pierres Büro kam! So von unten nach oben.

Woll‘n doch mal sehen! Sie bückte sich so tief, dass nicht nur S., sondern auch Clarisse in ihren Ausschnitt sehen konnte. Und siehe da, sie guckte und bekam große Augen. Ja, ja, solche schönen Möpse hast du nicht! Und ihr wurde mit einem Mal anders. Nicht Clarisse, das Luder! Nein, nein! Das geht nicht mit ihr!

Vor Wochen hatte sie eine Frau kennengelernt. Sie war in der U-Bahn eingeschlafen und ihre Tasche fiel zu Boden. Die Frau gegenüber hob sie auf. »Bitte, das ist ihnen heruntergefallen«, hauchte sie. Dabei sah sie Therese so merkwürdig an. Solche Kuhaugen bekamen eigentlich immer die Männer. »Danke«, sagte sie trocken, rüttelte sich zurecht, wie eine Amsel auf ihren Eiern und schlief wieder ein.

Am anderen Tage saß ihr die Frau wieder gegenüber. Sie nickte grüßend, lächelte. Therese, nicht unhöflich, lächelte zurück.

Dann sah sie die Frau ein paar Tage nicht mehr. Erst am Mittwoch. Sie wollte ihren gewohnten Platz einnehmen, aber da saß die Frau schon auf dem Nebenplatz. »Hallo«, gurrte Sie. Therese nickte. »Morgen.« Sie berührten sich an den Armen. Therese durchzog ein kribbelndes Gefühl. Ihre Härchen stellten sich auf. Schnell setzte sie sich so, das eine erneute Berührung ausgeschlossen wäre, doch die Strecke ließ es nicht zu. Anfahren, Bremsen, Anhalten, enge Kurven. Immer wieder berührten sie sich. »Darf ich Sie nach ihrem Namen fragen?«

»Therese.«

»Madelaine. Sie fahren regelmäßig mit dieser Bahn?«

»Und diese Strecke.« Das klang etwas unwirsch, verpasste sie doch ihr Nachmittagsschläfchen.

»Ich auch.« Die Frau, Madelaine, ließ nicht nach. »Haben Sie Lust auf einen Kaffee?«

Therese schwieg. Doch dann überlegte sie es sich. »Warum nicht. Gern.«

»Dann sind Sie mein Gast. Wenn wir hier aussteigen, kenne ich ein schönes Straßencafé. Kommen sie.«

»Chez Alfonse« stand in großen Lettern auf der Scheibe und der Markise. Darunter saßen Leute in gemütlichen Sesseln, kleine viereckige Tische vor sich. »Dort ist noch einer frei«, rief Madelaine.

Sie bestellten Espresso Grande und einen riesigen Becher Eis. Dann saßen sie vor dem Bestellten und schwiegen.

 

 

  1. Eine Chance

 

Die Matratze stank vor allem modrig. Dazu nach Mäuseurin und anderen DIngen, von denen Therese nicht wissen wollten, welchen Ursprungs sie waren. Wer weiß, wie viele schon ihren Körper auf dem Ding gewälzt und Sex gehabt hatten? Therese versuchte, den Gestank mit etwas Eau de Cologne zu bekämpfen. Es half nicht lange, doch bis es wieder richtig unangenehm roch, hatte sie sich schon eingewöhnt. Und auch an die Joints und die nächtlichen Besucher ihrer neuen Freundinnen. Das Rauchen und Saufen machte sie nicht mit. Sie dachte dann an Mutter, und sah torkelnd auf sich zukommen, »Meine lieeebe Zhrese«, lallend.

Zuerst fand sie es spannend dabei zuzusehen, im dämmrigen Licht, dass armselige Kerzen spendeten, unterstützt durch die matte Straßenbeleuchtung. Dann störte sie die Unruhe, die die Besucher mitbrachten, das Stöhnen und Seufzen und die rhythmischen Bewegungen. Sie drehte sich zur Seite, zog den Schlafsack über die Ohren und versuchte zu schlafen. Und merkte aber auch, wie es sie bewegte. Dann drückte sie die Hände gegen ihren Schoß und hoffte, dass es niemand sehen oder ihr Seufzen hören würde. Einigermaßen entspannt konnte sie dann einschlafen.

Lea und Inès krochen manchmal unter ihren Schlafsack. Sie rochen nach Wein oder Schnaps, Joint und schlecht gewaschen. Aber sie hatten zarte und geschickte Hände. Und sie hatte zum ersten Mal eine wirkliche Befriedigung

Der Junge von nebenan war ganz nett. Und da sie zu ängstlich oder zu schüchtern zum Betteln war, erklärte er sich bereit, für sie »zu sorgen«. Therese war klar, das geht nicht ohne Gegenleistung. Er war nett, aber grob, unbeholfen, stank nach Schweiß. Sie machte es mit Widerwillen und ohne Befriedigung. Die fand sie unter ihrem Schlafsack alleine oder mit ihren Freundinnen.

Wenn sie sich wusch, an dem Waschbecken mit der abgeschlagenen Emaille, standen die Kerle an der Tür und sahen zu, machten zotige Bemerkungen. Erst störte sie es, dann zog sie provokativ ihr Höschen runter, und wackelte mit dem Hintern. Irgendwann hatten die Kerle genug und sie ihre Ruhe.

Der Sommer neigte sich dem Ende entgegen. Sie war mit Lea auf Trail. Als sie wieder erfolglos zurück in ‚ihrem’ Zimmer waren, stand da ein Kerl. Schicker Zwirn, smart, sauber, gekämmt. Und er roch gut. Er suche hübsche Mädel für eine Model-Agentur.

»Wie sieht‘s? Haben Sie Interesse?« »Ja«, hauchte sie. Sie wollte hier raus, denn dieses Leben ekelte sie an.

 

 

 

  1. Ein neues Gefühl

 

Etwas an der Frau zog Therese an. War es ihr Blick, ihre Bewegungen, ihre Selbstsicherheit? Wie im Nebel saß sie an dem Tischchen, zu keinem klaren Gedanken fähig.

Und sie ging mit, mit der Frau, die Madelaine hieß. Hand in Hand stiegen sie die Treppen hinauf in die Wohnung. Auf dem weißen Ledersofa saßen sie sich gegenüber. Therese spürte die zarten Streicheleien, und sie gefielen ihr. Sie gefielen ihr sosehr, dass sie mehr wollte. In einem Nebenstübchen ihres Gehirns meldete sich jemand: Nicht! Das geht doch nicht! Das gehört sich nicht! Doch da hatte sie sich bereits an diese Frau gelehnt, bereit alles zu nehmen, was sie bekommen konnte.

Es war eine andere Erfahrung als mit den Typen, die sie bisher genommen hatten, denn willig war sie dabei auf keinen Fall gewesen. Einige dürften noch jetzt tiefe Narben in ihren Rücken haben. Madelaine war zart, weich, nachgiebig und das war Therese auch. Madelaine war besser als Lea oder Inès. Sie roch besser, war fantasievoller und hatte unendliche Geduld mit ihr. Zum ersten Mal, seit sie mit den Mädchen zusammengelegen hatte, war sie zutiefst ruhig und entspannt. Sie fühlte sich sauber, nicht gebraucht und nicht misshandelt.

 

 

 

  1. Angst und Wut

 

Therese machte ihre erste schlimme, ihre schlimmste, Erfahrung!

In einer Limousine mit abgedunkelten Fenstern brachte sie der geschniegelte Typ zu einem Hinterhof. Er schwatzte, redete von Geld, Erfolg, Weltreisen. Schicken Kleidern und tollen Typen. Und Sie sah sich unruhig um, doch auf dem Schild neben der Tür stand etwas, das sich las, wie Model-Agentur. Er schob sie in einen dämmrigen Gang und dann in ein Zimmer. »Warte hier.« Das klang nicht nett! Und dass er von Außen zuschloss, erst recht nicht. Therese bekam Angst. Sie zitterte am ganzen Körper, drückte sich in eine Ecke.

Das Zimmer war alt, sehr alt. Rote Seidentapete schmückte die Wände. Ein eisernes Bett stand in der Mitte. Ein Stuhl in der Nähe, ein winziger altmodischer Tisch. Eine Anrichte mit Waschschüssel und Wasserkrug. Ein Waschbecken, in das stetig rostiges Wasser aus dem Hahn tropfte. Es roch muffig und alt. Eine Reproduktion von Tizians »Venus« hing über dem Bett, die Fenster waren vergittert und von Außen mit Läden verschlossen. Die Dielen waren abgetreten, ein verblasster Teppich lag halb unter dem Eisenbett. Die einsame Birne in einem Kronleuchter spendete mühselig Licht. Hier gab es kein Entrinnen! Und eine Modelagentur war das auch nicht!

Therese hörte Schritte. Ihre Angst nahm zu. Die Tür flog auf.

Der Kerl, den sie Pasquale nannten, der, mit dem Tigerkopftattoo auf der Schulter, hatte sie grob genommen, nachdem ihr sein Paladin, ein ekliger, glatzköpfiger Kerl, die wenige Kleidung vom Leib gerissen hatte. Der Schicke stand daneben, und lächelte lüstern. Sie schrie, biss, schlug, kratzte, bis die Schweine sie festhielten und sie sich nicht mehr rühren konnte. Dann spuckte sie wenigstens, wenn auch erfolglos.

Zufrieden zuppelte Pasquale seine Hosen hoch. Ruhig, emotionslos, sagte er, »Du wirst es noch lernen.« Und gab ihr einen Schlag in die Seite. Ihr blieb die Luft weg. Der zweite Schlag erfolgte ebenso brutal unmittelbar auf die andere Seite.

Sie blutete. Aus der Nase, zwischen den Beinen. Kauerte nackt in der hintersten Ecke des Zimmers, denn sie hatten ihre Kleidung mitgenommen. Nur das armselige Laken vom Bett bedeckte ihre Blöße. Therese zitterte vor Kälte, Angst und Ekel. Sie hatte nach drei Tagen der Tortur keine Tränen mehr. Doch sie hatte nicht aufgegeben. Sollten sie sie doch erschlagen! Lieber tot als das!

Plötzlich Geschrei, Gepolter, draußen auf dem Gang.

Die Tür flog mit einem Krachen auf. Therese krümmte sich noch mehr zusammen, wollte sich so klein machen, wie eine Maus, hielt die Arme schützend über den Kopf. Bitte nicht schon wieder!

 

 

  1. Clarisse

 

Clarisse war gar nicht so übel. Eigentlich war sie nett. Also nicht nur eigentlich. Sie war nett! Sie saßen zusammen auf der harten Bank in der Kapelle. Aufmerksam folgten sie der Trauerrede des Geistlichen. Es war eine lange Rede. Sie hielt S. Hand, und auf der anderen Seite tat das gleiche Clarisse. Sie sah zu ihr herüber, ein mildes Lächeln zog über ihr Gesicht. Sie nickte Therese zu.

Es gab keine Feier. Nur M’sieur M. ein Verleger und alter Freund von S., René der Freund von Clarisse, Clarisse und sie selbst waren im Haus von S. versammelt.

Sie ging in die Küche, Kaffee machen. Clarisse war dazu gekommen, half ihr schweigend. Sie wusste, dass Therese an einem Buch arbeitete. Sie sollte sich die Seele »freischreiben.«

»Was macht Dein Roman?«, fragte Clarisse.

»So lala.«

Sie solle morgen in ihr Büro im Verlag kommen. Gerne.

Doch nett! So kann man sich irren!

Anderen Tags saß sie auf dem schmalen Sofa in Clarisses Büro. Ihr Manuskript, die ersten Seiten, lag auf dem Glastisch. Sie sprachen darüber. Clarisse fand den Anfang gut, gab ihr noch Ratschläge, die nicht schulmeisterlich klangen. Sie hatte Recht. Sie sah Clarisse heute anders. Im Licht, dass durch die hohen Glasfenster auf sie schien, leuchteten ihre roten Haare als würden Flammen daraus schlagen. Das Gesicht war makellos und entspannt. Ihre schönen Augen strahlten und ihre Lippen bewegten sich ruhig, und zeigten schneeweiße Zähne, wenn sie sich öffneten. Der Hals war schlank, die Schlüsselbeine standen nur wenig vor, und ihre Brüste waren ideal geformt. Therese sah, dass Clarisse ebenso wie sie keinen BH trug. Je mehr sie von Clarisse sah, desto mehr fühlte sie sich zu ihr hingezogen. Sie hörte schon nicht mehr zu. Einem Impuls folgend küsste sie Clarisse fest auf den Mund. Ihre Zunge suchte Kontakt. Ihr Kuss wurde erwidert, dann schob Clarisse sie von sich. Sie sah Therese mit großen Augen an.

»Ähm, das ist lieb von Dir«, flüsterte Clarisse heiser, »Nicht hier.«

»Bist Du mir böse?« fragte sie Clarisse.

»Nein, Therese, bitte. Nein!« und »Komm heut’ abend zu mir, dann reden wir weiter. Und - darüber.«

Therese nickte. Ihr Herz pochte bis zum Hals.

 

 

 

  1. Die Rettung

 

Aus den Augenwinkeln sah sie schwarze Gestalten mit Gewehren in der Hand ins Zimmer stürmten. Sie riefen etwas. Therese verstand überhaupt nichts mehr. Jemand fasste ihr an der Schulter. Sie zuckte zusammen. »Keine Angst, Mädchen. Wir tun Dir nichts.« Sie versuchte, sich zu erheben. Es ging nicht. Der Jemand hob sie hoch, hob sie auf. Starke Arme trugen sie aus dem Zimmer, den langen Gang entlang, die Decke fiel herunter. Er flüsterte immer noch, »Keine Angst, bitte, wir wollen Dir helfen. Wir sind von der Polizei.« Helfen? Hilfe? Kein Trick?

Durch die geschwollenen Augenlider sah sie ein Männergesicht. Sofort versteifte sich ihr Körper, doch er drückte ihren Kopf gegen seine Schulter. »Alles gut.« Dann rief er: »Eine Decke! Bringt eine Decke.« Eine Wärmedecke wurde ihr über Rücken gelegt. Sie spürte, wie sie nach draußen getragen wurde. Jetzt war ihr alles egal. Sie ließ sich tragen. Sollten sie doch machen … Draußen Lärm! Sirenen gingen, blaues Licht leuchtete rhythmisch. Blitzlichter flackerten auf. Ihr Träger rief: »Keine Fotos! Bitte!« Dann legte er sie auf eine Trage in einem Krankenwagen. Mit schräg gelegtem Kopf sah er ihr ins Gesicht. Dann zog er ihr die Decke bis zum Hals. Ganz vorsichtig. »Alles gut.«

Als sie den Kopf zur Seite drehte, sah sie aus dem Seitenfenster eines Funkwagen den Kerl mit dem Tigertattoo. Pasquale! Er sah sie an, hob die gefesselten Hände und zeigte grinsend den Mittelfinger. ›Ich krieg dich«, flüsterten seine Lippen. »Schwein«, hörte sie sich flüstern und wie jemand aus dem Wagen sprang. Und einen Schlag, der auf einen Körper trifft. Das Geräusch kannte sie jetzt zur Genüge …

 

Sie erwachte. Um sie herum liefen, standen, diskutierten Leute in hellgrünen und weißen Kitteln. Sie zitterte wieder, trotz der wärmenden Decke, die ihre Blöße bedeckte. Dicke Tränen flossen aus ihren Augen, aber sie war ruhig. Die Angst war verschwunden, sie flackerte nur leise im Hintergrund. Was ist …?

»Na, wie heißen wir denn?« Eine tiefe, kräftige Männerstimme. Therese flüsterte »Therese K.«

Jemand sagte: »Hier ist ihre Tasche, da ist auch ein Zettel mit ihrer Anschrift drin.«

»Therese also. Hallo. Du bist im Krankenhaus von V.«

»Wie …«

»Die Polizei. Hat Dich aus einem Bordell geholt. Dürfen wir Dich untersuchen?«

Sie nickte apathisch.

»Dann los«, sagte die Männerstimme. Er nahm ihre Hand, Sie spürte, wie sich die Trage bewegt wurde. Sie musste sich übergeben. »Raus mit dem Zeug«, sagte der Mann. »Übrigens, ich bin Doktor Leblanc und meine Kollegin, Doktorin Leblanc, meine reizende Frau, wird Dir beistehen.«

Sie nickte ergeben. Vorsichtig legte man sie auf einen Untersuchungstisch. Die Ärzte flüsterten miteinander, schüttelten die Köpfe. Die Frau wischte ihr die Tränen ab. Mama, dachte sie …

 

 

 

  1. Eine neue Liebe?

 

Therese klingelte. Auf dem Display der Sprechanlage an der Eingangstür erschien Clarisse Gesicht. »Komm hoch. Einfach nur auf den Namen drücken.« Im Fahrstuhl bekam sie eine Gänsehaut. Sie zitterte vor Erwartung. Es war kühl und sie war leicht bekleidet. Sehr leicht. Schließlich war Hochsommer und draußen über dreißig Grad.

Clarisse schickte sie auf die Terrasse. Schön wohnte sie hier. Therese konnte nahezu über die ganze Stadt sehen!

»Bist Du mit der U-Bahn gefahren?«

»Ja.« Warum fragte sie? Sie schielte über die Augenwinkel nach hinten, sah ihr Spiegelbild im Terrassenfenster. Ach so, der Rock. So kurz?

Dann sprach sie über sich. Redete sich alles vom Herzen, was sie bewegte, was sie erlebt hatte. Clarisse Augen wurden ganz weich und dunkel.

Therese war immer näher an Clarisse herangerückt. Die Tränen in ihren Augen waren echt. »Ich wollte nicht mehr so leben!«

»Brauchst Du doch nicht.« Clarisse gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Zitternd fasste sie nach Clarisses Händen, legte sie sich auf die Brust. Ihre Augen verlangten nach ihr. Clarisse stand auf. Komm!

 

 

Die Sonne verschwand am Horizont. Grellrot leuchtete sie, und färbte die Wolken von unten dunkelrot. Es war ein milder Spätsommerabend. Therese saß an dem Fenster nach Westen. Versonnen sah sie auf das Naturschauspiel. Die Frau aus der U-Bahn blieb verschwunden. Clarisse war wieder mit René zusammen. Vor ihr wartete die Tastatur ihres Computers, dass es jetzt losginge. Auf dem Bildschirm flimmerte das dritte Kapitel ihres Romans. Doch sie kam nicht weiter. Heute nicht.

Und trotzdem sie immer noch Angst verspürte, nach draußen zu gehen, wollte sie heute nicht alleine sein. Ob sie ins Café ging? Oder lieber ins »Le porc«? Sie entschied sich fürs Café.

Im Lauf der Zeit hatte sie sich an ihre neue Kleidung, ihr neues Outfit gewöhnt. Schlabbershirts und alte Jeans gefielen ihr nicht mehr. Heute trug sie eine dunkelrote Bluse zu einer eng anliegenden Hose. Auf dem Weg zu ihrem Tisch sahen ihr die Männer nach. Guckt nur, dachte sie. Und obwohl es sie früher immer geärgert hatte, dass man ihr hinterher sah und sogar pfiff, heute war sie anders drauf. Sie hob den Kopf, schob ihn in den Nacken. Ihre vollen blonden Haare wehten, ihre Brüste hüpften bei jedem Schritt. Hochmütig sah sie sich um, setzte sich elegant - daran hatte sie lange geübt - auf einen Stuhl und legte die Beine übereinander. Sie hörte regelrecht das lüsterne Stöhnen der Männer und das neidvolle Zischeln der Frauen. Tja, wer hat der kann!

Was denke ich denn da? Bist Du das, Therese?

Jo!

Was heißt hier, Jo?

Jo, heißt: Ich bin das wirklich. Weißt Du, Therese, wir haben uns verändert. Der Job hat uns verändert.

Sie spürte Blicke auf sich ruhen. Unwillig zog sie die Augenbrauen zusammen.

Hallo! Therese! Vorsicht!

Was!!?

Nicht was, nicht Augenbrauen zusammenziehen!

Wieso?

Sieh doch:

Theres riskierte einen Seitenblick. Ein Kerl! Ach Gottchen! Und was der für Kuhaugen macht. Nee, nee! Sowas hatten wir schon.

Sie wollte wegsehen, konnte aber nicht.

Hallo Augen!

Ja, Therese?

Wegesehen, sofort!

Geht nicht…

Jetzt steht der auch noch auf. Der kommt doch nicht etwa?

Er kam. Verbeugte sich höflich. »Darf ich mich zu Ihnen setzten?« Und setzte sich. Sie hatte es ihm nicht gestattet!

»Bitte schön«, flötete sie stattdessen.

Bist Du verrückt?

Is doch ein hübscher Junge.

Waaaas?

»Seien Sie mir bitte nicht böse, aber ich habe Sie schon eine Weile im Focus:« schmalzte er. Seit wann? Focus?

»Seit wann?«

Er sah sie konsterniert an. »Äh?«

»Seit wann? Im Focus?« sie machte eine unbestimmte Handbewegung. Der Kaffee kam. »Bringen Sie mir bitte noch einen kleinen Imbiss«, sagte sie dem Kellner.

Der Kerl rief dem Kellner hinterher, »Und Wein, zweimal!«

»Ich wollte aber keinen!«

Du wolltest doch!

Psst!

»Schon seit einer Weile, äääh…?«

»Therese. Und Sie?«

»Robert.«

»Hallo, Robert.« Sie fand Spaß an dem Spiel. Er hatte ein ehrliches, offenes Gesicht. In seinen Augen glitzerten die Straßenlaternen. Sein Mund war energisch gerade und seine vollen Lippen waren feucht. Das Kinn willensstark.

»Darf ich Sie fragen, ob sie hier wohnen?«

Darfse, Robert, darfse. Aber ob ich Dir antworte?

»Ja, gleich hier, um die Ecke.« Nun hatte sie doch …!

»Daher! Sie kommen abends aus der U-Bahn. So gegen sechs, stimmt’s?«

»Ja.«

Der Kellner stellte zwei Karaffen Rotwein und die Gläser auf den Tisch. »Der Imbiss, Madame.«

Therese hatte Hunger. Also begann sie, zu essen. Er sah ihr zu. Beobachtete jede ihrer Bewegungen. Seine Blicke hatten ihre Hände fest umfasst. Tatsache, dachte sie, er sieht mir auf die Hände und nicht auf die Brust. Ob er vorhin auf meinen Hintern gelinst hatte? »Hatten sie mir vorhin etwas auf …«

Mit vollem Mund spricht man nicht!

»… den Hintern gesehen. Ja. Ein sehr schöner Hintern. Viele Frauen beneiden Sie.«

Na der ist ja geradezu! Und Gedanken lesen kann er auch!

»Sind sie immer so?«

»Nein, wenn ich ehrlich bin, nein.«

»Aber bei mir?« fragte sie mit vollem Mund.

»Bei Ihnen ist das was anderes.«

Sie sah ihm kauend in die Augen. Kein Flackern, kein zur Seite blicken.

»Was ist anders? Sie wollen doch blos mit mir b …«

»Moment! Bitte nicht so schnell.« Er lachte jetzt. »Sie sind aber auch nicht ungerade.«

»Grade hinaus, heraus«, verbesserte sie. »Nicht, nicht Ungerade! Was ist das für ein Wort?«

Er schenkte ein. Konzentrierte sich auf die Handlung. Sie sah seine Hände. Lange Finger, gepflegt.

»Sie sind nicht in der Modebranche tätig, suchen kein Model? Brauchen niemanden für einen - Film?« fragte sie misstrauisch.

»Bewahre, nein.«

»Was machen Sie dann?«

»Cop. Ich bin Cop.«

»Nein!«

»Doch. Hier in der Nähe.«

Ein Cop, ein Bulle, Greifer, Polente! Na Du lernst ja Leute kennen!

Na und. Solche wie er haben mich aus der Hölle geholt.

»So richtig, Gendarm, mit Uniform, Pistole, Schlagstock?«

»Im Anzug, mit Pistole, ohne Schlagstock. Ich bin bei der Kripo.«

»Sooo…«

»Was heißt, soooo?«

»Einfach nur soooo.«

»Okay. Was machen Sie soooo?«

»Ich passe auf meinen Chef auf.«

»Braucht der das?«

»Und wie! Die Frauen, sie wissen ja…«

»Und Sie? Keine Gefahr für ihn?«

»Ich bin sowas, wie seine Tochter. Er hatte keine Kinder. Ein lieber Kerl.«

»Das hört man selten. Zu selten.« Er sah nachdenklich in die Gegend. Dann: »Sie sind wunderschön. Darf ich?« Er nahm ihre Hände. Intensiv betrachtete er ihre Handrücken. Was ist da zu sehen? Dann küsste er ihr die Finger. Sie schauderte.

Er ließ sie los. »Pardon.«

»Nein. Das ist schon in Ord…« Was rede ich denn da! Das iss’n Kerl! Ein Schuft, ein Schwein! Nein, das ist er bestimmt nicht. Er ist ein Cop.

Doch Kerl hin, Kerl her. Es war schön gewesen. Ob er das noch einmal macht? Er tat es, küsste wieder die Handrücken. Sein Griff war weich, wie der von einer Frau. Doch seine Hände waren wärmer, und es kribbelt durch ihren ganzen Körper.

»Sie haben die Hände einer ganz reichen Frau, die nie arbeiten musste. Sind sie sowas?«

»Suchen Sie eine reiche Frau?«

»Wer nicht? Doch nein. Mir ist es egal, ob arm oder reich. Ich suche eine Frau mit Geduld. Es gibt arme Frauen, reiche Frauen, schöne Frauen, hässliche. Aber eine mit Geduld? Das gibt es nicht.« Jetzt sah er resigniert aus.

»Oooch, Sie Armer. Und sie glauben, ich wäre eine geduldige Frau?«

»Sie sehen so aus. Sind sie’s nicht?«

»Doch. Vielleicht. Eventuell. Das kommt darauf an.«

»Schön, heiraten Sie mich!«

»Waaaas?«

»Heiraten Sie mich. So einfach!«

»Sie spinnen. Also das ist doch …« Sie wollte schon sagen, dass sie auf Frauen stehe, aber stimmte das wirklich?

»… zu früh? Zu plötzlich? Zu schnell? Ja, ich weiß.«

»Na also.«

»Aber besser gleich gesagt, gleich gefragt. Dann kennen Sie meine Absichten. Ich würde mich heiraten, wenn ich Sie wäre! Und Sie?«

Jetzt lachte sie aus vollem Halse. Der war süß. Kein langes Vorspiel. Heiraten sie mich! Wie war der denn drauf?

Therese lehnte sich im Stuhl zurück. Hangelte nach ihrem Weinglas. Schwieg. Beobachtete ihn aus den Augenwinkeln.

Der ist ganz, ganz, gaaanz anderes. Anders als andere Männer - und Frauen. Was ist er für einer? Ist er gut, zärtlich, treu, liebevoll? Er sagt einfach, heirate mich. Und er ist sympathisch. Ich würde ihn heiraten, ja das würde ich. Sofort. Dann hat…

»Sehen Sie. Jetzt denken Sie nach. Was will der Kerl? Will er mich verar…?«

»Denken Sie?«

»Ich weiß es. Ich habe gelernt, in Gesichtern zu lesen.«

»Das habe ich NICHT gedacht. So!«

»Dann muß ich noch daran arbeiten.«

»Könnten Sie sehen, wenn ich eine Affäre hätte?«

»DAS würde ich, sicher«, sprach er im Brustton der Überzeugung. Und dann schlau: »Aber ich würde es Ihnen nicht zeigen. Es soll ja Ihr süßes Geheimnis bleiben.«

»Sie würden eine Affäre tolerieren?«

»Nein.«

»Sie schlagen Ihre Frau! Geben ihr eine Ohrfeige.«, sagte sie.

Robert Augen wurden hat. Sie erschrak vor diesem Blick.

»Niemals. Nie!« er rief es fast. Als wenn er schlimmes durchgemacht hätte.

Was hat er erlebt?

»Ihr Vater … ?«

Robert nickte. »Ja, ich habe es ihm nie verziehen?«

»Und?«

»Nun liegt er auf dem Friedhof. Neben seiner Frau. Meiner Mutter, die er erschlagen hatte. Deshalb bin ich Polizist geworden.«

Sie legte ihre Hände auf die seinen. »Wie schrecklich.«

Er sah immer noch hart aus. »Er hat bekommen, was er verdiente.«

»Kein Verzeihen?«

»Nicht das Mindeste.« Er legte Daumen und Zeigefinger zusammen. Drückte so stark, dass die Haut weiß wurde. »Nicht so viel!«, sagte er kalt. Dann senkte er den Kopf. »Vorbei«, stellte er fest.

»Aber nicht vergessen.« Sie streichelte ihn unwillkürlich. Er ließ es sich gefallen. Sie spürte, wie er wieder ruhiger wurde.

Was war wirklich geschehen? War er dabei gewesen? Was würde passieren, wenn es wieder geschehen würde, bei einem andern Paar, vor seinen Augen?

»Ich würde ihn erschießen. Ohne Vorwarnung!« Keine Emotionen.

Hatte sie laut gedacht?

»Sie haben so einen Blick«, sagte er unerwartet mit warmer Stimme.

»Böse?«

»Nein! Aber er geht mir durch und durch, wissen Sie.«

Therese fing an, Robert noch mehr zu mögen. Doch was für einen Blick? Wie blickte sie denn?

Es klingelte. Sein Handy.

»Ja? Jetzt? Ich bin gerade - Ja gut. Ich komme.«

Es zeigte auf sein Telefon. »Sehen Sie? Das meinte ich mit Geduld. Wenn es nachts klingelt und ich aus dem Bett muß. Oder Überstunden… Wollen Sie mich immer noch heiraten?«

Er lief zum Kellner, flüsterte mit ihm und verschwand in der Dunkelheit.

Ja, dachte sie. Ich würde. Ach, ich habe nicht einmal nach seiner Telefonnummer gefragt. Plötzlich war er wieder da. Er beugte sich herab, nahm ihren Kopf in die Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann war er weg und Therese saß da, mit starrem Blick. Der Kellner überreichte ihr einen Zettel. Die Telefonnummer von Robert!

 

 

  1. Alte Ängste

 

»Was ist denn mit Dir los?« Pierre S. sah sie an. So von oben. Er stand vor ihrem Schreibtisch, hielt ein Blatt Papier in der Hand. Therese starrte auf das Papier.

Pierre nahm es weg, warf es in den Papierkorb. »Was ist?«

Sie sagte nichts, starrte nur auf die Stelle, an der eben noch das Blatt geleuchtet hatte.

»Hallo, Erde an Therese! Haben wir ein Problem?«

Jetzt strahlte sie. »Ich habe einen Mann kennengelernt.«

Ausgerechnet bei diesem Satz musste Clarisse hereinkommen. Was nun? Ob sie - ?

Die beugte sich zu Therese. Ihr Blick war kalt, eiskalte grüne Augen. »Was - hast - Du?« zischte sie.

Trotzig erwiderte Therese: « Einen Mann kenn-«

»Ja das ist doch - wunderbar!« Sie bekam Küsse ins ganze Gesicht. »Vorsicht, Lippenstift!« Als sie aufsah, hatte sie zwei stolze Eltern vor sich. So sahen die Beiden jedenfalls aus.

»Unsere Theres’ kommt unter die Haube«, lachte Pierre. Und Clarisse sah sie ganz verliebt an. »Ist er schön, nett, freundlich. Habt ihr etwa - Los komm, erzähl’ schon!« rief Clarisse.

Und Therese erzählte.

 

Feierabend! Glücklich beschwingt trippelte Therese nach Hause. Sie hatte Robert angerufen. Am anderen Ende herrschte Schweigen.

»Robert?«

»Entschuldigung. Ja!«

»Hast Du mich schon vergessen?«

»Ich? Dich? Wie dass?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Sehen wir uns?«

»Jetzt?«

»Ja.« Ihr Herz klopfte, die Hände wurden feucht.

»Ich komme!«

»Aber Du weißt doch …«, aufgelegt.

 

Fünf Minuten später klingelte es.

Sie sah durch den Spion. Robert! Sie riss die Tür auf.

»Ja!!«, rief sie.

»Du willst mich also heiraten?«

Er hatte eine Weinflasche in der einen, einen Blumenstrauß in der anderen Hand. Sie zog ihn in die Wohnung.

Er hatte es nicht vergessen! Jetzt stand er vor ihr, und sah sie an. Sie hatte schnell ihre Schlabberjeans angezogen und das verwaschene Shirt mit der albernen Aufschrift.

»Schöne Füße.« Er deutete mit dem Kopf auf ihre nackten Füße. »Hatte ich ja neulich nicht sehen können.« Sein Blick ging neugierig über den kurzen Flur.

»Hübsch.«

»Komm weiter, geh mal schon ins Wohnzimmer. Was willst du trink - Ah ja, Du hast ja schon was mitgebracht.«

Er drückte ihr die Blumen und eine Flasche in die Hand. Im Wohnzimmer setzte er sich in einen der zwei Sessel, die Therese besaß. Sie wirtschaftete in der Küche.

Therese hatte sich noch nicht viel anschaffen können: Ein breites Regal mit den Büchern ihres Vaters, der gerne gelesen hatte und wenn es nur zum Einschlafen war. Ein Sideboard von IKEA, zwei Sessel und ein niedriges Tischchen, ebenfalls von dort. An den Wänden hingen Poster und eine Reproduktion. Ein stehender Akt, sehr erotisch, denn die Dame versteckte mit ihrer Hand die ‚Stelle’ zwischen den Schenkeln. Von der Decke hing eine Lampe im Industriestil und in der Ecke, nahe dem breiten Fenster leuchtete eine Stehlampe. Trotz der Einfachheit der Einrichtung war es angenehm warm und gemütlich.

Therese stellte zwei Gläsern und die Weinflasche auf den Tisch. Sie verschwand wieder, und kam mit einer Vase zurück, die sie vor den Vorhang am Fenster drapierte.

Robert schenkte ein, während Therese sich setzte. Sie hatte ein Bein über die Armlehne gelegt. Robert konnte nicht anders als nur dorthin sehen.

»Ich freue mich«, sagte Therese noch einmal. Dann schwiegen sie. Und tranken einen Schluck Wein.

»Ich brauche heute jemanden, der zuhört.«

»Ich höre zu«, sagte sie bestimmt.

»Wenn es nicht mehr geht, sag es.«

Er begann zu erzählen, von dieser Wohnung, zu der sie gerufen worden waren. Nachbarn hatten die Tür aufgebrochen, nachdem es so still geworden war ...

»Der Flur, weißt Du, lang, quer über die ganze Wohnung, wie die in den vornehmen Vierteln. Alles voller Blut. Wände, Parkett, Möbel. Eine Frau lag mit zerrissenen Kleidern auf dem Bett. Man hatte sie gefesselt, mit den Händen an die Bettpfosten gebunden. Ihr ganzer Körper hatte dunkle Flecken von Schlägen und mehrere Einstiche eines Messers. Nur ihr Gesicht war unverletzt.«

Therese wurde blass.

»Soll ich aufhören?«

»Nein«, sie schüttelte energisch den Kopf.

»Gut. Die Spur begann im Wohnzimmer. Sie hatte sich gewehrt. Die Möbel lagen bunt durcheinander. Überall Blutspuren. Wir nehmen an, dass sie dort vergewaltigt wurde und im Schlafzimmer nochmals.«

Etwas zog sich in Therese zusammen. »Und die Nachbarn?«

Sein Gesicht wurde hart. »Angeblich hatten sie nichts gesehen.«

»Wer war das?«, sie flüsterte nur noch.

»Der Verdacht liegt auf ihren ehemaligen Zuhälter. Er ist schon bekannt, aber ihm ist bisher nichts nachzuweisen, schon gar nicht Mord. Die Frau hatte sich ‚selbständig’ gemacht. Wahrscheinlich hatte das dem Kerl nicht gefallen. Ein Deckstück unter Gottes Himmel. So ein kleiner Muskelmann mit einem auffälligen Tattoo an der Schulter: Ein Tigerkopf. Vielleicht helfen die Spermaspuren weiter.«

Therese schlug die Hände vor den Mund zusammen.

»Was hast Du?«

Sie schüttelte krampfhaft den Kopf. Sah ihren Peiniger, wie er mit heruntergelassenen Hosen grinsend vor ihr stand, während sie versuchte, sich aus den Händen seiner Helfer zu befreien. Sie fing an, zu zittern.

»Mon dieu, ich hätte es nicht erzählen sollen. Ich Idiot.« Er sprang auf, lief zu Therese, kniete vor ihrem Sessel. Sie rutschte herunter, klammerte sich an Robert. »Lass mich nicht allein. Bitte. Lass mich nicht allein.«

Robert kam ein Verdacht. »Kennst Du ihn?«

»Ich hatte mit ihm zu tun.«

»Zu tun? Wie, mit ihm zu tun?«

Sie wusste nicht, ob sie es erzählen konnte. Sie fühlte sich schmutzig, befleckt. Ihr Kainsmahl auf der Stirn begann zu brennen.

»Was hat er Dir angetan?« drang Robert weiter in sie.

Und da brach es aus ihr heraus. Mit zitternder Stimme, immer wieder unterbrochen von Schluchzern, erzählte sie von damals. Und Roberts Augen blitzten. Er hielt sie umarmt, fest, immer fester. »Ich bringe ihn um«, flüsterte er Therese ins Ohr. »Ich bringe ihn um.«

Doch sie schüttelte den Kopf. »Tu’s nicht. Fang ihn. Sperrt ihn weg. Für immer!«

Sie knieten immer noch am Boden. Hielten sich jetzt an den Händen. Und dann küssten sie sich.

Lange.

Sehr lange.

 

 

  1. Erwachen

 

Jetzt wusste sie, was richtig ist! Die Ursachen für ihr ganzes verschrobenes Sexualleben lagen in ihrer verdammten Vergangenheit! Ihre Ahnungslosigkeit, die miesen, miesen Erfahrungen, die Ängste, aufgebaut und aufgestaut, ihre Selbstvorwürfe, Missverständnisse! Doch so ist es im Leben. Es wird einem gegeben, keiner fragt, keiner erklärt. Sieh zu! Mach was draus oder nicht! Sie hatte erst jetzt angefangen, »Etwas« draus zu machen.

Nein, es stimmte nicht. Ihr Anfang war in Ordnung. Nur Mutter und dann Paris …

Seit Stunden saß sie vor dem Computer und schrieb. Nur für sich beschrieb sie detailliert ihre Nacht mit Robert, der erst nicht wollte: »Ich weiß nicht, ob das jetzt gut ist:« »Doch«, widersprach sie, »es ist gut.« Jede Kleinigkeit war ihr wichtig, jede Bewegung, jede Berührung, jede Regung. Nie hatte sie von einem Mann (die damals waren ja noch Knaben) oder einer Frau so viel Zuneigung und Rücksicht erfahren. Ihr Herz schlug schon wieder schneller, wenn sie daran dachte. Jetzt wünschte sie sich Robert her, doch der war auf der Suche nach einem Mörder. Fertig! Sie hüpfte fröhlich ins Bad, denn sie hatte sich immer noch nicht richtig frisch gemacht.

Es klingelte. Nackt lief sie zur Tür. Robert! Sie vergaß durch den Spion zu sehen, riss die Tür auf und flog durch einen Schlag vor die Brust an die gegenüberliegende Wand. Ohnmächtig sackte sie zusammen.

 

Das Telefon klingelte. Sie wollte aufstehen. Hatte sie geschlafen? Was war das?

Panik überkam sie. Sie konnte die Arme nicht bewegen und auch nicht die Beine. Sie lag gestreckt auf dem Bett. Panisch sah sie sich um. Ihre Arme und Beine waren an das Bett gefesselt. Die Schnur schnitt sich an den Gelenken schmerzhaft in die Haut. Sie konnte nicht schreien, denn ihr Mund war mit einem Klebestreifen verschlossen.

Sie hörte eine hämische Stimme aus dem Wohnzimmer. Die kannte sie: Pasquale! Wie hatte er sie gefunden? Was wollte er? »Leck mich! Ja, ich komme!« rief Pasquale. Der Hörer knallte auf die Ablage. Sie hörte Schritte. Er sah ins Zimmer, grinste. »Wir sehen uns, Miststück. Leider habe ich noch zu tun!« Er verschwand, die Wohnungstür fiel ins Schloss. Sie hörte, wie er die Treppenabsätze heruntersprang.

Therese lauschte. Es war still. Sie zog an den Seilen. Hatte er sie vergewaltigt? Sie spürte nichts. Vielleicht wurde er unterbrochen? Weshalb war er so schnell verschwunden? Das Telefonat! Robert?

Wo blieb Robert? Hatte er einen Schlüssel? Nein. Verdammt!

Resigniert sank sie zurück. Er hatte sie so, wie sie war auf das Bett gefesselt. Es wurde kalt, sie begann zu zittern. Vor Angst, dass Pasquale zurückkommen könnte. Warum bin ich blöde Kuh gleich zur Tür gerannt? Robert! Bitte komm!

Es klingelte. Sie versuchte zu rufen, doch das Klebeband verhinderte jeden Versuch. Es klingelte wieder, klopfte. »Therese? Bist Du da?«

Ja, du Idiot. Jaaa! Komm! Brich die Tür auf!

Das Telefon meldete sich. Sie hörte seine Stimme vor der Tür. »Da stimmt was nicht.« Es klopfte wieder. »Therese?«

Dann krachte es. Einmal, zweimal. Poltern.

 

Robert tat die Schulter weh. Doch seine Angst war größer als jeder Schmerz. »Therese!!« Er hörte Geräusche im Schlafzimmer, jagte den Flur hinunter. Da lag sie. Nackt, gefesselt, schutzlos. Sie riss an den Seilen. »Therese! Ich mache Dich gleich los!« Er rannte in die Küche, fand ein Messer, jagte zurück. »Warte Süße, halt still! Gleich, gleich!« Die Seile fielen zu Boden. Sie stürzte sich auf ihn. »Er war's!«

»Wer?«

»Er heißt Pasquale! Er war hier. Er ist der Mörder!«

Er sah an ihr herunter. »Hat er Dir was…«

»Nein, er bekam einen Anruf. Warst Du das?«

»Nein. Das Schwein. Na warte, jetzt kriegen wir Dich.«

Er sah sich um, fand eine Decke und legte sie Therese über die Schultern. Dankbar sah sie ihn an. Robert ging in den Flur, und während Therese sich zitternd anzog, rief er seine Kollegen. Nach kurzer Zeit hörte sie Sirenen. Roberts Gesicht erschien. »Die Kollegen. Bitte nichts mehr verändern!« Doch dazu wäre sie sowieso nicht in der Lage gewesen. Ihr ganzer Körper wurde von einem Schütteln durchzogen, das sie nicht mehr in den Griff bekam. Sie hockte, leise vor sich hinjammernd, vor dem Bett. Endlich erschien ein Arzt, der ihr eine Beruhigungsspritze verabreichte. Therese sackte in sich zusammen. Nur Weinen konnte sich nicht. Nicht mehr.

Den Rest des Tages nahm sie nur noch, wie im Traum wahr. Eine Frau, die sie befragte, die Treppe, Roberts Arm, eine Autofahrt. Wieder, wie damals.

Sie erwachte in einem fremden Bett. Ihre feine Nase erkannte - Männergeruch. Der herbe Duft männlichen Eau de cologne oder Rasierwassers. Glas klapperte auf Glas, Wasser lief. Irgendwo spielte ein Radio.

Sie richtete sich auf, sah sich mit angstvoll geweiteten Augen um. Ein helles Zimmer. Sie sah sich im Spiegel eines Kleiderschrankes.

»Wieder munter?«, fragte eine Stimme. Robert! Gott sei Dank! Ihr schwindelte. Sie erinnerte sich. Gestern Abend -

Therese legte sich aufatmend zurück. Roberts Stimme klang ruhig, fast erleichtert.

Er trat ins Zimmer, setzte sich auf die Bettkante. Robert hatte immer noch einen Rasierapparat in der Hand. Eine Hälfte seines Gesichts war noch voller Schaum. »Wie geht’s?«, flüsterte er.

»Mich schwindelt. Ich bin sooo froh Dich zu sehen.«

»Der Doc hatte Dich sediert. Du hast drei Tage geschlafen!«

»Waas?«

»Drei Tage. Ich dachte schon, ich müsste den Doc wieder rufen.«

Therese hörte in sich hinein. Ja, sie hatte Hunger. Mächtigen Hunger. »Hunger, ich habe Hunger!«

Etwas hatte sich von ihr gelöst. Ein dunkles Gefühl. Sofort, als sie Robert gesehen hatte, war es, als sei eine schwere Last von ihr gefallen. Pasquale? Pah, um Dich kümmert sich mein Held!

»Ich bin gleich fertig, Dann kannst du Dich frisch machen. Schön bist Du ja schon.« Wie er lächelt! Es rieselte ihr warm den Rücken hinunter. Er stand auf, ging wieder ins Bad, als sei nichts gewesen. War ja auch nichts! Gar nichts. Pasquale?

Herzflackern. Sie ging hinter ihm her. Jemand hatte ihr einen Pyjama angezogen. Es war bestimmt Roberts, denn er roch nach ihm, die Ärmel waren zu lang, die Schultern zu breit, die Hosenbeine stauchten sich auf dem Teppich. Da stand sie, wie ein Clown, im Türrahmen, die Arme angehoben, die Hände versteckt in den Ärmeln.

Seine Wohnung hatte ein großes Bad, wie es in den alten Häusern der Jahrhundertwende üblich war. Eine Wanne stand frei vor einem schönen, großen Fenster. Sogar die alten Fliesen waren erhalten, ein Waschbecken mit Spiegel und messingfarbenen Armaturen, dunkelbraune antike Badmöbel.

Robert rasierte sich fertig. Sie sah interessiert zu. Noch nie hatte sie einen Mann in Ruhe bei der Morgentoilette beobachtet. Interessant! Es kratzte und er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Sie musste grinsen. Sportlich, harte Muskeln, breite Schultern, schmale Taille. Die Shorts saßen eng auf seinem knackigen Hintern. Und kein Tattoo! Gott sei Dank.

Er sah im Spiegel, dass sie ihn beobachtete, und lächelte.

»Kann ich baden?«, fragte sie. Er zeigte mit dem Rasierer über seine Schulter. »Kannst Du Dir das Wasser selbst einlassen?«

»Ja. Denke schon.«

»Badezeug steht auf dem Schränkchen. Ich hoffe, Du findest was für Dich.«

Sie ließ Wasser ein. Prüfte die Temperatur, schüttete gleich den Badezusatz dazu. Mandelduft, aha! Sie setzte sich auf die Kante, wartete.

Er war dazu übergegangen, sich die Zähne zu putzen. Es sah spannend aus. Er gehörte nicht zu den Typen, die die Zahnpasta über das ganze Gesicht verteilten. Im Spiegel konnte sie es sehen. Und er sie.

»Was denkst Du«, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist noch alles leer.«

»Wir haben diesen Pasquale geschnappt«, sagte er wie nebenbei. »Noch am gleichen Abend. Ich hatte Dich hierher gebracht und bekam einen Anruf.«

»Wo bin ich?«

»Bei mir. Geht das in Ordnung?«

»Ja. Und, danke.«

»Danke dem Informanten. Der hatte noch eine Rechnung offen. Also hat er Pasquale verraten. Außerdem wollte er nicht in einen Mord verwickelt werden.«

Es war, als würde eine schwere Last von Thereses Schultern fallen.

»Und nun? Hat er gestanden.« fragte sie.

»Nein.«

»Wie, was dann?«

»Pech für ihn. Er wollte abhauen, hatte es bis zum Fenster geschafft, sprang, knallte aus fünf, sechs Metern auf die Straße.«

»Und dann?«

»Da kam ein Bus. Was für eine Schweinerei.« Wie Robert das sagte, so kalt, hart. So kannte sie ihn nicht, wollte sie ihn nicht kennen.

»Er war trotzdem ein Mensch, Robert.«

Robert sah sie über den Spiegel an. »Hast Recht. Aber vielleicht war das sein Schicksal.«

Sie stand auf, lehnte sich gegen seinen Rücken. Hart, warm. »Danke«, hauchte sie.

»Dein Wasser!«

»Oh«.

Sie sprang zur Wanne. Zog den viel zu großen Pyjama aus und stieg in den Schaum. Seufzend ließ sie sich langsam in das heiße Wasser gleiten, bis sie bis zum Hals in dichtem Badeschaum verschwunden war. Robert hatte sich umgedreht und sie dabei angesehen.

»Was?« fragte sie unschuldig.

Er schluckte. Sagte nichts. Stand einfach nur da.

 

 

  1. Einfaches Glück

 

Frühstückstisch. Eine kühle Sonne schien direkt auf die Tischplatte. Schweigen. Genießen. Nachklang von etwas Schönem.

 

Sie hatten nicht weiter miteinander gesprochen. Therese zeigte nur auf den Schaum. »Ist noch Platz.« Und er war zu ihr gestiegen. Das Wasser lief über. Keiner kümmerte sich darum. Sie saßen gemeinsam in der Wanne, bis das Wasser kalt wurde. Hatten sich nur immer angesehen und »Händchen gehalten«. Er reichte ihr einen Bademantel. Dann gingen sie in die Küche, deckten gemeinsam den Tisch.

 

Ist das so? Wenn man in Familie ist?

»Musst Du nicht zur Arbeit?«

»Nein«, er biss kräftig in einen Croissant. »Chefchen hat mir freigegeben, bis Du wieder O.K. bist. Habe unendlich viele Überstunden.«

»Dann musst Du jetzt zur Arbeit«, sagte sie bestimmt.

»Du bist noch nicht O.K.«

»Bin ich doch!« beharrte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Liebes. Wir fahren weg. Ich habe was Schönes in den Bergen gefunden. Ein Hotel mit allem Drum und Dran. Dort erholst Du Dich. Machst Dein Köpfchen frei, auslüften! Dann bist Du vielleicht O.K. Das klärt dann der Onkel Doktor oder die Tante Doktorin.«

»Und die Verbrecher? Machen die auch Urlaub?«

»Klar doch. Wir schicken Mails rum, wann und wie lange einer von uns Urlaub macht. Dann treffen wir uns mit der Unterwelt in den Bergen!« Jetzt lachten beide.

Über den Tisch gebeugt streichelte sie seine Wange.

»Vorsicht! Die Butter!«

»??«

»Busen!«

»Oh!« Sie wollte den Bademantel schließen.

Er hielt ihre Hand fest.

»Therese?«

»Ja?«

»Ich liebe Dich.«

»Ich Dich doch auch, Dummerchen. Aber glotze mir nicht immer auf den Busen!«

»Warum nicht?«

 

Ein winzig kleines Nest, inmitten eines winzig kleinen Tals unterhalb des riesigen Mont Blanc. Sie fuhren die schmale Straße bis vor das Hotel. Nicht groß, schlicht, einfach. Etwas, was man in dieser Gegend nicht vermutet. Ein paar Autos standen davor. Es war still. So still, dass ihnen nach der langen Autofahrt die Ohren weh taten.

»Wie niedlich!«, rief Therese.

»Und, es hat sogar eine Schwimmhalle.«

Sie gingen zur Rezeption. Hinter dem Tresen saß eine ältere Dame. Sie las eine Tageszeitung, und fühlte sich offensichtlich gestört. Robert stellte sich vor.

»Womit zahlen Sie?«, die Frage klang ungehalten. Robert holte tief Luft, doch Therese zupfte an seiner Jacke.

»VISA«, sagte er ergeben.

»Geht.« Sie griff hinter sich zu einem Fach voller Schlüssel. »Zimmer 213. Zweite Etage. Aufzug dort.« Das war alles.

Im Fahrstuhl küsste Therese Robert. Sein Gesicht wurde wieder weicher.

»Wer weiß, was ihr heute widerfahren ist.«

Das Zimmer war nicht groß. Die übliche Hoteleinrichtung. Bad mit Dusche, das WC sogar extra.

Doch der Blick aus dem Fenster und dann vom Balkon warf sie fast um. Sie sahen direkt auf den Mont Blanc. Von den nahen Gipfeln segelten Paragleiter, in der Nähe krächzte eine Alpendohle. Weitere antworteten. Irgendwo sangen Vögel.

Robert stand hinter Therese. Sie hatte die Arme ausgebreitet, wie Kate Winslett in ›Titanic‹, und atmete tief ein. Er schlang seine Arme um sie, drückte sie an sich und Therese legte ihren Kopf zurück, schmiegte ihre Wange an seine. So standen sie lange.

Den restlichen Tag verbrachten sie damit, die nähere Umgebung zu erkunden. Und, Therese Schuhe zu kaufen, mir denen man in den Bergen besser vorankommt, als auf ihren geliebten high heeles.

Nach dem Abendessen zogen sie sich müde zurück. Ohne viele Umstände zog Therese sich aus, legte sich ins kalte Bett.

»Buhah! Kalt. Komm, wärme mich.« Es war das zweite Mal, dass Therese von sich aus wollte und nicht gezwungen wurde. Sie hatte nicht gezählt, sie spürte es nur. Und es war angenehm erotisch und wunderschön.

Erwartungsvoll sah sie zu, wie Robert sich auszog. Dann stand er vor ihr. »Komm schnell, mich friert.« Sie streckte die Arme aus.

 

Therese und Robert hatten die ganze Nacht nicht geschlafen. Erst zum Morgen, als der Himmel heller wurde, kuschelten sie sich müde und kraftlos aneinander und schliefen tief und fest. Am Nachmittag wurden Therese und Robert munter.

Robert lag auf der Seite. Er schlug die Bettdecke zurück. Therese döste noch auf dem Bauch. Robert machte mit den Fingern einen Spaziergang über Thereses Rücken. Sie schnurrte wie eine Katze.

»Aufstehen!« rief er plötzlich. Er küsste ihr die Pobacken, und sprang ins Bad. Sie hörte ihn hantieren, und klappern, die Dusche rauschte. Sie war zu faul. Nein, heute würde sie keinen Schritt tun. Sie hatte Muskelkater von der ungewohnten Bewegung in den Bergen. Immer nur aufwärts, immer nur abwärts.

»Ich gehe heute nicht von hier weg!« rief sie in die Kissen.

Sein Kopf erschien. »Was hast Du gesagt?«

»Ich gehe heute nicht von hier weg!«

»Schöner Po! Bleib so liegen!«

»Guck nicht, Lüstling!«

»Mach ich. Kein Problem.« Weg war er.

Theres stand umständlich auf. Reckte sich. Sein Kopf war inzwischen wieder erschienen. »Schön, weiter so!« rief er.

Theres zuckte zusammen. »Mistkerl!« rief sie. Dann hüpfte sie in Bad.

Er stand immer noch unter der Dusche. »Mach Platz«, sie drängte sich dazu. »Jetzt bin ich dran!« Und dann: »Hilf mir mal, den Rücken zu schrubben…«

»- und den Bauch.«

»Den Hintern?«

»Ja.«

»Und die M-«

»Auch.«

 

Dann gingen sie in die Berge. Jeden Tag! Sie fuhren mit Sesselliften nach oben, und liefen bergab oder taten es umgekehrt. Das Wetter war gnädig. Jeden Tag schien die Sonne und beschenkte sie mit einem milden Spätsommerwetter. Abends in der Schwimmhalle waren sie allein. Kein Mensch. Also sprangen sie nackt ins warme Wasser. Spielten, schwammen um die Wette, tauchten. Und waren dann für die Nacht bereit.

Die brummige Concierge stellte sich dann doch als nette Person heraus. »Bleiben Sie noch ein paar Tage«, sagte sie eines Abends. Und: »Sie sind das schönste Paar, dass ich hier hatte.« Was für ein Kompliment. »Sie haben das beste Wetter mitgebracht, dass ich bisher hier erlebt habe.« Und Therese vermutete: »Sie hat bestimmt Arthritis.« Das flüsterte sie natürlich nur Robert ins Ohr. Und Madame brachte ihnen den besten Wein an ihren Tisch im Kaminzimmer.

Und bei Gelegenheit sah Robert, dass in dem kleinen Büro der Concierge, ein Bildschirm flimmerte. Und darauf zu sehen war die Schwimmhalle. ‚Schönes Paar’, dachte er und grinste in sich hinein. Hoffentlich war’s unterhaltsam. Das erzähle ich später einmal Therese.

»Schaaaade«, brummte Robert am Morgen.

»Ja«, Therese stimmte zu. »Schaaade. Urlaub alle.«

 

 

  1. Pläne

 

Der Alltag hatte sie wieder. Therese schrieb eifrig an ihrem Buch und besuchte die Abendschule. Morgens war sie müde und abgespannt, doch nicht unzufrieden. Sie musste einen Abschluss bekommen. Und da sie leicht lernte, hatte sie wenige Probleme. Therese träumte davon, zu studieren. Literatur, Französisch. Denn sie spürte, dass ihr Schreiben mehr Freude bereitete als die stupide Arbeit im Büro. Clarisse war ihr großes Vorbild. Ihre Disziplin. Nach dem Urlaub war sie wieder in ihre Wohnung gezogen, doch sie fühlte sich abends allein, sehr allein. Die Telefonrechnung ging extrem in die Höhe.

Robert hatte ihr mehrfach angeboten, zu ihm zu ziehen, doch sie brauchte noch Zeit.

Klar, der Urlaub war die eine Seite: Sie hatten sich kennengelernt. Körperlich, sinnlich, was bestimmte Bedürfnisse und Wünsche betraf. Und auch äußerlich. Seine Gelassenheit, die bis zur Coolness reichte. Sie liebte Robert. Liebte sie ihn? Oder fühlte sie sich nur sehr stark zu ihm hingezogen? Und wie würde es im normalen Alltag aussehen, wenn er arbeitete, sie arbeitete?

»Und wenn wir uns eine Wohnung suchen? Wir leben erst einmal zusammen. Du in Deinem Zimmer, ich in meinem?«, hatte Robert gefragt. Warum eigentlich nicht?

»Und wie machen wir es mit dem Bad?« fragte sie ihn lächelnd. Sie stand ganz dicht vor ihm. Er spürte ihren Körper, ihren Atem. Sie sah ihm von unten in die Augen. Sein Blick flackerte. Was denkt er gerade? Er gab ihr einen Kuss. Da wusste sie, dass sie das Bad gemeinsam benutzen würden.

Roberts Wohnung war größer. Sie hatte sich entschieden: Wie will sie denn wissen, wie der Alltag sein könnte, wenn sie nicht zusammen waren? »Ich ziehe zu Dir. Und suche eine größere Wohnung.«

»Fein. Kannst Du Dich mal entscheiden? Steht das jetzt fest?«

»Ja - steht - fest.«

Sie sortierte, warf weg, verpackte, verwarf. Dann kamen seine Kollegen, griffen sich die wenigen Kisten, Kartons und Möbel. Ein Teil davon kam in ein Lager, der Rest zu Robert. Und dann feierten sie Einzug. Erst mit Roberts Kollegen, dann allein.

 

Wenn sie Zeit hatte, suchte sie im Internet und in der Zeitung eine Wohnung. Das war nicht einfach: Mindestens vier Zimmer musste sie haben. Große. Und eine große Küche, denn Robert kochte gerne. Und ein großes Bad! So groß, wie Roberts Gegenwärtiges. Und einen großen Flur! Alles groß!

Eines Abends rief sie, »Das ist sie!«

»Wer oder was ist SIE?« Robert tauchte hinter einer Zeitung auf. Es sah aus, wie Alltag.

»DIE Wohnung. DIE ultimative Wohnung!«

»E quanta costa?« Das war zwar kein reines Italienisch. Klang aber gut.

»Tausend-«

»Gut, nehmen wir.«

»-zweihunderfünzig.«

»Nehmen wir nicht.«

»Oooch.«

»Tausendzweihunderfünfzig?«

»Jep! Warm.«

Er zählte an den Fingern. Bewegte die Lippen, verdrehte seine Augen.

»Wo?«

»Gehen wir hin?«

 

Am nächsten Tag trafen sie sich mit dem Makler. Sie mußten nur drei Häuser weiter!

Arm in Arm standen Therese und Robert davor. Frisch renoviertes Haus. Balkone über die ganze Breite. Es gefiel ihnen und die Vorstellung, zusammen zu leben auch. Anders als jetzt.

Der Makler kam, kletterte aus seinem Mini.

Wortreich redete er auf die Beiden ein.
»Der Aufzug ist gerade außer Betrieb. Aber sie sind ja noch jung! Harharhar!« scherzte er. Im vierten Stock standen sie vor einer Wohnungstür. Schnitzwerk, blitzende Beschläge aus Messing. »Antik, harharhar.« Der Makler schloss auf. Gespannt traten sie ein.

»Na, was habe ich Ihnen gesagt? Ein Schmuckkästchen! Harhar!«

Ein Flur! So breit wie die Wohnung. Parkett, das knarrte, herrlich! Eine Doppeltür, die sich zum Salon öffnete.

»Rechts geht es zum Bad, Küche und zum ehemaligen Mädchenzimmer. Links das Schlafzimmer, noch ein Bad - harharhar - und eine Kammer.«

Therese flüsterte »Siehst Du. Sogar zwei Bäder.«

»Seehr Schaaade.«

Die Decke war mit Stuck aus der Zeit des art deco geschmückt. Noch hing eine einsame Glühlampe in einer Fassung an der Decke. Alle Wände waren weiß gestrichen.

Sie gingen schweigend in den Salon. Ein alter Kachelofen! »Alle Räume mit Fußbodenheizung«, wies der Makler hin, als er Thereses Blick sah. »Der Ofen ist nur Dekoration. Soll ich ihn abreißen la-«

»Unterstehen Sie sich!«

Wie in vielen »vornehmen« Wohnungen des alten V. verbanden Türen an den Fensterwänden die Räume der Zimmerfront miteinander. Jedes Zimmer hatte einen Ausgang zum Balkon, der sich über die gesamte Breite zog. Sie waren begeistert. Roberts Augen glänzten, nur Therese hielt sich äußerlich bedeckt. Schob hier und da die Unterlippe vor, bemängelte die Armaturen, ningelte wegen der »alten« Lichtschalter. Und es fehlte sogar der Stuck an der Decke eines Zimmers. Und das Parkett. Also wissen Sie; Das muss erst noch gerichtet werden. Was das kostet!

Therese dachte misstrauisch, nur tausendzweihunderfünfzig Euro? Sie hakte nach. Der Makler lächelte mokant. »Wo steht denn das?« Sie sagte es ihm. Der Makler winkte ab. »Damals! Harharharr;« Sein Blick wurde aber hart.

Aber auch Thereses. Robert stand dabei, und staunte. Diese zarte, kleine Frau, wurde zur Furie. »Mein lieber, lieber Herr Makler«, begann sie ihre Rede. Und hörte erst auf, als dieser bereits die Augen verdrehte und beschwichtigend beide Hände hob. Als er dann auch noch den Ausdruck vom Computer gewissermaßen um die Ohren bekam, knickte er ein. »Gut, Gut, M’dame! Ich habe verstanden. Tausendvierhundert. Mehr kann ich nicht.«

Jetzt kam Therese in Fahrt. »Tausend. Nicht einen Cent mehr, denn Sie wollten uns betrügen. Ganz klar! Ich werde mich beschweren. Mein Mann ist Poli-!«

»Aber Madame! Es war nie meine Absicht sie zu betrügen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn Sie da etwas falsch - Harhar.«

»Falsch, Monsieur? ICH habe nichts falsch verstanden. SIE! Können Sie nicht lesen?« Empört schritt sie über das Parkett, das es knarrte und krachte. Sie schwang herum. «Aber ich komme Ihnen entgegen, guter Mann. Tausendeinhundert. Was sagen Sie? Harhar!« Jetzt strahlte sie über das ganze Gesicht, als hätte sie ihm den Mond geschenkt. Der Makler senkte den Kopf. »Tausend - zweihundert - fünfzig?« Er sackte zusammen.

»Naaa, geht doch.« Sie streichelte frech die Wangen des armen Mannes. »Okay! Robert? Einverstanden?« Robert musste sich zusammennehmen, um nicht laut loszuprusten. »Einverstanden.«

»Dann schicken Sie uns den Mietvertrag.« Sie hielt inne. »Und was ich noch sagen wollte.«

»Ja?« Der Makler fragte sich, was noch kommen könne.

»Keine Mieterhöhung in der ersten vier Jahren!«

Er atmete auf. Ach das! »Drei«, sagte er.

»Dreieinhalb!«

»Bon. Dann sind wir uns handelseinig?«

»Ja. Wann bekommen wir die Schlüssel? Wir haben es eilig.«

Er gab sie ihnen. »Weil Sie es sind, M’dame, Therese. Wegen Ihrer schönen Augen und weil ich Ihnen vertraue. Bitte schön. Harharhar.«

Therese nahm die Schlüssel graziös entgegen, ja sie knickste sogar. »Vielen, vielen Dank, Monsieur.« Sie grinste Robert breit an. Dann schien ihr noch etwas einzufallen. »Monsieur. Was machen wir mit dem fehlenden Stuck in…«

»Lasse ich machen. Natürlich. Gleich morgen.«

Sie verabschiedeten sich freundlich voneinander. Als die Tür hinter dem Makler zuging, sprang Therese Robert um den Hals. Draußen vor der Tür atmete der Makler tief ein, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Mon dieu! Nie wieder.«

 

Clarisse hatte eine Fehlgeburt gehabt. Kurz danach waren sie und René verschwunden. Pierre sagte nichts. Nicht wohin, nicht wie es ihr ging. Nichts!

Thereses hatte schon als kleines Mädchen Angst davor gehabt, jemals ein Kind gebären zu müssen. Je älter sie wurde, desto größer wurde die Angst. Aber wenn sie solch ein frisch geborenes Baby sah, dann erwachte das Weib in ihr. Dann wollte sie auch so etwas Kleines, Zerbrechliches im Arm halten. Aber immer hatte sie im Hinterkopf, die Unbequemlichkeit: Dicker Bauch, fette, fast platzende Brüste, die Schmerzen, die damit verbunden waren.

Mama hatte sie einmal angeschrien: Warum habe ich dich unter Schmerzen geboren! Wenn Du so zu mir bist? Wärest Du doch bloß nie auf die Welt gekommen! Dann hatte sie zur Flasche gegriffen. Ersauf doch!

Schmerzen? Sie las im großen Doktorbuch nach. Sah es in schlechten Filmen - und manchmal auch in guten: Kinder kriegen ist zuallererst Schmerz! Schrecklicher Schmerz, denn die Frauen litten. Sie schrien, stöhnten, schwitzten, bissen sich die Lippen blutig. Und dann? Flutsch, kam mit einem Schwall von Blut und Wasser, so ein kleines Biest zur Welt und brüllte. Sabberte einen voll und sog an den Zitzen. Nein, schönen Dank. Niemals wollte sie so etwas ausstehen müssen!

Doch jetzt war sie mit Robert zusammen. Wollte er Kinder? Hatte sie ihn schon einmal gefragt?

Er lag neben ihr. Schnarchte wie eine trocken laufende Dampfmaschine. Morgen ist Umzugstag. Das zweite Mal in diesem Jahr! Und sie mußten noch ihre Sachen aus dem Lager holen. Ist ja nicht viel!

Wie spät war es? Fünf, sechs, sieben?

Es war schön mit ihm. Er war zart, ließ sich Zeit. Stimulierte sie lange und ausgiebig. Dachte an sie (und an sich, klar doch) und manchmal war das Vorspiel unerträglich lange. Wie hielt er das nur aus?

»Die Pille?«, fragte er vorher.

»Ja, hab ich.«

»Gut.« Sachlich: gut, O.K., Okay, in Ordnung. Normal. Nicht ängstlich zufrieden, wie: Gott sei Dank.

Er hatte aufgehört zu schnarchen.

»Wie spät ist es?« fragte er mit geschlossenen Augen.

»Weiß nicht. Liege schon ne Weile. Es ist noch nicht so hell.«

Er drehte den Kopf. Lächelte ihr zu, wie wenn er sich freuen würde, sie zu sehen, nach einer langen Reise.

»Sag mal«, Therese druckste.

»Jaa?«

»Willst Du Kinder?«

»Ja, schon, gerne.«

»Wann?«

»Wann? Wann Du willst. Du bist der Boss. Der Bestimmer. Oder soll ich Dir die Pille verstecken?«

»Keine Hilfe. Du bist keine Hilfe.«

»Klar. Bin ich nicht. Ich kriege keine Kinder. Bin ja kein Seepferd.«

»Stimmt. Faules Stück. Beamter. Alles auf andere abwälzen.«

Sie rollte sich auf der Matratze, die sie in der neuen Wohnung ausgelegt hatten, bevor die richtigen Betten kamen, zu ihm.

Er hob den Kopf. »Mein armes, armes Mädchen.«

»Wieso arm?«

»Du hast nichts anzuziehen.«

»Siehst Du! Das habe ich Dir schon immer…« Sie krabbelte unter seine Decke. »Iiiih!«

»Was ist? Eine Spinne? Schlange? Boa Constructor?«

»Du bist ja naaaaakt!«

»Nein, Unsinn, das ist mein natürlicher Anzug.«

»Mit Griff?«

»Weg da! Wir müssen aufstehen!«

Damit war aber immer noch nicht geklärt ob nun Kinder und wann und wieviel? Sie verschoben es auf nachher oder morgen oder ›dann‹.

 

In Roberts Wohnung hallte es jetzt. Therese wartete schon in ihrem neuen Domizil. Seine Kisten und Möbel standen bereit. Jetzt musste nur noch das Umzugsunternehmen kommen. Es klingelte. Da sind sie.

Fünf Mann hoch traten sie ein. »Das alles? Mehr nicht?«, fragte der Vorarbeiter.

»Wir müssen dann noch zum Lager in der rue Bourbon. Da steht noch ‚ne Kleinigkeit«, gab Robert Auskunft.

Nicht mal eine Dreiviertelstunde hatte die ganze Sache gedauert, dann stand nichts mehr in den Zimmern. Sie fuhren los.

Therese wartete sehnsüchtig. Bald müssten sie kommen. Das Haus hatte einen Fahrstuhl, der unter Denkmalschutz stand. Die Rufanlage war modern, sogar farbig. Und dann kamen sie, brachten Unruhe, Möbel, Kästen, Kisten. »Bon chance!«, wünschten der Vorarbeiter der Packer, und verstaute das Trinkgeld in seiner Brusttasche.

 

Dann saßen sie auf dem Balkon. Müde, fix und fertig. Zu keinem Gedanken mehr fähig. Die Sonne stand schon tief, im Westen türmten sich dunkle Wolken.

»Fast alles geschafft«, murmelte sie. »Nie wieder!«

Und wirklich. Beinahe alles stand an seinem Platz, die Kleidung war untergebracht, die Bäder eingeräumt und die Küche funktionsfähig. An die Tür ihres Bades hatte sie einen Zettel geklebt. »Frauenbad. Zutritt für Unbefugte verboten!«

»Man gut, dass ich befugt bin.«

»Bist Du doch gar nicht!« protestierte Therese.

»Doch. Immer wenn Gefahr im Verzuge ist.« Er zeigte ihr seine Dienstmarke. »Und bei Verdunkelungsgefahr.«

»Ist doch gar nicht!«

»Ist bei Dir immer. Jeden Morgen, jeden Abend!«

»Aber nur mit Dienstmarke!«

Dann spekulierten sie darüber, wo er am besten die Dienstmarke befestigen könnte, wenn er doch nackt und bloß -

Morgen noch den Rest erledigen: Bücher einsortieren (Es waren von Beiden viele Bücher zusammengekommen), Bilder aufhängen, noch Fehlendes einkaufen.

»Ja«, sagte er ohne Zusammenhang, »zwei.«

»Zwei was?«

»Kinder. Ein Mädchen, ein Junge, noch ein Mädchen, noch ein…«

»Aufhören. Das sind mehr als zwei.«

»Ah ja.« Er hatte seine Stellung noch um keinen Millimeter verändert. »Stimmt.«

»Gut, morgen. Holen wir uns bei IKEA.«

»Nö. Nicht von dort. Die sprechs alles nur swedish.«

»Ja. Nicht gut.« Sie schüttelte den Kopf, schweifte ab, wollte albern sein: »Also, wie die Kinder das gleich können! Stell Dir vor: so ein Chinesenkind kann schon von klein auf Chinesisch. Versuch Du das mal.«

»Nö«, sagte er faul. »Ich versuch es erst gar nicht.«

»Wenn ich jetzt schwanger wääääre…«

»Bist Du denn?«

»Ich nehme doch nur mal an. Wenn ich also jetzt schwanger wäre. Was würdest Du dazu sagen?«

»Ich liebe Dich.«

»Das ist alles? Zuwenig.«

»Hm. Zu wenig? Dann: Ich würde Dich auf die Arme nehmen, Dich herumwirbeln, Dich abknutschen, umarmen, dich bestei-«

»Das reicht!«

»Und ich würde Dich fragen, ob Du wirklich willst.«

»Ja, ich will!«

»Dann lass es uns tun.« Seine direkte Art.

»Ich kann nicht. Mir tut alles weh.«

»Typisch. Frauen. Mit tut alles weh«, zählte er auf, «ich habe Kopfschmerzen - Denk dran, ich stehe kurz vor der Pension. Wir haben nicht so viel Zeit zu warten, bis Du Deine Schmerzen kuriert hast.«

»Knapp vierzig Jahre!« Sie suchte seine Hand. »Da wird sich doch irgendwann ein kurzer Moment finden?« Sie war voller Liebe und Zuneigung, wollte ihn jetzt fühlen und wenn es nur seine Hand wäre.

»Liebes, aufstehen. Essen. Ich habe uns ein paar Nudeln gekocht.«

Sie war tatsächlich eingenickt. Und lag auf dem Sofa. Er hatte sie hereingetragen und sie hatte es nicht einmal gemerkt. Sie hörte draußen vor den Fenstern den Regen rauschen.

Robert half ihr, aufzustehen.

»Komme gleich.« Sie schlich mit schweren Schritten ins »Weiberbad« und wusch sich den Schlaf aus den Augen.

In der Küche sah sie sich um. Alles war noch fremd, neu. Nichts an seinem gewohnten Platz. Es klingelte. Das Handy von Robert. Fluchend ging er in den Salon. Sie hörte, wie er unwillig brummte, zweimal nein sagte. Und dann. Geht klar, Chef.

Er setzte sich wieder hin. »Muß mich beeilen.«

»Wieder ein Mord?«

Er nickte. »Alle Leute unterwegs. Chefchen hat einen Kniefall gemacht. Er weiß ja, dass wir mitten im Umzug sind. Aber was soll er machen.« Er schlang die Nudeln hinunter.

»Mach nur. Ist schon klar. Ich hoffe nur, das S. nicht auch noch anruft.«

Er sprang auf, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Etwas Tomatensauce blieb zurück. Sie wischte sie gedankenverloren mit der Hand ab. Draußen schlug die Tür zu. Er sprang die Treppen hinunter, denn der Aufzug war ihm zu langsam.

Und langsam aß Therese auf. Sie hatte ja Zeit! Ein Gefühl des Wohlseins erfasste sie. Sie lehnte sich zurück, verdrehte den Kopf, sah sich um. Ja, so kann man Leben! Und einen ersten Eindruck hatte sie eben erhalten. So würde der Alltag werden: Sie wollten eben essen und, Peng, ein Anruf! So ist das also, mit einem Polizisten.

Um am Manuskript weiterzuarbeiten war sie zu müde. Sie räumte ab, ging in den Salon. Der Fernseher ging an, Nachrichten. Danach eine Show.

Das Telefon klingelte. Sie schrak auf. Es war dunkel, nur der Fernseher lief. Werbung. Sie hatte schon wieder geschlafen! Das Telefon stand in der falschen Ecke. Als sie endlich dort war, hörte es auf zu klingeln. Dafür meldete sich das Handy in ihrem Zimmer. »Frauenzimmer« stand auf einem Schild, dass sie neulich unterwegs in einer Boutique ergattert hatte. Sie rannte, schaffte es gerade noch rechtzeitig, bevor die Mailbox sich meldete.

»Ja?«

»Therese?«

»Clarisse, bist Du das?«

»Oui. Kann ich kommen?«

»Ja. Du weißt, dass wir jetzt woanders wohnen?«

»Ja.«

Therese sah auf. Ein Uhr? Wo war Robert? Was wollte Clarisse?

Angst presste ihr Herz zusammen. Sie wählte Roberts Nummer. Es klingelte in der Küche. Hat er liegenlassen, der Träumer. Dann Clarisse: Anrufbeantworter.

Therese holte sich eine Flasche Wasser aus der Küche, und wartete im Salon.

 

21

 

Clarisse sah aus wie immer. Tres chic, elegant, schön. Therese lief ein Schauder über den Rücken. Dabei musste sie sich selbst überhaupt nicht hinter Clarisse verstecken. Die beiden Frauen saßen nebeneinander, und schwiegen. Therese hatte gelernt, den Mund zu halten, wenn der andere noch nicht bereit war. Sie legte ihre Hand auf Clarisses.

Clarisse seufzte tief.

Ihre schönen grünen Augen waren traurig.

Geduldig schwieg Therese, wartete.

»Ich habe mein Kind verloren.«

»Ja. Ich weiß. Tut mir leid.«

Clarisse lehnte sich an Thereses Schulter. »Und ich habe Angst. Stell Dir vor. Ich, die Clarisse, habe Angst.«

Therese schwieg immer noch. Sie hatte doch auch Angst.

»Frauen haben doch immer Angst, oder?«

»Kinderkriegen und so?«

»Hmhmmm. Alles. Aber besonders-«

Was war denn mit ihren weiblichen Hormonen los, die sie angeblich prädestinieren sollten, unbedingt Kinder haben zu wollen? Wo waren sie denn? Warum sprachen sie nicht zu ihnen? Kinder, Kinder, Kinder-

Und warum zog es sich bei ihr unten nicht zusammen, klatschen die Eierstöcke nicht fröhlich in die Hände, kribbelte es nicht im Bauch oder dort unten, wenn sie ans Kinderkriegen dachte. Oder wenigsten im Kopf. Sie hatte immer noch Angst vor dem Frauenarzt. Und nie eine Mutter gehabt, die ihr helfen würde.

Therese legte Clarisse ihren Arm über die Schulter. Zog sie zu sich heran. Da saßen sie nun. Die Köpfe aneinander gelehnt und leise rollten Tränen über ihre Wangen. Stille. Aber keine Lösung.

»Entschuldige:« Clarisse stand auf. Strich ihren Rock glatt. »Ich komme mitten in der Nacht, und jammere Dir die Ohren voll. Ich gehe wieder.«

Therese war aufgesprungen. Hielt Clarisses Hände fest. »Nein, bleib. Ich bin sowieso ausgeschlafen. Setz Dich wieder.«

Sie lief in die Küche, holte eine Flasche Rotwein aus dem Fensterschank.

Als sie zurückkam, saß Clarisse immer noch so auf ihrem Platz, wie sie vorhin gesessen hatte und stierte Löcher in die Luft.

Therese schenkte ein, reichte Clarisse das Glas. Sie tranken.

»Ich habe auch Angst«, flüsterte Therese. »Ich liebe Robert, wie nichts auf der Welt. Und habe Angst, ihm ein Kind zu schenken.«

Clarisse dachte an den Professor, wie er laut verkündete, »Machen Sie Kinder. Es gibt nicht besseres, als Kinder zu machen!« Ja, die Art und Weise. Witzbold! Aber danach. Wenn es dann wieder eine Fehlgeburt wurde? Was würde René sagen? Gerne würde sie jetzt ihre Mutter fragen, aber die war nicht mehr da. Lag auf dem Friedhof. Und Papa? Oder Renes Mutter?

Warum nicht? Therese war ihr wohl keine Hilfe, aber ihr war niemand Besseres eingefallen.

»Kommst Du morgen mit? Zu Renés Mutter?«

»Morgen? Heute! Ja, das geht. Es ist Samstag.«

»Ich danke Dir«, Clarisse umarmte Therese. »Wann?«

»Um zehn. Klingel einfach. Ich komme ‚runter.«

 

»Ich komme mit!«, verkündete Robert. »Ich muß mal raus!«

»Aber, das ist ne Frauensache!«

»Na und? Wann heiraten wir?«

»Wenn Du noch mal fragst, dann-«

»-gleich?« Er sah sie freudig an.
»Nie! Du Drängler!«

»Ooooch.« Robert sackte in sich zusammen. Sie streichelte seine Wange. «Geduld, Lieber.«

Er schmollte. »Du liebst mich nicht wirklich. Ich hänge mich auf. Nein, besser! Ich werde mich bei einem Duell von meinem besten Freund im Morgengrauen erschießen lassen. Das ist dramatischer. Großes Kino!«

»Kindskopf. Geh lieber zur Arbeit.«

»Muß ich nicht. Heute nicht und morgen auch nicht. Ich komme mit«, bestimmte er.

Es klingelte. Clarisse!

»Wir kommen!«

»Wir?«

Clarisse stand vor der Haustür. Strahlend, frisch, wie immer. Robert verneigte sich, gab ihr einen Handkuss. Therese fiel ein, dass man ihn noch nicht vorgestellt hatte. Sie hatten immer nur über ihn gesprochen.

»Clarisse - Robert, Robert - Clarisse.«

»Das ist also der berühmte Robert?« Clarisse trat einen Schritt zurück, sah Robert von oben bis unten an. Taxierte ihn.

»Zufrieden«, fragten Therese und Robert im Chor.

»Überaus zufrieden. Er ist ein schöner Mann!«
Therese droht mit dem Finger. »Vooorsicht! Vergiss es!«

»-und Sie eine schöne Frau!«, sagte Robert.

»Oh, oh! Gefahr im Verzuge!«

Galant riss Robert die Türen auf. »Bitte, meine Damen. Die Karosse steht bereit. Wo wünschen die Damen hinkutschiert zu werden?«

Die Frauen kicherten, setzten sich in den Fond. Hinten konnten sie miteinander tuscheln, ohne dass Robert etwas verstehen würde. »Fahren Sie, Robert. Sie wissen schon wohin-« rief Therese und wedelte hochmütig mit der Hand.

Während der Fahrt ging ihm noch der letzte Tatort durch den Kopf. Das Muster war ähnlich, wie Pasquales Tat, doch es gab Abweichungen. Worin lagen die? Er konzentrierte sich auf den Verkehr.

Renes Mutter stand schon vor der Eingangstür. Sie hatte die Hände vor der Brust gefaltet, Freude strahlte aus ihrem Gesicht. Clarisse war erschrocken. Wie alt M’dame geworden war. Die Falten in ihrem Gesicht waren tiefer, die Augen blickten müder. Da stimmt etwas nicht. Sie umarmte die alte Frau. »Mama«, flüsterte sie und erhielt Küsse auf die Wangen. »Wie ich mich freue! Clarisse. Wen hast Du mitgebracht?«

Clarisse stellte ihre Begleiter vor. »Therese, meine Freundin und ihr Freund, Robert.«

Sie gingen ins Haus. Im Wohnzimmer stand eine Frau, und sah sie streng, mit verkniffenen Lippen an. »Guten Tag«, sagte hart.

Weich bat M’dame ihre Haushälterin, etwas Kaffee zu bereiten und einen Imbiss … »Ja, Madame«, fauchte die Frau und rauschte in die Küche. Clarisse spürte, wie ihr eine Wut in den Nacken stieg und Robert sah schräg auf die Frau, schüttelte leise den Kopf.

»Nehmt Platz. Was führt euch zu mir alten Frau?«

Clarisse beugte sich vor. »Ist alles in Ordnung, Mama.« Seit Renes Vater verstorben war, nannte sie seine Mutter Mama. Die strahlte dann über alle Wangen, und ihre Augen leuchteten. Jetzt aber sahen sie stumpf auf Clarisse. »Eine Furie«, flüsterte sie.

»Dann Schmeiß sie raus!« zischte Clarisse.

»Wie denn?«

»So!« Clarisse stand auf.

»Madame. Auf ein Wort«, rief sie laut. Die Haushälterin sah aus der Küchentür. »Ja? Meinten sie mich?«

«In der Tat. Wenn Sie mit dem Kaffee fertig sind -«

»Is fertich!«

»- verlassen Sie dieses Haus. Sofort!«

»Waas?«

»Sie haben es gehört.«

Therese hatte Clarisse so noch nie gesehen. Immer war sie ausgeglichen und freundlich. Jetzt sah sie, dass ihre Freundin vor verhaltener Wut zitterte. Sie nahm ihre Hand, kalt, hart.

»Sie hören von mir!« Die Tür knallte. Ein Citroën schoss vom Grundstück.

»Mama, tut mir leid. Aber das konnte ich nicht mehr ansehen. Was für eine unverschämte Person! Ich werde René beauftragen, einen Ersatz zu finden.« Und schnell entschied sie, »Ich bleibe bei Dir. Ist Dir doch Recht?«

Die alte Dame lächelte jetzt dankbar. »Clarissa, ich muß Dir etwas gestehen.«

Robert holte den Kaffee, den die Haushälterin stehen gelassen hatte. Er fand etwas Gebäck.

»Dein Papa und ich werden zusammenziehen. Deshalb war die Dame auch so ungehalten. Ich hatte schon versucht, ihr zu kündigen, denn sie hatte sich mir und Deinem Vater gegenüber sehr schlecht verhalten.«

»Ich sehe es!« zischte Clarisse. Dann begriff sie. »Du und Papa? Wie seid ihr denn auf diese Idee gekommen?«

»Auf der letzten Bustour nach Lion. Er sagte, dass er sich doch so allein fühle und da habe ich ihn eingeladen, bei mir zu wohnen.«

»Und Gustave, Cloè?«

»Die sind doch mehr unterwegs als hier. Oh, ich will mich nicht beschweren. Es sind nette, hilfsbereite Leute, aber sie haben ihr Leben und viel zu tun, wie ihr.«

»Wohl wahr.«

»Was meinst Du?«

»Hä? Ach so. Meinen Segen hast Du.« Sie gab Mama einen Kuß auf die Wange. »Ich freue mich! Aber dass mir keine Kinder kommen!« Alle lachten entspannt.

»Aber das Haus?«

»Regeln wir schon. Macht euch keinen Kopf.« Sie griff nach Madames Händen. So alt geworden, dachte sie. Wie schade. Sie küsste der alten Dame die Hände, und ein warmes Gefühl erfasste sie.

»Mama, wir haben ein Problem, die Therese und ich.«

»Wenn ich helfen kann?«

 

Robert war spazieren gegangen. Die Frauen hatten ihn unmissverständlich hinausgeworfen. Das Grundstück lag mitten in der Pampa, wie er feststellte. Als Stadtmensch konnte er sich nicht so recht vorstellen, hier zu leben.

Doch andererseits? Die Ruhe! Er hörte tatsächlich die Vögel singen.

Was haben die Frauen untereinander zu verhandeln. Therese hatte ihn so angesehen, als er von Kindern zu reden anfing. Er wusste nicht, wie er ihre Blicke deuten sollte. Ja, nein, vielleicht? Er selber mochte Kinder sehr. Natürlich waren auch Rabauken dabei und er hatte auch schon richtige Gangster, gerade mal dreizehn Jahre alt, verhaftet. Doch er konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals solche Kinder hätte. Er wusste, aus welchem Umfeld sie meist stammten. Doch das waren ja nur Ausnahmen.

Er sah sich schon, mit einem Kinderwagen stolz über die Straßen ziehen. »Oh was für ein hübsches Kind! Junge oder Mädchen?« Und er wäre stolz zu sagen, Junge! Haach, wie der Papa! Oder: Mädchen! »Ist sie nicht süß?«, »Und wieee!«

Der Tatort! Ja, es sah aus wie von Pasquale. Aber der lebte nicht mehr. Ergo: War er vielleicht gar nicht der Mörder gewesen. Passte auch nicht zu seinem Profil. Ein Gewaltmensch, aber nur gegen Schwächere, Frauen, Kinder. War da nicht noch eine Figur im Spiel. Was hatte Therese erzählt. Könnte dieser Glatzkopf, der sie festgehalten hatte oder der andere, der smarte Sadist nicht besser passen? Er mußte dringend telefonieren.

 

»Wir haben Angst, Mama.«

»Angst, ihr? Wovor könnt ihr denn Angst haben?«

»Kinder kriegen?« schlug Clasrisse vor.

Madame verschlug es die Sprache.

»Wo kommt ihr denn her!« rief sie erstaunt. »Wie kann eine Frau Angst vor dem Kinderkriegen haben?« Sie schlug sich vor die Lippen. »Oh Verzeihung, Clarisse, es tut mir so leid!«

Die winkte ab. »Schon gut.« Doch traten ihr Tränen in die Augen. »Ich hatte mich so gefreut.«

Doch nun war Madame in ihrem Element. »Passt auf Mädels«, rief sie, »und hört mir, einer alten, erfahrenen Greisin, (na, na!) einmal genau zu -«

 

Auf der Rückfahrt schnatterten die beiden Frauen über Gott und die Welt. Clarisse freute sich für ihren Vater.

Therese hatte ihm einen dicken Schmatz gegeben und in die Ohren gehaucht: »Ich liebe Dich.« Es kribbelte und ihm wurde ganz anders. Beide waren völlig gelöst und hatten ausnehmend gute Laune. Sehr verdächtig, dachte Robert.

»Kommt ihr noch mit zu uns?«, flötete Clarisse.

Robert: »Gerne, dann würde ich diesen ominösen René auch mal kennen lernen.«

»Ominös!«

»Tschuldigung, war nur so gesagt.« Und er ahmte den Makler nach: »Harharharr!«

 

  1. Flucht

 

Thereses Regel blieb aus. Es ist so weit, dachte sie. Was wird Robert sagen?

Am Abend saß sie lässig auf der Couch. Sie hatte eine Flasche Sekt bereitgestellt. Der Kühler stand auf dem Tisch, Gläser. Ein paar Sandwiches. Eine Kerze brannte. So, jetzt kann er kommen.

Es dauerte. Tatsächlich, als Polizistenfrau brauchte man Geduld. Das Verbrechen kannte keine Rücksicht. Soweit hatte sie ihren Alltag gelernt. Zum Glück war er nicht so ein Arbeitstier, wie es in den TV-Serien immer dargestellt wurde. Er machte seinen Job, und den wohl gut, denn er war vor kurzem zum Inspektor befördert worden. Dennoch war sie oft am Abend allein. Das war schlecht, denn sie graulte sich manchmal in der großen Wohnung. Und gut, denn sie hatte Zeit, ungestört zu schreiben. Robert war nicht neugierig. Dennoch fragte er, wie sie weiterkäme und ob er auch mal was lesen… NEIN! Noch nicht. Aberglaube!

Wie mag das sein, ein paar Monate später, wenn der Fötus in ihr gewachsen war. Würde sie ihn spüren, wie es immer beschrieben wird. Der Frauenärztin hatte sie untersagt ihr oder Robert mitzuteilen, was es werden würde. Sie wollten sich überraschen lassen - das hatte sie mit Robert vorher besprochen, als sie die Pille absetzte und sie jeden Abend daran arbeiteten »Kinder zu machen!«. Sie hatte ihre Fruchtbarkeit gemessen. Und dann hatte es geklappt. Irgendwie hatte sie es gemerkt. Jetzt muß es passiert sein, sagte sie sich. Und es war passiert.

Frauenkörper sind schon interessant! Hatte Robert auch gesagt, nur in einem anderen Zusammenhang und an ihren Haaren geschnuppert.

Sie freute sich mit einem Male. Ihre Angst war wie weggewischt. Nicht nur durch das Gespräch mit Renés Mutter. Einfach so! Angst weg! Wie schön.

Sie fasste sich auf den Bauch, als könne sie schon etwas spüren. Wie groß soll der Fötus jetzt sein? Wie ein Fingernagel? Noch kleiner?

Draußen polterte Robert in die Wohnung. Er pfiff. Nanu? Hat er was getrunken.

Die Tür flog auf. Da stand er. Grinste über das ganze Gesicht. Machte die Arme weit auf und stutzte. »Wir haben sie gekriegt!« Er stutzte »Was…?«

Therese klopfte neben sich auf die Couch. »Komm, setzt Dich hier neben mich. Ich habe ernsthaft mit Dir zu reden.«

Misstrauisch kam er näher, setzte sich auf die Kante. Die Hände legte er brav auf die Knie. Dann drehte er den Kopf zu Therese. »Ein Heiratsantrag von Dir!« Er sah das Arrangement auf dem Tisch.

»Nein. Ich bin schwanger«, und aus einer Eingebung heraus sagte sie noch, »Und Du darfst mich heiraten. Ich erlaube es.«

Stille. Er saß da, sah sie an. Große Augen. Dann platzte es auch aus ihm heraus. Er sprang auf, tanzte durch den Salon, riss Therese hoch, ignorierte das Sektglas, das auf dem Boden zersprang. »Wir werden Eltern! Wir kriegen ein Kind! Wir werden heiraten!« Therese wurde herumgewirbelt. In einem Nebensatz dachte sie, das hatte er mir angedroht. Ansonsten war sie nur noch glücklich, traumhaft glücklich. Lange standen sie dann mitten im Zimmer, fest umschlungen.

 

Ein Brief war gekommen. Wie er sie überhaupt erreichen konnte, war Therese schleierhaft. Ein schlimmer Brief. All ihr Glück drohte zusammenzubrechen.

Verdammte Vergangenheit.

»Unsere Ermittlungen haben ergeben, dass sie die Tochter der Madame K. … Gemäß Paragraph sowieso … fordern wir Sie hiermit auf … innerhalb einer Frist von drei Wochen …« Das kann nicht sein. Das KANN NICHT SEIN!

Eine Klinik, eine Entziehungsanstalt irgendwo in der Provinz fordert von ihr Einhundertundzweiundsiebzigtausend Euro.

Genauer: einhundertzweiundsiebzigtausend und dreiundvierzig, neunzig. Eine lange Aufstellung für Unterkunft, Behandlung, Medikamente, Regressleistungen (wofür das?). »Weitere Kosten, die noch zu erstatten sind, nicht ausgeschlossen…«

Wo sollte sie soviel Geld herbekommen? Und was hatte sie mit ihrer längst vergessenen Mutter noch zu schaffen?

Ihr Kind bewegte sich in ihr. Ja, genau, da regst du dich auch auf, sprach sie zu ihm/ihr. Sie war im sechsten Monat. Der Termin für die Hochzeit lag noch weit hinter ihrer Niederkunft, im November. Sie wollten ihre Hochzeitsreise nach Südafrika machen, sozusagen in den Sommer. Das konnten sie sich jetzt abschminken. Bitte nicht treten, ich kann ja nichts dafür! Ihr Kind war unruhig, wie sie.

Robert. Was sollte sie ihm sagen? Wie konnte sie ihm das schonend beibringen?

Hallo, da bin ich wieder.

Wer?

Ich, Deine Angst. Da bin ich wieder: Schön, nicht?

Was willst Du?

Dir helfen…?

Therese bekam große Augen.

Mir helfen? Wie?

Hau ab! Renn’ weg. Dieser Robert wird Dich sowieso rausschmeißen. Rette Dich und Dein Kind.

Aber wie?

Ist doch egal. Lauf! Weit weg, dann findet Dich keiner.

Hecktisch sprang Therese auf. Richtig! Ja, ich muß weg! Sie sah sich um. Der unerklärliche Wunsch, ‚Nur weg, nur weg!’, hatte sich festgesetzt. Sie lief in ihr Zimmer, riss eine Reisetasche, ja es war DIE Reisetasche, aus einem Schrank. Sie roch immer noch muffig und nach diesem Haus. Schnell raffte sie zusammen, was sie erreichen konnte. Einen Zettel? Nein. Sie würde eine Mail schicken. Panisch verließ sie die Wohnung. Weg, hämmerte es in ihrem Kopf. Weg! Vielleicht finden sie mich nicht. Als sie die Treppe hinunter rannte, dachte sie, ich werde einen anderen Namen annehmen. Natürlich, ich habe meinen Ausweis verloren. Tut mir leid. Ja, ja, ich wohne hier…Nur einen vorläufigen. Gut, auch gut. Weg! Nur weg!!!

Und die Angst? Richtig Kindchen, das ist die Idee. Und jetzt weg!

 

Therese hatte noch etwas Bargeld einstecken. Auf dem »Gar de Sud« kaufte sie sich eine Fahrkarte nach Grenoble. Vorher holte sie vom Geldautomaten fünfhundert Euro ab und hätte dadurch beinahe ihren Zug verpasst.

 

Von Grenoble ging ein Bus höher in die Berge. Sie stieg irgendwo oberhalb Grenobles, in einem Ort, der ihr gefiel, aus.

»Wo finde ich eine Pension, M’sieur?« sprach sie einen Mann an. »Hier?« Er kratzte sich am Kopf. »Ah ja! Gehen Sie diese Straße hoch und am Ende, könnte eine sein, glaube ich.« Er sah sie von Kopf bis Fuß an. Was dachte er? Sie ging die Straße nach oben. Eine Pension! Zimmer frei, stand auf einem Schild.

 

 

  1. Suche

 

»Therese?« Robert ging von Zimmer zu Zimmer. Nichts! Keine Therese.

Wo ist Therese? Er rief sie an. Mailbox!

In ihrem »Weiberzimmer« versuchte er die Situation aufzunehmen, wie an einen Tatort. Das Bett war zerwühlt. Sie hatte drauf gesessen. Eine Tür des Kleiderschrankes stand halb offen. Robert sah hinein. Sachen fehlten, soweit er feststellen konnte. Die Babykleidung auf dem Sideboard war nicht mehr da und in den Schiebkästen herrschte Chaos. Sie ist weg!

Robert sah sich weiter um. Ein Brief lag halb unter dem Bett. Er hob ihn auf. Erst wollte Robert das Schreiben wieder weglegen. Ging ihn ja nichts an. Postgeheimnis und so. Aber der Betreff fiel ihm ins Auge: Nachforderung!

Nachforderung? Wer fordert hier nach und warum? Schnell überflog er den Inhalt. Ob er sich in etwas einmischte, wenn er hier weiterlas. Wieviel? Was wollen die? Soviel? Paragraph soundso?

Clarisse anrufen!

»Clarisse? Ist Therese bei Dir?«

»Nein? Ist was?«

»Weiß nicht. Sie ist nicht zu hause.«

»Vielleicht ist Therese shoppen?«

»Ohne mich?«

»Du klingst besorgt.«

»Ja, ich bin besorgt. Sie hat einen seltsamen Brief bekommen. Da will jemand Geld von ihr.«

»Schulden?«

»Weiß nicht. Ja, vielleicht nein, ein Krankenhaus. Entziehungskur.«

»Therese? Entziehung?«

»Nein, nicht sie. Es betrifft ihre Mutter. Ich weiß nicht was ich machen …«

»Wir kommen! Reneeeee!«

Aufgelegt.

Wie lange ist das her. Thereses Mutter war doch spurlos verschwunden, hatte sich nicht mehr um sie und ihren Mann gekümmert. Oder war es anders? Therese hatte nur kurz darüber gesprochen. Hoffentlich hat sie sich nichts angetan.

Er rief im Revier an. Nein, keine Leiche gefunden. Sollen wir Nachforschungen …? Wartet noch! Ich melde mich. Vielleicht nur ein Irrtum … Moment! Ruft doch mal in den Krankenhäusern … Danke!

 

 

  1. Grenoble

 

»Äh, wie lange gedenken Sie zu bleiben?« Madame sah Therese gespannt an.

»Eine Woche, vielleicht länger.«

»Dann, denke ich, wird es Ihnen nichts ausmachen, im Voraus zu bezahlen? Eine Woche?«

»Ja, oder länger.«

Sie wurden sich handelseinig.

»Wollen Sie Ihr Kind in Grenoble zur Welt bringen?«

»Wieso?«

»Das machen viele. Im hiesigen Krankenhaus. Es hat sich herumgesprochen, dass es dort besonders, nun sagen wir, leicht sein soll.«

»Leicht? Was?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht irre ich mich.«

Therese verstand mit einem Mal. »Ah, sie meinen, es einfach dort zu lassen?«

Die Madame nickte.

»Nein, Madame, ich nicht. Glauben Sie mir. Ich weiß, wie man ohne Mutter aufwächst.«

»Verzeihung, das ist mir jetzt peinlich, wissen Sie.« Und nach einer Pause fügte sie hinzu, »Dann sind Sie nur zur Erholung hier…?«

»So ist es. Nur zur Erholung und um Nachzudenken.«
Madame wandte sich zum Gehen. Im Weggehen sagte sie, »Wenn Sie gedenken länger zu bleiben, sagen Sie rechtzeitig Bescheid, wegen des Preises, Sie verstehen?«
»Danke, ja.« Dann war sie endlich allein.

Das Zimmer bestand aus drei Räumen: Einem winzigen Schlafraum, einem Wohnzimmer mit Kochecke und einem Bad. Die Ausstattung stammte schon aus den siebziger Jahren. Braune Fliesen mit grundhässlichem Muster klebte an den Wänden des Bades. Doch es war sehr sauber und roch nach Seife und frischer Luft, die durch ein Klappfenster hereinströmte.

Es klopfte. »M‘dame?«

»Ja?«, antwortete Therese. Madame steckte den Kopf ins Zimmer. »Passen Sie auf. Gegenüber wohnt so ein Typ, der gerne ins Badfenster spannt.«

»Danke, Madame. Ich werde es beachten.«

Therese verstaute die wenigen Sachen in einem Schrank und einer niedrigen Anrichte. Dann legte sie sich müde und angezogen aufs Bett. Sie starrte auf die Decke. Die kläglichen Trophäen erfolgreich erjagter Mücken klebten auf der weißen Farbe. An einigen Stellen begann sie, abzublättern. Zeit, zu renovieren, dachte Therese. Sie war müde. Unendlich müde.

Auf der Fahrt hierher hatte sie immer wieder die Frage beschäftigt, wie sie das Geld beschaffen sollte, dass die Klinik von ihr haben wollte. Und sie hatte sich gefragt, geht denn das? Dürfen die denn das? Und kam zu keiner Lösung.

Hunger! Sie hatte mit einem Mal einen Riesenhunger. Auf dem Weg zur Pension lag eine Pizzeria. Im Vorbeigehen konnte sie durch die großen Fenster sehen. Und was sie gesehen hatte, fand ihren Gefallen.

Therese ging das kurze Stück bergab. Im Gastraum saßen nur Männer, die sie gespannt ansahen. Erst wollte sie nur eine Pizza mitnehmen, doch es roch gut und ihr Hunger war größer als eine Pizza gereicht hätte. Ein junger Mann kam auf sie zu. »Buona Sera«, er sah auf ihren Bauch, schloss daher messerscharf, das es sich bei dieser Frau definitiv nur um eine verheiratete Frau handeln könnte, »Seniora. Wollen sie etwas Essen, darf ich Ihnen einen Platz anbieten? Wie wäre es dort, am Fenster. Sie haben hier einen…«

»Danke, gerne. Bitte bringen Sie mir die Karte.«

»Uno momento. Sofort, Seniora.”

Therese setzte sich. Tatsächlich konnte man von diesem Fenster über die Bergwelt der Grenobler Alpen sehen. Unten im Tal führten eine Autobahn und die Route National 241 zur Stadt. Alte Platanen säumte die Straße, auf der der Verkehr aus dem Umland verlief.

Sie bestellte Pasta Piccata Milanaise und ein großes Glas Milch. Es schmeckte, sogar besser als sie erwartet hatte. Die Männer um sie herum hatten ihre Gespräche wieder aufgenommen. Sie unterhielten sich gemächlich über das Wetter, den Ertrag, der von Jahr zu Jahr geringer wurde, oder witzelten über ihre Frauen, Fußball und Formel 1. Satt und zufrieden genoss Therese die friedliche Stimmung. Sie holte ihre Tasche vom Boden, suchte den Brief. Wo ist er? Sie war sich zu hundert Prozent sicher, dass sie ihn in ihre Tasche gesteckt hatte. Gleich hier vorn! Oder doch in der Mitte? Nichts. Dann liegt er in der Pension, beruhigte sie sich, obwohl sie den Verdacht nicht los wurde, dass sie den Brief wohl doch nicht eingesteckt hatte. Oder war er ihr vielleicht herunter gefallen? Und wenn ja, wo? Zu Hause, im Bahnhof, Zug, Bus? Das Handy klingelte leise in der Tasche. Ein paar Köpfe drehten sich zu ihr, andere griffen automatisch nach ihren Handys. Sie sah aufs Display: Robert. Therese schaltete das Handy aus. Sie wollte ihn jetzt nicht sprechen. Was hätte sie auch sagen sollen? Das sie in Grenoble ist? Auf der Flucht? Das sie eine andere Identität annehmen will? Wieder wurde ihr Puls schneller. Das Herz klopfte heftiger, und ihr Baby trat ihr gegen die Bauchwand. Was soll ich denn tun, fragte sie ihr Kind. Stille. Es hatte auch keine Idee.

Und wenn Robert ihr helfen könnte. Und hatte S., also Pierre, nicht einen taffen Advokaten? Oder Clarisse?

Sie zahlte, ging zurück zur Pension. Sie brauchte jetzt eine Dusche und dann das Bett.

 

Der andere Morgen war grau und diesig. Die Wolken zogen knapp über die Dächer des Ortes hinweg. Leiser Nieselregen tropfte gegen die Fenster des Wohnzimmers. Die Stimmung draußen passte so ganz zu ihrer eigenen. Die Nacht hatte sie unruhig verbracht. Immer wieder war sie aufgewacht und die Gedanken gingen im Kreis, keine Lösung, keine Idee. Im Bad fiel ihr rechtzeitig die Mahnung der »Madame« ein. Sie zog die Vorhänge vor das Fenster. Als sie um die Ecke lugte, sah sie im gegenüberliegenden Fenster einen Feldstecher oder etwas Ähnliches.

Therese hatte Zeit. Daher kämmte sie sich ausgiebig die Haare, Strich mit der Bürste immer wieder und wieder durch ihr Haar. Draußen im Zimmer konnte sie sich im Spiegel der Schranktür sehen. Sie drehte sich zur Seite. Wie jeden Tag maß sie mit den Augen den Umfang ihres Bauches. Wieder ein Stück gewachsen. Sie nickte sich zu. Wahrscheinlich wird es ein Junge. Die sollen ja größer sein. Und auch ihre Brüste hatten wieder zugenommen, waren schwerer. Sie freute sich auf den Tag, wenn sie ihr Kind in den Händen halten würde.

 

Am Nachmittag war sie in das Krankenhaus gefahren. »Hospital Ste. Margerite« stand über dem Eingang. Die heilige Margerite, die Schutzpatronin der Frauen. An der Rezeption erhielt sie einen Termin. Sie solle in einer Stunde wiederkommen.

Sie saß einem jungen Arzt gegenüber. Sie wolle hier ihr Kind bekommen, ob das denn möglich sei?

»Natürlich, Therese. Ich darf Sie doch Therese nennen. Wir freuen uns, wenn junge Mütter zu uns kommen. Haben Sie Probleme mit der Schwangerschaft?«
»Nein, nicht dass ich wüsste. Wir fühlen uns wohl.«

»Fein. Dennoch möchte ich sie gerne untersuchen. Wollen wir mittels Ultraschall nachsehen, was es wird?«

»Nein, mein Mann (Oh, Robert!) und ich wollen das nicht.«

»Schön. Das hört man selten.« Er untersuchte sie genau. Es war ihr ein wenig unangenehm, von solch einem jungen Mann untersucht zu werden. Doch der schien sich nur für ihre Schwangerschaft zu interessieren.

»Was macht ihr Mann, Therese?«

»Er ist Polizist. Mordkommission. Viel unterwegs.«

Der Doktor fühlte ihre Brüste ab. Dabei sah er nach oben zur Decke. Konnte er keine Brüste mehr sehen, fragte sich Therese amüsiert oder steht es an der Decke?

»Alles in Ordnung, Therese. Keine Knötchen oder Verdickungen. Es sieht so aus, als würde ihr Kind bestens versorgt werden. Vom Feinsten, wie man so sagt.« Er ließ ihre Brust los, langsam, zärtlich, fast streichelnd und Therese fand: zu langsam! Sie verzog das Gesicht.

Doch er hatte nichts gemerkt. »Ziehen Sie sich wieder an. Alles in Ordnung. Wenn es dann soweit ist, kommen Sie her. Wir sind auf Sie eingerichtet.« Therese nickte. Sie hatte sich wohl geirrt.

Auf dem Weg aus dem Haus sah sie ein Schild. »Babyklappe«. Ah, hier ist die diskrete Ablage. Neugierig ging sie auf die Tür zu und wurde zur Seite gestoßen. Eine Frau rannte durch die Tür und kam nach ein paar Sekunden wieder zurück. Schnell war sie um die nächste Ecke verschwunden. Perplex stand Therese vor der Tür. Von drinnen hörte sie das leise Greinen eines Neugeborenen. Mit großen Augen rannte sie nach unten. Sie wollte der Schwester unten an der Rezeption Bescheid sagen. Und diese nickte nur. »Wir kümmern uns drum.« Und war wieder mit ihrem Computer beschäftigt. »So rufen Sie doch irgendwen an!«

»Wen denn, junge Frau? Wir sind total unterbesetzt. Wiedersehn!«

Therese stand da, Tränen strömten ihr aus den Augen. Das arme Kind! Und sie erinnerte sich an ihre einsamen Abende, als Mutter schon lange verschwunden war. Wenn sie im Bett lag und auf Papa wartete, auf ein Streicheln über die Wange und einen Kuss auf die Stirn. »Gute Nacht, Kind, schlaf schön.«

 

»Was haben Sie denn? Ist Ihnen nicht gut?« Der junge Arzt! Therese deutete mit der Hand nach oben. »Das Baby«, schluchzte sie. Der Doktor sah die Schwester an. Die zuckte mit der Schulter, verdrehte die Augen. »Wir sprechen uns noch«, flüsterte ihr der Arzt zu.

»Kommen Sie, Therese. Wir sehen mal nach.« Sie gingen wieder nach oben. Er hielt ihr die Tür auf. Da lag das Bündel. Kleine Ärmchen, noch rosa und faltig sahen aus den Wickeln heraus. Auf Zehenspitzen gingen beide näher. »Was für ein süßes Kind!« rief Therese, die solche Angst vor dem Kinderkriegen gehabt hatte. Vorsichtig nahm sie das Bündel auf den Arm. Der Arzt war neben sie getreten. »Wir werden alles tun, was möglich ist, Therese.« Er sprach leise, als habe er Angst jemanden zu wecken. Mit schräg gelegtem Kopf sah er auf das Baby. »Ja, wirklich schön. Sehen Sie die Augen. Das wird einmal eine sehr, sehr schöne Frau. Sie werden sehen!« Und beide lachten jetzt leise. Er hielt die Arme zu Therese. »Darf ich?« Therese über gab ihm das Kind. »Ich werde es jetzt nach hinten bringen. Dort kümmern sich wirklich, wirklich tolle Schwestern liebevoll um dieses arme Wesen.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich. Glauben Sie mir.«

»Und dann?«

»Dann, wenn die Kleine stabil ist und gesund, suchen wir eine Familie für sie. Gute Menschen!«

»Dann rufen Sie mich unbedingt an.« Verrückt, dachte sie. Ich kriege doch ein eigenes Kind. Was soll ich mit einem fremden?

Doch er sagte, »Ich werde es nicht vergessen. Ich werde Sie nicht vergessen, Therese.« Und ihr wurde so komisch. Schnell weg!

Empathie, nennt man dieses Gefühl. Mitgefühl. Das hatte sie auf der Abendschule gelernt. Sie hatte einfach nur mitfühlend gehandelt. Dieses Mädchen würde ohne Mutter aufwachsen. Und wenn es Pech hätte, dann käme es in ein Heim und es ginge ihm so, wie es ihr gegangen war. Mutter? Gib es Dich noch? Wo bist Du? Wer bist Du?

Sie erinnerte sich an Namen des Krankenhauses. Sankt Vitus. Vitus? In, in…? Grenoble! Deshalb war sie hierher gefahren! Sie hatte nicht nachgedacht. Nur gehandelt.

Am Tresen fragte sie die genervte Schwester, wo dieses Sankt Vitus wäre. »Entschuldigen Sie«, fügte sie hinzu. »Ich wollte Sie nicht in irgendetwas hineinziehen.«

Doch die Schwester winkte ab. »Schon gut. Der regt sich auch wieder ab. Er weiß ja, was hier los ist.« Dann beschrieb sie ihr den Weg und nannte die Straße.

 

Erst am nächsten Tag rief sie sich eine Taxe. Sie war ausgeruht, die Sonne schien, der Taxifahrer war ein Stiller. Konzentriert machte er sich auf den Weg, fand sich durch den Verkehr der Stadt und hielt kurz darauf vor dem Eingang der Klinik. Erst hier sah er sie so an, wie: Was willst Du denn hier?

Beim Bezahlen sagte Therese denn auch: «Ich suche Jemanden.« Und sah, wie der Fahrer aufatmete. »Bon chance, Madame.«

»Merci bien.«

Ein Kiesweg führte auf direktem Weg zum Hauptportal der Klinik. Sie musste auf Zehenspitzen laufen, denn trotz Schwangerschaft hatte sie bisher auf hochhackige Schuhe nicht verzichtet. Und um nicht einzusinken, tänzelte sie über den Kies. Ein paar Insassen, die auf den weißen Bänken in der Sonne saßen, beobachteten sie und schmunzelten belustigt. Da hüpfte sie, vollbusig und dickbäuchig über den Weg. Selbst Therese musste innerlich lachen.

Sie nahm sich zusammen. Mit durchgedrücktem Rücken stieg sie die fünf Stufen bis zum breiten Portal hoch. Die schweren Türen standen offen. Links ein Glaskasten, in dem sie ein Pförtner gespannt erwartete.

»Wo kann ich mich erkundigen?«

»Kommt darauf an, wonach.«

»Ich suche jemanden?«

»Jemanden? Hat dieser Jemand auch einen Namen?«

Therese nannte ihren Mädchennamen.

»Und der Vorname?«

Wie war der Vorname ihrer Mutter? Marga, Margeret, Margot? Margot? Richtig. Vater hatte sie immer so gerufen. ‚Margot, wann gibt es etwas zu essen?’ und sie kam lallend aus der Küche. Wischte mit der Hand in der Luft. ‚Mach Dir doch selber was, fauler Sack!’

»Margot.«

Der Pförtner suchte umständlich in einer breiten Kladde. Habe die hier keinen Computer?

»Moment.« Er griff nach einem altmodischen Hörer. Tippte ein paar Zahlen auf der Tastatur.

»Ja, M’sieur Docteur. Hier ist eine Frau, die eine Margot M… Ja? Ich werde es ihr sagen.«

Umständlich legte er den Hörer auf. «Sie sollen hier warten.«

Therese sah sich um. Rechts Aufzüge, in der Mitte eine breite Treppe, die sich auf halber Höhe teilte und rechts und links in das nächste Stockwerk führte.

Auf dem oberen Absatz erschien ein Mann im weißen Kittel. Langsam kam er die Stufen herunter. Ein Stethoskop hing ihm um den Hals, Kugelschreiber steckten in der Brusttasche.

»Madame Therese?« fragte er.

»Ja?«

»Docteur Levclerc. Ich bin der Chefarzt hier. Kommen sie.«

Sie gingen durch einen langen Flur. Rechts große, breite Flurfenster. Altmodische Heizkörper versuchten im Winter den Flur zu wärmen. Heute schien die Sonne durch die offenen Fenster. Links Türen zu den Krankenzimmern, dazwischen ein Geländer. Patienten ergingen sich auf dem Flur und grüßen den Docteur ehrerbietig. Therese sah ihn von der Seite vorsichtig an.

Ein energisches Profil. Der ließ sich von keinem etwas erzählen! Das leicht vorgereckte Kinn ließ auf einen eisernen Willen schließen und auf wenig Nachgeben. Der Doktor war weit über die sechzig. »Bitte.« Er hatte eine Tür geöffnet und ließ Therese vorgehen.

»Setzten Sie sich, Therese.« Dann saß auch er hinter einem mächtigen Schreibtisch und faltete die weichen Hände auf der Tischplatte. Lange sah er Therese an. Sah ihren Bauch und ein weicher Zug ging über seine ansonsten strenge Miene. »Was soll es werden?«

»Mädchen, Junge, egal.«

»Schön.« Dann schwiegen Sie.

Der Doktor seufzte. »Therese, ich muß ihnen mitteilen, dass ihre…Pardon, können Sie sich ausweisen?«

»Ja.« Was war mit Mutter?

»Danke. Ja, also, Ihre Mutter.«

»Ja??«

»Was soll ich sagen? Sie ist vor kurzem verstorben. Delirium tremens. Nichts mehr zu machen.« Seine Miene zeigte ehrliche Betroffenheit. »Tut mir leid. Sie war einfach zu spät hier.«

»Ich kenne sie ja fast gar nicht. Ich war neun oder zehn…«

Levclerc stand auf. Er kam um seinen Schreibtisch herum, nahm Thereses Hand. »Kommen Sie, setzten wir uns auf die Couch.«

Zuvor blickte er ins Nebenzimmer. »Mäuschen, machst Du uns einen Kaffee?«

Er drehte sich zu Therese. »Sie wollen doch auch?« und mit einem Blick auf Thereses Bauch. »Einen nicht so starken, bitte«, rief er.

»Es kommt leider allzu oft vor, dass wir einen Patienten verlieren. Sie liegen in ihrer Wohnung oder auf der Straße. Keiner kümmert sich um sie. Dann schleppt man sie zu uns, halbtot, und wir versuchen sie ins Leben zurückzurufen …«

Ohne Absicht streichelte Therese dem Doktor den Handrücken. War er es, der Trost brauchte? »Und meine Mutter?«

»Straße. Irgendwo in der Nähe eines Supermarktes. Sie war völlig unterkühlt und dehydriert. Nahezu halbnackt! Irgendjemand hatte ihr das wenige, das sie noch gehabt hatte, auch noch weggenommen. Wir haben Anzeige erstattet, gegen unbekannt.« Er zuckte mit den Schultern. »Sie hatte die letzten Jahre auf der Straße gelebt. Vorher war sie schon ein paar Mal hier. Immer ohne Erfolg.«

Er sah in die Kaffeetasse. Beobachtete ein paar Schaumblasen dabei, wie sie kreisten. »Sie hatte wohl keinen Menschen mehr, der ihr Halt gab.«

»Kann ich sie sehen?«

»Wollen Sie das wirklich? Sie werden Sie nicht mehr erkennen …«

»Trotzdem. Ich will es. Ich habe meinen Vater …« Und Theres erzählte dem Doktor ihre Geschichte. Jedenfalls einen großen Teil davon. Und der Doktor hatte Zeit und Geduld. Aufmerksam hörte er zu.

»Ach, Therese«, seufzte er, als sie zum Ende gekommen war. »Ich bin froh, dass Sie so sind, wie Sie hier vor mir sitzen. Wirklich. Es gibt mit Kraft, und ich danke Ihnen.« Er küsste ihr den Handrücken.

»Kann ich sie sehen?«, wiederholte Therese ihre Frage.

»Ja, lassen sie uns gehen.«

Auf umständlichen Wegen gelangten sie in die Pathologie. »Warum hausen die Pathologen immer im Keller?« fragte Levclerc in den raum, als sie durch die Schwingtür traten. Es war kühl und roch dumpf. Eine Stimme hinter ihnen sagte, »Das weiß kein Mensch. Besser wäre es …« Ein kleiner dicklicher Kittelträger erschien aus der Dunkelheit einer Ecke, in dem sich ein Waschbecken befand. Er trocknete sich die Hände an einem grauen Tuch ab. »… wir säßen unter dem Dach. Von dort ist es bedeutend kürzer in den Himmel.«

Er blieb vor dem Paar stehen. »Was kann ich für Dich tun, Levclerc? Bonjoure, Madame?«

»Ihre Mutter. Madame …«

»Ah, entsinne mich. Begleiten Sie mich.« Sie schritten eine Reihe von Edelstahlschränken ab. »Hier. Madame… Nummer Zwo sechsunddreißig.« Er drehte an einen Knauf, und zog eine Trage aus dem Fach.

Unter einem schneeweißen Tuch waren die Konturen einer Frau zu erkennen. Therese zwickte es im Bauch. Ob es richtig ist, was ich hier tue? Der Pathologe sah sie erwartungsvoll an. Sie nickte. Ja, es ist richtig!

Vorsichtig, als wenn er die Person unter dem Tuch nicht wecken wollte, hob der Mann das Tuch an, zog es zurück bis zum Bauch der Frau.

Ja, stellte Therese sachlich fest. Da liegt eine Frau auf der Trage. Weißes schütteres Haar, blass, fast gläserne Haut, mit eingefallenen Wangen. Ein zahnloser Mund. Die Hände knorrig, Gichtknoten an den Gelenken. Schmale Schultern und ein winziger Busen unter dem Hemd. Das sollte Mutter sein? Sie schüttelte den Kopf. Mutter war groß gewesen, schlank und elegant, selbst wenn sie … getrunken hatte. Und ihre wunderbar welligen Haare. Kastanienbraun und weich und duftend und so voll. Und der Busen? Groß und weich. Wie oft hatte sie sich daran gekuschelt. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Jetzt bin ich ganz, ganz allein.

»Das ist nicht meine Mutter«, sagte sie kühl und bestimmt. »Nein, das ist sie nicht!« Und hatte Tränen in den Augen.

Levclerc nahm sie an den Schultern. »In Ordnung. In Ordnung, Therese. Dann haben wir uns geirrt. Können Sie mir verzeihen?«

Sie legte die Arme um den Hals des Arztes. »Natürlich. Und auch ich habe mich geirrt. Ich werde weitersuchen. Verzeihen Sie mir, dass ich ihre Zeit gestohlen …«

»Keine Ursache.« Und es ist doch ihre Mutter, da war sich Levclerc sicher. Er kannte solche Reaktionen. Doch er nahm es Therese nicht übel. Ihr nicht!

 

 

  1. Eine wahre Freundin

 

In der großen Küche war es still. Nur das Vogelgezwitscher aus dem Baum vor dem Haus und ab und zu ein vorbeifahrendes Auto störte die Stille. Mit beiden Händen hielt Robert die große Kaffeetasse fest. Clarisse und René saßen vor ihm. Sie hatte sich bei René eingehakt und ihren Kopf an seine Schulter gelegt.

»Ich hab’s!« rief sie plötzlich. Die Männer zuckten zusammen. »Was?« fragte sie.

»Was?« fragte René

»Der Brief kommt doch aus einer Klink in Grenoble?«

»Ja?«

»Vielleicht ist Therese dorthin gefahren?«

»Und wie sollen wir sie da finden? Grenoble ist nicht gerade ein Kaff!«

»Weiß nicht.« Clarisse stöhnte.

»Deine Kollegen?« Sie sah hoffnungsvoll auf Robert.

»Nix da. Wir haben keinen ausreichenden Verdacht, Therese polizeilich zu suchen.«

»Melde sie doch als vermisst.«

Doch Robert schüttelte den Kopf.

»Geht nicht.«

»Dann melde ich sie!« sagte Clarisse bestimmte: »Gleich morgen früh! Wir werden schon sehen…«

Sie kamen nicht weiter, bis Clarisse entschied, »Ich fahre nach Grenoble. Ich werde Therese finden!« Und wenn Clarisse einen Entschluss gefasst hatte, dann war sie nicht mehr davon abzubringen und schon gar nicht aufzuhalten. »Du rufst morgen das Krankenhaus an, Robert«, befahl Clarisse. »Sag ihnen sie sollen sich an die zuständige Krankenversicherung wenden. Renè kümmert sich um Pierre. Bring ihm schonend bei, dass er sich eine neue Sekretärin suchen muß.« Sie stand auf, richtete ihre Kleidung. »Und ich gehe packen.«

Clarisse nahm den ersten Zug, der in Grenoble hielt. Die Fahrt über telefonierte sie mit Robert, René und der Präfektur in Grenoble. »Was? Sie können es herausbekommen? Fein, dann tun Sie es! Ich bin gegen fünfzehn Uhr bei Ihnen. Wie, keiner mehr da. Sie werden dort sein!«

Den Taxifahrer trieb sie an, als wären tausend Furien hinter ihr her. Vor der Präfektur sprang sie aus dem Wagen. »Warten Sie hier!«

Tatsächlich hatte sich der Mitarbeiter keinen Schritt fortgewagt. Als er Clarissa anstöckeln sah, winkte er aufgeregt. »Madame Clarisse? Hier entlang bitte.«

Er führte Clarisse in ein Büro. »Setzen Sie sich.« Nun saß sie vor ihm. Und der Mitarbeiter fand, dass es sich gelohnt hatte, zu warten.

»Nun?« fragte Clarisse.

»Äh, ja?«

»Was ist? Lenke ich sie so ab?«

»Ja, Verzeihung, Madame.« Er schüttelte den Kopf. »Sie sind doch nicht etwa verheiratet?«

»Doch, Pech gehabt«, scherzte Clarisse, obwohl sie wie auf glühenden Kohlen saß. »Und sie werden noch mehr Pech haben, wenn Sie…«

»Schon gut, Madame. Wenn es stimmt, dann wohnt die gesuchte Person…«, er nannte eine Adresse. »Und entschuldigen Sie.«

»Schon gut. Ich danke Ihnen herzlich. Hoffentlich haben Sie Recht.«

Der Taxifahrer hatte getreulich gewartet. »Und nun schnell.«

 

»Wir haben kein Zimmer mehr frei.« Die Stimme aus der Rufanlage klang abweisend. »Madame, ich suche kein Zimmer. Ich suche meine Freundin!«

Es summte. Clarisse riss die Tür auf. Hinter einer Art Tresen stand eine ältere Dame. Sie machte große Augen, als sie Clarisse sah. »Bitte kommen sie in meine Wohnung.«

»Also, wohnt sie nun hier?«

»Ja. Sie ist heute früh weggegangen. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Ich warte. Wo ist ihr Zimmer?«

»Aber ich kann doch nicht….«

»Ich kann. Ich habe Zeit. Bitte!« Das klang forsch und befehlend, wie Clarisse es immer tat, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte.

»Ja, das ist sie.« Clarisse nahm ein paar Sachen, die unordentlich über den Stuhl hingen auf. »Ihr Rock. Den zieht sie immer so gerne an.«

»Darf ich fragen, ob es … Probleme gibt, M’dame?«

»Nein, nicht was sie vielleicht denken. Alles in Ordnung. Nur gibt es etwas Wichtiges zu Hause. Und wir konnten sie nicht erreichen.« Clarisse lachte unschuldig. »So ist sie immer. Sie schaltet einfach ihr Handy ab…«

Unten ging die Haustür. »Das wird sie sein«, vermutete die Wirtin und wollte gehen, doch Clarisse hielt sie fest. »Warten Sie.«

Die Tür ging auf. Therese! »Therese!« Clarisse rannte auf ihre Freundin zu, die starr vor Staunen in der Tür stehen geblieben war. »Clarisse? Wie hast Du mich gefunden?«

»Das ist eine lange Geschichte.« Sie drehte sich zur Wirtin um. »Danke, Madame. Das war dann alles.«

Die Freundinnen fielen sich um den Hals. Und weil Therese weinte, weinte Clarisse mit. »Los, erzähl. Was ist mit Dir?«

Sie setzten sich auf das Bett. Clarisse hielt Thereses Hand fest. »Nicht beim Urschleim anfangen. Den Brief kennen wir. Das ist Schwachsinn, was die wollen. Erzähle mir, was Du hier tust?«

»Ich habe meine Mutter gesucht.«

»Und?«

»Gefunden.« Therese hatte ihre Hände flach auf ihre Oberschenkel gelegt. Mit den Augen folgte sie den blauen Äderchen auf dem Handrücken. »Sie ist tot. Gestorben. Delirium tremens.«

»Tut mir leid. Mein Beileid.«

»Ich kannte sie ja kaum. Oder eigentlich gar nicht. War ja damals gerade neun.«

»Ich verstehe.«

»Nein, Du verstehst nichts, gar nichts. Du weißt nicht wie es ist, ohne Mutter aufzuwachsen. Wenn man eine braucht und sie nicht da ist!« Tränen stürzten jetzt aus Thereses Augen. Mitfühlend und ohne jeden Zorn nahm Clarisse Thereses Kopf in ihre Hände.

»Liebes, bitte. Nicht weinen. Sonst muß ich auch wieder…« Therese lächelte unter Tränen. »Hast Recht. Was soll’s.«

»Hast Du sie noch gesehen?«

»Ich weiß nicht, ob sie es war. Ich weiß es einfach nicht.« Und Therese beschrieb die Leiche, die ihr gezeigt wurde und ihre Gefühle. »Es war kalt. Einfach kalt. Im Raum und hier.« Sie legte ihre Hand auf die Brust. »Da war nichts. Nur das Gefühl, dass etwas abgeschlossen ist. Endgültig und doch ist da irgendetwas immer noch offen.«

»Das ist der Rest Unsicherheit.«

»Vielleicht ist es so.«

»Was macht Dein Kind?«

Therese zeigte auf ihren Bauch. »Wächst und gedeiht. Trampelt mir gegen den Bauch, wenn ich mich aufrege.«

»Bei mir noch nicht.«

Therese brauchte eine Weile, bis sie den Satz begriffen hatte.

Mit großen Augen: »Du - bist - schwanger?«

»Seit zwei Monaten.«

Therese schlug Clarisse mit der Faust gegen die Schulter. »Und Du hast mir nichts davon gesagt?«

»Davon weiß ja noch nicht einmal René etwas.«

»Warum nicht?«

Clarisse zuckte mit den Schultern. »Ich wolle sicher sein. Und gefasst, wenn er mich wieder herumschleudert.«

»Ich freue mich so für Dich.«

»Und was ist mir Dir? Willst Du hier bleiben?« Clarisse wies mit breiter Geste in das Zimmer.

»Ich möchte mein Baby hier bekommen. Im ‚Hospital Ste. Margerite’.«

»Aber warum das und dort?«

Und Therese erzählte ihrer Freundin von der Babyklappe und dem jungen Arzt, dem sie versprochen hatte…und dass er anrufen solle.

Clarisse sah sie an. »Und was ist Robert? Liebst Du ihn denn nicht mehr?«

»Mehr als mein Leben«, hauchte Therese. »Aber ich bin so unentschlossen. Ich weiß nicht mehr was ich tun soll. Ich bin doch weggelaufen. Nun wird er mir nicht mehr vertrauen.«

»Wenn Du nicht mit ihm sprichst, muß Du Dich nicht wundern. Sag es ihm. Erzähle ihm alles. Ich bin mir sicher, er wird Dich verstehen.«

»Aber meine Vergangenheit, meine versoffene Mutter?«

»Hör zu, Therese. So geht das nicht.« Unwillkürlich hatte Clarisse ihre Stimme verschärft. »Du kannst nicht immer weglaufen. Du musst Dich Deinem Schicksal stellen. Du…«

»Und was hast Du getan? Oh verzeih mir, Das wollte ich nicht sagen.«

»Ja, Du hast Recht. Ich bin auch weggelaufen! Ich habe für einen Moment nur an mich gedacht. Und zum Glück hatte ich einen Mann wie René neben mir. Entschuldige.«

Therese wehrte mit den Händen ab. »Bitte, bitte nicht. Du musst Dich nicht entschuldigen.«

Stille, Schweigen.

»Therese?«

»Ja?«

»Morgen früh? Zum Frühstück?«

Therese sah ihre Freundin liebevoll an. »Ja, danke. Bis morgen früh.«

 

Clarisse saß schon am Tisch. Wie sie das immer wieder schafft, so munter und frisch auszusehen? Clarisse stand auf, gab ihr rechts und links einen Kuss.

Sie aßen, tranken Kaffee und schwiegen sich an. Dann hielt es Therese nicht mehr aus. »Ja, ich komme mit. Zurück, nach hause.«

»Ich freue mich für Dich«, sagte Clarisse schlicht. Sie streichelte Therese die Wange. »Ich liebe Dich.« Und setzte hinzu, »Schwester.«

Dann lachten sie, wie von einer schweren Last befreit.

 

 

26

 

Der Flieger setzte fühlbar auf. Den ganzen Flug über hatten die Frauen kein Wort mehr gesprochen. Therese dachte darüber nach, wie sie Robert gegenübertreten sollte. Sie war Varianten durchgegangen, doch alle verliefen irgendwo im Nichts. Clarisse freute sich still auf Renés Reaktion, wenn sie ihm sagte, dass sie schwanger ist. Auf seinen Blick, die großen Augen dann und seinen Indianertanz.

Auch im Taxi schwiegen sie. Sahen sich an und wussten nichts was sie noch zu sagen hätten. Clarisse stieg aus. Gab Therese einen Kuss auf den Mund (der Taxifahrer zuckte zusammen). Therese schmunzelte schadenfroh. Lass ihn doch denken, was er will.

Die Wohnung war still. Robert hatte noch keine Ahnung, dass sie wieder zurück war. Hoffentlich muß er heute keine Überstunden machen, dachte sie.

In ihrem Zimmer zog sie sich aus und lief nackt und barfuß zu ihrem »Mädchenbad«. Unter der Dusche begann sie sich endlich zu entspannen. Sie streichelte ihren Bauch. Ich liebe Dich, Du kleines tretendes Biest, dachte sie. Mal sehen was Du wirst. Das Wasser rauschte an ihrem Körper herunter. Sie hatte die Augen geschlossen, genoss die Wärme und die feinen Stiche der Wassertropfen auf ihrer Haut.

Plötzlich glaubte sie, dass sie beobachtet wurde. Vorsichtig drehte sie sich um. Robert. Er stand da, mit großen Augen und starrte sie an. Seine Hände öffneten und schlossen sich. »Therese«, sagte er heiser. Und sie stand unter dem Wasserstrahl, zu keiner Regung fähig. Erst jetzt spürte sie, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Sie öffnete die Glastür. »Robert.« Und er kam, mit allen Sachen in die Dusche und nahm sie in seine Arme. Sie spürte, was sie nie erwartet hätte: er schluchzte. »Ich hatte Angst, dass ich Dich verloren habe.«

Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände. Wasser lief über ihre Gesichter. »Niemals.« Dann küssten sie sich. Erst zart und vorsichtig, dann wild und verlangend.

Dann, später auf dem Sofa, brach es aus Therese heraus. Sie erzählte Robert alles, was sie erlebt, was sie gesehen, was sie gefühlt hatte. Und von dem Baby in der Klappe und ihren Wunsch, es haben zu wollen. »Damit es eine Mutter hat, weißt Du, Robert.« Und sah ihn mit großen bittenden Augen an. Sein Blick war dunkel und rätselhaft. Aber ein leises Zucken in seinen Mundwinkeln ließ sie aufatmen. Er hatte verstanden. »Wenn wir dürfen, nehmen wir es. Und wehe es ist hässlich.«

»Es ist schön, wunderschön!« rief sie, »Und auch unser Kind wird schön.« Er hob den Finger: »Wunderschön, wie Du.«

»Ja.« Aufatmen.

Sie saßen in der Küche. Abendessen. »Du, Robert?«

»Ja?«

»Ich möchte unser Kind in Grenoble bekommen. Dort in der Klinik.«

»Wo Du willst.«

»Es stört Dich nicht?«

»Nun, ein bisschen weit zwar, aber wenn Du erlaubst, dass ich dabei bin…«

»Ja geht das denn? Ich meine, wegen Deiner Arbeit?«

 

 

Es war soweit. Sie hatte es deutlich gespürt. Nur noch ein paar Stunden. Therese rief Robert an. »Wir müssen nach Grenoble.« »Ich komme.«

Im Kreissaal stand er an ihrer Seite. Zwischen zwei Wehen war er plötzlich verschwunden. Die Schwester flüsterte ihr ins Ohr, »Er ist da, keine Angst.« Sie hatte Thereses Blick gesehen. Und dann sah sie Robert: In einem grünen Kittel, mit Mundschutz und dieser albernen Kappe, die die Ärzte auch trugen. Er hatte Handschuhe an, stand wie ein Chirurg erwartungsvoll am Ende des Bettes. Am Fußende? Wollte er etwa? Sie spürte ein Drücken. Das Kind wollte raus. Komm, mach hin Kleines. Mach es uns nicht so schwer, dachte sie. Eine Schwester sagte, »Da ist schon der Kopf.« Robert bückte sich. Sie konnte ihn nicht mehr sehen, bekam Angst dass er doch .... »Weiter« kam es jetzt zwischen ihren Beinen. »Jetzt! Wunderbar. Da sind sie: Die Schulter, die Arme. Na, da bist Du ja, Kleines!« Er tauchte wieder auf, ein Rotes, Feuchtes Etwas in den Händen. »Ein Junge!« Und das rote, feuchte Etwas plärrte!

Therese war die ganze Zeit über so abgelenkt gewesen, dass sie fast keine Schmerzen verspürt hatte. Sie reckte die Arme vor und Robert legte ihr das nackte, greinende Bündel auf die Brust. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie riss sich zusammen, sonst hätte sie ihr Kind erdrückt. Nie hätte sie angenommen, dass es so schön sein kann. Nie hatte sie größeres Glück empfunden als in diesem Moment. Es war das Glück des Siegers, des Überwinders, das Glück einer jungen Mutter.

Eine Schwester nahm ihr das Bündel Mensch ab. »Sie bekommen ihn gleich wieder.«

Robert stand jetzt neben ihr. Was er alles kann! Die Handschuhe hatte er abgelegt. Mit einem weichen Tuch tupfte er Therese den Schweiß ab. Dann beugte er sich über sie. »Meine kleine, tapfere Frau. Ich bin so stolz auf Dich.« Der Kuss war lang. So lang, dass sie vom Arzt unterbrochen wurden.

»Guter Job«, sagte er zu Robert, »Herzlichen Glückwunsch. Es war für mich die schönste Geburt, die ich je erleben durfte.« Und streichelte Therese die Wange. Dann ging er leise, mit dem Kopf schüttelnd aus dem Raum. Und es sah aus, als wenn er sich über die Augen gewischt hätte.

 

Unterwegs auf dem Weg nach V. erhielt Therese einen Anruf. Der Doc! »Nochmals Glückwunsch. Wenn Sie noch wollen, werden sie in Kürze stolze Eltern einer wunderschönen Tochter. Wie steht’s?«

Sie kehrten auf der Stelle um.

Im Krankenhaus dann: »Alles vorbereitet. Hier die Papiere. Ihre Unterschrift.« Thereses Unterschrift war zittrig. Sie weinte jetzt ungehemmt vor Freude. Zwei Kinder! Und Robert stand daneben, stolz wie ein Spanier. »Wie kommt es? So schnell?«

»Das war einfacher, als ich erst dachte. Doch Ihre Aktion, Robert, hat Eindruck gemacht. So hatten die Behördenvertreter keine Bedenken geäußert. Die Richterin stimmte der Adoption zu. Unter der Bedingung, dass sie in Kürze heiraten.« Er griff unter seinen Schreibtisch. »Ach übrigens, Sie stehen in der Zeitung.« Er gab Robert ein Exemplar. Ein schlechtes Handyfoto. Er war ja nicht zu erkennen unter seiner Maske. »Vater holt sein Kind selbst auf die Welt!« titelte das Blatt. »Blödsinn. So ein Schei…«

»Nun, es hat geholfen. Wie soll die Kleine einmal heißen?«

Therese und Robert sahen sich an. Wurden rot. »Wir haben noch nicht darüber nachgedacht.«

Und dann lachten alle drei so heftig, dass das Mädchen munter wurde und zu weinen begann. Und wenig später setzte ihr jüngerer Bruder ebenfalls ein.

 

* * *

 

Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind.

Francis Baken

 

 

 

  1. Viertes Buch

  2. Ann & John

 

 

 

Ich berühre Deine Wange

Es ist wie am ersten Tag

Deine Schultern, rund

Wie damals

Die Brüste,

Es scheint

Als habe sich nichts verändert

Der Schoß

Anziehend noch wie am

Zweiten Tag

Was tu ich nur? Ich küsse Dich

Und fühle:

Den ersten Tag

Reiner A. Hampusch

 

 

 

 

  1. Sehnsucht

 

Ann O’Neill war unzufrieden. Die große Ann O’Neill fluchte wie ein Bierwagenkutscher. Die verfluchte Farbe wollte nicht so, wie ihre verfluchten Hände wollten, die verfluchten Hände nicht so wie ihr Kopf und ihr Kopf, nicht so wie ihr Herz. Verflucht! Was war nur los mit ihr? Alles war so bleiern oder noch schlimmer: wie ein Abend bei Nieselregen an der Klippe und kein Guinness dabei.

Genug für heute! Genug von der Farbe an den Händen, auf der Leinwand und auf dem Boden. Entnervt ließ sie sich in den Sessel aus Weidengeflecht fallen, dass das arme Stück knarrte und krachte. Mit gerunzelten Augenbrauen sah sie aus dem Fenster der Veranda. Natürlich! Auch das noch! Typisch für solch einen Tag! Über den Atlantik hatte sich wieder einmal ein Tief eingerollt. Die Wolken jagten knapp über das aufgewühlte Meer, grau wie die Alltagskutte des Paters und mit weißen Streifen von den Schaumkronen der Wellen. Der Regen rauschte waagerecht am Fenster vorbei, und hinterließ Schlieren. Das Gras lag am Boden, die wenigen Sträucher duckten vor der steifen Brise.

Draußen fuhr ein Auto vorbei. Ann versuchte, den Typ zu erkennen. Nein, kein Mini. Also würde John nicht kommen. Das war auch der Grund für Anns Herzschmerzen und Unzufriedenheit.

Aber was hätte sie ihm denn sagen sollen? Sie seufzte. JA! Gleich morgen! Welche Frau, die etwas auf sich hält, sag, denn schon sofort: ‚Ja‘? Obwohl sie nicht bewusst nicht ‚Ja’ gesagt hatte. Sie hatte eher ausdrücken wollen, dass sie nicht nein sagen würde, nicht direkt nein, also Ja, aber nicht schon jetzt. Ein klares Wort, wie zum Beispiel: »Nächste Woche. Warte bis nächste Woche«, wäre besser gewesen. Das wusste sie heute. Gestern nicht und so platze sie einfach stotternd heraus: »Na ja, John, das ist so …, ich mag Dich …, das ich …, fair betrachtet und ich will Dir nichts vormachen …, und wenn Du mich so direkt fragst…« Er hat sie nur angesehen, mit seinen graublauen Augen. Sein Gesicht wurde hart (glaubte sie) und er drehte sich um. Und noch schlimmer, er verließ den Pub. Scheiße!

Sie wollte ihn ja! Sie hätte auch gleich ja sagen können. Hätte sie! Hat sie aber nicht. Sie verzehrte sich nach ihm, wenn er nicht da war. Sie malte und er sah zu, lobte, kritisierte, flirtete und machte Witze. Jetzt fehlte er. Es war so still!

Einmal:

»Mal mich nackt«, hatte er gesagt. Und sie hatte den Kopf geschüttelt. »Was soll ich denn mit einem Akt von Dir?«

»Keinen Akt. Nackt!«

»Du bist albern. Dafür liebe ich Dich. Aber, wenn ich Dich nackt male, wird das ein Akt. Ein Bild! Ein Aktbild. Farbe auf Leinwand. Unverkäuflich dazu! Und überhaupt, Akt? Lustmolch!«

»Ich wollte doch nur …« er schmollte.

»Mit mir ins Bett. Nix da. Ich habe zu arbeiten, im Gegensatz zu Dir.«

»Das ist eine gaaanz, gaaanz schnöde Unterstellung! Ich habe Ihnen gegenüber nur die allerbesten Absichten, Madam.«

»Weiß ich doch. Daher: nein!«

»Malst Du mal nackt?«

»Was??«

» Heute?«

»Raus!!«

»Ich würde Dir auch die Farbe …«

»Verschwinde!«

»… auf den Po …«

 

 

  1. John

 

John besaß, zusammen mit seinem Sozius Murray, das Architektenbüro »O’Connell & Murray« in der Stadt. Zu Hause besaß er ein Reißbrett und eine Internetverbindung zu seinem Computer im Büro. John liebte seine Arbeit. Egal wo, er entwarf Häuser. Mit allem Schnickschnack. Einfamilien-, Miet-, Öko-, Energiespar-, und was es sonst noch alles für -häuser gab. Oder Altes rekonstruieren. Das machte er am liebsten. Wenn er dabei war, sah, wie die Menschen strahlten, wie sie dann vor ihrem nagelneuen Haus standen und es bewunderten und sich freuten. Wie sie durch die Zimmer gingen und planten. Am liebsten waren ihm junge Leute. Er war immer dabei, wenn Richtfest gefeiert und auch wenn das Haus übergeben wurde.

Das »Mittelalter«: Da war der stolze Bauherr, der im Brustton der Überzeugung verkündete: »Mein Haus!« Seine Frau stand meist bescheiden daneben. Oder die stillen Pärchen, die Arm in Arm vor der Tür standen, Kopf an Kopf. ‚Wir haben es geschafft.’ Und jene, die unendlich lange alle Schrecknisse und Mängel des Bauens aufzählten. Trotzdem, dass Haus stand, nicht umkippte und fast fehlerlos übernommen wurde, vom Nörgler.

Heute fuhr er mit seinem Mini in die nahe Stadt zum Stadtbüro. Auf dem Weg dahin sah er rechts und links der Straße seine Werke. Manchmal machte er auch einen Umweg, um zu sehen, wie es »seinen« anderen Häusern ging.

Neuerdings erwarteten ihn im Büro drei junge Leute: Architekten. Gerade erst von der Hochschule gekommen. Voller Phantasien, Ideen und Energie. Und es erwartete ihn sein Sozius Jayden O’Connell. Ein Meister in der Beschaffung von Aufträgen und ein begnadeter Golfer. Und Kayla! Die Sekretärin, Vorzimmerlöwin und Allrounderin. Eine Perle! Leider schon in der Nähe der Rente, wie Jayden. Noch zwei Jahre und sie würden sich zur Ruhe setzen. Bis dahin wollte sich John auch zur Ruhe setzen, dann war er kurz vor den fünfzigern. Ob er das schaffen würde?

Wenn sie diesen Auftrag ohne große Probleme realisieren könnten, dann klappte es. Ein Millionenauftrag: Die Stadt wollte Hochhäuser. Zwei Stück fürs Stadtzentrum. Etwas Besonderes! Und er, nein Jayden und er, hatten den Zuschlag bekommen. Ihr Wettbewerbsentwurf wurde vom Stadtrat einstimmig angenommen. Ein Vorschuss wuchs über den Tisch. Kein schlechter. Daher leisteten sie sich drei neue Mitarbeiter: diese jungen Leute! John kannte die Diplomarbeiten von jedem der Drei. Brilliant!

»Hallo.« Wie es seine Angewohnheit war, begrüßte er Kayla mit einem Kuss auf die Wange. »Was Neues?« Kayla schüttelte den Kopf, reichte ihm schweigend die neueste Post. So war sie. Er klemmte sich die Umschläge unter den Arm.

Jaimie. Der Jungspund. Sehr genau, talentiert und engagiert. Mit den anderen beiden von der gleichen Schule zu ihm gewechselt. »Jaimie? Wie steht es? Bist Du mit dem Fundament …« Jaimie sah zu ihm auf. Dunkelhaarig, braune Augen. Ein Südländertyp. Vielleicht stammte er in direkter Linie noch von den alten Römern ab. »Ein paar Berechnungen noch, Sir. Die endgültigen Bodenproben sind erst gestern Abend per Mail eingetroffen …«

»Gut, weiter so.«

»Annabell? Wie geht ’s.« Er beugte sich zu ihr herunter. »Du hast so rote Augen?«, flüsterte er. Annabell! Eine irische Schönheit. Rote duftende Haare. Ihre natürliche Grazie verdrehte allen Männern den Kopf. Sie tat nichts dazu. Wollte nur arbeiten und gutes Geld verdienen. Irgendwann, wenn das Geld reichte, sollte es in die Welt hinaus gehen. Lernen! Vorläufig das Rechenwunder der Firma. Sie rechnete alles noch einmal nach und das war auch besser so.

»Nichts, nichts. Alles Okay. John.« Sie war die Einzige, die ihn bei seinem Vornamen ansprechen durfte.

Liebeskummer, dachte John. Ich lasse sie heute in Ruhe. Er klopfte ihr leicht auf die Schulter. »Wird schon wieder.«

»Ethan. Hallo.«

Ethan war aufgesprungen. Das machte er immer. »Das Grundgerüst steht. Wenn die Statik diese Konstruktion bestätigt …« Ein blonder breitschultriger Junge. Der älteste von den dreien. War Mauerer gewesen und hatte er es am schwersten gehabt. Abendschule, Abi. Dann lange gewartet, bis er sich eintragen konnte. Und neben dem Studium gejobbt. Wie John damals. Aber er war der Fantasievollste, er hatte das ‚Material’ im Blut.

»Gut. Arbeite das noch einmal durch. Und, bitte, keine Fehler.« Er sah auf den Computer. Unter einer filigranen Konstruktion, die aussah wie ein mehrfach verdrehter Kubus, standen umfangreiche Berechnungen. Das wird hart für Ethan.

Er hatte das Trio genauso ausgewählt: den Genauen, die Präzise und den Phantasten. Ethans Entwürfe waren für jede große Kunstausstellung gut genug.

John ging in sein Büro. Computer einschalten, warten. Er griff zum Telefonhörer. Ann. Legte aber wieder auf.

Pling. »Sie haben sechsundneunzig Nachrichten«, verkündete eine laszive Stimme aus dem Computer. John ignorierte die Mitteilung. Die Post lag noch ungeöffnet auf dem Schreibtisch.

Gestern hatte er Ann einen verdeckten Heiratsantrag gemacht. Sie hatte ihn angesehen, als hätte er verlangt, sie sollte nackt über den ‚O’Henry Place« springen. Dann kam eine Abfuhr ohnegleichen. Oder doch nicht? Was hatte sie eigentlich gesagt? Viel. Er wusste nicht mehr im Detail, was. Ihm hatten die Ohren geklungen. Es rauschte und er hatte nichts verstanden. Aber es klang wie ‚Nein!’ Ann verbrauchte eine Menge Worte. Wollte sie ihn nach Frauenart zappeln lassen?

Was will ich eigentlich von dieser Frau? Sie ist spröde, manchmal sogar hart. Dabei sah sie aus, als könne sie kein Wässerchen trüben. Sie war nicht groß, gut gebaut. »Zu fett!« O-Ton Ann. »Und sieh’ mal die Kiste!« Damit meinte sie ihren entzückenden Hintern. Und auch sonst stimmte alles an ihr. Er hatte sie sich bisher nur nackt vorstellen können und mit den Händen seine Phantasie anregen dürfen. Wenn er bei ihr übernachtete, lagen sie züchtig nebeneinander und streichelten sich zärtlich. Das war nicht nur ein Angriff auf seine Phantasie. Das war, also das war … hart! Weiter hatte sie ihn noch nicht kommen lassen.

Im Pub war sie bekannt und beliebt. Sie konnte tanzen, wie kaum eine, sie sang mit einer glockenhellen, klaren Stimme. »Seven Drunken Nights« und »Forgiven, Not Vorgotten« und was es alles an Folk gab. Die Karaoke-Band im Computer gab sich alle Mühe. Ann war einfach Klasse! Er saß dann vor seinem Bier,und es rieselte ihm ein Schauer nach dem anderen über dem Rücken. Und es war nicht nur ihre Stimme! Trotz des Männerhemds und den weiten Männerhosen konnte sie ihre perfekte Figur nicht verbergen. Wenn sie tanzte, wippten zur Freude aller Männer ihre Brüste im Takt und ihr Gesicht verklärte sich. Sie war dann ganz »weg«, bis die Musik aufhörte. Alle Männer und Frauen saßen und starrten auf die kleine Frau mit der Stimme und der Kraft eines Riesen und brachen dann in frenetischem Beifall aus. Vor allem aber, war sie eine begnadete Malerin. Ausgerechnet ihn hatte sie sich auserkoren, zum Freund. Und wenn sie alleine waren, zu etwas mehr. Steichelei! Immerhin durfte er ihr Geliebter sein. Aber ihr Mann?

 

 

  1. Einsamkeit

 

Draußen war nichts weiter zu sehen als Sturm, Regen und aufgewühltes Meer. Hunderte Bilder hatte sie davon schon gemalt: Von hier, von der Klippe, etwas weiter westlich (wo das Haus in die Tiefe gestürzt war) und noch weiter nach Norden, bei dem Felsen und den gefährlichen Riffen mit den Gerippen gestrandeter Schiffe. Sturm, Sonne, Ruhe, Regen und sogar Nebel. Alles hatte sie aufgenommen und gemalt.

Hier im Haus war es ruhig und warm. Sie fühlte sich heute abgespannt und kraftlos. Ann lief in ihr Schlafzimmer. Trotzdem sie die Heizung abgedreht hatte, war es warm im Raum. Sie hasste es, abends ins kalte Bett zu kriechen. Vielleich fehlt mir jemand, an den ich mich kuscheln könnte, dachte sie. Nachts aber stand das Fenster weit offen. Sie hörte den Wind und das Meeresrauschen und wenn morgens die Vögel erwachten und die Möwen schrien.

Ann warf ihre Sachen auf das Bett. Duschen! Auf dem Weg zum Bad sah sie sich im Spiegel. Sie streckte der nackten Frau da drinnen die Zunge raus. Und blieb stehen, betrachtete sich von oben bis unten. Dann sah sie sich ernst ins Gesicht. Wie lange willst Du das noch durchhalten, Du dumme Kuh? Da kommt endlich einer, einer zum Anlehnen, einer, der, was von deiner Kunst versteht, einer der dich versteht, einer der mit sich selbst im Reinen ist. Und du schickst ihn weg?

Sie betrachtete ihre Brüste. Sie hatte schöne Brüste, das wusste sie, und das sagten ihr die Männer und manchmal auch Frauen. Und sie hatte eine schöne Figur, sagten sie. Na ja, dachte sie bescheiden, einigermaßen! Vielleicht etwas breit am, Hintern?

Aber irgendwann würde das Gewebe nachlassen, sie würde einen Bauch bekommen, Falten ins Gesicht und am Po. Sie grinste. Dann wäre der Kampf vorbei! Dann müsste sie nehmen, was sie kriegte, wenn sie noch einen haben wollte oder einer sie. Und das war, ist die Krux! Wollte sie sich wirklich immer noch nicht binden?

Gänsehaut rieselte ihr über die Arme. Ihr wurde kalt. Erst wieder unter dem heißen Wasserstrahl wurde Ann wieder warm.

Entspannt verzichtete sie darauf, sich vollständig anzukleiden. Ein weicher Kimono, den ihr irgendwer während einer Vernissage geschenkt hatte, genügte und ein Paar flauschige Schlappen. So saß sie dann am Küchentisch. Von hier aus konnte sie den Fernseher sehen. Nachrichten: Krieg, Krise, Börsenstände, ein Mord, Bankpleiten, Verkehrsunfälle, der Wetterbericht, Fußball. Morgen und übermorgen dasselbe Wetter wie heute. Na schönen Dank auch! Hungrig biss sie in einen Sandwich. In einem Glas wartete ein frisch eingeschenktes Guinness. Nein, sie würde keinen Strich mehr machen. Denn sie dachte an John: wie er mit hängenden Schultern aus dem Pub geschlichen war. Ein paar der Gäste grinsten schadenfroh. Seine Konkurrenten? Gehört hatten Sie zwar nicht das Geringste, aber die Körperhaltung Johns war deutlich genug. Sie war zu hart! Was hatte sie denn bloß so gemacht?

 

 

 

 

  1. Ruby

 

Der Tag wollte fast nicht vergehen. Jede halbe Stunde sah John auf die Uhr. Er war mit Ethan und Anabelle die Berechnungen durchgegangen. Ein kleiner Fehler war dem Jungen doch unterlaufen. Hätten sie ihn nicht gefunden, wer weiß … Mit rotem Kopf saß Ethan vor ihm. »Ich, äh, das war …«

»Ist schon gut. Lerne daraus. Vergiss es nicht. Nie wieder.«

Entschlossen rief er Jayden an, der neue Beziehungen knüpfte. Während eines Golfturniers. »Bei welchem Loch bist Du?«, fragte er.

Jayden lachte. »Immer noch an sieben. Aber wird schon.« Das war ein Code. Eins hieß, ich nehme Kontakt auf. Drei, der Kontakt ist hergestellt. Sieben, hieß, knapp davor. Neun, wir sind unterschriftsreif. Zehn, geschafft!

Ann! Ob er sie anrufen sollte? Sein Weggang war zu abrupt gewesen. Vielleicht dachte sie, er wolle sie nicht mehr haben. Er hätte mehr auf sie eingehen sollen. Was sie wohl von ihm denken mag? Irischer Sturkopf? Hammel? Sie hatte nicht Nein gesagt?

Das hatte sie nicht!

Definitiv nicht!

Was mag sie gerade tun? Dieses Bild fertigmalen? Das Bild, das ihm so gut gefiel? Oder sitzt sie in ihrem geliebten Korbsessel, sieht aufs Meer? Das machte sie gerne. Er blickte aus dem Fenster. Dunkelgraue Wolken zogen vorbei, es regnete jetzt. John trat ans Fenster. Gegenüber hatte ein Franzose ein Café aufgemacht. Der brühte hervorragenden Kaffee, und machte französische Baguettes mit Käse, Tomaten, Salami. Französisch eben. Am Fenster des Cafés saß ein Pärchen. Sie hielten sich an den Händen, sahen sich verliebt an. Schön! Das Dreckwetter interessierte die beiden nicht. John bekam Gänsehaut. Er drehte sich um.

Im Vorbeigehen an Kaylas Tresen sagte er: »Pass für auf die Jugend auf, Kayla. Ich komme morgen Vormittag wieder rein.« Und Kayla nickte. Sie wusste: Alles abwimmeln und nur wichtige Gespräche durchlassen. Kayla wusste, was wichtige Gespräche waren.

 

Anns Eltern hatten einen winzigen Hof, direkt an der Klippe besessen. Sie war zwischen Schafen, ein paar Kühen, Hühnern und Schweinen aufgewachsen. Sie liebte das Land und das Landleben. Sie sprang über niedrige Steinmauern und rannte mit ihren Freundinnen und Freunden über die weitläufigen Wiesen. Sie badeten im Meer, wenn es einmal ruhiger war. Sie erlebte Liams tödlichen Klippensturz. Mehr als zwanzig Meter in die Tiefe. Unten lag dann der zerschmetterte Körper des Jungen. Sie standen oben und weinten, um Liam und weil sie so hilflos waren. Sein Schrei klang ihr heute noch in den Ohren.

Ann O’Neill, das talentierte Mädchen, wurde in die Stadt geschickt, in die höhere Schule! Dort wohnte sie in einem Wocheninternat.

Die Gouvernanten waren katholische Schwestern. Sie kamen aus dem nahen Magdalene Laundrie. Die Abende waren bedrückend still. Ora et labora, das Credo der Schwestern und des Internats. Beten, Arbeiten, ja auch Abendessen, Stille. Morgens nicht anders. Zum Glück ging es dann in die Schule. Und Ann tat, wie ihr befohlen, sie verschloss sich gegenüber ihrer Umwelt. Sie beteiligte sich nicht an den Spielchen der anderen Mädchen. Das brachte ihr den Ruf eines Stoffels ein. Na und? Sie konnte nach Herzenslust malen (»Keine Nackedeis, bitte«, »Aber nicht doch, Schwester!«), das erlaubten die Schwestern und lernen. An den Samstagen wurde sie von Papa abgeholt und erst spät am Sonntag zurückgebracht. Das Wochenende war - Freiheit!

Sie hatte nicht unter der Fuchtel der Schwestern gelitten, weil sie sich abgeschottet hatte. Nichts war an sie herangekommen. Sie litt zwar den Liebeskummer ihrer ‚Freundinnen’ mit, welches Mädchen tut das nicht, aber es ging ihr wenig nahe.

Und heute? Sie war glücklich zu nennen. Sie hatte einen Traumberuf, den sie wollte. Sie hatte Erfolg, den sie angestrebt hatte. Sie hatte ein gutes Einkommen, ein eigenes Haus, wenn auch alt und klapprig. Dass sie mochte, wie es war und nicht anders! Sie war selbständig, ungebunden, frei!

Ob ihre Sprödigkeit Teil ihres Naturells war? Ann wusste es nicht. Nur, dass ihre Mutter auch so war. Kühl, zurückhaltend, achtgebend. Immer gewarnt. Vater litt manchmal darunter.

Ihren ersten, richtigen Freund hatte sie an der Uni. Ein langer, schmaler Knabe mit schütterem Bartwuchs. Er gehörte zu den Meisterschülern, war nett, fummelte nicht an ihr herum, sie hätte es nicht zugelassen, vorerst. Leider musste er zurück nach Australien. Sie hatten sich ein Wiedersehen versprochen. Und auch andere kamen nicht an sie heran. Immer war eine Distanz zwischen ihnen. Körperlich.

Ann lag jetzt faul auf dem Sofa. Der Fernseher flimmerte vor sich hin. Sie überlegte, ob sie ihn ausschalten, sich ein Fläschchen Wein genehmigen und dazu ein Buch zu lesen sollte. Ein Buch! Was für ein Buch denn? Sie hatte ja schon alle gelesen, die im Regal standen. Das hieß, sie musste in die Stadt und für Nachschub sorgen. Den Fernseher schaltete sie aus, blieb aber liegen. Sie beobachtete zwei Fliegen, die sich unter der Zimmerdecke jagten. Diese winzigen Biester, die man einfach nicht aus dem Haus bekam. Mit den Augen zog sie die Flugbahnen nach. Es entstand ein Muster, noch wild und scheinbar ohne Sinn und Richtung. Doch je mehr sie zusah, desto deutlicher wurde es: eine Blüte mit hunderten von Blütenblättern. Sie musste blinzeln, das Muster verschwand. Nur wenn sie die Augen schloss, waren die Lichtspuren auf der Netzhaut gespeichert, bis auch sie nach und nach verlöschten.

Sie spürte eine Berührung. Sofort krampfte sich alles zusammen. Wie immer. Doch es war John. John! Oh Gott, John. Ann entspannte sich. Ach John, schön das Du gekommen bist. Er streichelte sie. Über die Wange, den Hals, die Brust bis zum Bauch. Sie schob seine Hand tiefer. Sacht berührte er sie. Ann seufzte. John, ach John. Das gestern, das hatte ich …

Jetzt war sie munter! Es war kühl. Sie war eingeschlafen. Sie hatte von John geträumt, aber das Klopfen war real. Schnell schloss sie ihren Kimono, setzt sich auf. Draußen war es finster. »Ja, Moment!« Wieder Klopfen. »Ja, verflucht, ich komme ja schon.«

Barfuss tappte sie zur Tür, sah durch den Spion.

Ruby! Ruby? Hier?

»Ruby? Was machst Du denn hier?«

»Kann ich erst einmal reinkommen?« Ruby deutet mit dem Daumen hinter sich. Es regnete.

»Klar, ja, entschuldige.« Sie trat zu Seite. Ruby, die schöne Ruby! Ihre Studienfreundin. »Ich hoffe, es stört Dich nicht. Wenn ich …« Sie zeigte auf ihren Kimono.

»Und ich hoffe, es stört Dich nicht, wenn ich meinen Schirm abstelle und den Mantel ausziehe.« Ruby grinste Ann breit an. Sie stellte ihren Schirm in einen irdenen Krug, in dem schon andere Schirme standen. Sie sah auf die Sammlung. »Bist Du allein?«

»Klar, komm rein, Süße. Setzt Dich irgendwo hin. Ich hole uns Wein. Sandwich?«

»Ja, gerne.«

Ann verschwand in der Küche. Sie hörte, wie Ruby durch die Wohnung ging. »Fleißig, fleißig. Und tolle Bilder, wie immer, Ann!« rief sie aus dem Atelier.

Ann lugte um die Ecke. Ruby stand vor dem unfertigen Werk. «Das ist noch nicht fertig«, rief Ann aus der Küche.

»Sehe ich und sehe ich nicht. Sieht fertig aus. Ist es! Genial, Dein Strich!«

Ann kam mit zwei Gläsern und der Weinflasche ins Zimmer. »Wie meinst Du das?«

Sie stießen an.

»Wie ich es gesagt habe. Genial. Alte, Du bist einfach genial!«

Ruby hatte Ann schon auf der Hochschule bewundert. Sie versuchte Anns Art zu malen, nachzuahmen. Es gefiel ihr, wie Anns Striche lagen, immer waren Rubys Bilder Anns ähnlich. Ruby war ein Naturtalent im Kopieren, doch eigene Werke fielen ihr schwer. Zum Ende der Studienzeit wechselte sie zu den Plastikern und siehe da: Dort war sie auf dem richtigen Platz! Wunderschöne Plastiken entstanden unter ihren Händen. Der Höhepunkt, kurz vor dem Examen, war eine gemeinsame Performance im Irish Museum of Modern Art in Dublin. Ann musste immer noch grinsen wegen der geilen Blicke der Männer und den empörten der Frauen, als sie nackt und mit Farbe (Ann) und Erde (Ruby) beschmiert auf Stühlen saßen und nichts taten. Das Ganze hieß dann auch »Painting Bodys«. Bemalte Körper. Ein großer Quatsch dachte sie heute. Damals ein einmaliges Erlebnis, eine Provokation hier in der Provinz und eine hochinteressante Erfahrung. Performances hatte sie danach nie wieder gemacht.

»Wie geht es Dir, Ruby. Was tust Du so?«

»Och, mir geht es gut, glaube ich. Ich arbeite.«

»Ist das alles? Um mir das mitzuteilen, bist Du doch nicht wirklich hier?«

Rubys Gesicht wurde weinerlich. Ihre Augen wurden feucht. »Ach Ann, Ann. Eigentlich bin ich furchtbar unglücklich.«

»Oooch! Wie im Film!«

»Doch, doch. Richtig unglücklich. Dieser Mistkerl! Geht fremd mit den jungen Weibern!«

»Dieser Mistkerl? Damit meinst Du Deinen Mann? Unseren Professor?«

»Ja! Genau den!«

Beide waren damals in ihn verliebt gewesen. Welche Studentin war nicht in den smarten Mann verliebt. Einer Kreuzung aus Pierce Brosnan und Sean Connery. Ruhig, gelassen, sicher und offenbar allwissend. Wenn er sich über sie gebeugt hatte, wurde Ann unruhig. Er roch so gut. Und die Stimme! »Das müssen Sie anders machen, Ann.« Leise, tief. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Und dann war er bei Ruby: »Ruby. Das ist gut, aber nicht gut genug.« Und er lächelte dabei Ann an!

Aber Ruby war mit ihm ausgegangen! Später, erst als sie schon bei den Plastikern war. Am anderen Tag hatte sie Ann ganz aufgeregt angerufen. »Ich brauche Dich!«

»Ach? Ja?«

»Bitte, wir müssen reden. Und sei nicht sauer.«

»Bin ich ja gar nicht.« Bin ich doch!

Ruby redete, Ann hörte zu. Und strich den Professor aus der Liste möglicher Anwärter. Ruby war schließlich ihre Freundin. Ein Jahr später war sie auf Rubys Hochzeit. Hach, war das ein schönes Paar! Aber dass der Professor schon während der Hochzeit nach anderen Mädchen schielte und mit ihnen flirtete, störte sie doch. Ruby winkte ab: »Gegessen wird zu Hause!« Mögen Dir alle tausend Götter Ägyptens beistehen, dachte Ann. Und nun saß ihre Ruby auf ihrem Sofa und weinte. Tatsächlich, sie weinte richtig. Ann nahm Ruby in die Arme, und die Gute schluchzte so erbärmlich, dass sogar Ann feuchte Augen bekam.

 

 

  1. Erinnerungen

 

John war gleich unten in das Café gegangen. Der Eigentümer begrüßte ihn mit einem Winken. »Bon Jour! Komme gleich!« rief er in seinem Akzent. John setzt sich dem Paar gegenüber. Immer noch hielten sich die beiden an den Händen, und sahen sich verliebt in die Augen. Ach Gott, wie jung die noch waren!

Seine erste Liebe war gerade fünfzehn gewesen, er sechzehn. Disko, noch von echtem Vinyl. John sah das Mädchen, war sofort verliebt und stürzte sich regelrecht auf sie. »Wollen wir?«

Und die Kleine sah ihn von unten an. »Gerne«, flüsterte sie. Sie tanzten. Ließen keine Runde aus. Erst brachte er sie noch an ihren Tisch. Doch nach der dritten Runde fragte sie ihn: »Willst Du Dich nicht zu mir setzen?« Ihm sprang das Herz. »Ja, gerne!«, rief er. Und saß schon. Und dann hatten sie sich angeblickt, wie jetzt die beiden gegenüber. Das war schon eine Süße, erinnerte er sich. So richtig knuffig. Er brachte sie nach Hause, wie es sich gehörte, damals. Und an der Tür küsste sie ihn. Nicht kurz und knapp sondern innig. Ihre Zungen fanden sich, er streichelte ihren festen Körper. Noch lange standen sie so vor der Tür. Dann flüsterte sie. »Ich muss. Mein Vater ist sehr streng.«

»Sehen wir uns?«

»Morgen!«

»Ja.«

Dann ist sie ins Haus gegangen und er war in den Bus gestiegen. Ihr Vater war gar nicht so streng. Er sagte nur leise zu ihm: »Pass auf Junge. Macht keine Dummheiten. Sonst ersäufe ich Dich in einem Fass Guinness.« Und das meinte er wohl doch ernst, denn er war Bierbrauer und zwei Meter hoch.

Eines Tages sagte sie zu ihm, »Es ist aus. Tut mir leid, John.« Sie drehte sich um. Kein Abschiedskuss, kein Wangenstreicheln. Aus! Er sah sie davongehen, sah auf ihren Po, wie er sich bewegte, und bedauerte sehr, dass er sie ‚dabei’ nie von hinten gesehen hatte. Dann zuckte er die Schultern. Sie waren ja noch so jung, damals.

Der Espresso kam. »M’sieur.«

»Danke.«

»Alleine?«

»Tja, ach, was will man machen?«

»Bei solchem Wetter sollte man nicht allein sein.« Der Wirt deutete mit dem Kinn auf das Pärchen, beugte sich zu ihm herab. »Die schmachten sich schon den ganzen Vormittag an. Ist das nicht schön?«

John nickte. Er konnte sich eher vorstellen, bei Ann auf dem Sofa zu sitzen und ihr beim Malen zuzusehen. Ob er hinfahren sollte?

Draußen war es schon lange finster. Früher Herbst in diesem Jahr. Sein Haus war bestimmt kalt. Er hatte alles so weit heruntergeregelt, dass er den effizientesten Energieverbrauch … ach, was soll’s. Bei der Gelegenheit fiel ihm ein, dass er das Projekt »Niedrigenergiehaus der O’Sullivans« fertigstellen müsste.

Morgen.

Er sah wieder das Paar. Jetzt flüsterten sie miteinander, unterbrochen von zärtlichen Küssen. Es gab einen Stich in seinem Herzen. Lange würde er sich das nicht ansehen können.

Die zweite ›Liebe‹ hatte rote Haare. Er war noch Student und sie eine Büroangestellte. Sie hatte natürliche rote Haare, die im Abend-Sonnenlicht leuchteten. Und entzückende Sommersprossen auf der Nase und den Wangen und auch sonst am ganzen Körper. Er kontrollierte gerne, ob und wo neue Sommersprossen hinzugekommen sein könnten. Erst die sichtbaren Bereiche ihrer Haut, dann intimer. Sie hatten viel Spaß dabei und er entdeckte rote Haare an Stellen, die er erst jetzt näher kennenlernen durfte. Sie duftete gut, nach einem sanft-süßen Parfüm und am ganzen Körper. Ihr Sex war heftig, ungestüm und sie probten alle Varianten und Stellungen aus, die sie kannten. Sie (!) hatte ein Büchlein mitgebracht. Nun versuchten sie die Abbildungen nachzustellen und oftmals merkten sie, dass manches nicht funktionierte oder sie vor Lachen nicht mehr weiter konnten. Das Schlimmste beim Sex ist ein Spanner, wenn man aus dem Bett fällt oder lachen muss. Das Buch landete im Müll, und sie bemühten ihre Fantasie. Nach einem Jahr war sie verschwunden. Weg! Kein Wort, kein Brief. Er war niedergeschlagen. Wusste nicht, was er falsch gemacht haben könnte und ob es überhaupt an ihm gelegen hatte. Oder war sie einem anderen gefolgt? Hatte er sie geliebt? Ja. Ihren Sex? Ja! Und dass sie oft wollte? Ja, ja!! Und dann? Der Schmerz hielt sich wieder in Grenzen, obwohl er noch oft an sie und ihre roten Haare und Sommersprossen denken musste.

 

  1. Trost?

 

Ruby hatte sich beruhigt. Mit tränennassen und vom Weinen verzogenem Gesicht saß sie ihrer Freundin gegenüber.

»Ach Ruby, Ruby. Was soll ich dazu sagen?«

»Nichts. Ist doch egal. Hauptsache es hört einer zu.«

Ann verstand. Ja, es ist gut, wenn man jemanden hat, der zuhört. Sie nahm die tränenfeuchten Hände ihrer Freundin, drückte sie zärtlich. Ein seltsames Gefühl durchströmte sie. Was macht John jetzt gerade?

Mit einem Taschentuch wischte sie Ruby die Tränen aus dem Gesicht und verwischte die Schminke noch mehr. »Wie Du aussiehst. Dein Make-up!«

»Kann ich mich bei Dir waschen? Ich bin seit Stunden unterwegs.«

»Wenn Du willst, bleib doch länger.«

»Ja? Darf ich?«

»Bei dem Wetter schickt man doch keinen Hund vor die Tür.«

»Gerne!«, sagte Ruby abwesend.

»Den Hund vor die Tür schicken?«

»Was? Ach, nein, bei Dir bleiben.«

»Wir machen Dir nachher ein Bett fertig. Oder traust Du Dich, neben mir zu schlafen?«

»Du hast immer noch keinen …?«

»Nicht ganz, ein bisschen, fast. Weiß noch nicht.«

»Kenne ich den Glücklichen?«

»Nein. Ab ins Bad! Du neugierige Henne.«

Ruby ging ins Bad, Ann sah hinterher.

Den Abend, nach der Performance, schlossen sie noch in einer Kneipe ab. Hatten ihren Erfolg gefeiert und den Mut, und gekichert. Sind über die Zuschauer hergezogen; die Intellektuellen, die mit wissendem Blick den Sinn der »Performance« erkannt (haha!) zu haben glaubten. Die giftigen katholischen Weiber mit den verkniffenen Mündern, die ihre Körper neidvoll mit den Augen vermaßen. Sie lachten und amüsierten sich, bis sie nicht mehr konnten. Dann waren sie betrunken wie eine Kompagnie Grenadiere zu Ruby‘s Bude getorkelt. Ruby hatte sich ausgezogen. »Mann, was bin ich müde!« und lang auf die harte Liege gefallen. Sie streckte die Arme aus. »Komm schon«, sagte sie und Ann zog sich auch aus, und legte sich neben Ruby auf den Rücken. Sie zog die dünne Decke bis an den Hals, ein Erbstück aus der Zeit im Internat, legte die Hände auf den Bauch. Bis sie Rubys Hand spürte, unterhalb ihrer Hände.

Zum Frühstück, das sie gemeinsam und schweigend zubereitet hatten, sahen sie sich über ihre Teetassen an. Und plötzlich mussten sie lachen!

 

Ann folgte Ruby. In der Tür zum Bad blieb sie stehen. Ruby stand vor dem Spiegel und versuchte ihr verschmiertes Gesicht zu reinigen. Ann zeigte ihr, wo die Kosmetika waren.

Ruby drehte sich zu Ann. »Was?«, fragte sie mit leiser Stimme. Doch Ann schüttelte den Kopf. »Du bist immer noch so schön, wie damals. Ich verstehe Deinen Mann nicht.«

»Denkst Du, ich?« Ruby zeigte mit dem Daumen auf die Dusche. »Darf ich?« Und zog sich schon aus.

»Da Du eh nichts mehr anhast …«

Ruby schloss die Glastür, drehte die Brause an. Vorsichtig stellte sie die Temperatur ein. Dann trat sie seufzend unter den Brausestrahl. »Herrlich! Ich bin mir so dreckig vorgekommen.« Sie wusch sich ihre langen Haare. Und Ann stand daneben und beobachtete Ruby.

»Ruby?«

»Ja?«

»Wie lange möchtest Du bleiben?«

»Wie lange darf ich?«

»Solange Du willst. Ich muß Dich malen! Bitte.«

»Unter einer Bedingung.«

»Die da wäre?«

»Ich darf von Dir eine Skulptur machen.«

»Und dann stellen wir im Louvre aus. Fein!«

»Nein, aber bei meinem Galeristen. Ein nobler Mann.«

»Na? Höre ich da was heraus?«

Ruby lachte herzlich. »Niemals! Nein. Das ist ein Greis von einundsechzig.«

»Na und. Wenn er reich ist ...« Ann griente Ruby an.

Später lagen sie im Bett. Sie sahen sich an, und flüsterten leise miteinander, erinnerten sich an vergangene Zeiten. Irgendwann gähnte Ruby ausgiebig. »Nacht«, raunte sie, »Was bin ich fertig«, und drehte sich zur Seite. Ann hörte sie ruhig atmen, bevor auch sie einschlief.

 

 

  1. Ein Entschluß

 

Zum Abschluss nahm er noch einen Kognak. John hatte sich ein Taxi rufen lassen. Jetzt stand er vor der schweren Tür seines Hauses. Er drückte den Knopf auf der Fernbedienung. Summend öffnete sich die Tür. Als er eintrat, empfing ihn Kühle.

John holte sein Tablett aus der Tasche. Über die App »My home« regelte er die Temperatur auf vierundzwanzig Grad. Er hing die nassen Sachen an die Garderobe, und streifte die Schuhe von den Füßen. Vom Entree gingen Türen ab: In die Küche, das weitläufige Wohnzimmer und zu einem großen Bad. Über die Terrasse gelangte man zu einem stattlichen, überdachten Pool. Eine Treppe führte nach unten, in den Keller, die andere in das Obergeschoss zum Schlafzimmer, seinem Arbeitszimmer mit Bibliothek, einem zweiten Bad, einer großen Kammer und noch weiter nach oben zur Dachterrasse.

Gähnend ging John in die Küche. Im Kühlschrank fand er eine Pizza, und schnappte sich zwei Bierflaschen. Faul schlich er sich ins Wohnzimmer.

John liebte weiß! Weiße Wände, weiße Möbel, ein weißer, flauschiger Teppich. Mitten im Raum stand ein Kamin, der von allen Seiten einsehbar war. Die Automatik hatte das Holz bereits entzündet. Rotes Licht flackerte im Raum. »Licht«, sagte John.

Ann hatte gelacht. »Wie in einem Sci-Fi-Roman oder in der Bibel«, hatte sie gesagt. »Es werde Licht!« Nichts tat sich. »Schaaade.«

»Dafür ist nun einmal der liebe Gott zuständig.«

»Ah! John, Johannes …«

»Pscht. Keine Blasphemie.«

Sie lachten.

John setzte sich auf das Sofa. Er streckte die Beine aus. Tagsüber konnte er von hier aus über den Garten auf einen großen Park sehen. Im Sommer lagerten junge Leute dort, sonnten sich, Kinder spielten Fußball oder Fangen und ab und an streunten Hunde zwischen den Müßiggängern. Jetzt am späten Abend blinkten nur ein paar Lichter durch den leisen Regen.

Er sah sein Spiegelbild im Glas der Fenster. John prostete sich zu. »Auf Dein Wohl.«

Nach einem kräftigen Schluck stellte er die Flasche hart auf den Glastisch. Ann hatte ihm zwei Bilder geschenkt. Ein großes, rotes. Alles rot, mit rhythmischen Abstufungen. Wenn man die Augen zu Schlitzen schloss, begann das Bild zu leben. Es changierte in sämtlichen Rottönen. Es flirrte. Und je länger man es betrachtete, desto mehr wurde es zu grau. Das zweite war ein Rückenakt. Nicht Anns Rücken, das hatte er zweifelsfrei feststellen können. Aber es war ein Meisterstück. Komposition, Licht, Dunkelheit, Farbe, alles meisterlich auf die Leinewand gebracht. Streng konstruiert. Der goldene Schnitt! Beide Bilder hatten einen Ehrenplatz an der rechten Wand, wo die Sonne nicht hinschien, aber das Licht hell und gleichmäßig weiß war.

Morgen wird er zu Ann fahren! Wird ihr erklären, dass er sie liebt. Richtig liebt. Dass er nicht ohne sie sein kann. Oder sollte er besser sagen, dass er ohne sie nicht sein wolle. Dass er sie bitte, die andere Hälfte in seinem Leben zu sein. Sowas Ähnliches. Er hatte es ihr ja schon gesagt! Sinngemäß. Aber vielleicht war der Pub nicht der passende Ort gewesen! Vielleicht sollte er sie einladen. Ins teuerste Restaurant. Einen Kniefall machen, eine Rose, eine rote natürlich, in der Hand halten. »Heirate mich«, flüstern. Und große Kuhaugen machen.

Kuhaugen ging nicht. Er war keine Kuh. Große Augen machen, voller Leid und Sehnsucht.

Im Bett dann: Ja, das werde ich tun! Das wäre doch gelacht.

 

 

  1. Patrick

 

Ann wachte auf. Ruby klapperte bereits im Bad. Ann blinzelte zur Tür. Da stand ihre Freundin. Groß, schön, nackt. Sie kämmte sich die Haare. Schöne Haare hat sie, dachte Ann neidvoll. Und einen schönen, schmalen Hintern. Nicht so eine Kiste, wie ich.

»Na, aufgewacht?«, fragte Ruby.

»Muss wohl so sein«, antwortete Ann verschlafen. »Bist Du fertig?«

»Gleich.« Sie zog noch einmal den Kamm durch ihr Haar. Dann kam sie ins Zimmer. Vor Ann blieb sie stehen. »Du bist so schön, Ann«, sagte Ruby.

Ann: »Das Gleiche habe ich eben von Dir gedacht.«

Ann stand auf, wollte an Ruby vorbei, doch die hielt sie fest, nahm sie fest in die Arme, schmiegte sich an sie. »Du bist so angenehm schlafwarm«, flüsterte sie in Ann Ohr.

»Das kitzelt.« Ann schlüpfte aus Ruby Armen, gab ihr einen Klaps auf den Hintern und ging in das Bad. Jetzt saß Ruby auf dem Bett und sah Ann zu. Es war ihr etwas unangenehm, so beobachtet zu werden. Aber Ruby war ja eine Frau! John hatte sie immer verscheucht. »Hau ab. Das ist ne Frauensache. Geht Dich nix an!«

Und er war dann davon geschlichen, die treue Seele. Ann schmunzelte. Und wenn er heimlich geschmult hätte? Sie hätte es nicht verhindert. Bestimmt nicht.

Im Spiegel sah sie Ruby. Und wie jene beobachtete.

»Frau, im Bade. So wird die Skulptur heißen.«

»Und was soll es bedeuten?«

»Nichts. Einfach nur eine Skulptur von einer Frau bei der Toilette. Völlig sinnfrei.«

»Sexy?«

»Jep. Sehr sexy.«

»Dann musst Du Dich sehr bemühen. Ich eigne mich nicht als Modell.«

»Hast Du ne Ahnung.« Ruby war aufgestanden. Sie sah sich um. Dann kam sie ins Bad. Nahm Ann bei den Schultern. »Komm, ich zeige Dir was.«

Sie schob Ann vor den Spiegel des Schrankes. »Hier. Siehst Du? Das bist Du!«

»Na und?«

Sie verglich sich mit Ruby. Was sie sah, waren zwei nackte Frauen in den ‚besten’ Jahren. Ovale Gesichter, schmale Schultern, runde, feste Brüste, kleine Bäuche, nur einen rasierten Schoß (Ruby!), elegante, glatte Beine, schmale Füße, glatte Haut. Alles zwei Mal. Die eine größer, die andere kompakter. »Wollen wir uns wieder mit Farbe beschmieren?«

Sie lachten, als sie daran dachten.

 

Beim Frühstück erzählte Ruby: Die Hochzeitsreise ging nach Venedig. Ins schöne, warme, sonnige Venedig! Sie wollten das berühmte Licht Canalettos sehen, sie wollten malen und studieren und sie wollten genießen! Doch die Lagunenstadt zeigte sich ungnädig. Es regnete, wie zu Hause. Das Hotel war teuer, sehr teuer. Nach dem dritten Museum streikte Ruby. Sie ärgerte sich, und zeigte es ihrem Professor. Patrick-Aaron O’Connor! Er entstammte dem uralten irischen Geschlecht der O’Connors. Einer der hundert Nebenlinien. Sie hatte nicht mehr zugehört, als er versuchte, ihr diese komplizierten Verhältnisse aufzudröseln. Als sie gähnte, hörte er abrupt auf. »Morgen reisen wir ab«, sagte er.

Sie flohen aus der nassen Stadt aufs Festland, und strandeten in Padua. Hier schien die Sonne. Hier konnte man auf der Piazza in der Sonne sitzen. Sie zeichneten um die Wette, erkundeten die Lombardei, liefen durch Museen, Ausstellungen und Galerien. Und dann waren sie doch noch in Venedig, einen ganzen Tag bis in den späten Abend. Es war ihre intensivste Zeit.

In Padua, im Hotel, als sie müde im Bett lagen, kroch sie unter seine Decke. »Was für ein schöne Reise. Und was für ein schönes Land.« Sie strich ihm mit der Hand über die Brust. »Ich will ein Kind von Dir«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Doch er brummte etwas, das klang, wie nein. Sie war sich nicht sicher. Aber sie wagte nicht nachzufragen, um die Stimmung nicht zu verderben. Aber die war schon verdorben. Lustlos streichelte sie ihren Mann über Bauch und Brust. Dann drehte sie sich zur Seite. »Schlaf schön«, sagte sie noch. Nicht mal einen Gute-Nacht Kuss!

»Ich doch auch«, flüsterte es dicht an ihrem Ohr. Und es war, als würde plötzlich überall Licht angehen und Musik erklingen und kleine Engelein in winzig kleine Posaunchen blasen. Sie freute sich. Klammerte sich an ihn. In dieser Haltung war schwer entkleiden, doch sie schafften es, ohne sich voneinander lösen zu müssen.

Das Haus war riesig. Patrick-Aaron hatte es inmitten eines parkähnlichen Gartens gesetzt. Das Dach war gleichzeitig das Atelier. Für Ruby ließ er einen Anbau aufstellen, in dem sie ihre Skulpturen und Modelle anfertigen konnte. Auf der Terrasse davor standen schon »Der Taucher«, »Vergessen« und »Hoffnung«. Bronzestatuen, die inzwischen verkauft waren und auf ihre Abholung warteten. Das Departement eines Ölkonzerns hatte sie für seinen Empfang erworben. Pattie, wie sie ihn nannte, malte oben im Atelier. Oft saß sie bei ihm und sah zu. Am Anfang schien es ihn zu irritieren. Doch dann störte er sich nicht mehr an Ruby. Sie lernte beim Zusehen mehr, als in den ganzen sechs Jahren auf der Hochschule. Eines Tages holte sie ihre Staffelei, stellte sie auf, befestigte eine Leinwand. Auf einem Hocker hatte sie ihre Farben ausgebreitet. Und Pattie musste Modell sitzen. Eine ganz neue Erfahrung für Patrick. Und für Ruby.

»Lass das!«, rief sie, als sie sah, dass sich bei Patrick etwas rührte. Doch er stand auf, nahm sie an die Hand. »Pause!«, verkündete er. Nach der Pause ging nichts. Ihre Hände zitterten immer noch. Ach, wie sie Pattie liebte! Doch ihre Regel fiel nicht aus. Immer noch hatte sie ihre Blutungen und auch die Indikatoren vermeldeten keinen Erfolg.

»Was ist nun?«, fragte Patrick eines Morgens beim Frühstück.

»Was, was ist nun?«, fragte sie zurück.

»Immer noch kein Kind in Sicht? Du solltest zum Arzt gehen.« Er wedelte mit seinem Messer arrogant in der Luft herum.

»War ich. Alles in Ordnung. Und Du?«

»Iiich?«

Sie wurde wütend. »Ja, Du. Kann es sein, dass bei Dir was nicht stimmt?«

Er lehnte sich zurück. »Ha! Bei mir? Da ist alles in Ordnung. Solltest Du eigentlich gespürt haben.«

»Aber wenn bei mir alles Okay ist?«

Er zog die Augenbrauen zusammen. »Hör mal, Liebes. Wir wollen uns nicht streiten. Die O’Connors waren schon immer ein fruchtbarer Haufen. Nicht umsonst gehören wir zu den größten Clans!« Arrogant zog er die Augenbauen in die Höhe. »Also?«

Ruby traten die Tränen in die Augen. Warum müssen Weiber immer heulen? Das macht sie so schwach. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Ihre Augen waren nur noch schwarze Schlitze: »Ich sage Dir noch einmal: Bei - mir - ist - alles - in - Ordnung. Alles!« Und dann fauchte sie, »Du musst zum Arzt!« Sie sprang auf und rannte ins Schlafzimmer. »Leck mich …!«

»Ruby, hör mal!«, hörte sie ihn noch rufen, dann knallte sie die Tür zu. Stille.

Wenig später hörte sie, wie die Garagentür ging und er mit dem Auto wegfuhr. Draußen, auf der Straße heulte der Motor geplagt auf.

 

Er war nicht zum Arzt gegangen. Er roch nach Zigarettenrauch, Alkohol und billigem Parfüm. Außerdem war er angetrunken. Torkelnd zog er sich aus. Plumpste nackt neben ihr ins Bett. Ruby hatte ihre Decke bis zur Nase hochgezogen. Als er nach ihr griff, stand sie auf. »Ruby!«, rief er bittend hinter ihr her. Sie schloss sich im Bad ein, wartete. Wenig später hörte sie ihn schnarchen. Ruby ging ins Wohnzimmer, und legte sich dort auf das Sofa.

Ein Kuss weckte sie. »Rubymaus. Aufstehen. Frühstück.« Es duftete nach Kaffee und frischem Weißbrot. Sie blieb liegen, in die Decke eingekuschelt. Er sollte sie jetzt nicht nackt sehen, jetzt nicht! Doch er zog ihr die Decke vom Körper. Und bevor sie sich umdrehen oder wegdrehen konnte, hielt er sie in seinen Armen. Er trug sie zum Bad. »Rubylein, bitte. Ich gehe auch zum Arzt.«

»Ja?«

Pattie setzte sie ab. Er hob zwei Finger. »Ja. Bei den Ahnen der O’Connors.«

»Ich bin immer noch sauer.«

»Und das steht Dir sehr gut.« Er hielt sie von sich, sah sie an. »Wie ich Dich liebe. Das ist mir gestern erst so richtig aufgegangen.«

»Beim Whiskey!«

»Bah!«

Beim Frühstück wurde das Thema nicht mehr erwähnt. Sie sprach von neuen Projekten und er beschwerte sich über seine faulen Studenten. »Ihr ward nicht so!«

 

Er konnte tatsächlich keine Kinder kriegen. Eine Fehlbildung verhinderte, dass gesunde Spermien gebildet wurden. Ruby hatte Patrick zum Arzt begleitet. Sie war dabei, als der Doktor ihn untersuchte, sah dem Doc neugierig über die Schulter. Half Patrick eine Spermaprobe zu produzieren und abzugeben, was vom Doktor mit einem anerkennenden Lächeln quittiert wurde. Auch am anderen Tag war Ruby bei der Auswertung dabei. Sie hielt Patties Hand, drückte sie, während er mit hochrotem Kopf auf der äußersten Kante des Stuhls saß. Er versuchte seine Mimik zu beherrschen, doch es gelang ihm nur schlecht. Mit versteinertem Gesicht bedankte er sich beim Arzt. »Keine Ursache, Sir. Doch beachten Sie, das ist eine Diagnose für die nächsten Jahre. Es kann sich alles ändern. Sie sollten regelmäßig zu mir kommen. Mindestens einmal im Jahr. Und beachten sie meine Hinweise zur Therapie. Auf Wiedersehen.«

Ruby fuhr. Patrick schwieg verbissen. Sie sah zur Seite. Feuchte Augen, schmaler Mund, vorgerecktes Kinn. Sie strich ihm über den Oberschenkel. »Ist doch nicht so schlimm, Lieber.« Er schwieg. Sie musste sich auf den Verkehr konzentrieren. »Und wenn wir ein Kind adoptieren oder zwei?«

Er schnaufte nur durch die Nase.

»Hauptsache, wir können Sex haben, weißt Du? Und wenn dadurch keine Kinder kommen, auch gut. Dann eben nicht.« Kann ich mal die Pille vergessen, obwohl sie die in den letzten Monaten sowieso nicht genommen hatte.

Zu Hause schwieg er weiter, saß gespannt auf dem Sofa. Sie setzte sich zu ihm, nahm wieder seine Hand, streichelte ihm den Handrücken. Vorsichtig zog sie mit den Fingern die blauen Äderchen nach.

»Es tut mir so leid. So leid.« Er streichelte ihr den Kopf.

»Unsinn! Wir lieben uns doch! Ich liebe Dich.«

»Ich bin nur ein halber Mann«, warf er sich vor.

»Bah!« Sie lächelte ihn an. »Wenn ich mich an die letzten Nächte erinnere, habe ich einen anderen Eindruck.«

»Ich muss nachdenken.« Er ließ sie los, ging nach oben ins Atelier. Ruby blieb sitzen. Sie war trauriger, mehr, als sie aussah, und mehr als sie sich selbst zugestehen wollte.

 

 

  1. Alte Freunde

 

Die Bakerstreet! Hier hatten sich noch viele der kleinen Läden gehalten, weil die Stadtverwaltung keinen Supermarkt zugelassen hatte. Nur die üblichen Discounter durften sich ansiedeln. Dadurch wurden viel kleine Existenzen gerettet. Ein weiser Entschluß, dachte John. Er liebte die Fassaden der Erdgeschosse. Farbige Holtrahmen, Ladenschilder, die geputzten Scheiben. Hier war sein Lieblingspub und der Blumenladen »Mrs. Kitty’s«. Der sah noch genauso aus, wie zu seiner Kindheit. Er ging hinein. »Eine rote Rose, bitte.« Die Blumenfrau sah ihn an, lächelte und suchte lange nach einer passenden Rose. »Ein Heiratsantrag?«

»Sieht man mir das an?«

»Oh ja, Sir!«

Der Juwelier hatte eine neue Besatzung. Eine junge hübsche Verkäuferin. »Ich suche einen Ring für eine Verlobung.« Nach einer knappen Stunde kam er schwitzend aus dem Laden heraus, um dreihundert Euro leichter. Er hatte mit der Verkäuferin geflirtet. Doch alles nur zum Spaß und für den Lohn eines Lächelns.

Er sah immer noch das hübsche, glatte Gesicht der Verkäuferin, als er stolperte. Gerade noch konnte er sich abfangen. »John!«

Der bärtige Typ in einem lappigen Anzug, mit schiefer Krawatte und dem Geruch nach Schweiß hielt ihn fest.

»Irvin? Bist Du das?«

Er sah seinem ehemaligen Studienfreund verdammt ähnlich.

»So ist es«, verkündete Bartträger Irvin.

»Und siehe, es wird kommen ...«

»Lass mal Deine Bibelzitate, Alter. Warum stolperst Du mir in die Arme. Hättest Du mir nicht einfach die Hand geben können? Hat das einen Grund?«

»Geht Dich das was an? Nein! Ich werde doch nicht einem, der mir meine Freundinnen abgenommen hat, erzählen, dass ich Liebekummer habe.«

»Oh, da weiß ich Abhilfe!«

»Finger weg! Ich besteche Dich diesmal mit einem Bier, hier gleich um die Ecke?«

»Gewonnen, Freund. Du hast Dich wenig verändert.«

»Du Dich aber, Freund.«

»Da is ne lange Geschichte.«

»Ich liebe lange Geschichten.«

 

Im Pub war es rauchig, dunkel und laut. Sie setzten sich in eine Ecke, die gerade frei geworden war. John sah sich um. Er war hier schon eine Ewigkeit nicht mehr gewesen. Aber auch hier, wie überall in der Straße hatte sich kaum etwas verändert. Gut? Gut!

Eine Serviererin kam an den Tisch. »Bier?«

»Und was zu essen. Was kräftiges.«

»Stew? Ganz frisch? Eben erst gemacht?«

»Zwei Mal.« Sie schwebte davon. Die Männer sahen ihr hinterher. »Hübsch«, sagte Irvin.

»Knackig«, John.

»Der möchte ich mal …«

»Das Bier«, die Serviererin.

»… unter den Rock.«

»Untersteh Dich!«, fauchte die Serviererin.

Die Männer lachten, stießen an. »Prost!«

»Lange her. Erzähl schon, Irvin.«

»Erinnerst Du Dich noch an den langen Cillian? Nein?« Irvin nippte an seinem Glas. Schaum setzte sich auf seiner Oberlippe ab. Es sah aus, als trüge er jetzt eine Menjoubärtchen.

»Doch, warte! Der lange Dürre mit dem Hang zum militärischen?«

»Genau der. Eines Tages treffe ich den Kerl. Hej, sagte er. Was machst’n so? Ich: Hänge rum. Keine Aufträge. Hab was, sagter. Wennde Lust hast, dafür.«

John musste grinsen. So war Irvin. Ein Erzähler par Excelance. Er war gespannt, wie es weiter ging.

»Ich ihn also angesehen. So.« Irvin zeigte wie. »Neene! Nischt Kriminelles sagt Cillian, sag ich, watten denn?« Irvin nahm einen gewaltigen Schluck aus seinem Glas, hielt es hoch. »Komme!« rief der Keeper und brachte ein neues Bier.

»Tja, so bin ich nach Afrika gekommen. Es hieß, wir würden als Entwicklungshelfer arbeiten. Denn verpassten se uns ne Uniform, drückten und ne AK47 inne Hand und los. Angeblich Rebellen vertreiben.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Bin jedenfalls sofort abgehauen. Vier Jahre in der Hand der Rebellen, bisse mich wieder gehenließen. Sind gute Freunde geworden.« Er nickte nachdrücklich. Wieder nahm er einen gewaltigen Schluck. »Schwamm drüber. Bin jetzt wieder hier. Hab’s jedenfalls überlebt.«

»Und?«

»Suche Arbeit, ne Bleibe, meine Ruhe, was sonst.« Er wollte offenbar nicht weiter darüber reden. »Hast Du was?«

»Mal sehen. Ruf mich morgen an. Hier, meine Karte.«

»Oh Mann. Hohes Tier!« Er sah John bewundernd an. »Danke, mach ich.«

»Ich muß dann mal…«

»Freundin?«

»Mehr, hoffe ich.«

»Bon Chance, Alter. Ich gönne es Dir.«

»Danke. Ich bezahle.«

»Ich rufe morgen an?«

»Unbedingt!«

 

 

  1. Freunde

 

John beeilte sich jetzt. Er versuchte mit seinem Mini jede Lücke zu erwischen, die sich im dichten Nachmittagsverkehr auftat. Dann war er aus der Stadt heraus und trat auf das Gaspedal. Mit kreischenden Bremsen hielt er vor Anns Haus. Er stürmte durch die Tür. »Ann!?«

Auf dem Sofa in der »guten Stube« saßen zwei Frauen: Ann und eine unbekannte Schöne. So schön wie Ann. Sie schreckten auf, denn sein ungestümer Auftritt hatte sie aus einem Gespräch aufgeschreckt.

»Oh, John!« Ann sah ihn mit großen Augen an. »Ich hatte Dich gar nicht erwartet …«

»Dann kann ich ja wieder …« John hatte sich schon halb herumgedreht, als er am Arm festgehalten wurde.

»Halt, Freundchen, nicht so schnell!« Die Schöne sah ihn von oben bis unten an. »Sie können nicht einfach hereingestürmt kommen und uns arme Weiber so erschrecken. Stellen Sie sich doch erst einmal vor.« Sie hielt ihn weiter fest. »Übrigens, ich bin Ruby. Anns beste Freundin. Und Sie?«

»John.«

»So, John also?« Sie sah zu Ann. Zeigte mit dem Kopf zu John. »DER JOHN?«

»Ja. Der John.«

Ruby hatte ihn wieder losgelassen, sich auf das Sofa gesetzt, die Arme gekreuzt, die langen Beine übereinandergeschlagen, und sage: »Gut, Ann, wenn Du ihn nicht willst, ich tausche … Kannst Patrick kriegen.«

Währenddessen stand John noch immer im Türrahmen und glotze wie ein Schellfisch.

»Untersteh Dich«, sagte Ann. »Setz Dich zu mir, John. Hier bist Du sicherer, als dort drüben.« Sie sah betont drohend auf Ruby.
Auf dem Weg zum Sofa stellte sich John vor, wie er die beiden in den Armen hielt …

Brav setzte er sich neben Ann. »Hier, für Dich.« Er hielt ihr die Rose vor die Nase.

»Oh wie schön.«

Ruby beugte sich vor. »Und ich?«

»Wenn ich gewusst hätte …«

»Wir sprachen gerade von Dir.« Ann war sitzen geblieben, die Rose noch in der Hand.

»Nur Gutes, das Beste über Dich!« rief Ruby.

Sie duzt mich schon, das kann ja heiter werden. »Hört mal, Mädels. Wenn ich störe, dann …«

»Keine Chance!« Ruby flirtete weiter. »Nicht wahr Ann. Wir können John doch bei dem Regenwetter nicht auf die Straße schicken!« Draußen schien die Sonne und es war warm. Kein Lüftchen regte sich. Und Ann machte mit: »Genau, Rubylein. Das können wir nicht.«

»Hör mal, Ann. Können wir kurz unter vier Augen?« John sah sie erwartungsvoll an.

»Ja«, flüsterte sie und zu Ruby: »Du gestattest..:«

»Klar doch. Macht mal. Aber schnell.«

»Nicht was Du denkst. Da warten wir lieber bis Du wieder weg bist.«

»Oooch, schade.«

Sie gingen nach oben.

»Ann, ich meine es ernst. Sehr ernst.« Sie standen sich eng gegenüber. Er sah zu ihr herunter. Ihre Augen waren groß, erwartungsvoll. Ihr Busen hob und senkte sich. Es lenkte ihn ein wenig ab, weshalb er ihr auch wieder in die Augen sah. »Willst Du mich …«

Keinen Fehler machen, jetzt, dachte sie. »Ja, ich will. Ich will Dich, Du lieber, großer Kindskopf.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, und küsste ihn. Er kramte in der Hosentasche, holte das kleine Etui mit den Ringen hervor.

»Hier«, er trat zurück. Für uns, dich, äh, zur Verlob …«

Ann riss ihm das Etui aus der Hand, klappte es auf. »Oh mein Gott. Wie schön.« Sie nahm den kleineren der Ringe heraus, drehte ihn im Licht. »Nicht aufstecken!«

»Ich weiß, das bedeutet Unglück.« Sie nickte. Sie sprang ihm an den Hals, schlang ihre Beine um seine Hüfte und schmiegte sich verliebt an ihn an.

»Was macht ihr, da oben?« Ruby!

»Wir kommen gleich, Liebes!«

»Na hoffentlich.«

Sie sprang von John herunter, nahm seine Hand. »Komm, wir sagen es Ruby.«

»Das muß gefeiert werden!« Ruby lief in die Küche. »Wo ist der Sekt?«

»Hab ich nicht.«

»Nein. Das kann nicht …Ich hole welchen.« Sie sauste in den Flur, und war nach wenigen Sekunden, kurz noch vor dem Fenster zu sehen.

Ann nahm Johns Gesicht in die Hände. »Ich liebe Dich«, flüsterte sie. Ein paar Tränen traten ihr aus den Augenwinkeln. John küsste die salzige Flüssigkeit weg. Er schwieg. Genoß die Umarmung, die fester war, als es sonst immer gewesen war. Selbst als sie im Bett beieinandergelegen hatten, durfte er sie nur streicheln, nicht umarmen. Aber jetzt. John streichelte Ann Haare, schnupperte daran. Frauenduft! Frauenhaar, Frauenhaut. Etwas Wunderbares.

Die Haustür knallte. Ruby war wieder da. Sie hatten nicht gemerkt, dass sie so lange, so fest umarmt, dagestanden hatten. Ruby schlich in die Küche. »Süß«, hörten sie sie noch murmeln. Ann löste sich von John. Sie ging zu Ruby, John sah hinterher.

»Ich reise gleich nachher ab«, sagte Ruby.

»Nein, wie kommst Du darauf! Du bleibst!«

»Und John und Du?«

»Du schläfst bei mir. John kann unten schlafen. Wir sind schließlich noch nicht verheiratet.«

Ruby sah Ann ungläubig an. »Habe ich richtig gehört? Du willst nicht mit ihm - schlafen?«

Ann zuckte die Schultern. Sie hatte sich abgewandt und holte Sektgläser aus einem Wandschrank.

Ruby legte nach. Flüsterte: »Hast Du überhaupt schon mit ihm - geschlafen?«

Stumm schüttelte Ann den Kopf.

»Soooo. Aha.«

Sie gingen zusammen ins Zimmer. Ann reichte John die Flasche. »Mach mal auf.« Es zischte, der Korken hatte keine Chance. John legte ihn sacht auf den Tisch.

Er schenkte ein, gab den Frauen die Gläser. Sie hoben sie an.

Ann: »Auf die Zukunft.«

Ruby: »Und viele Kinder.«

John: »Auf Ann:«

Beide Frauen: »Auf John.«

Schweigen. Durch das offene Fenster hörten sie Vögel zwitschern. In der Ferne rauschte das Meer, ein Schaf blökte ausdauernd. Auf dem Meer tutete ein Schiff.

Ann legte ihre Hand auf Johns. Sie lehnte sich an ihn. Das hatte sie noch nie gemacht. John durchrieselte ein völlig unbekanntes Gefühl. Er wollte sie festhalten, beschützen, alles , alles…Er wusste nicht was alles, aber dass er das wollte, von ganzem Herzen. Er schmunzelte leise vor sich hin.

Ruby: »Jetzt grinst’er.«

Die friedlich, liebevolle Stimmung war dahin.

Ann stand auf. »Ich mache uns was zu essen. Steak?«

Ruby nickte, John nickte. Ann verschwand in der Küche. Sie klapperte mit Töpfen und Tellern.

Ruby sah John an. »Sehr zerbrechlich«, sagte sie leise zu John.

Der sah Ruby verständnislos an. »Ann?«

»Ann! Sehr zerbrechlich.«

»Was war passiert?« flüsterte John.

»Nicht jetzt.« Ruby wiegelte ab.

John wollte das Gespräch schnell auf eine andere Ebene bringen. »Und Sie, was machen Sie so, wenn ich fragen darf?«

»Künstlerin, wie Ann. Ich bin Plastikerin.«

»Muß ich was von Ihnen kennen?«

Sie wiegte den Kopf. »Es sind fast alles Auftragswerke von Firmen oder Städten. Nichts museales. Warten Sie, ich zeige Ihnen was.« Sie sprang auf, lief in den Nebenraum. John sah ihr nach, bewunderte ihre Figur und wie ihre Haare flogen. Sie kam zurück, mit einem Tablet in der Hand.

»Was macht ihr Schönes?« kam Ann Stimme aus der Küche.

»Wir sehen uns MEINE Werke an!«

»Ach sooo. Laaangweilig.«

»Ha. Neidisches Miststück.« Ruby hatte es endlich gefunden. Sie hielt das Tablet so, dass das Display nicht geblendet wurde, aber John über ihren Busen sehen musste.

»Da, siehst Du? Das steht bei Shell in Londonderry. Und hier …« Sie wischte ein Foto nach dem anderen über den Bildschirm. Gute Arbeit, dachte John. »Haben Sie schon einmal Kunst am Bau, ich meine direkt am Gebäude gemacht?«

»Nein.« Er musste den Kopf ein wenig drehen, um ihr nicht immer in den Ausschnitt zu sehen. Als er auf ein Bild zeigen wollte, streifte er eine Brust. Sie zog nicht zurück, atmete nur hörbar ein. »Das da, das habe ich schon gesehen. Es steht an der Mall in M. Richtig?«

Ruby atmete kräftiger. »Ja«, sagte sie abgelekt. Ihre Hand schwebte über dem Tablett.

»Kommt essen, ihr beiden«, rief es aus der Küche.

Ruby und John standen mit einem merkwürdigen Gefühl auf. »Gehen wir«, Ruby schluckte.

In der Küche war sie wieder die alte. Fröhlich und ungeheuer gesprächig. Sie schnatterte über ihre Mann, den sie verlassen würde. Scheidung? Nein, um Gottes willen. Nein! Das Atelier im Haus war einfach zu kostbar. Und nein, sie wollte ihn nicht belasten aber sie würde ihn auch nicht mehr heranlassen. Soll er doch seine Sekretärinnen bumsen! Sie wolle überhaupt nicht mehr. Nie mehr! Und hatte jetzt traurige und feuchte Augen.

Nach dem Essen gingen sie an der Klippe spazieren.

 

 

  1. Trennung

 

Pat ging Ruby aus dem Weg. Er machte »Überstunden«, war plötzlich auf »Dienstreisen«. Besuchte Tagungen, Symposien, musste plötzlich Vernissagen begleiten. Ruby arbeitete verbissen an ihren Aufträgen, bis sie todmüde ins Bett fiel.

Pat kam später, auch müde. Er roch nicht wie früher, nach Seife und Zahnputz, sondern nach Whiskey und Zigaretten. Und nach diesem billigen Parfüm. Wenn er nach ihr griff, drehte sie sich weg. »Ich bin müde, lass mich.«

Patrick schnaufte, schlief ein, meist vor ihr. Oder er stand auf. Dann hörte sie den Fernseher laufen. Einmal schlich sie sich aus dem Schlafzimmer, sah ihn im Sessel sitzen. Auf dem Bildschirm flimmerte ein Pornofilmchen, und er onanierte. Sie schlich leise wieder zurück. Armer Pat, dachte sie. Am nächsten Tag, es war Sonntag, lief sie nackt vor ihm herum, machte Frühstück, strich ihm mit den Fingern durch Haar. Und lange hielt er es nicht aus. Sie lagen wieder im Bett, seine Sachen verstreut auf dem Teppich. Das Frühstück verschoben sie auf Mittag.

»Na, geht doch«, flüsterte sie ihm zufrieden ins Ohr. Und Pat sah sie an. Aber etwas fehlte. Die Wärme von früher. Das Gefühl gewollter Nähe. Da wusste Ruby, dass sie sich endgültig verloren hatten.

Tage später hielt sie es nicht mehr aus. Ich muß weg! Und reiste zu Ann, ihrer Freundin.

 

 

  1. Aufträge

 

»Acht«, Jayden hatte es gemailt. Acht, das ist gut, dachte John. Das ist sehr gut! Das bedeutete, ein Nachfolgeauftrag. Wo? In Frankreich? Ach du meine Güte!

»Was ist. Was schlimmes?« Ann hatte sich bei John eingehakt.

»Nein, etwas sehr, sehr Gutes. Ein Auftrag, allerdings in Frankreich. Normandie.«

Ann hüpfte hoch, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

»Ich freue mich für Dich.«

Ruby stapfte vor ihnen her. Sie hatte die Hände auf den Rücken gelegt. Ihre Schultern waren gespannt. Etwas beschäftigte sie.

»Hey, Ruby, was denkst Du?«

»Ich?«

Ann beschattete ihre Augen. »Sehe keine andere Ruby.«

»Weiß nicht. An nichts und alles. Es schwirrt in meinem Kopf. Was soll ich tun? Weg von Patrick, weit, weit weg? Oder bei ihm bleiben, in seinem Haus? Oder was?«

Ruby hakte sich bei John ein. Ann beugte sich vor, zu Ruby. »Hast Du noch einmal mit ihm gesprochen? So in aller Ruhe.«

Ruby schüttelte den Kopf. »Seit dem letzten Mal nicht mehr. Wir sind uns aus dem Weg gegangen. Höchsten: Guten Tag, guten Weg, blabla…«

John genoss es. Zwei schöne Frauen im Arm! Er hörte nicht zu, was sie beredeten. Er atmete tief die frische Luft ein, sah auf das Meer, das heute weit dünte. Morgen würde es wieder Regen geben. Ohne Wind. Dann wird das Wasser grau, wie die Wolken. Am Horizont ging der Himmel schon übergangslos ins Wasser über. Hohe Schleierwolken zogen von Südwest über das Land. Eine blasse Sonne schien.

Beide Frauen hielten sich an ihm fest, es war, als wollten beide, dass er ihnen gehörte. Oder damit sie etwas hatten, an dem sie sich festhalten konnten. Er drückte Anns Arm gegen seine Seite. Sie sollte merken, dass er bei ihr war.

Rubys Parfüm stieg ihm in die Nase. Es war anders als Anns. Herber, kühler. Ann liebe eher süße, weiche Düfte mit einem Hauch von Blumen.

»Lasst uns zurückgehen«, sagte Ann. Sie drehten um, und hatten nun die blasse Sonne im Gesicht.

 

 

  1. Einsamkeit

 

Patrick ging durch den Saal. Das erste Studienjahr bei beim Aktzeichnen. Er war altmodisch, das sagte er auch seinen Studenten, die immer einen Hang zum Abstrakten oder »Dahingeworfenem« hatten. Man kann nur ein guter Maler sein, wenn man sein Handwerk beherrscht. Und dazu zählte, präzise Zeichnen zu können.

Das Modell hatte er selbst ausgesucht. Sie war, gelinde gesagt, mehr als vollschlank. Es gab so ungeheuer viele Rundungen, Polster und Pölsterchen, Schatten und Lichter an diesem Körper, dass er schon wieder schön war. Das Modell lag entspannt auf der Seite, die großen Brüste hingen herab, und der Bauch lag bequem auf der Decke. Sie hatte den Kopf etwas nach hinten gelegt. Das gab dem Bild Sinnlichkeit ohne voyeuristisch oder sexistisch zu sein. Ein Arm lag entspannt auf ihrer Seite, der andere stützte den Oberkörper. Die Oberschenkel glänzten im kalten Neonlicht blassrosa. Immer wieder ging er zu seinen Schülern. Er hatte das Prinzip, zu empfehlen, sich nicht einzumischen, denn dann würde er die persönliche Handschrift des Studenten verändern. Und er freute sich, welch gute Zeichner er diesmal in der Gruppe hatte.

Im Rückenakt war das Modell noch interessanter. Große Schattenflächen lösten sich mit hellen Bereichen ab. Weiche Übergänge, vom Hellen zu Dunklen, das Spiel des Lichtes mit der rosaroten Haut erregte ihn innerlich.

Er sah auf die Uhr. Wieder ein halbe Stunde. »Pause«, bestimmte Patrick. Das Modell seufzte, richtete sich auf. Sie zog einen Bademantel über die Schultern. »Soll ich ihnen einen Kaffee bringen?« fragte einer der Studenten. »Gerne.«

Patrick nutzte die Zeit, um über sich und Ruby nachzudenken. Das tat er schon, seitdem sie den Arzt verlassen hatten. Der hatte gestrahlt, als habe er ihm einen Sechser im Lotto verkündet. Dabei war die Diagnose niederschmetternder als er je gedacht oder geahnt hätte. Nach der Diskussion mit Ruby (‚Du gehst morgen zum Arzt’) hatte er versucht sich mit dem Gedanken einer Unfruchtbarkeit abzufinden. Doch das ging nicht. Der Schock saß viel tiefer. Die Wahrheit ist hart, brutal, kalt, emotionslos. Es sah ein Bild. Er würde es malen …

Heute war er wieder verabredet. Mit diesem süßen Mäuschen aus der Kantine. Wie hieß die doch gleich? Amy? Ja, Amy. Die mit dem tiefen Ausschnitt im Kittel. Sehen Sie, ich habe nichts drunter, sagte ihre Körpersprache! Was tat sie da eigentlich in der Kantine? Ich werde sie fragen müssen. Sie hatte ihn schon immer mit solch großen Kuhaugen angesehen. ‚Noch einen Nachschlag, Sir?’ Sir! Heute würde SIE einen bekommen. Es zog im Schritt.

Ich bin ein Schwein. Wem tue ich da etwas Gutes. Ruby nicht! Mir? Amy? Gut, die Kleine kann ich nicht schwängern. Ich kann überhaupt niemanden schwängern. Ich kann nichts. Gar nichts. Ich habe Ruby enttäuscht.

Nach und nach kamen die Studenten zurück. Das Modell legte sich wieder hin. Exakt, wie vorhin. Wie die das können! Es kratzte auf Papier und Karton.

Patrik sah aus dem Fenster. Tatsächlich war Regen aufgezogen. Ein feuchtes Land. Die Sonne war zwar auch Gast, aber der Regen bestimmte hier das Leben. Satte grüne Wiesen. Ein grünes Land, ein schönes Land. Er liebte die Insel. Er liebte Ruby. Ruby war wie diese Insel. Unbeständig, beweglich und starr und veränderlich. Gläubig und zweifelnd. Musikalisch, musisch. Stur! Und Amy? Amy war nur sexy.

Auf dem Nachhauseweg rekapitulierte er: Amy. Hübsch, gut gebaut, weich, anschmiegsam und gepolstert, leider dumm. Schade! Festes Fleisch, zum knuddeln und streicheln. Er hatte es ausgiebig getan, sie geknuddelt und sie hatte geschnurrt wie eine Katze und unter seinen Händen gezittert. »Mehr, mehr!« Sie bog sich ihm entgegen. Ihr ganzer Körper war ein einziger Reiz. Sie war glühendes Eisen, elektrische Entladung und er hatte sich viel zu schnell ergossen. Sie hatte ihn angesehen, enttäuscht. Hatte sie etwa mehr erwartet? Schade.

Wurde er alt? Unsinn. Er hatte sich selbst an dem Mädchen hochgeschaukelt. Was ihm mit Ruby nie passiert war. Sie waren kontrolliert, aufmerksam zueinander, zärtlich.

Im Haus war es still und leer. Keine Ruby. Es roch nach Staub. Wenn Ruby im Hause wirtschaftete, haftete an allem ihr Geruch. Alles war kalt, leblos. Die Stille tat weh. Er setzte sich auf das Sofa, schaltete den Fernseher an. Ein gelangweilter Nachrichtensprecher informierte über die Bankenpleite in den USA. Patrick hoffte, dass es nicht bis zu ihnen, zur Uni, durchschlug. Er ärgerte sich über die Bänker. Zocker, dachte er. Möge euch »dieser und jener« holen!

Er stand auf, holte sich die Whiskeyflasche und ein Glas und fiel wieder auf das Sofa. In Paris sollten etliche alte Meister aus dem Archiv geholt und ausgestellt werden. Interessant! Wann? Nächsten Monat? Da fahre ich hin. Ob Ruby mitkommt? Wahrscheinlich nicht. Er brauchte sie gar nicht fragen. Innerlich winkte er ab. Er würde seine Meisterschüler fragen, ob sie mitkämen. Patrick erwartete keine Ablehnung. Wäre ja auch zu dumm.

Er erwachte, weil der Fernseher immer noch lief. Das Glas lag auf dem Boden, die Flasche war leer. Patrick lag auf dem Bauch, die Blase drückte. Mühsam wälzte er sich hoch, ging zu Toilette.

Auf dem Rückweg zog er sich aus, ließ die Sachen fallen, wo sie hinfielen. Interessiert ja doch keinen. Nackt und barfuß stieg er die Treppe zum Schlafzimmer hoch. Er legte sich ins Bett. Am Geruch erkannte er, das er auf Rubys Seite lag. Er zog ihre Decke über den Kopf, rollte sich zusammen. Ruby, Süßes Weib. Dann schlief er, mit Rubys Duft in der Nase, ein.

 

 

  1. Heimkehr?

 

John hörte die Frauen tuscheln. Sie hatten sich köstlich amüsiert. Ruby konnte so schön aus ihrer Studienzeit erzählen. Geschickt umging sie das Thema Patrick und wenn es nicht zu verhindern war, sah John, wie sie die Augenbrauen zusammenzog.

Beinahe wäre es für alle peinlich geworden. Ohne nachzudenken war er nach der Abendtoilette in Anns Schlafzimmer gegangen. Es war dunkel und er wollte sich auf ›seine‹ Seite legen. Doch die war besetzt. Ann! Er tastete mit den Händen. Nackte Haut. Endlich! Die Frau gurrte, also schob er sich ins Bett, fasste zu … das Licht ging an. Ann! Auf der andern Seite! Er hatte eine grinsende Ruby in den Händen. Genauer ihre Brüste.

«John! Was machst Du da?«

Lachend lag Ruby auf dem Rücken und lachte. «Was macht er schon? Sieh’ ihn doch an, Ännchen!” Ihr Busen bebte vor Lachen.

Und Ännchen lachte jetzt auch. Dann versuchte sie, streng zu blicken. «Raus, Lustmolch. Wir haben Sie nicht gerufen!” Sie zeigte auf die Tür.

Und er schlich, eine gewisse Stelle mit beiden Händen bedeckend, aus dem Zimmer. Draußen schlug er sich mit der flachen Hand, die er zu Schutz seiner edelsten Teile nicht mehr benötigte, vor den Kopf. Gleichzeitig stieg ein Bedauern in ihm auf, und er wurde rot.

John fand sich auf dem Sofa wieder. Er lag auf dem Rücken. Bilder zogen an seinen Augen vorbei. Schmutzige, feuchte Bilder. Empört wischte er sie beiseite. Doch sie kamen immer wieder, bis er endlich einschlief.

Beim Frühstück saßen ihm die beiden Frauen grinsend gegenüber. John trug rote Ohren zu Schau, bis sie alle drei explodierten und lachten, bis sie keine Luft mehr hatten. Ann schlug ihrer Freundin mit der flachen Hand gegen die Schulter. «Du Biest. Du hast das auch noch genossen!” Dann sah sie zu John. Vorwurfsvoll: «Und Du auch!”

John lehnte sich zurück. «Wahrheit oder Lüge?”

Ann: «Lüge!”

Ruby: «Die Wahrheit!”

John legte die Hand aufs Herz: «Ann, es war mir sehr peinlich. Sehr, sehr peinlich. Und es war unangenehm, wirklich.”

Ruby: »Soooo?«

John nahm Ruby Hand, gab ihr einen Handkuss: «Ruby, es war wunder-, wunderschön.”

«Ts-ts! Genug, vergessen wir’s.” Ann war aufgestanden, räumte ab. John half ihr. Dabei stieß er ihr mit dem Ellenbogen in die Seite. Als sie aufblickte, zwinkerte er mit den Augen und bekam einen Klaps auf den Hinterkopf.

Von hinten rief Ruby, «Gut so, Ann, zeigt es ihm.” Ach, es war schön mit den beiden Frauen! Was würden die Nachbarn dazu sagen. Egal!

Rubys Handy klingelte. Sie hangelte danach, sah auf das Display. Patrick. Es gab ihr einen Stich ins Herz. Sie spannte sich, wollte wegdrücken, doch dann: «Ja?”

«Ruby?”

Wer sonst? «Ja.”

«Wo bist Du?”

«Weg.”

«Komm, mach keinen Quatsch.” Da kam der Professor wieder durch. Das Alphatier.

Kalt. «Quatsch?”

Stille, atmen.

«Entschuldige.”

Sie schwieg. Ihre Augen wurden nass. Die Kälte ließ nach. Seine Stimme …

«Kann ich Dich sehen?”

«Warte.”

Rubys Gedanken überschlugen sich. Sie wollte ihn nicht sehen! Sie wollte ihn sehen! Sie wollte ihn mit ganzer Leidenschaft sehen.

«Komm. Ich bin bei Ann, Du weißt, wo.”

«Ich bin schon bei Dir.” Klack.

«Ann?”

«Er kommt her?”

«Ja. Schlimm?”

 

 

  1. Vergebung

 

John musste ins Büro. Die beiden Frauen werkelten an ihren Projekten: erst skizzierte Ruby ihre Freundin ‘im Bade’, dann Ann, die ihre auf einem Hocker. Nein, das gefiel ihr nicht! «Bleib stehen, Ruby. Ja, genau so! Und nicht bewegen.”

Ann hatte nur ihren Kittel übergeworfen. Aufgeregt fuhr sie mit Rötelkreide und Stift über das Papier. Sie verstand nicht, wie die Männer ohne Gefühlsregung einen Frauenakt malen können. Ihr schlug das Herz bis in den Hals, wenn sie die Körperformen ihrer Freundin nachzog. Oder taten die Männer nur so cool? Beim Studium, im Aktsaal, hatte sie ihre Kommilitonen beobachtet. Sachlich, mehr konnte man nicht sagen.

Ann ging es nur um Schönheit. Und Frauenkörper sind schön. Rubys Körper ist schön. Da hatte der liebe Gott sein Meisterstück abgelegt. Er hatte Schwäne, Geparde und Frauen erschaffen, allein nur um der Schönheit willen: O-Ton Professor O’Connor. »Alles andere ist nur Staffage. Elefanten, Blumen und Männer.« Dabei hatte er Ann so angesehen, dass ihr ganz warm wurde.

Es klopfte. Ruby wurde unruhig.

«Das ist nur der Paketbote”, wiegelte Ann ab, «Der kommt immer um diese Zeit.” Als sie aus dem Atelier ging, fiel ihr auf, dass heute Samstag ist und gewöhnlich keine Paketbote nach hier draußen kommt.

Patrick stand vor der Tür. Er sah sie aufgewühlt an. «Ist Ruby da?” fragte er unhöflich.

Ann hielt ihn mit der Hand zurück. «Guten Tag”, sagte sie betont. Doch das Alphatier in Patrick war stärker. Er schob sie zu Seite. «Gleich, Ann. Ins Atelier?” Und weg war er.

Ann stürzte hinterher, wollte Ruby warnen, die dort noch stand.

Ann knallte gegen Patrick. Er war in der Tür stehen geblieben. Keuchend sagte er nur: «Ruby.”

Und Ruby stand noch in Pose und rührte sich nicht. Sah Patrick nur groß an.

Ann winkte ab. Lass sie mal allein, dachte sie und ging in die Küche, eine Kanne Tee brühen.

 

«Patti”, flüsterte sie leise. Sehr leise. Er sah nur, wie sich ihre Lippen bewegten.

«Ruby.” Langsam löste Patrick aus seiner Erstarrung. Er hatte nicht erwartet, dass Ruby so vor ihm stehen würde. Patrick trank mit den Augen ihren Körper, den er so lange nicht mehr gesehen hatte. Er breitete die Arme aus. «Ruby. Ich habe Dich …”

Doch Ruby trat einen Schritt zurück. Ruby war sich ihrer Nacktheit durchaus bewusst und sie wusste wie es auf ihn wirkte, doch das war ihr gleich. Sie hielt eine Hand abwehrend hoch. «Moment, warte, nicht so schnell.” Er musste sie erobern. Er sollte noch mehr leiden, obwohl es sie mit ganzer Kraft zu ihm zog, sie sich in seine Arme werfen wollte. Noch einen Schritt zurück. «Was willst Du?”

Er stand da. Wie ein begossener Pudel. Hatte gehofft, dass sie ihm um den Hals fallen würde. ‘Endlich, Patti’ Fehl gedacht!

«Ich, äh, wollte Dich zurück.”

Endlich ein vernünftiger Satz von ihm. «Zurück? Ich?”

Er wackelte mit dem Kopf, wie er es immer machte, wenn er nicht mit ihr weiterkam. «Ruby; ich habe einen Fehler gemacht. Bitte, lass uns drüber reden.”

«Darf ich mich dazu anziehen?”

«Entschuldige. Natürlich. Ich warte draußen.”

John verließ das Atelier. Draußen wartete Ann. Sie sah ihn an. So an. «Na?”

«Hallo, Ann. Entschuldige. Ich bin so aufgeregt.”

«Setz Dich.” In dem Moment kam Ruby. Sie hatte sich den Kimono von Ann ausgeliehen. Ann meinte: «Ich bin dann mal an der Klippe. Sagt Bescheid wenn ihr fertig seid, ja?”

Im Chor: «Ja.”

 

Ruby hatte sich auf die Kante der Couch gesetzt, die Hände auf den Kien. Gespannt sah sie ihren Mann an. Der saß in der gleichen Haltung einen halben Meter weiter neben ihr. Er blickte aber zu Boden.

«Ruby?”

«Ja?”

«Ich liebe Dich.”

«Einfach so?”

Er zuckte mit den Schultern. «Ich habe die ganze Fahrt drüber nachgedacht, was ich Dir sagen werde. Habe mir ausgemalt, wie Du reagieren könntest. Ich habe ganze Dialoge entworfen und wieder verworfen. Ich weiß nicht mehr, was ich noch sagen soll, als wie …”

«Ich liebe Dich?”

Er nickte heftig. «Ja.”

«Keine Entschuldigung? Keine Geschichte? Kein, wir haben uns doch immer…”

«Keines von all dem.”

Sie schwieg. Er sah auf. Sein Blick ging langsam von ihren Füßen über ihren Körper zum Gesicht. Ihr Blick war klar. Keine Tränen. Zweifel?

Nein, das war der Blick einer zutiefst beleidigten Frau. Eiskalt rieselte es Patrick den Rücken herunter. Was hatte er ihr angetan? Wie konnte er das noch reparieren, gut machen? Und wenn es denn gelänge, wie viel Schmerz und Angst bliebe dann noch?

Er stand auf. Sie stand auf.

«Darf ich hoffen …?”

«Ja. Beweise es mir. Und nun geh.”

«Und dann?”

«Ich melde mich.” Ihr Blick war nicht mehr so hart. Sah er da etwas? Hoffnung?

«Ich geh dann mal. Bis dann.”

«Bis dann, Patrick.”

Er nahm ihre Hand. Küsste sie. Ruby zog sie nicht zurück.

Als er aus dem Haus war, sie seinen Wagen davonfahren hörte, warf sie sich aufs Sofa. Sie hielt die Hand, auf die er sie geküsst hatte, an den Mund gedrückt. Roch sein Rasierwasser, und ein großer Jammer überfiel sie. Jetzt kamen die Tränen, jetzt wurde sie weich. Sie zitterte. Angst, ihn vielleicht ganz verloren zu haben, übermannte sie, wie ein Woge eiskalten Wassers.

 

«Gut gemacht!” Das war Ann. Sie stand mit gekreuzten Armen im Türrahmen. Mit verheulten Augen richtete sich Ruby auf. «Was?” Schniefte, suchte nach einem Taschentuch. Nahm das, welches ihr Ann reichte.

«Gut gemacht”, wiederholte Ann.

«Wie meist Du das?”

«So wie ich es sage.” Ann setzte sich neben Ruby. «Du liebst ihn doch noch, oder?”

Ruby nickte.

«Du hast ihm Hoffnung gegeben?« Wieder nicken.

»Und wie soll er es Dir beweisen?”

Ruby zuckte die Schultern.

«Alphatiere wie Pat leiden am Zweifel, am Versagen viel mehr als andere. Sie sind es nicht gewohnt, zu verlieren. Ihre Angst, zu versagen oder versagt zu haben kriegen sie nicht in den Griff. Dann sind sie unberechenbar. Vielleicht war er nur verzweifelt. Hat an sich gezweifelt ...”

«Und ich konnte ihm nicht helfen.”

«Du hast es versucht, stillts?” Ann gab Ruby einen Kuss auf die Wange. Sie umarmten sich, hielten sich fest, wie Freundinnen es tun, wenn eine die andere tröstet.

John polterte herein. «Hallo, ihr Beiden. Langeweile gehabt, ohne mich?”

Ann schüttelte den Kopf. «So ist er! Keine Ahnung, der Kerl. Was machst Du schon hier?«

»Ich …«

»Du hast keine Ahnung, John Murray.”

«Keine Ahnung?” Nein, er hatte keine Ahnung. Worum ging es? Die Mädchen sahen so verheult aus.

«Wer sich ins falsche Bett verirrt …”

«Momentchen. Das war eine ganz hinterlistige Falle!”

Und in Gedanken: Aber ein süße! Gerne wieder. Er grinste über das ganze Gesicht.

 

 

 

Sie feierten Rubys Heimkehr in «O’Donnells Pub” bei Musik und Whiskey. Patrick war aufgeregt wie ein Schuljunge. Er erzählte, scherzte, sang laut mit, lachte, sah Ruby verliebt an. Sie blieb zurückhaltend, beobachtete ihn. Doch ihre Augen sprachen ein andere Sprache. Tief dunkel mit großen Pupillen. Ihre Hände waren zärtlich, wenn sie sich berührten. Ein leichtes Zittern hatte sie ergriffen.

Auf dem Rückweg alberten sie mit ihren Tischnachbarn, die den gleichen Weg zum Taxistand hatten. Während der Fahrt schwiegen sie. Sie beobachtete Patrick stumm. Und er dachte an den Moment, wenn Ruby wieder in seinem, ihrem Haus stehen würde. Er freute sich, auf die Wärme, die plötzlich überall strahlte, die Geräusche, die sie verursachte und er wusste, sie ist da! Gott sei Dank. Sie beobachtete sein Minenspiel. Quietschend hielt das Taxi vor dem Haus.

Er schloss die Tür auf. Nahm Rubys Hand in die seine. «Jetzt”, flüsterte er. Und, ohne dass sie sich abgesprochen hatten, traten sie mit einem übertrieben großen Schritt über die Schwelle. Er stellte ihre Reisetasche ab. Sie sah sich um, fröstelte, fasste sich mit den Händen um den Oberkörper. «Kühl hier”, sagte sie.

Patrick: «Ja, Du hast gefehlt.”

 

Ruby hatte lange mit sich gehadert, ob sie sich neben Patrick ins Bett legen sollte. Sie war es gewohnt, unbekleidet schlafen zu gehen, so wie Patrick auch. Doch heute ging das nicht. Etwas sperrte sich in ihr.

Sie lag auf dem Rücken, sah zur Decke. Schwieg. Er kam aus dem Bad. Wie gewohnt nackt. Sie beobachtete ihn, wie er ins Bett stieg. Seufzend legte er sich auf den Rücken, wie sie, faltete die Hände über der Decke zusammen. Das Licht ging langsam aus. Ein automatischer Dimmer sorgte dafür.

«Schöner Abend gewesen”, sagte er an die Decke.

«Ja, schön. Lustig.” Jetzt war es finster. Er suchte ihre Hand, fand sie unter dem Deckbett dicht an ihrer Seite. Warme Haut. Sie zog sie nicht zurück.

Nach langer Zeit sagte er: «Adoption. Würdest Du …?”

«Lass uns schlafen. Wir denken in den nächsten Tagen darüber nach. Über dieses und vieles andere.” Und erleichtert schlief sie kurz darauf ein, während er noch lange in die Dunkelheit starrte.

 

Heute schämte sie sich nicht vor ihm. Nicht so, wie gestern. Er lehnte in der Tür, vor der Dusche, sah ihr zu. Ruby genoss es. Er sollte sie sehen! Sie spülte die Seife von ihrer Haut, drehte und wand sich. Und Patrick starrte sie mit offenem Mund an.

«Soll ich mich beeilen?” fragte sie. Patrick schüttelte stumm den Kopf. Sie sah seine Erregung, machte weiter. «Musst Du nicht in die Uni?” Jetzt wandte sie ihm ihren Hintern zu. Rau sagte er: «Wann bist Du fertig?”

«Jetzt!”. Sie öffnete die Tür, zog ihn hinein, klammerte sich an ihn. «Musst Du heute wirklich?” Ihre Hände strichen zitternd über seinen Rücken.

«Ich beeile mich. Mittag bin ich wieder da.”

Ruby ließ ihn los. «Prima. Willst Du was Besonderes essen?”

Er wusch sich unter der Dusche. Jetzt war es Ruby, die ihn beobachtete.

«Pasta? Machst Du Pasta?”

«Da auch noch”, sagte sie.

«Hier?” Er zeigte auf seinen Bauch.

«Nein, Dummerchen. Tiefer. Ja, dort. Und gründlich! Kleiner Junge!” Sie legte kritisch den Kopf schief. Flüsterte: «Geht doch.”

Sie lachten.

 

Beide wussten, dass da noch was offen war. Bisher hatten sie die Probleme unter den Teppich gekehrt. Heute würden sie sie hervorziehen und darüber reden.

Ruby sah sich im Haus um. Alles beim alten und doch irgendwie neu. Ihr wurde schwindelig. Sie rannte in die Toilette erbrach sich. Was ist denn das? Habe ich was Falsches gegessen? Der Whiskey? Es waren doch nur zwei. Fleisch? Nein, das war in Ordnung. Plötzlich verstand sie. Die Erkenntnis rieselte eiskalt über den Rücken. Hoffentlich! Sie rannte ins Schlafzimmer. Fieberhaft suchte sie in ihrer Handtasche. Sie kippte sie einfach um. Da war es!

 

«Ruuubieee!”

Patrick stürmte die Treppe herauf. Ruby saß im Atelier, auf seinem Hocker. Sie sah ihn erwartungsvoll an. Er stutzte. Was denn nun schon wieder?

«Was Schlimmes?”

Ruby schüttelte den Kopf. Jetzt strahlte sie über das ganze Gesicht: «Patti.”

Ganz vorsichtig ging er auf sie zu. Mit schiefgelegtem Kopf: «Sag schon. Los. Was ist?” (Alphatier?)

«Ich bin mir nicht sicher. Aber ich glaube …” Sie fasste sich an den Bauch.

Er begriff nicht. Misstrauisch fragte er, «Magenschmerzen?«

»Schwanger.«

»Aber nicht von mir?”

«Doch, es kann nicht anders sein.”

«Kein anderer Mann?”

«Kein anderer. Definitiv!”

Er setzte sich einfach auf den Boden, starrte sie entgeistert an. Fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. «Ruby”, sagte er einfach. «Jetzt erst?”

Sie zuckte die Schultern. Er kroch zu ihr. Legte seinen großen Kopf in ihren Schoß. Und zum ersten Mal, sah sie diesen starken, selbstbewussten Mann weinen. Sie streichelte still seinen Kopf. «Nu, nu”, sagte sie völlig sinnlos.

Nein, er hatte darauf bestanden, dabei zu sein. Jedenfalls in ihrer Nähe. Als sie aus dem Untersuchungszimmer kam, strahlte sie über das ganze Gesicht. Es stimmte also. Es wird ein richtig gesundes Kind!

Am Tisch: «Wird jetzt alles wieder gut?” Eine Kinderfrage. Sie schmunzelte. Pat griff nach ihren Händen, zog sie an seinen Mund. Küsste jeden einzelnen Finger. «Alles wird gut. Ich bin so stolz auf Dich.”

«Auf mich?”

«Ja. Darauf, was Du alles kannst.”

«Was kann ich denn?”

«Zwei Professoren Lügen strafen.”

«Vielleicht hatte er die Probe vertauscht?” Sie fingen an, zu spekulieren.

«Erschrockene Spermien, vielleicht? Sie haben den Professor gesehen und …! Soll es ja geben.”

«Nein, nein. Vertauschte Proben!”

«Weil Du dabei warst. Erschrocken.”

»Hätte ich vielleicht alleine … Das da …« Er machte mit der Hand eine Geste.

«Dir hat es gefallen!”

«Dir doch auch.”

«Ein bisschen.”

«Wollen wir …?”

«Jetzt?«

»Jetzt!”

Sie hinterließen eine Spur aus Kleidungsstücken bis zum Schlafzimmer.

 

 

  1. Normandie

 

John war seit jeher frankophil. In der Schule hatte er sich für französisch als Wahlsprache entschieden. Er liebte diese Sprache. Sie war so elegant. Selbst grobe Schimpfworte klangen noch nett. Merde! Sag das mal auf irisch! Shit!

Jayden und er wurden am Flughafen von zwei jungen Damen empfangen. Eine strenge und eine Nette. Die Nette lächelte. Jayden stieß John den Ellebogen in die Seite. «Alter…” flüsterte er atemlos.

«M’sieurOhkonnel?” Wie süß das klang, in diesem Akzent. John zeige auf Jayden. «Er.”

«Oh pardon”, flötete das Mädchen. «Wir sollen sie ab’olen. Der Wagen steht bereit. Isch darf vorge’en?”

«Gerne. Madem…” «…moiselle”, sagte die Nette. »Nennen Sie misch, Carla.«

Die Strenge drehte sich um, lief los. Die drei hinterher. Sie hat uns die ‘Strenge’ nicht einmal vorgestellt, dachte John. «Wie ‚aißt ihre nette Kollegin?” alberte John.

«Das ist die Fa’erin. Isch kenn’ nicht ihren Namen. Wie heißen Sie, Mademoiselle?”

«Nennen Sie mich July, sagte sie streng.

«Schön, July, fahren wir.”

Sie setzten sich in den Fond. Mit einem Ruck fuhr die July an, und jagte mit einem atemberaubenden Tempo durch den starken Verkehr. Nicht zu vergleichen, mit dem in Irland. Jedenfalls bei ihnen im Westen.

Die Konzernzentrale befand sich in einem riesigen Glas-Beton-Bau. Er blitzte blau und silbern in der Sonne. «Bist Du Dir sicher, dass wir hier richtig sind?” fragte John flüsternd.

Mit typisch irischem Pokerface nickte Jayden. «Klar doch. Denke schon. Möglich.”

John seufzte. Jayden!

 

Tatsächlich! Sie waren im richtigen Haus, an der richtigen Stelle und bei den richtigen Leuten gewesen. Jayden stöhnte, als sie dann im Hotel an der Bar saßen: »Ich wollte in Rente gehen. Wenn das so weitergeht, schaff ich’s erst mit achtzig!«

»Selber Schuld. Den Deal hast Du eingerührt. Nun sieh‘ mal zu.«

»Aber Du hilfst mir doch, oder.«

Rachelüstern sagte John: »Möglich…«

John schlug Jayden auf die Schulter: »Klar doch, Alter. Aber hör jetzt auf. Wir brauchen auch etwas Zeit für uns und schon wieder neue Leute.« Ihm fiel Irvin ein.

Irvin hatte John pünktlich am nächsten Tag angerufen. Leider war soviel dazwischen gekommen, dass John in der Zwischenzeit nicht mehr an ihn gedacht hatte.

»Hey, Irvin. – Ja, Alter. Aus Frankreich – Was? – Noch nicht? Sag mal, Du kannst doch französisch? – Sprechen, Mann! – Ja? Sehr gut! Okay, ich rufe Dich in drei Tagen an. Ich Dich! - Danke, machs gut. Bis dahin.«

«Irvin?« Jayden sah John fragend an.

»Ein alter Kumpel aus der Studienzeit. Architekt, Abenteurer. Dümpelte jahrenlang rum, auf der Suche nach einem Job. War vier Jahre in Afrika von Rebellen gefangen gehalten worden. Er kann französisch. Wollen wir ihn uns ansehen?«

»Klar doch. Wenn er – noch – was kann.«

An der Bar tranken sie einen Whiskey. »Gutes Zeug, auch wenn er aus Schottland kommt«, sagte Jayden. Und dann: »Was hältst Du von der Netten?«

»Was soll ich davon halten?«

»Meist Du, wir sollten sie den Franzmännern abspenstig machen? Ich mein‘ ja nur.«

»Was kann sie?« John hatte einen anderen Verdacht. Seit Jaydens Frau gestorben war, ging der auf Freiersfüßen. »Ist die Süße nicht ein wenig zu jung? Für Dich?«

»Neidisch? Du hast doch diese Ann.«

»Ja, sie ist auch fast so alt wie ich. Und es liegen keine fünfundzwanzig Jahre oder mehr dazwischen.«

Jayden schwieg beleidigt. Er hielt viel von seinem Aussehen, das ihn wie einen Fünfzigjährigen erscheinen ließ: Nein, sie wollen bald in Rente… (Kopfschütteln), Sie müssen doch bestimmt noch zehn Jahre…!

»Ich dachte eher, dass sie hier für uns arbeitet. Sie kann die Sprache, kennt die Leute und ihre Art.«

»Und sie ist eine nette Person. Hast Du sie gefragt? Auch was sie gelernt hat?«

»Noch nicht.«

»Dann tu es!«

Und Jayden tat es. Er rief sie sofort an. John zog die Augenbrauen hoch.

»Bon soir, Mademoiselle Carla. Könnten wir sie einmal persönlich sprechen? – Ja. Mein Sozius und ich – wir hätten da ein Angebot … - Wann? Jetzt? – Hotel Excelsior. Ach so, das wissen Sie ja. Wir warten in der Hotelbar. Schön, bis gleich.« Jayden blickte triumphierend auf. Er zeigte auf sein Handy. »Hättest Du das gedacht?«

John hatte gespannt danebengesessen. »Also, das ist ja! Nee!«

 

John erwachte mit schmerzendem Kopf. Das Licht blendete, sein Schädel war schwer und es puckerte in den Schläfen. Dieser verfluchte französische Kognac. Er drehte vorsichtig den Kopf nach links. Der Hotelwecker zeigte acht Uhr dreißig. Zeit sich zu erheben, dachte John faul und drehte sich auf den Rücken. Was roch hier so süßlich? Ah das Parfum der Netten, Carla. Sie hatten sich angeregt unterhalten. Carla war tatsächlich von Beruf Architektin. Hatte vier Jahre in einem großen Büro gearbeitet. In den Konzern war sie gekommen weil man ihr versprochen hatte, dass sie maßgeblich an den Bauvorhaben der Konzernspitze beteiligt sein würde. Wie sich herausstellte, war sie nur eine überqualifizierte Sekretärin.

Jayden bot ihr den Job in der französischen Dependance an. Sie würde auf jeden Fall als verantwortliche Architektin arbeiten. Ob als Chefin oder Angestellte ließ er offen. Doch Carla sagte nur: »Ich will weg von denen. `alten Sie misch bitte nischt für illoyal. Aber ich `atte unter anderen Bedingungen anfangen wollen. Ich will wieder als Architektin arbeiten.«

Das verstanden sie beide. Und bei der Vertiefung des Gespräches, als es um Aufgaben, Ziele und Geld ging, floss Cognac. Viel Cognac. Irgendwie musste John es dann bis ins Zimmer geschafft haben.

Es roch immer noch nach Carla. Er schnupperte an seinen Händen. Carla! Er hatte sie doch nicht unzüchtig … Neben ihm seufzte jemand. »Mein Kopf!« Mit französischem Akzent.

»Oh, mon dieu!« Carla saß plötzlich dicht vor ihm und verdeckte mit beiden Händen und mäßigem Erfolg ihre bloßen Brüste. »Wo bin ich?«

John muß genauso verblüfft ausgesehen haben. »John? Sie? Was machen sie in meinem Bett?«

John sah sich vorsichtig um. Eindeutig mein Zimmer. Ganz klar! Gleich gegenüber dieses grottenschlechte Bild, auf der schrecklich braunen Tapete.

»Pardon, das ist aber mein Zimmer. Und daher auch mein Bett.« Er setzte sich auf, musste grinsen. »Also, was machen Sie in meinem Bett, Carla?«

Sie sah ihm zwischen die Beine. Er zog schnell das Deckbett höher. Carla wurde rot. »Was machen wir nun?« fragte sie in ihrem entzückendem Akzent.

John zuckte die Schultern. »Wir tun so, als wenn nicht gewesen wäre. Es war doch nichts, oder?«

Carla sah mit ängstlichen Augen auf John.

Dann hob sie mit komischer Gebärde die Hände bis auf Schulterhöhe. Ihre Brüste waren nun frei! »‘offentlich. Isch weiss es nicht.«

»Egal, ich entschuldige mich jetzt schon.«

»Drehen Sie sich um. Ich möchte in Bad gehen!« John drehte sich zur Seite. Mit dem Körper. Mit dem Blick blieb er auf ihr haften. »Dann eben nischt!« Sie warf den Kopf nach hinten, dass die Haare nur so flogen und stand graziös auf. John fiel fast in Ohnmacht. Und ebenso graziös schwebte sie zum Bad. An der Tür blieb sie stehen, drehte sich halb herum. »Sie ‚aben geschmült, Monsieur John. Das ist nicht nett.« Sie drohte mit dem Finger. Weg war sie. Er lege sich zurück. Verrückt! Einfach verrückt. ‚Geschmült« Er lachte leise.

»Monsieur John!«

»Ja Carla?«

»‘aben wir wirklisch nischt?«

»Merken sie was?«

»Non. Eigentlisch nischt. Oh, wo ist ‚antüch?«

An…, was? Ach so, Handtuch! John sah sich um. Auf und neben ihrem Bett lagen noch die Handtücher, ihr Rock, die Bluse. Eine Spur Dessous führte zum Bad. Interessant!

»Ich bringe ihnen eins.« Er ging der Spur nach.

»Aber nischt schmülen! Isch bin nackt.«

Das war sie vorhin schon! Warum betont sie das? Er schnappte sich ein Handtuch und schlich vorsichtig zur Badtür.

»Bitte. Das ‘antüch«, sagte er. Sie kicherte. Er hielt ihr das Tuch vor die Tür. »Bitte, nehmen Sie.«

»Ich kommen nisch er‘an an ‘andtüch!«

»Ich komme! Achtung!«

John trat in das Bad. Sie stand unter der Brause, sah ihn mit großen Augen an. Dann streckte sie die Hand aus. »Merci bien.« Sie hatte Gänsehaut am ganzen Körper.

»Ist Ihnen kalt, Carla?« Er konnte nicht wegsehen. Ein schönes Mädchen, dachte er. Arme Ann. Das kann ich ihr doch nicht erzählen. Keinem kann ich das erzählen. Das glaubt mir kein Mensch! Etwas kühles zog an seinem Rücken vorbei. Er sah ihren Blick und sah an sich herunter. Oh, ich habe ja auch nichts an.

»Das Wasser ist kalt geworden. Kein gutes ‘otel. Tut mit leid.« Sie kam aus der Dusche. Er war noch keinen Schritt zurück getreten. Wenn sie ans Waschbecken wollte, mußte sie an ihm vorbei. Er spürte ihre kühle Haut, die Frierpickel kitzelten. »Lassen Sie mich bitte vorbei?« fragte sie von unten.

John fasste nach Ihren Schultern. Sie sah ihm in die Augen. Verlangen stand in ihrem Blick. »Komm, ich werde Dich erst einmal wärmen.«

Mit noch feuchter Haut krochen sie unter das Deckbett. Sie kuschelte sich an ihn, schnurrte. »Oh«, sagte sie, als sie mit einer Hand gegen einen harten Gegenstand stieß. »Ist das etwa…?«

 

Jayden wartete schon eine Weile mit dem Frühstück. Als er John mit Carla zusammen die Treppe herunter kommen sah, zog er die Augenbrauen in die Höhe. Doch weiter ließ er sich nichts anmerken.

»Sorry, hat ein wenig länger gedauert.«

Da sie keinen weiteren Termin hatten und den Tag für einen Rundgang durch die Stadt nutzen wollten, spielte es nur eine geringe Rolle, wann sie mit dem Frühstück fertig wären.

 

Erst im Flugzeug fragte Jayden, ob John etwa etwas mit dieser Carla …

»Nein, wo denkst Du hin«, log John. »Sie hatte mich abgeholt. Wenn Sie deine Zimmernummer gekannt …«

»Ja, ja. Und ich kann übers Wasser gehen«, brummte Jayden.

John hörte gar nicht zu. Er genoss die Erinnerung. Mein Gott, war das Mädchen beweglich …

 

 

  1. Carla

 

Der Auftrag wurde bestätigt. John flog noch einmal nach Frankreich zur Unterzeichnung des Vertrages. Als er Jayden anrief, sagte er: »Loch zehn!« Zwei Nächte verbrachte er dann mit Carla in einem Schloßhotel irgendwo auf dem Lande. Der Hotelier, ein Graf De ‚Sowieso’, unterhielt mit dem Hotelbetrieb das Schloß. Sie genossen den Luxus, die Diskretion und das Essen. Und natürlich die Zweisamkeit im Bett.

»Schade«, sagte Carla. Und: »Kommst Du bald wieder?« Sie gab ihm einen Kuss auf den Handrücken und die Stirn.

Er konnte ihr nichts versprechen. Sein Gewissen hämmerte Ann, Ann, Ann! Im Flieger schwor er sich mit Carla reinen Tisch zu machen. Wenn er das nächste Mal in Frankreich ist.

 

Ann fiel ihm um den Hals. »Wann heiraten wir?«

»Wann willst Du?«

»Im Frühling! Bitte!«

»Solange willst Du noch warten?«

»Ja, ich will was Leichtes. Ein weißes Kleid mit Blumen und allen Schnickschnack!«

»Und wenn Du nichts anhast, wie jetzt?«

Schnell verdeckte sie ihre Brüste mit den Händen. Verschämt senkte sie den Kopf. »Das ist peinlich.«

»Peinlich? Das ist schön, weil Du eine schöne Frau bist. Die schönste auf der Welt. Und raffiniert!« Und er dachte an Carla, mit dem biegsamen Körper und der samtenen Haut und den Frierpickeln beim Duschen. Sie hatten oft geduscht. Allein deswegen! Er schüttelte den Kopf.

»Was ist?«

»Was soll sein?

»Du hast den Kopf geschüttelt.«

»Alterserscheinungen.«

»Ooch, Du mein kleines Greisenköpfchen.« Sie fiel auf ihn. Zum ersten Mal seit ihrem Zusammensein musste er nicht die Phantasie bemühen.

 

Jayden und er hatten sich für Carla entschieden. Sie sollte die Leitung in Frankreich übernehmen. Irvin war es egal. Ihm war wichtig, dass er Arbeit und Geld hatte. Er sprach, als Ergebnis seines mehr oder weniger freiwilligen Aufenthaltes bei den Rebellen, fließend afro-französisch. Hatte also keine Verständigungsprobleme.

Die Hochhäuser wuchsen, der Frühling nahte und damit auch der Hochzeitstermin. John war seit der Unterzeichnung des Vertrages nicht mehr drüben gewesen. Carla schickte ihm SMS und Mails, er wimmelte immer wieder ab. Jayden musste ran!

Im März war John dran. Er flog nach Paris. Carla empfing in dort am Flughafen. Sie fuhren nach V. in der Normandie, wo sie jetzt das Büro aufgemacht hatten. Das Auto fuhr Carla. John sah ihr Profil. In Paris schimpfte sie über den Verkehr. Kaum draußen raste sie über die Autobahn und lachte. Doch bevor sie ins Büro fuhren, stieg John in dem Hotel in der Nähe ab. Carla war immer dabei, schwatzte, erzählte Neuigkeiten und von Irvin, der »ein wirklich netter Mann« ist.

John fragte direkt: »Hast Du was mit ihm?« Er hoffte auf ein ja, doch Carla: »Nie und nimmer! Ich liebe Dich doch, Cherie!«

Holy Shit, merde…! Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er schwieg, gab ihr einen kleinen Kuss, der sie stutzen machte. Doch sie sagte nichts dazu. Heute Abend, schwor er sich. Doch als sie ihn zum Bett zog, war sein heres Vorhaben schon vergessen.

 

John zog Irvin zur Seite. Carla putzte gerade einen Vorarbeiter herunter, also eine gute Gelegenheit für ein Gespräch unter Männern.

John wies mit dem Kopf auf Carla: »Kann sie gut, neh?«

Irvin nickte. »Besser als ich.«

»Irvin, Alter, hör mal…«

Irvin wurde misstrauisch. Wenn John einen Satz so anfing …

»Ich brauche Deine Hilfe.«

»Du, meine?«

»Jep.«

»Und?«

»Carla.«

»Was ist mit ihr?«

»Kannst Du Dich um sie kümmern … bemühen?«

»Waaas? Was ist mit Dir los?«

John erzählte Irvin von seinem Abenteuer und erklärte ihm sein Dilemma: Er würde in Kürze heiraten.

»Dann tu‘s doch«, sagte Irvin schlicht.

»Und was mache ich, wenn ihr alle zu meiner Hochzeit angeschneit kommt? »Ah, Ann, übrigens, das ist Carla, meine Geliebte in Frankr…«

Irvin stellte sich das bildlich vor und lachte. Er sah zu Carla.

»Ich hatte mich nicht getraut. Sie hatte mir ja deutlich klar gemacht, dass mit mir nix ist.«

»Du hast es also versucht, Schuft?«

»Klar doch!«

»Dann mach weiter!«

»Und Du, fällt es Dir nicht schwer, so …«
»Und wie, Freund, und wie! Aber meine Ann ist mir wichtiger.«

»Dann sage es dem Mädchen. Es verzehrt sich nach Dir.« Er sah an John herunter. »Obwohl ich nicht verstehe, was sie an Dir findet?«

Es ist sowieso ein Mysterium, wie es Frauen schaffen, sich einen Mann zu angeln, den ein Mann nie nehmen würde. Aus seiner Sicht, dachte Irvin.

John mußte mit ihr reden. Heute! Unbedingt.

 

Erst spät am Abend konnten sie Feierabend machen. Das Projekt war abgeschlossen. Nun mußte es nur noch vom Auftraggeber genehmigt werden. Darum würde sich Carla kümmern. Sie war eine harte Verhandlungspartnerin und wußte genau, was sie sagte und tat. Morgen würden sie, John und Irvin nach Paris fahren. John mußte zurück, denn es war noch einiges für die Hochzeit vorzubereiten und zu regeln.

V. hatte eine kleine entzückende Bar. Sie lag im Zentrum und dennoch nicht weit vom Hotel entfernt. Carla stürmte hinein, zog John an der Hand hinter sich her. In einer Ecke fanden sie einen bequemen Tisch für zwei.

Auf der Bühne sang eine farbige Sängerin einen Blues, bei dem es John durch und durch ging. Carla wies auf ihre Unterarme. »Hier sieh mal. Wie beim Duschen.«

»Ja, die Frau ist gut. Du, hör mal, Carla …«

«Ja, Lieber?«

»Ich weiß nicht, wie ich es Dir sagen soll.«

»Na sag schon. Was habe ich falsch gemacht?«

»Nichts. Jedenfalls nicht arbeitsmäßiges. Und auch ansonsten nichts.«

Ihr Gesicht wurde ernst.

»Jedenfalls nicht Du!«

Sie stützte ihr Kinn auf den Arm. Mit dunklen Augen sah sie John an. »Du meinst, dass Du bald heiraten wirst?«

»Äh, das ist - ich habe - wollte …«

»Hör auf zu stottern.« Sie streichelte ihm mit der freien Hand die Wange. »Ich weiß das schon lange. Jayden hatte sich beim letzten Mal verquatscht.«

»Was nun?«

»Magst Du mich denn nicht mehr?«

Eine typisch weibliche Fangfrage! Was sollte er antworten. Er mochte sie. Sehr! John schluckte: »Ich mag Dich.« Er nickte ernsthaft. Sie hielt immer noch seine Wange.

»Aber Du liebst diese Ann?« Ihre Augen wurden noch dunkler. Der Blues war zu Ende. Leiser Beifall klang auf. Die Sängerin begann den nächsten. Auf dem Arm von Carla erschien wieder Gänsehaut. Wenn er ehrlich war, ja. Bedingungslos. Ann!

»Ja. Sehr.« Mehr konnte er nicht sagen.

Ein Kellner stellte schweigend zwei Gläser mit einem großen Cocktail auf den Tisch. Und genauso schweigend verzog er sich wieder.

Carla ließ seine Wange los, nahm ein Glas.

»Ihr Männer seid komisch.« Nachdenklich sah sie auf die Flüssigkeit.

»So ist das also.« Doch es klang sachlich. Eine Feststellung. Sie hielt ihm das Glas hin, stieß mit ihm an. »A Santé, John. Auf den Abschied. Es ist sowieso nicht gut, wenn Chef und Angestellte in einem Unternehmen ein Verhältnis haben.«

»Das wäre mir egal gewesen«, sagte er schnell. »Ganz egal!«

»Ja? Wirklich?«

»Ja.«

»Wie ist eigentlich dieser Irvin?«

»Wie?« Er hatte nicht verstanden.

»Irvin, Dein Freund, wie isser?«

»Du müsstest ihn eigentlich besser kennen als ich. Ihr arbeitet doch zusammen.« Er stutzte. »Sag mal, versteh ich jetzt etwas nicht so ganz?«

»Er hat mir Avancen gemacht. Eigentlich ein netter Kerl.«

»Und schon tröstest Du Dich mit ihm?«

»Eifersüchtig, Chef?«

Tatsächlich. Er war eifersüchtig. Und dabei hatte er vor kurzem Irvin dieses Mädchen angeboten. Ihn gebeten, dass er sie ihm wegnimmt. Was für ein Wahnsinn! Was war denn plötzlich los? Wenn es ernst wird …

»Ja, mit einem Mal bin ich eifersüchtig. Verrückt, nicht wahr?«

»Schön ist das. Jetzt weiß ich, dass Du mich liebst.« Sie kippte den Coctail herunter. »Komm, wir gehen. Abschied feiern.«


Der ‚Abschied‘ dauerte die ganze Nacht. So intensiv hatten sie sich noch nie geliebt! Keine Erholung, keine Pausen. Erst kurz vor ihrer Abreise fielen sie in einen leichten Schlaf.

Irvin erschrak, als er sie sah. Manchmal war er ein Trampel aller erster Güte, dache John. »Wie seht ihr denn aus?« rief er schon von Weitem. »Oh, sorry.«

Den Rest der Taxifahrt schwieg er lieber.

Am Flughafen verabschiedete sich Carla freundlich und sachlich wie immer in der Öffentlichkeit von John. Nur ganz, ganz heimlich, strich sie ihm über die Wange.

»Machs gut. Wir sehen uns …« Doch Irvin hatte es gesehen. Er schmunzelte väterlich und wenig später siegesgewiss. Jetzt war Carla seine! Arm in Arm gingen sie weg, und John sah hinterher.

 

»War‘s schlimm?« fragte Ann, als sie ihn vom Flughafen abholte.

»Schwer«, log er. »Aber wir haben das zehnte Loch geschafft! Es geht endlich ab.« Er legte seine Hand auf Anns Schenkel. »Und nun erzähl. Was macht unsere Hochzeit?« Und irgendwie war er erleichtert, obwohl ihm noch immer die Lenden schmerzten.

 

 

  1. Hochzeit

 

Der Pfarrer sah sie mit strengem Gesicht an. »Habe ich Sie schon einmal bei mir in der Kirche gesehen, Ann?« John spürte, wie sich Ann versteifte. Sie wollte sowieso nicht in der Kirche heiraten. »Bleib mir mit Deinem lieben Gott!«, hatte sie ausgerufen. Doch er erklärte ihr, wie wichtig es sei, für die Gemeinschaft und die Nachbarn und überhaupt …

»Nein! Ohne mich.«

Jetzt saß sie vor dem Pfaffen, und musste sich so etwas anhören! Sie stand auf. »Tut mir leid, Vater. Dann wird es nichts mit uns beiden…«

»Aber, Tochter, die heiligen Sakramente der Ehe …«

Sie schnappte sich Johns Hand. Ihre Augen wurden schmal. Sie drehte sich halb zurück: »Sind mir egal, Vater. Nun komm schon.« Sie zog John aus der Kirche. Bei Gelegenheit würde John nachfragen müssen.

Also wurde es eine standesamtliche Hochzeit. Ruby war vor drei Tagen eingetrudelt. Stolz schob sie ihren dicken Bauch vor sich her. »Na? Was sagt ihr?« rief sie stolz. Und alle würdigten ihren Bauch und sie selbst und Patrik und das zukünftige Kind und überhaupt. Ruby lies sich szolz bewundern, drehte sich und schwebte im siebten Himmel. Dann: Ruby hatte sofort Ann Schlafzimmer in Beschlag genommen. An der Tür flatterte ein Zettel: »Brautzimmer. Betreten für Nichtbräute verboten!!!«. Dann waren sie durch die nahe Stadt gerauscht. Brautsachen kaufen. »So was macht man doch lange vorher!« rief sie erschüttert aus. Ann und John hatten die Schultern gezuckt. Am späten Abend, bei einbrechender Dunkelheit waren sie zurück, und verschwanden kommentarlos im Brautzimmer. John nahm sich den dritten Whiskey, und fasste sich in Geduld.

An anderen Tag kamen Irvin und Carla und noch eine Mitarbeiterin aus Frankreich angereist. Es wurde eng. Carla hatte sich demonstrativ bei Irvin eingehakt und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. John spürte einen Stich im Herzen. Irvin grinste stolz und zufrieden über das ganze Gesicht, blinzelte John verschwörerisch zu. Nur seine Ohren waren rot, und sein Blick flackerte. Was hatte Carla mit dem Ärmsten gemacht, fragte sich John.

Ann lernte nun Irvin und Carla kennen. Irvin bekam ein Begrüßungsküsschen, Carla nur die Hand geschüttelt. »Ah, Carla…!« Ann sah zu John. Oh, oh, Zickenkrieg bahnt sich an. John schlich zu Irvin. »Halte die beiden Frauen auseinander! Um des lieben Friedens und um Gottes Willen«, flüsterte er. Irvin grinste wieder breit, nickte, gab Carla demonstrativ einen Kuß und schleppte sie zu Jayden.

Vor dem Rathaus hatten sich alle versammelt, die eingeladen waren. Man lachte, stellte sich vor, Küsschen hier, Schulterschlag dort. Ruby hatte Patrick-Aaron mitgebracht. Er stand etwas verloren in der Gegend herum, denn er hatte nichts zu tun, kannte kaum jemanden und war sich selbst im Wege. Ruby rannte aufgeregt hin und her. Sie wies den Fotografen ein, richtete Ann das Kleid, in dem sie wirklich entzückend aussah und fiel John etwas auf die Nerven. Wer heiratet hier eigentlich?

Und was musste John sehen? Ethan und Anabell schienen liiert. Schön! Jaimie hatte seine Freundin mitgebracht. Eine kleine, wohlproportionierte Frau mit wasserblauen Augen, dunklen Haaren und einem sehr sinnlichen Mund. Glückspilz! Sie hielt ihren Freund fest an der Hand.

»Dann kann es ja losgehen!« Ruby natürlich! Die Gruppe setzte sich in Bewegung.

 

Die Hochzeitsnacht begann am anderen Tag, morgens gegen acht. Ann war nicht von der Feier fortzubekommen. Freunde aus dem Pub waren hinzugekommen. Sie spielten auf ihren Instrumenten. Ann tanzte, sang mit ihrer glockenhellen Stimme, riss John vom Stuhl. »Nun komm schon!« Und John tanzte, bis er atemlos auf einen Stuhl fiel. Ruby tobte mit ihrem Bauch durch den Saal. Das Kind bekommt doch ein Schleudertrauma, dachte John matt. Er trank mit Patrick einen Whiskey nach dem andern, bis Professor Pat zur Freude der Umsitzenden umfiel. Er murmelte noch: »Ich bin ja soo glücklich, so glück …« Sie schleppten ihn in die »Abstellkammer«, einen Raum, den sie extra zu diesem Zwecke eingerichtet hatten, bis die Gäste abreisten. Pat rollte sich auf der Matratze zusammen. »… glücklich.« Und schnarchte infernalisch. Aus dem Saal klang Folkmusic. Ann sang wieder. Woher kannte sie so viele Texte?

Nach und nach verschwanden die Gäste, bis nur noch Ann und er übrig blieben. Sie saßen an der Tafel und strahlten. »So eine schöne Hochzeit!« Ann versuchte leicht angetrunken ihr Kleid zu richten. »Aber jetzt bin ich müde.«

»Dann lass uns gehen.« (Der Wirt atmete auf)

»Genau. Wir gehen.« Sie stand leicht schwankend auf. Er nahm sie auf die Arme, sie schmiegte sich an ihn, flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es kitzelte, dafür verstand er auch nichts. Sie torkelten die Treppe in den ersten Stock.

»Dort«, lallte Ann,. »Unser Zimmer.« Unschwer an der Blumendekoration zu erkennen. Drinnen legte er sie vorsichtig auf Bett.

Ann lallte: »Punkt sowieso.« Sie machte mit dem Zeigefinger einen Haken in die Luft. »Ruby, abhaken! Hochzeitsnacht!«

Er setzte sich neben seine Frau. Seine Frau! Ann, seine Frau!

Ann lächelte ihn an. Es sah schüchtern aus, vielleicht auch ein wenig angetrunken und ein ganz klein wenig raffiniert.

»Mach mal auf.« Sie drehte ihm den Rücken zu. Der Reißverschluss war verklemmt. Ein Stück Stoff klemmte zwischen den Zähnen. Er zerrte. Ratsch. Kaputt!

Ann winkte ab. Sie schlüpfte aus dem Kleid, er sah ihr zu. Bei dem Licht der Nachttischlampe sah sie geheimnisvoll aus. Umständlich zog sie ihr Unterkleid über den Kopf. »Gefalle ich Dir?« Sie erwartete keine Antwort. Das nächste Kleidungsstück. Sie wollte nur seine Erregung spüren. Der BH. Langsam.

»Komm, ich helfe Dir. Na los.« Die Strapse, Höschen. Er streichelte sie. »Ääh! Geduld.« Sie ließ zuletzt die Strümpfe an (Finger weg!), winkte einfach ab, denn sie fühlte sich ausgezogen genug.

»Jetzt Du!« Sie kniete vor ihm auf dem Bett. Seine Sachen flogen durch den Raum. Die Jacke, der Schlips, das Hemd, Hose, Boxer. Alles gleichmäßig verteilt. Jeden Wurf kommentierte sie mit: »Weg damit!« Er roch ihren Körper, den Rest vom Parfüm und leichten Schweißgeruch. Auf den Knien kroch Ann zu ihrem Bett, ließ sich mit einer Drehung auf den Rücken fallen. Von dort sah sie auf ihren Mann. »Mein Maaann.« Es klang, als würde Gollum sagen: »Mein Schaatz!« Sie fügte hinzu: »Mein Schaatz.« Gollum!

Er kroch zu ihr. Kuschelte seinen Kopf zwischen ihre Brust und der Achselhöhle. »Ich liebe Dich, Ann.«

»Ich auch. Pass mal auf, wie.«

 

Draußen erklang Musik. Ein altes irisches Liebeslied. Ann drehte sich zu John. Ihr verliebter Blick ging ihm durch und durch. John sah an ihr herunter, und alles, was er sah, gefiel ihm ausnehmend gut. Sie tat das gleiche und auch ihr schien es so zu gehen.

»Müssen wir?«

Er wusste, worum es ging: die Hochzeitsreise. »Wir müssen. Die Pflicht! Die Tradition, die Freunde ...« Jetzt lachten sie.

Und dann, leiser, fast flüsternd: »Jetzt?«

»Jetzt!«

Sie griff nach ihm, »Einmal, ja?«

»Ja. Oder mehr?«

«Meeeehr.« Und biss ihm ins Ohr.

 

  1. Schock

 

So vorsichtig wie möglich ging Ruby die Treppe abwärts. Sie hatte ein Gefühl, als wenn sie gleich platzen würde. Das Kind in ihr trampelte unruhig, die Wehen stachen in die Seiten. Sie wusste, es würde ein Mädchen werden. Pat freute sich auf sie, wie ein kleiner Junge, dem man eine elektrische Eisenbahn geschenkt hatte.

Seit drei Monaten arbeitete sie nur noch mit Stift und Feder. Das Bild von Pat war fertig und hing schon in der Galerie. Eigentlich wollten sie es behalten, aber der Galerist, Paul Baker, ein alter Freund von Patrick hatte darauf bestanden, eine »echte« Ruby O’Connor ausstellen zu dürfen. »Kenn ich den Mann?« hatte er gefragt. Und beide unisono: »Nöö, ein Modell von der Uni.« Baker hatte den Kopf schräg gelegt und mit den Schultern gezuckt. Lange war er mit dem Bild vor der Nase von Wand zu Wand gelaufen, bis er den richtigen Standort gefunden hatte. »Hier!«, verkündete er. »Prima«, riefen beide.

Es kribbelt Ruby in den Fingern. Unruhig ging sie vom Atelier in die Werkstatt. Drei neue Skulpturen standen halbfertig bereit, warteten auf ihre Vollendung. Und da war noch Ann. Ann im Bade! Als Skulptur fand sie, war Ann so sinnlich, oder lag es an ihrer Arbeit? Keine Ahnung!

Ruby langweilte sich. Ann und John waren in Frankreich auf Hochzeitsreise. Die Glücklichen! Zwar musste John zwischendurch arbeiten, aber er hatte seine Ann dabei. Und sie hockte in diesem Haus, und wartete auf den Herrn des Hauses.

Draußen klappte die Tür. Er! Jetzt würde sie ihn fragen!

Patrick stürmte in seiner typischen Alphatierhaltung ins Entree. »Ruby!« Er umarmte sie fest, gab ihr einen herzhaften Kuss auf die Lippen. »Nass«, sagte sie und wischte sie mit dem Handrücken ab. Pat griente über das ganze Gesicht. »Was gibs zu essen?«

»Wollen wir nicht essen gehen? Ich hatte heute keine Lust.« Ruby zeigte auf ihren Bauch.

Er zog sie Schultern hoch. »Okay. Kein Ding. Wo?«

»Italienisch?«

Wir immer hatte er das teuerste Restaurant ausgesucht. Gedämpfte Gespräche, diskrete Ober in schwarzen Anzügen mit blütenweißen Schürzen. Auf den Hemden »Da Ronaldo« eingestickt. Glänzendes Geschirr.

»Die Herrschaften haben gewählt? – Oh ja, gute Wahl. - Darf ich Wein…- Die Seniora Wasser? Gern…«

»Pattie?«

»Ja, Liebes?«

»Wollen wir nicht mal verreisen?«

Pat zog die Augenbrauen zusammen.

»Was guckst du so?«

»Ich denke nach.«

»Worüber?« Das Essen kam.

Ruby sog nachdenklich eine Spaghetti durch die Lippen. Pat sah ihr amüsiert, aber mit müden Augen zu.

»Ich sollte kürzer treten. Du hast Recht. Das ist kein Leben.«

»Hab‘ ich nicht gesagt! Ich dachte nur…«

Pat hob seinen Alphatier-Zeigefinger. »Gedacht.«

Ruby nickte still. »Heute war so ein Tag.«

»Siehst Du.«

Sie aßen schweigend. Zwischendurch sah er Ruby besorgt an. Noch einmal begehe ich solch einen Fehler nicht mehr, schwor er sich. Außerdem wußte er, das schwangere Frauen problematisch waren. Also vorsichtig!

»Wann ist es denn soweit?«

»Morgen, in vier Tagen, jetzt.« Wieder sog sie eine Nudel durch die Lippen.

»Dann können wir hier doch nicht weg!«

»Ich will aber!« Trotzköpfchen!

Patrick überlegte. In drei Tagen begannen sowieso die Seminarferien. Er könnte seinen Studenten einen Haufen Arbeit aufdrücken. Morgen! Übermogen würde er mit Ruby verschwunden sein. Vier Wochen hatte er dann sowieso frei. Venedig. Sein Kollege hatte dort ein Haus. Einen Palazzo! Er brauchte nur anrufen.

»Gut. Übermorgen verschwinden wir.«

Gewissenhaft rollte er seine Pasta auf die Gabel. »Wo soll‘s denn hingehen?« fragte er hinterlistig.

Ruby sah ihn erschrocken an. »Ins Krankenhaus!«

»Hää?«

»Ins Krankenhaus. Sofort!«

Pat hatte immer noch nicht begriffen. »Was sollen wir im …« Erst als er das ängstliche Gesicht seiner Frau sah, verstand er: »Es ist soweit?«

»Jaha! Es ist, verdammt, soweit!« sagte Ruby zwischen zusammengebissenen Zähnen.

 

Vier Stunden später hielt sie ihr Mädchen im Arm, einen überglückliche Pat neben sich am Bett.

Er wischte imaginären Schweiß von seiner Stirn. »Das war knapp!«

Ruby bewunderte im Stillen seine Nerven. Während sie und die Hebammen sich abmühten, hatte er seinen Skizzenblock, den er immer bei sich hatte, gezogen und gezeichnet. Zwischen zwei Wehen sah sie seinen scharfen Blick, wie er versuchte Details zu erfassen und aufzunehmen.
Die Schwestern wollten Pat vertreiben. Das wäre Frauensache, da hätte er nichts mit zu tun und schon gar nicht dabei …

Falsche Adresse! Alphatier Pat überzeugte nicht. Er befahl. Und da er ja Professor in der nahen Uni war und bekannt wie ein bunter Hund, gab es keinen Widerspruch. Denn der Chef der Klinik, ebenfalls Professor wie Pat, hatte sich gegen die katholischen Schwestern verschworen. Und also konnte Pat, gekleidet wie ein Chirurg vor der Operation, in Ruhe seine Skizzen machen, während sich Ruby schwitzend und leise stöhnend auf die Lippen biss und endlich, endlich entbunden war. »Ein Mädchen!«

Weiß ich doch schon! Dann hielt sie das kleine Wesen in den Armen. Und atmete auf. »Grace Elenore O’Connor«, flüsterte sie.

 

Canalettolicht! Keiner hatte je Venedigs Licht so erfasst, wie Canaletto. Ruby trug ihr kleines Mädchen auf dem Arm. Grace schlief tief und traumlos.

»Wieso eigentlich Eleonore?« Pat hatte sie das gefragt.

»Nach meiner Großmutter.«

»Oh.« Grace war der Name seiner Mutter. Wie lieb!

Das Café direkt an der Hafenmole, nahe der Seufzerbrücke war besetzt bis auf den letzten Platz. Touristen und Einheimische genossen das spät nachmittägliche Licht und die letzten warmen Strahlen der Sonne. Pat saß stolz wie ein Spanier auf seinem Stuhl. Bewundernd sah er auf Ruby, die aussah, als wäre sie nie schwanger gewesen. Gut, der volle Busen mit den vergrößerten Knospen verriet Eingeweihten, also ihm, dass sie Mutter war. Aber außerdem? Mann, was bin ich für ein Glückspilz! Sie wohnten in einem Palazzo, in einer Wohnung, die ihnen der italienischer Kollege bereitgestellt hatte. Hier konnten sie schalten und walten, wie sie wollten.

»Hoffentlich stört es Sie nicht, wenn unsere Kleines schreit.«

»Was? Stören? Hören Sie, Ruby, wir sind hier in Italien!« Der Kollege zog das Tuch, dass Grace’s Gesicht etwas verdeckte zur Seite. »Oh, bella piccola Principessa! Was für eine Schönheit! Passen Sie gut auf sie auf!« Er kicherte.

Kinder dürfen überall mit hin und wenn sie noch so klein sind. Immer wieder freundliche Blicke, Nicken, wenn Ruby und Pat durch die Museen gingen, die Kleine auf dem Arm. Grace wedelte mit den Armen, lächelte oder schlief. »Bitte, gehen Sie zu diesem Tisch. Da schein die Sonne nicht so… Ach was für ein schönes Kind… Kommen Sie bald wieder. Und vergessen Sie die Kleine nicht!« Was soll man da sagen?

»Wir bleiben hier! Für immer«, bestimmte Ruby. »Ich will nicht mehr ins kalte Irland. Sieh Dir diese Stadt an!«

»Schwärmerei. Nach einem Jahr hast Du genug. Glaub mir.«

»Mag sein. Aber für ein Jahr! Das lohnt sich.«

»Flausenköpfchen. Du hast zu Hause Arbeit.«

»Och Menno!«

 

Etwas stimmt nicht! Ruby verspürte im Halbschlaf etwas Seltsames. Ein Gefühl der Gefahr, der Bedrohung. Sie fröstelte. Was war das? Sie versuchte munter zu werden. Pat? Ruby dreht sich zu Pat. »Pat, wach auf. Etwas stimmt hier nicht.«

Pat blieb still. Sie hörte ihn kaum atmen. »Pat!? Wach auf.«

Keine Regung. Sie schüttelte ihn an der Schulter. Patricks Kopf schleudete kraftlos hin und her. »PATRICK! Was ist…« Sie rannte, so wie sie war zum Telefon. Wie war die Nummer des Notrufs? Er klopfte leise an der Tür. »Seniora? Ist etwas nicht in Ordnung?« Ruby stürmte zur Tür, riss sie auf. »Mein Mann! Dort.« Patricks Kollege stand konsterniert im Türrahmen. Ruby war nackt. Schnell warf er seine Irritation ab, lief zu Pattys Bett. Ruby hatte das Licht angeschaltet. Sie lief ins Bad, holte sich einen Bademantel und eilte zurück zu Pat.

Sein Kollege hatte über Handy bereits die Notärzte gerufen.

»Hatte er das schon öfter?«, fragte er Ruby.

»Noch nie.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Was ist mit ihm?«

»Helfen Sie mir. Hier, der Puls. Spüren sie was?«

Wiederbelebungsmaßnahmen.

Pats Kollege pumpte und pumpte, bis der Notarzt kam.

»Puls?«

Ruby: »Ja, ganz leise.«

Professionell untersuchte der Arzt Patrick. »Herz. Ins Krankenhaus«, bestimmte er.

»Ich komme mit!«

»Und Ihr Kind?«

»Nehmen wir mit.«

Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Gut.«

Das Boot raste mit breiter Bugwelle durch die Lagune zum Festland. Ruby drückte Grace fest an ihre Brust. Schon von weitem erkannte sie die Blaulichter eines Rettungswagens.

 

Aus der verschlossenen Tür der Intensivstation klangen gedämpft die Geräusche der lebenspendend Maschinen. Schwestern liefen geschäftig auf dem Flur hin und her. Ruby war schon mehrfach eingenickt, doch sie wollte nicht einschlafen, hatte Angst etwas Wichtiges zu verpassen. Ihr Herz klopfte vor Angst um Pat. Sie versuchte sich an Zeichen zu erinnern, die sie vielleicht übersehen hatte, wo sie Pat möglicherweise schon vorher… Doch es war müßig darüber nachzugrübeln. Pat musste, sollte überleben. Jetzt!

Die Formalitäten hatte sie einigermaßen schnell erledigt. »Ein Rückruf nach Irland. »Ja? Versichert bei… Oh privat! Bene! Molto Bene!«

Und wenn er nun gelähmt sein würde, nicht mehr arbeiten könnte, nichrt mehr an der Staffelei stehen? Sie würde ihn versorgen, keine Frage! Dazu liebte sie ihn viel zu sehr. Was auch immer ihn getroffen hatte, Pat sollte leben. Grace brauchte ihn!

»Seniora O’Connor?« Ruby schrak auf. Sie war wieder eingenickt. Wie spät ist es eigentlich? Sie blinzelte. Draußen wurde es hell. »Ja?« Grace lag immer noch an ihrer Brust und schlief tief und fest. Was für ein liebes Kind, dachte sie. Pat! Was ist mit Pat?

Der Arzt, ein schon älterer Mann mit faltigem Gesicht und guten braunen Augen setzte sich zu ihr auf die Bank. Sie sah, wie er die Hände über dem Schoß faltete. Angst kroch in ihr hoch. Doch er lächelte: »Ein Schuss vor den Bug, Seniora.« Wieder ernst: «Passen Sie auf Ihren Mann auf. Er bedarf dringend der Ruhe. Mindestens für ein halbes Jahr.«

»Wird er wieder gesund?«

»Bis auf sein Herz ist er das.«

»Gott sei Dank. Danke Dottore.«

»Keine Ursache, Seniora. Zu Hause muß ihr Mann unbedingt einen Kardiologen aufsuchen. Die Behandlung ist noch nicht abgeschlossen.« Er sah auf Grace, sein Blick wurde mild: »Ein wunderschönes Kind. Wie heißt es?«

»Grace Eleonore.«

»Ein Mädchen also. Kinder brauchen beide Eltern. Halten sie ihm Grace vor die Nase, wenn er glaubt, wieder Bäume ausreißen zu können. Ein halbes Jahr Ruhe! Mindestens.« Ein weicher Händedruck. »Gehen Sie zu ihm. Er wartet schon sehnsüchtig.«

 

Sie blieben in Venedig. Patrick hatte sich an der Uni für ein Jahr abgemeldet. Sein Kollege hob die Arme. »Si! Natürlich! Ruhen Sie sich aus, Kollega. Nutzen Sie die Zeit mit ihren beiden Schönen!«

Was bekommen…?

»Eh wasse! Geld? Kollega, wollen sie mich beleidigen…? La bella Seniora ist Lohne genuge!««

Von der Terrasse hatte man einen wundervollen Blick auf den Kanal, mit seinen hunderten von Kähnen, Motorbooten, Gondeln und auf Einheimische und Touristen, die gelassen die Wege an den Häusern bevölkerten. Straßencafés, kleine, wunderbare Läden schmückten die Stadt. Sicher, es war teuer aber auch einmalig!

Patrick lag auf seiner Relaxliege. Faul sah er zum Himmel. Worüber er nachdenken mag?

Frauenfrage: »Was denkst Du gerade?«

Männerantwort: »Nix.«

»Nix gib es nicht. Man denkt immer was«, sagte sie schulmeisterhaft.

»Kann sein«, murmelte Pat faul.

»Du denkst an zu Hause! An Deine Studenten, die ja ohne Dich nicht auskommen!«

»Nein. Wollen wir morgen nach Ostiglia?«

»Warum. Was ist da so Besonderes?«

Er hob den Finger: «Erstens Essen! Trüffel. Mein Kollega kennt dort ein Restaurant. Zweitens, wenn wir satt und zufrieden sind: Feuerwerk. Irgendein Stadtfest.«

»Au ja!«

Der unvermeidliche Skizzenblock lag auf seinem Bauch. Voller Zeichnungen von Venedig. Wohl kaum eine Stadt ist von so vielen Künstlern beschrieben, besungen und gemalt worden, wie Venedig! Ruby schlürfte mit spitzem Mund an einem Orangensaft. Grace lag auf einer Decke, und versuchte ein Holzspielzeug zu erhaschen, dass ihr immer wieder aus den kleinen Fingern schlüpfte. Sie kreischte vor Freude.

Pat blätterte zurück. »Ah, hier! Sieh mal!« Er zeigte ihr seine Zeichnungen von der Geburt Graces. »Ich kann mir das immer wieder ansehen.« Faszinierend, dachte sie, mit welcher Schnelligkeit und Genauigkeit er zeichnet! Sie brauchte viel länger. Alles war deutlich, beinahe bis ins letzte Detail, zu erkennen. »Sieh hier, das Köpfchen kommt. Und hier«, er blätterte um. »Der Arm.« Sie erkannte Graces Arm und ihr Köpfchen und die Hände der Hebamme oder Schwester. Vorsichtig half sie dem Kind auf die Welt. Auf dem nächsten Blatt hielt sie Grace hoch. Er hatte sogar noch die Zeit gefunden, die Lachfalten der Schwester festzuhalten. Unten hatte er geschrieben, »Ein Mädchen!!!« Mit drei Ausrufezeichen. Sie gab ihm einen Kuss. Und sie fand, dass sie gut aussah, bei diesem Vorgang. »Grace Eleonore« stand auf einer der Skizzen. Er hatte es gehört.

»Ich würde sie gerne ausstellen. Oder wäre es Dir peinlich?«

»Das? Peinlich? Mir? Niemals. Du kennst mich. Jede Sekunde genieße ich im Nachhinein. Ich bin stolz auf Dich, auf das, was Du da vollbracht hast. Ich glaube nicht, dass ich die Nerven…«

»Ich bin stolz auf Dich! Ohne Dich gäbe es Grace nicht und einen glücklichen Pattrick!« Er hatte seinen Humor wiedergefunden. »Ich bin stolz auf Dich«, wiederholte er. »Und das Du es mit solch einem Krüppel, wie mir aushältst.« Tatsächlich. Da war er wieder, der Humor. ‚Krüppel!‘ Im Bett jedenfalls nicht! Sie sollte ihn nicht immer an sein Herz erinnern, wenn er kurz davor, naja …

 

Ann und John besuchten sie. Ersten, weil sie noch nie in Venedig gewesen waren und zweitens, um die neue Erdenbürgerin zu begrüßen und zu bewundern. Was sie auch ausgiebig taten.

»Wie bekommt Dir die Ruhe?« Patrick winkte ab. Ann schaukelte Grace auf ihren Armen. »Ruhe ist was für alte Leute!« Alphatier ich hör‘ dir trapsen, dachte Ruby. Und sie dachte an den Dottore mit den guten, braunen Augen.

Wie viel Alphatiere hat er schon eingehen sehen, wie viel Tränen und Leid? Wie viele Frauen hatte er schon in seinen Armen gehalten oder Tränen an seiner Brust aufgefangen? Ruby wollte nicht dazugehören. Sie würde schon auf Pat aufpassen. Ganz sicher!

Ann, John und Pat sahen sich die Zeichnungen von der Geburt an. Ann war ganz hin und weg. »Das gibt es doch gar nicht!«

John: »Das wollt ihr ausstellen?«

»Ja, warum?« fragte Pat.

»Bei uns, auf der Insel?«

»Das schaffen wir schon. Schließlich bin ich die berühmte Ann O’Neill, äh, pardon, Murray.«

»Und seht mal hier: Grace im Wagen.«

John: »Hättest Du nicht auch fotogra…oh, tut mir leid. Berufsehre.«

»Richtig, Freund John. Ab und an nimmst Du ja auch einmal einen Stift in die Hand.« John nickte.

 

 

 

  1. Paris

 

Carla und Irvin gingen Arm in Arm langsam am Ufer der Seine entlang. Gegenüber der imposante Bau der »Notre Dame«. Am Quai de Montebello kamen ihnen Passanten entgegen. Die Luft war mild und leicht, ein sanfter Wind reinigte sie von den Abgasen tausender Autos und flüsterte leise in den Bäumen. Sie hielt sich an ihrem Freund, Geliebten, Kollegen fest, wie, wenn sie ihn nicht verlieren wolle. Und es war auch so in ihrem Inneren. John war Vergangenheit! Im Jardin de Viviani suchten sie sich eine Bank.

Irvin war heute nacht mehrfach schweißgebadet und mit einem dumpfen Stöhnen aufgewacht. Wie jede Nacht, seit er aus Afrika zurück war. Die Alpträume wollten nicht aufhören. Das Gesehene beschäftigte ihn in der Nacht, wenn die Gedanken Zeit hatten, tagüber lenkte ihn seine Arbeit ab. Carla saß blass und erschrocken neben ihm. »Was ist, Cherie?«

Doch er wiegelte ab. »Nur ein Alptraum.«

Jetzt sah sie zu ihm auf. Ihr rundes Gesichtchen mit den dunklen Augen und den weichen Zügen strahlte ihn an. Sie kuschelte ihren Kopf an seine Schulter. »Erzähl!« forderte sie.

»Was sol ich erzähle? Da ist nichts.«

Irvin sah mit leerem Blick auf die Kirche auf der anderen Seite, wie sie im Sonnenlicht strahlte. Seit hunderten von Jahren bewundert.

»Doch. Da ist was. Dich beschäftigt etwas aus Deiner Vergangenheit. Nicht umsonst wachst Du jede Nacht auf.«

Er schwieg.

»Also?«

Mit trockenem Hals sagte er: «Das wird ein lange Geschichte.«

»Ich habe Zeit. Und ich liebe lange Geschichten.«

»Das wird aber nicht nur eine lange, sondern auch eine grausame Geschichte.«

»Hast Du überhaupt schon einmal mit jemanden darüber gesprochen?«

»Nein, noch nie.«

»Dann tu es. Jetzt!«

Mit einem Seufzen begann Irvin zu erzählen:

 

»Es war stockdunkle Nacht. Nicht so dunkel, wie hier in Europa, sondern richtig finster. Wir flogen. Das Flugzeug war eine uralte DC8, die an allen nur erdenklichen Stellen klapperte und stöhnte. Es war eiskalt und es zog überall. Wir landeten. Das Flugzeug rollte ruckelnd auf der Landebahn aus, und schwenkte dann ein, um zum Empfangsgebäude zu rollen. Nur die Beleuchtung der Landebahn und ein paar Lämpchen am Tower durchdrangen die Finsternis. Wir stiegen aus. Sammelten uns vor der Tür des Fliegers. Ein kurzbeiniger Kerl in einem Kampfanzug kam auf uns zu marschiert. Bei seinem Anblick fiel mir irgendwie Napoleon ein. Ich stieß Cillian mit dem Ellenbogen in die Seite. Er grinste mich an, nickte mit dem Kopf. ‘Alles gut’, sagte er.

‘Seid ihr die Entwicklungshelfer?’ fragte der Typ. Irgendeiner sagte: ‘Ja.’

‘Dann folgt mir’, und er grinste merkwürdig.

Draußen, vor dem Empfangsgebäude, eine Wellblechbude, soweit man sie im spärlichen Licht erkennen konnte, standen Lkw. ‘Aufsteigen’, brülle der Kerl. Wir sprangen auf, und ab ging die Post. Wir waren Stunden unterwegs. Der Staub drang uns in die Nase, man konnte kaum atmen. Als die Sonne aufging, sahen wir, dass wir mitten durch die Savanne fuhren. Irgendwann hielten die Lkw an. ‘Absitzen!’

Wir standen herum und versuchten durch die vom Staub tränenden Augen irgendetwas zu erkennen. Man rätselte, wo wir gestrandet waren. Doch rundherum war Savanne, Gras, ein paar Bäume, Sträucher und Zelte. Der Kerl jagte uns in das größte davon. Als wir saßen, begann er eine Rede. Er sei Colonel Smith - wer’s glaubt - und wir seien freiwillig nach Afrika gekommen, um dieses Land von den Rebellen zu säubern. Ich guckte nicht schlecht, und Cillian zuckte mit den Schultern. Einer stand auf. ‘Moment’, sagte der. ‘Ich bin als Entwicklungshelfer hier. Und nicht …’ Er kam nicht weit mit seinen Ausführungen. Drei Uniformierte stürzten sich auf ihn. Sie schlugen einfach zu. Smith zeigte mit dem Finger auf den armen Kerl, der blutend und zusammengekrümmt am Boden lag. ‘Defätist. Passt schön auf, meine Damen, es kann euch auch so ergehen.’ Von da ab, fasste ich den Entschluß zu verschwinden.«

Irvins Blick wurde hart.

»Und ich nahm mir vor, mit Smith, oder wie der Kerl auch immer hieß, zu gegebener Zeit abzurechnen. Cillian und ich sammelten das blutende Häufchen Mann ein. Philipp hieß er. Er ist bei den Rebellen geblieben und wohl immer noch dort. Man wies uns ein Viermannzelt zu. Jemand schmiss Kampfanzüge auf die Pritschen. ‚Anziehen. In einer Stunde draußen antreten! Der da auch!’«

»Warum seid ihr nicht gleich geflohen?«

»Rundherum war Stacheldraht und bewaffnete Posten auf Holztürmen. Und wohin? Wir hatten ja keine Ahnung, wo wir uns befanden.«

Irvin erzählte weiter, wie sie durch Dörfer kamen, die nur noch aus Asche bestanden, mit Söldnern, wie sie gewesen waren, kämpften und Cillian starb, weil er Irvin retten wollte. Er berichtete von abgeschlagenen Köpfen von Männern, Frauen und Kindern die auf den Zäunen der zerstörten Dörfer steckten. Er hatte Folterungen gesehen. Wie man willkürlich Menschen mit Macheten die Köpfe abschlug und sie zerstückelte oder einfach erschoss und im Dreck liegen ließ. Von Frauen, die vergewaltigt wurden. Immer und immer wieder und sie anschließend umbrachte. Wie ihnen auf abenteuerliche Weise eine Woche später die Flucht gelang und er dabei Smith und seinen Corporal tötete. Und wie sie von den Rebellen gefangen genommen wurden.

Man hatte sie an Bäumen festgebunden, man schlug sie, forderte von ihnen auszusagen. Sie dürsteten, hatten Hunger und erwarteten jeden Augenblick erschossen zu werden. Doch sie hatten Glück. Eine Frau mit einem Kleinkind, die sie vor seinen Kameraden geschützt hatten, war auch bei den Rebellen und fand dort Schutz. Lange hatte es gedauert, bis ihnen die Rebellen glaubten und ihnen erlaubten sich frei zu bewegen. Sie halfen, wo sie konnten, doch nicht mit der Waffe! Als Sanitäter zog er mit den Truppen mit, bis sie die Hauptstadt erreichten. Dann kam der Tag, an dem sie gehen durften, nur wohin? Philippe blieb. Er wollte weiter helfen. Deshalb war er ja dort. Und Irvin verdiente sich irgendwie Geld, mit dem er nach Europa zurückkehren konnte.

 

Über die Geschichte war der Tag vergangen. Sie saßen immer noch auf der Bank. Eine späte Abendsonne beschien das friedliche Panorama an der Seine. Carla streichelte Irvins Wange. Strich vorsichtig die Tränen aus seinen Augen. Sie spürte, wie Irvin sich entspannte. Es war wie eine Last die er jetzt abwarf, nach so vielen Jahren.

»Hunger«, sagte er. »Lass uns essen gehen, bevor ich umfalle.«

 

Es war die erste Nacht seit Jahren, dass Irvin durchschlief. Er erwachte so plötzlich, wie er gestern in den Schlaf gefallen war. Als er die Augen aufriss, schien die Sonne ins Zimmer. Er war bei Carla. Rechts neben ihm, das Bett war leer aber noch zerwühlt. Er hörte sie draußen wirtschaften. Große Liebe umfing sein Herz. Er legte sich zurück, in die Kissen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und erinnerte sich an den wunderschönen Abend. Und so, wie er an Carla dachte und sie vor sich sah, zog es in seinen Lenden und er wünschte, sie wäre jetzt bei ihm.

»Irvin?«

»Ja. Liebes?«

»Bist du schon munter?«

»Nein, ich träume immer noch.«

»Und was träumst Du?«

»Von etwas Wunderbarem.«

»Das sehe ich. Warte, ich träume mit.«

Da war sein Wunsch in Erfüllung gegangen und er fühlte nur noch ein tiefes, tiefes Glück, dass seinen ganzen Körper durchströmte und ihn ruhig machte.

 

 

  1. Nacht zu viert

 

Die Vernissage sollte um dreizehn Uhr beginnen. Der Vorraum war schon gerappelt voll, die Gäste hielten Sekt- oder Organgensaftgläser in den Händen und unterhielten sich angeregt. Ann, John und Ruby reckten erwartungsvoll die Hälse, denn eigentlich würde Pat, wie gewohnt, mit Grace pünktlich erscheinen. Doch er war nocht nicht zu sehen. »Wo steckt der Kerl?« fragte Ruby.

»Wir wollen beginnen! Ruby, Ann, seid ihr bereit?« Paul Baker zappelte schon.

»Noch zwei Minuten, Paul?« Ruby sah in sorgenvoll an.

»Okay, noch zwei Minuten, dann mache ich auf.«

»Geht klar.« Sie gab ihm einen Kuß auf die Wange und Paul strahlte.

Es polterte. Pat kam, mit Grace auf dem Arm, im Schlepptau Irvin und Carla. Grace strahle über das ganze Gesicht, als sie ihre Mutter sah. Sie reckte die Ärmchen nach ihr. »Grace, mein Mäuschen. Komm zu Mama.«

Paul: »Kann ich nun?«

Ann: »Wie lange willst Du denn noch warten?«

Er drohte ihr mit dem Finger. »Böse Mädchen kommen nicht in den Himmel.« Dann: »Ladys and Gentleman! Es ist soweit!« Er riss die Tür auf, und ließ die Besucher an sich vorbei.

»Was war denn, dass Du so spät kommst?« Ruby sah etwas genevt aus.

»Irvin hatte angerufen. Er und Carla wollen uns besuchen. Besser, Ann und Dich.« Er gab ihr einen Kuss. »Da habe ich sie schnell hierher gelotst. Aber Du kennst doch den Verkehr um diese Zeit. Wie sieht s aus?«

»Lass mich erst einmal Irvin und Carla begrüßen.«

 

John sah, dass Irvin sich verändert hatte. Er schlug ihm auf die Schulter. »Na alter Afrikakämpfer.« Irvin verzog schmerzhaft das Gesicht. »Oh, entschuldige. Das war dumm von mir.«

»Geht schon. Dank Carla habe ich viel überwinden können, von damals.« John erinnerte sich. »Na komm erst mal rein.« Er schob Irvin zur Tür. »Carla!«

Ein Stich ins Herz. Doch jetzt gehörte sie zu Irvin. »Bist Du gewachsen?« Sie glitt auf ihn zu. Ihre Augen waren ganz groß und warm. »High heels?« Sie musste sich nur ganz wenig recken, um John einen Kuß auf die Lippen zu geben. Als sie ihn umarmte, flüsterte sie: »Ich darf nicht wiederkommen. Ich liebe Dich noch immer.« Wieder erhielt er einen Stich ins Herz. Gewaltsam riss er sich los. Ihre Augen, ihr Gesicht, ihr Körper. Alles zog ihn zu ihr hin.

Er schluckte. »Gehen wir rein. Ann wird sich freuen und Ruby erst.« Höflich geleitete er Carla in die Ausstellung.

Sie feierten den Erfolg im Lieblingspub von Ann. Der Galerist hatte schon am ersten Tag fast alles verkaufen können. Ruby strahlte über alle Backen. Ihre Plastiken würden bald in der Stadt aufgestellt sein, Ann als Badenixe in Bronze ging an einen privaten Sammler. Anns Bilder waren sofort verkauft. Eine große Wirtschaftsberatungsgesellschaft hatte sie sich reserviert, morgen würde der Kaufvertrag mit Baker abgeschlossen.

Sie hatte sich bei John eingehakt. »Was machen wir mit dem vielen Geld?«, fragte sie. »Verreisen? Ich will einmal Kanada sehen und Australien und …« John drückte einen Finger auf Anns Lippen. «Und was mach’ ich dann?«

»Du bleibst zu Hause und arbeitest. Was dachtest Du denn. Ich nehme Ruby mit! Nicht wahr Ruby?«

»Richtig, Ann. Männer stören nur.«

Irvin und Carla saßen still dabei. Irvin genoss Carlas Nähe. Er roch den Duft, der Carlas Haaren entströmte. Fest drückte er ihren Körper an sich. Seine Liebe war unendlich groß und die Vorstellung wieder allein, ohne Carla sein zu müssen, machte ihm Angst. Angst hatte auch Carla, denn obwohl Irvin jetzt nachts durchschlief, knirschte er mit den Zähnen, stöhnte und brabbelte leise, warf den Kopf hin und her. Sie wachte davon auf. Vorsichtig tupfte sie ihm den Schweiß von der Stirn. Er hatte immer noch nicht überwunden! Wenn sie sah, wie er da lag und innerlich kämpfte, brach es ihr das Herz. Und sie fragte sich, ob sie ihn liebte oder es nur Mitleid war. Dann rollte sie auf dem Rücken. Starrte an die Decke und verfolgte mit den Augen die Lichtspuren, die die vorbeifahrende Autos hinterließen, und weinte leise und dachte ein ganz, ganz klein wenig an John.

 

Ab und zu sah John zu Carla hinüber. Irvin hielt sie fest, ja er klammerte sich nahezu an das Mädchen. Etwas wie Eifersucht stieg in John auf. Wir sollten sie entlassen, dann wäre sie nicht ständig in Irland. Doch was würde es bringen? Für sie gab es keinen Ersatz in der französischen Firma, und Irvin würde sie ja doch mit anschleppen. Er mußte sie vergessen. Vergessen! Ihren Körper, ihren Duft, ihre Anschmiegsamkeit. John schrak auf. »Was hast Du, John?« Ann schüttelte ihn.

»Ich? Nix. Ich war nur in Gedanken.«

»Und was hast Du gedacht?«

»Curiosity killed the cat!« Er stupste ihr den Zeigefinger gegen die Nase. Ann sah ihn nachdenklich an, denn sie hatte seine Blicke beobachtet. Er hatte was mit ihr, dachte sie. Diese Katze!

»Hattest Du was mit dieser Carla?« Anns direkte Art.

»Nein, nein, wo denkst Du hin.« Zu schnell! Er hat zu schnell abgewiegelt.

»Vor unserer Hochzeit?« Ann ließ nicht locker. Carla sah zu ihnen herüber, lächelte. Diese falsche Schlampe. Ann lächelt verkrampft zurück.

Carla stand auf. Sie kam auf Ann zu. »Ge’en wir an die Bar?« fragte sie. Ann wollte erst schroff nein sagen, doch dann siegte die Neugierde. Was würde Carla wollen? »Ja, geh mal schon vor. Ich komme nach. Und bestell doch bitte einen Whiskey.«

Demonstrativ küsste sie John, der sich das gerne gefallen ließ. Falscher Bock, dachte Ann, dann schwebte sie zur Bar. Von John mit bewunderten Blicken begleitet.

Carla sah lange Ann an. Nicht prüfend oder herablassend, sondern wie man eine Freundin ansehen würde. In ihrem französischem Dialekt sagte sie: »Ann, Du bist ein Glücksschirm.«

»Ein was? Du meinst Glückspilz?«

»Eh oui. John ist ein toller Mann.«

»Woher weißt den Du das?« fragte Ann.

»Oh, isch ahbe viel mit John ge’arbeitet. Er ist ein tres bon Architekt.«

»Und ein schöner Mann? Nicht war?«

»Oh ja. Oui. Sehr schöner Mann.«

»Was willst Du von mir, Carla?«

»Direkt seid ihr Iren. Tres direkt.« Sie schlürfte vom Whiskey.

»Hattet ihr was miteinander? Oder seid ihr immer noch - ?«, sie machte mit den Fingern eine Geste.

»Oh non! Non! Nischt meer! Ich `atte John verführt, sagt man so?«

»Armer John. Aber warum erzählst Du mir das?«

»Isch möge, dass ihr tres gut zusammen seid. Du verstehst? Er ist ein guter Mann.« Carla hatte etwas feuchte Augen. Ann auch. Sie schwiegen.

Meinte es Carla ernst? Was vor der Hochzeit war, war vergessen! Jedenfalls, ein bisschen vergessen. Sie blickte unauffällig zu John. Der parlierte gerade über etwas Witziges, und alle lachten aus vollem Halse. Ihr Blick ging zu Carla. Die saß versonnen auf ihrem Hocker und beobachtete die lachende Gruppe. Ein leises Lächeln spielte um ihre vollen Lippen. Carlas zarte, gepflegte Hände krampften sich auf ihrem Rock zusammen. Was dachte sie jetzt wohl? Eine schöne Frau, Ann war neidisch, obwohl sie dazu keinen Grund hatte. Es krampfte ihr Herz zusammen, bei der Vorstellung, das John und Carla zusammen gelegen haben und noch mehr. Und weiter wollte sie ihre Fantasie nicht bemühen. Den Whiskey kippte sie mit einem Zug herunter, und musste husten.

Carla griff nach einer Hand von Ann. »Isch will euch nischt im Weg ste’en. Bitte sei nischt bös. Isch wäre gern Deine Freundin, bitte.«

Wie lieb! War sie wirklich so naiv? Ich lasse doch meinen Mann nie wieder näher als auf zehn Schritte an diese Frau heran! Am besten eine Mauer wie in Dublin dazwischen!

»Gerne«, flötete sie stattdessen. Sie tranken noch ein Glas. Langsam wurde es leichter. Noch ein Whiskey. Sie stießen an.

»Auf unsere Freundschaft, Carla.« Ann zweifelte an ihrer Eifersucht. Quatsch! John war ne ehrliche Haut! Und treu! Sie hob einen Finger: »John ist nen ganzer Treuer! Kannste glauben.«

Carla nickte mit schwerem Kopf. »Glaub isch. Jaja.« Noch ein Whiskey. »Auf John.«

Carla: »Auf Disch. Uns, Alle!«

Ann: »Auf, wen auch immer!«

»Auf Irvin.« Carla. Noch ein Glas.

»John…«

 

Ann fühlte sich eingeengt. Jemand drückte von rechts und jemand von links. Wo war sie? Es roch nach altem Alkohol und Aftershave. Johns! Und Parfüm. Ihrs? Nein. Süßes Zeug. Ihres roch anders. Irgendwas war anders heute. Wie spät ist es eigentlich? Sie tastete um sich. Das war John! Sie erkannte ihn durch die halb geöffneten Augen. Er lag schnaufend auf dem Bauch mit dem Gesicht auf dem Laken. Unser Bett. Sie atmete auf. Langsam drehte sie den Kopf nach rechts. Ein dunkler wirrer Haarschopf. Anns Herz begann zu klopfen. Krampfhaft versuchte sie, sich an gestern zu erinnern. Bis zum dritten Whiskey an der Bar kam sie noch. Carla und sie. »Auf …!«, wen auch immer, hoch das Glas. Dann Filmriss.

Carla? Neben ihr? In ihrem Bett? Johns und ihrem Bett, korrigierte sie. Wo war Irvin? Es grummelte in ihrem Unterleib. Bitte nicht auch das noch! Doch es half nichts. Sie musste raus und schnell… Gerade noch geschafft! Ann wankte zur Badtür. Da lagen sie: John, immer noch auf dem Bauch. Das Deckbett war verrutscht, sein Hintern leuchtete heraus. Hübsch. Dazwischen ihre Kuhle mit dem zerwühlten Laken. Und dann Carla in ihre vollen Schönheit. Die Decke vom Sofa hatte sie vor sich an den Körper geknüllt und hielt sie mit beiden Armen fest als wäre es Irvin. Wirklich eine schöne Frau! Die Männer sind auch noch dazu gekommen. Und dann? Still stand Ann und beobachtete die Szene. Anstandsdame Ann? Hat sie nur dazwischen gelegen oder war da mehr gewesen. Sie untersuchte ihr Gedächtnis, doch da war nichts. Totale Flaute.

Carla seufzte. Erst drehte sie den Kopf, dann den ganzen schönen Körper auf den Rücken. Neidisch sah Ann die makellose Haut. Rosa und weich. Sie musste sich zusammennehmen, nicht darüber zu streichen. Carla sah Ann. »Ann? Was mache isch ´ier?« Doch sie machte keine Anstalten sich zu bedecken. »Oh!«, Carla hatte den Kopf nach rechts gedreht. »John?« Jetzt saß sie im Bett. Ihre Augen waren groß und erschrocken. »Irvin? Wo ist Irvin?«

Ann zuckte mit den Schultern. Sie sah sich im Zimmer um. Ah, da lagen ja ihre Sachen. Am Boden! Bunt gemischt mit Carlas. Was hatten sie bloß getan? Sie ging zu dem Häufchen Stoff, klaubte ihre Wäsche heraus. Was für ein süßer BH und der Tanga erst, dachte sie, als sie Carlas Unterwäsche aussortierte. Und da lagen auch noch die Boxershorts von John. »Aou, mon dieu!« Carla saß auf der Bettkante. Sie beugte sich langsam, mit größter Vorsicht vor, suchte irgendetwas. Ann bewundere ihre süßen Halbkugeln.

»Hier«, sie gab Carla die Sachen.

»Darf isch?« Carla deutete auf das Bad. »Geh‘ nur. Ich habe noch was mit John zu bereden.«
«Morgen.« Irvin stand in der Tür. Ann sprang auf, hatte ganz vergessen, dass sie noch unbekleidet war. Schnell hielt sie ihre Kleidung vor ihre intimen Stellen. Von hinten hörte sie: »Und hinten?« John, der Schuft. Sie drehte sich um, und flüchtete zu Carla ins Bad. Die Tür schlug hinter ihr zu. Sie hörte die Männer lachen. Also war alles in Ordnung?

»Carla, was war gestern los?« Carla hob die Schultern.

»Isch weis nischt?« Sie wedelte mit der Hand vor ihrer Stirn. »Alles weg?!«

»Au weih«, sagte Ann, »Bei mir auch.«

 

Einigermaßen anständig angezogen kamen die Frauen zusammen aus dem Bad. Die Männer tranken schon Kaffee. Sie saßen nebeneinander auf der Bettkante. John zeigte auf seine Tasse: »Wir haben uns schon Kaffee gemacht und der Frühstückstisch ist gedeckt.« Irvin hatte nur Augen für Carla. »Dann geht euch waschen«, sagte Ann. »Brauchen wir nicht. Draußen in der Schafstränke war genug sauberes Wasser. Saukalt aber erfrischend. «

»Swimmingpool, Irvin. Das ist ein Swimmingpool! So ein Urwaldmensch!««

»Von mir aus.« Irvin winkte ab.

Sie aßen Sandwiches mit Orangenmarmelade und Schinken und Spiegelei.

»Sagt mal«, begann Ann vorsichtig. »Wieso…?«

Die Männer grinsten sich vielsagend an. Sie wussten!

»Nun, das war so.« Irvin versuchte, Worte zu finden. »Ihr beide ward ein wenig, wie soll ich sagen ...?«

»Besoffen.« half Ann.

»Genau. Ziemlich, sehr, also ganz schön besoffen. Ich musste zwölf Whiskey bezahlen, bei meinem Gehalt!« Ein Seitenblick zu John. Der zeigte keine Regung, sondern kaute gelassen an seinem Sandwich. »Ihr habt beide darauf bestanden, zusammen zu liegen.« Er machte nach, wie es ausgesehen hatte. »Iisch schlafe mit meine Schwestaaa.« Er schaukelt hin und her, hob einen Zeigefinger und fuchtelte, wie betrunken, in der Luft herum.

Ann: »Ach, Quatsch!«

Carla: »Non! Mon dieu!«

»Doch, doch! Wir haben euch nicht auseinander gekriegt. Ihr hab euch so aneinander geklammert, dass wir euch kaum aus den Sachen bekommen haben. Dann seid ihr ins Bett gefallen und habt geschnarcht wie eine Kompagnie Dragoner.«

Ann: »Mehr nicht?«

Carla: »Mehr nischt?«

Stille. Nachdenken, Erinnern. Nichts.

»Und warum waren wir ganz …?«

»Das waren wir nicht! Das ward ihr.«

»Und dann?«

»Ihr habt euch aneinander geklammert. John ist in sein Bett gestiegen und ich auf’s Sofa.« Er zeigte anklagend in Richtung Schlafzimmer. »Das Bett war mit einem Mal zu schmal und John ist einfach zu fett!«

Dann lachten John und Irvin aus vollem Halse, weil sie ein lustiges Erlebnis gehabt hatten, von dem sie bestimmt ihren Enkeln noch erzählen würden. Die Frauen lächelten beruhigt aber misstrauisch. Ann nahm Carlas Hand. Ohne Worte verstanden sie sich und atmeten unhörbar auf.

 

Irvin und Carla reisten ab. Ann saß mit John auf dem Sofa. Sie hatte die Arme unter Brust gekreuzt. »Habt ihr euch gut unterhalten?«

»Wie bitte?«

»Als ihr uns ausgezogen habt. Habt ihr euch dabei gut unterhalten?«

John sah sie konsterniert an. »Wie kommst Du jetzt darauf, Liebes?«

Ann war gereizt. Es hatte sie nicht beruhigt, zu hören, dass alles in »Ordnung« gewesen sei. Die Männer hatten sie ausgezogen! Ja, wenn es nur John gewesen wäre! Aber Irvin?

»Irvin …«

»Irvin war mit Carla beschäftigt. Er hat ihr sogar den Hintern geküsst. Du kannst beruhigt sein.« Sie schwiegen.

»Und Du?«

»Ich auch?«

»Carlas?«

»Deinen!«

»So …, aha.«

»Eigentlich hätte ich das Blaue vom Himmel herunterlügen sollen.«

»Was denn?«

»Na, zum Beispiel, dass Irvin Dich und ich Carla entkleidet und den Hintern …«

Sie sprang ihn an. Fauchte wie eine Raubkatze, die Finger zu Krallen gebogen.

»Wehe! Ich kratze Dir die Augen aus.« John ließ sich lachend nach hinten fallen. Genoss, wie sie sich auf ihn stürzte, fühlte ihren Körper und drückte sie an sich. Es folgte ein langer, langer Kuss und der gemeinsame Rückzug ins Schlafzimmer …

 

  1. Bergbau‹

 

Winter. Ann fühlte sich heute nicht so besonders gut. Hoffentlich hatte sie keine Erkältung? John rief an:. »Wir müssen nach Österreich! Kannst Du mitkommen?«

Sie konnte, sie war ja frei, freischaffend. Und Österreich? Das war neu für sie. Die Berge? Alle Mal!

»Wann?«

»Heute Abend noch. Jayden hat …«

»Mir egal. Hauptsache weg!«

 

Sie hoppelten von Flughafen zu Flughafen bis nach Innsbruck. In München stiegen sie letztmalig um. Ein Bus brachte sie ans Flugzeug, eine Propellermaschine. Ann sah gespannt aus dem Fenster. Der Chiemsee glitt unter ihnen hinweg, dann der Walchensee. Im Dunst waren die Berge zu erkennen. Der Flieger überquerte die Alpen bis er in das Inntal einschwenkte und sich elegant zum Flughafen eindrehte. Morgennebel wehte dünn über den Boden. Rechts und links wuchsen die Berge in die Höhe. Ihnen stand noch eine stundenlange Autofahrt bevor.

Meterhohe Schneeberge türmten sich rechts und links der Straßen. Es hatte an den Vortagen ununterbrochen geschneit. Ann war begeistert. Sie fuhren durch hübsche Städtchen und Dörfer mit ihren putzigen Häusern. Die Kirchen! Steile Berge, Hügel. Überall Menschen, die jeden nur erdenklichen Berg oder Hügel zum Skilaufen benutzten. Am späten Nachmittag hatten sie ihr Ziel erreicht. Müde und abgespannt. Am Ende der Straße und beinahe am Ende eines langen Tales. Hier lag das Hotel, einsam und still. Ann stieg aus, und sah sich staunen um. Sie war sofort wieder munter. Ann kam sich winzig vor, zwischen den Felstürmen, die sich majestätisch in den blauen Himmel reckten. Der dicke Schnee dämpfte die Geräusche. Langläufer zogen gemächlich oder im schnellen Lauf ihre Spur. Die Seilbahn zum Gipfel war einsam und verwaist. In großer Höhe zogen Flugzeuge vorbei; sie hinterließen schneeweiße Kondensstreifen. Ann breite die Arme weit aus. »Herrlich. Die Luft. So ganz anders. Weich.«

»Und kalt. Lass uns reingehen.« John hatte schon eine rote Nase.

Jayden hatte wieder was »aufgerissen«. Ein Hotelneubau. John hatte Ann im Flieger lang und breit vom Vorhaben erzählt. Ein moderner, sich selbst mit Energie und Wärme versorgender Bau. Seine Zeichnungen hatten ihr gefallen. Ja, sowas bei uns an der Küste. Da könne er noch was vom steten Wind abzweigen, hatte sie scherzhaft gemeint. Und er sah sie an. »Genial! Das merke ich mir.« Küsschen. Da sie aber keine Vorstellung von der Landschaft gehabt hatte, war ihr das alles irgendwie, nun ja, egal. Doch als sie aus dem Fenster sah, fragte sie sich, warum? Warum solch ein Klotz? Auf dem flachen Land hätte er gewirkt. Nur so für sich. Elegant, wenn auch rechtwinklig an allen Ecken. Beton, Holz, Glas. Photovoltaikdächer und -wände sollten den Strom liefern. Mit Wärmepumpen holten sie die Wärme nach oben. Er hatte noch schnell eine Windwalze entworfen, die quer auf dem Dach stehen und Strom liefern würde, wenn Wind wehte.

Jayden war auch noch angereist mit Ethan, dem Phantasten, im Schlepptau. Eine Großteil der Ideen stammten von ihm und John war unheimlich stolz auf den Jungen.

Am Nachmittag saßen die Männer zusammen. Sie berieten, stritten und rechneten. Ann hatte Zeit. Vormittags versuchte sie es mit Skilaufen. Es war anstrengend und langweilig alleine. Zum Zeichnen aber zu kalt. Jetzt saß sie schwitzend auf der Bank im Umkleideraum des Hotelbades. In den nächsten Tagen würden sie das ganze Hotel nur für sich allein haben, da es geschlossen worden war. Schon im frühen Herbst. Bereit zum Abriss. Doch die Eigentümer hatten sich mit den Projektanten überworfen und sich an O’Connell & Murray gewendet. Kein Abriss. Umweltgerechter Umbau, so lautete der Plan.

Sie sah um die Ecke. Ein Thermometer zeigte zweiunddreißig Grad Wassertemperatur. Wow! Also schnell runter mit den Sachen und hinein. Das war wohltuend. Ann hatte so etwas noch nie gemacht: Nackt im warmen Wasser eines großen Pools zu dümpeln. Das Wasser strich ihr sanft über die Haut. Sie legte sich auf den Rücken, schloss die Augen. Ihr wurde schwindelig. Schnell schwamm sie die drei Stöße zum Beckenrand und zog sich aus dem Wasser. Langsam stand sie auf. Ihr war noch immer übel und schwindelig. Ann lief zur Toilette. Sie übergab sich. Sofort dachte sie daran: Sie hatten schon lange nicht mehr verhütet. Wenn es jetzt geklappt hätte! Wann hatte ich die letzte Regel? Mit einem Kleenex trocknete sie sich den Schweiß von der Stirn. Ist schon ne Weile her. Freude kam in ihr auf. Sie trocknete sich ab.

Kritisch untersuchte sie vor dem Spiegel im Zimmer ihren Körper. Nichts Besonderes! Keine Veränderung. Wer weiß, dachte sie. Vielleicht doch das Essen. Und wenn nicht? Wollten wir ein Kind? Was hatte John gesagt? Hatte er überhaupt von Kindern gesprochen? Und wenn er nicht wollte? Langsam zog sie sich an. Dann eben nicht! Ich kriege es auch allein groß. Was brauche ich denn einen Mann. Nur zum Kindermachen. Ihre Haare trockneten schlecht, obwohl der Fön einen infernalischen Lärm verursachte. Wir werden heute darüber sprechen müssen. Als sie die Treppen zum Zimmer hinaufstieg wurde ihr wieder übel. Wenn das nicht nachlässt muß ich zum Arzt. Dann:

Was denke ich denn da. Er liebt mich, ich liebe ihn. Was heißt, Kinder allein aufziehen? Klar geht das auch, doch für sie nicht ohne John!

Sie atmete auf. Jetzt war Ann überzeugt schwanger zu sein, denn solche kruden Gedanken konnten nur Schwangere haben, hatte sie gehört. Woher sollte sie wisse, wie sie tickte?

John kam müde und abgespannt ins Zimmer. »Duschen!« Ein Küsschen. Dann hörte sie es rauschen. Sie ging hinterher, lehnte sich an die Badtür und sah ihm zu. Ann erfreute sich an seinem Körper, die breiten Schultern, schmale Hüfte und ein winziger Bauchansatz. Kräftige Beine. »Duhu, sag mal?«

»Was?«

»Sag mal …«

»Mal.«

Ann sah seine müden Augen. Er ließ das Wasser über das Gesicht strömen.

»Wenn ich nun schwanger bin, wäre …«

»Dann?« Er seifte sich ein.

»Was würdest Du dazu sagen?«

Stille. Der Seifenschaum lief an seinem Körper herunter. Er sah sie kritisch an. »Bist Du?«

»Weiß nicht. Ich wollte nur wissen, was Du davon hältst.«

»Hast Du verhütet?« Er sah sie ernst an. Jetzt bin ich an allem Schuld! Sie spannte sich an. Immer sind die Frauen Schuld!

»Nein, Du auch nicht«, fauchte sie.

»Dann bist Du schwanger«, stellte er sachlich fest. In seinem Gesicht konnte sie nichts lesen.

»Ja, bin ich«, rief sie trotzig. Wahr oder unwahr. Egal!

John kam aus der Dusche. Seife und Wasser tropfte auf den Boden. Sie wollte zurückweichen, doch er hatte sie schon bei den Schultern. Seine Arme schlossen sich um sie. So nass wie er war, drückte er Ann fest an sich, küsste ihr das Gesicht. Das genügte ihr. Sie lockerte sich, ihre Arme legten sich um seine Hüfte, zogen ihn an sich heran. Sie spürte, wie das Wasser durch ihre Kleider drang. »Ich werde nass«, flüsterte sie, doch das war ihr Wurst! Dicht an ihrem Ohr hörte sie ihn flüstern: «Danke, meine Liebe. Danke. Ich habe es mir so gewünscht.«

 

Beim Abendessen, Jayden und Ethan waren noch im Nachbarort: »Weisst Du schon was es wird?«

Ann war in Gedanken. »Was soll was werden?«

Er zeigte mit dem Messer auf ihren Bauch.

»Ach so! Kindskopf! Selbst wenn«, sie betonte ‚wenn’, »ich schwanger wäre, wäre es viel zu früh um das festzustellen.«

»So. Sicher?« Er kaute an seinem Schinken. »Dann werde ich schon mal den Umbau planen.«

Ann hatte es sich bisher noch nicht gewagt. Sie hatte sich im Stillen gewünscht, dass sie in ihr Haus ziehen würden, nach der Hochzeit. Aber es war soviel geschehen in den letzten Monaten, dass sie nicht dazu gekommen war. Ob er denn sein Haus verkaufen würde?

»Sag mal«, begann er, »wenn ich nun mein Haus …«

Er wird doch nicht?

»… verkaufen würde und wir bauen …«

Sie sprang auf, lief um den Tisch herum, und umarmte John. »Ich hatte es nicht gewagt.« John zog sie zu sich auf den Schoß. Mit dem Zeigefinger stupste er ihr auf die Nase. »Wir haben noch ne Menge zu lernen.«

Ann stupste zurück. »Du aber auch!«

»Ich sagte: wir.«

»Aber Dein schönes Haus?«

»Ach was! Das werde ich mit Kusshand los. Ne Junggesellenbude, wie diese geht weg wie frischer Fisch.«

»Ich will mir Dir ins Bett«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Er war mit den Gedanken woanders. »Wir lassen den Hof stehen, wie er ist, und bauen alles … Jetzt? Geht denn das? In Deinem Zustand?«

»Sofort, unverzüglich!«

Er nahm sie auf die Arme, trug sie nach oben, bis ins Zimmer. Ann klammerte sich an seinem Hals. Mir großen Augen sah sie ihm ins Gesicht. Und als sie ihm mit zitternden Händen das Hemd über den Kopf zog …

 

 

  1. Reise, Reise

 

Carla fuhr. Sie hatte sich schnell an den Linksverkehr gewöhnt. »Nicht so schnell!« Irvin stemmte sich mit den Füßen gegen die Karosserie, doch Carla lachte. »Wir müssen doch die Fähre erreichen.«

»Ja, doch, aber lebend! Lebend!«

Ein Trecker kam ihnen entgegen. Carla raste über den Seitenstreifen. Staub wallte hoch. Wasser aus gelegentlichen Pfützen spritzte zur Seite. Irvin hatte die Augen fest zusammengekniffen. Er wollte sein eigenes Ableben nicht auch noch sehen. Carla lachte, war wieder auf den Asphalt gelenkt und raste weiter. Irvin ergab sich Gott und den tausend Göttern Ägyptens. Sicherheitshalber. Herr, wenn Du mich hörst, steh mir bei. Bitte! Blass hockte er in seinem Sitz. »Entspann Dich, Süßer. Genieß die Landschaft.«

Zwischen den fest zusammengebissenen Zähnen knurrte Irvin: »Kenne ich doch! Bin hier geboren.« Und dachte: Herr im Himmel, ich habe noch kein Testament gemacht! Seit Afrika hatte er nicht wieder solche Angst gehabt.

 

Sie waren auf dem Heimweg von einem Urlaub, den Carla sich nicht besser hätte vorstellen können. Irvin erwies sich als ein Kenner Irlands. Er hatte überall Freunde. Jedenfalls schien ihr das so. Bei aller Härte und Reserviertheit, die die Iren nach Außen hin zeigen, sind sie ein gastfreundliches Volk. Ihr trockener Humor, dessen Pointen sie nicht immer verstand, aber brav darüber lachte, gefiel ihr. Und die lockere Art, das Leben zu hinzunehmen, wie es ist.

Es gefiel ihr überall. Ob nun die Westküste, mit ihren schroffen Felsen, die weit in den Nordatlantik reichten, die wundervoll grünen Wiesen, die netten Dörfer. Die kleinen Städte, die so ganz anders und doch auch so ähnlich wie in der Normandie waren. Sie waren auf Berge gekraxelt, deren Namen Carla nie im Leben jemals würde aussprechen können und hatten am Rand von Klippen gestanden, die senkrecht metertief zum Meer abfielen. Sie waren in Dublin, an der »Mauer« und sie dachte an Berlin, die sie nie gesehen hatte. Nur davon gehört. Und sie liebte die Pubs, ob in der Stadt oder auf dem Land. Und Irvin!

Irvin hatte sich einen Laptop gekauft. So einen kleinen mit wenig Programmen. Was er an Technik brauchte, war etwas für Texte. Er schrieb erst ins Unreine. Mal eben schnell, was ihm durch den Kopf ging, woran er sich erinnerte, worüber er sich schon getraute zu schreiben.

»Darf ich schon lesen?« fragte sie ihn, als sie schon im Bett lag (verführerisch nackt) und er noch am Tisch auf die Tasten schlug. Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Bald.« Er sah sie nicht einmal an. Schade. Sie deckte sich zu.

»Ich hab’s gesehen. Bleib so.« Tastenklappern. Sie schob die Unterlippe vor. Wie ein kleines Kind.

»Ich will aber.«

»Lesen?«

»Nein. Jetzt. Komm!«

»Du störst.« Sie sah, dass er übers ganze Gesicht grinste. Aha, er konnte es auch kaum erwarten! Sie wartete geduldig, rekelte sich lasziv auf dem Laken. Schnurrte. Die Tasten klapperten schneller.

»Fertig!«

 

»Das war schön«, hatte er beim Frühstück gesagt. Der erste Satz nach dem gestrigen Abend.

Er war einfach auf den Rücken gefallen und sofort tief eingeschlafen. Die Alpträume waren fort, das Zähneknirschen nicht. Sie lagen zufrieden nebeneinander. Carla sah Irvin von der Seite an. Ein schönes Profil. Das Kinn markant, selbstbewusst vorgeschoben. Was er schon alles erlebt hatte! Sie fuhr mit dem Zeigefinger von seiner Stirn sanft über seine Nase, die Lippen und den Hals. Weiter: Die Brust, den Bauch. Weiter. Er hatte ihr den Kopf zugewendet. Große dunkle Pupillen. Winzige Sommersprossen und Schweißperlchen. Sie ließ die Hand wo sie war.

»Sommersprossen. Wo hast Du überall Sommersprossen« fragte sie leise. Er rollte auf sie zu.

»Such doch.«

Küsse, Zungenspiel. Noch einmal und noch einmal. Dann schliefen sie tief und fest und lange.

 

Der Urlaub war also zu Ende. Carla steuerte mit wahnsinniger Geschwindigkeit Rosslar an, die Fähre nach Cherbourg noch zu erreichen. Würden sie es nicht schaffen, müßten sie eine halbe Woche warten oder eine andere Alternative suchen. »Und fliegen?«, Irvin. Carla: »Nee. Ich will es genießen! Dann mieten wir uns ein Ruderboot.«

Sie genoss es.

Auf der Fähre bezogen sie eine Zweier-Kabine. Eng wie eine Sardinenbüchse. Aber sie wären achtzehn Stunden unterwegs und da wollte Carla noch ein wenig ruhen. Es ging nicht. Der Kanal war wie so oft unruhig. Große Wellen ließen die Fähre schaukeln. Trotz eines Geländers an der Koje rollte sie hin und her, und fand keinen Halt. Irvin lag oben und lachte. »Ist Dir nicht schlecht?«

»Nöö«, sagte er von oben, »und Du?«.

»Alles Okay. Nur das Hin und Her ...«

Er sah herunter. »Soll ich Dich festhalten?«

»Au ja, bitte. Das Geschüttel hält ja kein Mensch aus.«

Er kam, legte sich neben sie. Jetzt lagen sie so eng nebeneinander, dass sie sich kaum bewegten konnten und auch nicht hin und her rollten. Doch die Hände waren frei. Und wieder war an Schlaf nicht zu denken. Carla tröstete sich: Dann schlafe ich eben im Zug.

 

 

  1. Abenteur

 

»Die Diagnose lautet: Sie sind schwanger.« John drückte Ann die Hand, die Ärztin strahlte über das ganze Gesicht. Was, zum Henker, daran ist so erfreulich, dass man strahlen muß wie ein Honigkuchenpferd? Sie kriegen keinen dicken Bauch Frau Doktor und John auch nicht. Ich schleppe mich acht, neun Monate mit dem Kind ab!

Und doch war sie glücklich! Die harten Gedanken waren nur der unbewusste und unglückliche Versuch ihre wahren Gefühle zu verbergen. Sie hielten sich an den schweißnassen Händen. »Es wird ein Junge!« John strahle. »Ein Junge!«

Draußen schmollte Ann. »Ich wollte aber ein Mädchen.«

John zuckte die Schultern. »Da bin ich unbeteiligt! Ihr Frauen bestimmt, was es wird, mit euren komischen Chromosomen.«

»Weiß ich ja. Aber wenn er, dieser Junge, angekommen ist, versuchen wir ein Mädchen?«

»So viel Du willst! So oft Du willst. Jeden Tag.«

»Lüstling!«

»Hast Du schon über einen Namen…«
»Lass ihn doch erst einmal kommen!«

»Okay. Nepomuk?«

»Verschwinde, Garstiger.«

 

Ruby erfuhr als erste davon. Sie flippte schon am Telefon aus. »Ann, Liebes, wie freue ich mich.« Sie hatte sich zwar sofort auf den Weg gemacht, doch feierte sie mit Ann das Ereignis allein, denn John war gleich von der Klinik aus wieder einmal nach Frankreich gereist.

Der Bau war vorangekommen. Ihre neuen Vertragspartner arbeiteten gewissenhaft. Carla regierte selbstbewusst mit der nötigen Härte.

Als er in V. eintraf, stand schon das gesamt Gerippe des Hauses. Kräne schwangen hin und her. Männer liefen auf den Stahlträgern herum, schraubten, schweißten, maßen, riefen sich Witze zu. Es lief.

Das sagte auch Carla. Sie stand neben ihm. »Wann heiratet ihr?« fragte John.

»Wir hatten noch nicht darüber gesprochen. Vielleicht hat Irvin Angst, sich zu binden?«

»Hm. Kommst Du heute Abend?«

»Ins Hotel?«

»Ja?«

»Gut. Irvin ist sowieso nicht hier. Er versucht, einen Verlag zu finden. Weißt Du, wieviel Verlage es allein in Paris gibt?«

»Nein. Muß ich das?«

»Nein. Um acht?«

»Gern. Wir sehen uns in der Bar.«

 

John taten die Füße weh. Am liebsten wäre er sofort aufs Zimmer gegangen, denn wenn er gewusst hätte, was für ein Tag das wird, hätte er auch nicht Carla in die Bar eingeladen. Aber nun war es einmal passiert. Er saß in einem bequemen Ledersessel, gähnte herzhaft und streckte die Beine aus. John sah auf die Uhr. Halb sieben. Noch anderthalb Stunden und ein paar Minuten dazu, denn in Frankreich kommt man niemals pünktlich zur Verabredung.

»Darf ich?«

John sah auf. Eine Frau. Er sah sich um. Tatsächlich, alles besetzt, sogar die Barhocker.

»Ähm, ja, gerne.«

Sie setzte sich graziös in den Sessel, seufzte. »Was für ein Tag!«

»Wie meinen?«

»Ach nichts. Ich mußte es nur laut aussprechen.«

»Geht mir auch so. Das entspannt.«

»Nicht wahr!« Sie bestellte einen Coktail.

»Mir bitte noch einen Whiskey!«

»Darf ich fragen …« beide zugleich. Sie lachten. Er: »Sie zuerst.«

»Was machen Sie hier?«

»Aufpassen. Auf das Hochaus.«

»Was, diesen Klotz?«

»Hören Sie mal. Das wird kein Klotz!«

»Ach nein?«

»Nein. Haben Sie sich den Bau genauer angesehen?«

»Wenn ich ehrlich sein soll? Nein. Nur davon gehört.«

Jetzt kam John in Fahrt. Er erzählte, erläuterte, beschreb. Malte mit den Fingern und den Händen Figuren in die Luft. Sie saß still daneben, hörte aufmerksam zu, schwieg, lächelte.

Als er fertig war, sagte sie trocken: »Sie sind der Architekt, stimmt’s?«

»Ja und nein. Die Skizze stammt von mir, sozusagen die große Idee. Aber das Projekt haben unsere jungen Leute gemacht.« Er sah begeistert aus. »Wie die sich reingekniet hatten. Diskutiert, gestritten, gerechnet. Tolle Arbeit!«

»Und darum haben wir jetzt hier in V. noch so einen Turm?«

»Nicht wegen meiner jungen Leute! Da ist die Bank, der Konzern …« er zählte an den Fingern auf, wer alles einen solchen Bau wollte. »Tut mir leid, wenn er ihnen nicht gefällt.« Sie schwiegen.

»Darf ich Sie zu einer Besichtigung einladen?« Sein Handy brummte auf dem Tisch. »Entschuldigung. Ja. Carla.«

Er hörte aufmerksam zu. »Nein, kein Problem. Ruh’ Dich aus. Mir geht es ebenso. Gute Nacht.« Der Cotail und der Whisky kamen.

»Verabredung geplatzt?«

»Eine Mitarbeiterin. Wir wollten noch einmal ein paar Dinge durchgehen. Aber sie hat gesagt, sie ist zu müde dazu.«

»Und das lassen Sie so durchgehen. So als Chef?«

»Was nützt mir eine müde Mitarbeiterin, die nichts mehr in ihr Köpfchen bekommt, wenn sie dagegen morgen munter, taff und aufnahmebereit ist?«

»Stimmt. Sie kommen nicht aus Frankreich, nicht war?«

»Irland.«

»Oh, das wollte ich schon immer mal besuchen.«

»Tun Sie es. Rufen Sie mich dann an.«

»Schelm. Sie sind verheiratet!«

Er nickte. »Glücklich.«

»Sie sprechen sehr gut französisch.«

»Ich hatte vielleicht gute Lehrer?«

»Darf ich Sie nach ihrem Namen fragen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Ich heiße John.«

»Clarisse.«

»Clarisse! Zum Wohl, Clarisse. A’Santé.«

Sie tranken sich zu.

»Und Sie, was machen Sie. Ich habe ihnen mein Ganzes offenbart. Jetzt sind Sie dran. Zug um Zug!«

Clarisse lachte glockenhell. Ihm lief ein wohliger Schauer über den Rücken. Carla und Ruby lachten auch so. Er fühlte wieder Rubys Brüste in seinen Händen. Carlas bewegliche Hüfte …

»Ich bin Journalistin. Schreibe aber auch Bücher.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Und wie es der Teufel will, ist wohl auch meine Verabredung geplatzt.« Sie kramte umständlich ihr Handy aus der Handtasche. »Na, da steht es! Wird heute nichts.« Sie steckte es wieder weg.

»Was nun«, fragte er.

»Trinken wir noch was.«

»Sind Sie allein?«

»Heute ja. Sonst: Nein, verheiratet. Glücklich.«

»Sie also auch?«

»Tja!«

Schweigen.

»Was ist, kommen Sie morgen zur Baustelle? Soll ich Sie abholen?«

 

Clarisse fand diesen John sympathisch. Sie dachte an Renè, der irgendwo im Süden herumschwirrte. Sie dachte an Frejus und die netten Perriers. »Erzählen Sie von sich«, forderte John. Clariss’ Augen leuchteten, als sie über ihre Arbeit sprach. Und auch ihr Mann spielte ein Rolle dabei. Später gingen Sie an die Bar. Er blieb bei seinem Whiskey, sie beim Cocktail.

 

Das Handy summte auf dem Nachtisch. John tastete danach. »Ja, Murray von O’Connel und Murray?« Carla! Sie stand auf der Baustelle, und wartete schon seit einer Stunde. Die Ärmste! Moment! So spät schon. Wie konnte er verschlafen?

Er setzte sich auf. Ihm schwindelte. Draußen war es hell. Der Straßenverkehr rauschte vorbei. Wieviel Whiskey waren das gewesen? Oh weih. Er würde mit dem Taxi fahren müssen.

»Au«, verkündete eine Stimme hinter ihm. Nicht umdrehen. Das ist nur ein Traum! Er drehte sich trotzdem um. Lange rote Haare strömten über das Kopfkissen. Das Deckbett bog sich in ausgeprägt weiblichen Formen. Kein Traum! Clarisse!

 

Er erinnerte sich: Sie hatte darauf bestanden, ihn nach Hause zu bringen. »Ich kenne mich hier aus!« hatte sie so süß gelallt und ihn an der Hand hinter sich hergezogen, wie einen kleinen Jungen. Er hatte es für einen Spaß gehalten.

»Aber, Sie müssen doch noch zu sich nach Hause. Wir rufen Ihnen eine Taxe!« Sie war einfach in sein Zimmer geschlüpft.

Clarisse hob den Zeigefinger: «Nein, zu hause ist es jetzt so kalt. Ich bleibe!« Ihr Lallen war einfach zu niedlich. Er lächelte. Sie war ins Bad gestolpert.

Er versuchte nüchtern zu denken, obwohl es ihm schwerfiel. »Wo wohnen Sie?« rief er, den Telefonhörer in der Hand.

»Weiß ich nicht mehr.« Die Dusche rauschte.

Er legte wieder auf. Was nun?

»John?« Er schwieg.

»Johohnn!«

»Ja?«

»Komm. Hilf mir mal.«

Er stand auf. »Soll ich mir vorher die Augen verbinden?«

»Nein. Helfen Sie mir lieber.«

Er ging ins Bad. Da stand sie. Unter der Dusche. Die Brause war abgestellt, Tropfen fielen aus der Brause auf ihre nassen Haare. Sie sah ihn hilflos an. »Sehen Sie?« Er sah! Sie hatte ihre Sachen noch an. John konnte nicht anders. Er prustete los und dann lachten sie beide. Er half ihr aus den Sachen, hing sie irgendwohin, wo Platz war. Den Rock auf die Heizung, die Bluse, den BH über den Handtuchhalter.

Mit dem Handtuch wollte er ihre Haare trocknen, doch sie knöpfte seine Hose auf, zog ihm das Hemd über den Kopf. Und er ließ es geschehen. Ihre Augen waren schwarz, ihre Hände fuhren nervös zu seinen Unterleib. Sie zog ihn in die Dusche, drehte den Hahn voll auf. Das Wasser strömte über ihre Körper, rieselte die Haut herunter und nässte die Kleidungsstücke, die sie noch anhatten. Warum hatte er sie nicht abgewehrt? Weil Du ein Mann bist und irgendwann setzt der Verstand aus …

 

 

Neben dem Bett lagen malerisch verteilt ihre Strümpfe, der Tanga dicht an der Badtür. Und seine Sachen?

»John?« Clarisse saß auf der Bettkante.

»Ja.«

»Du bist ein schöner Mann.« Er sah an sich herunter. »Ja?«

»Ja. Vor allem morgens, so groß und stark!«

Er ging auf sie zu. Sie streichelte ihn, sah von unten zu ihm auf. Plötzlich ließ sie ihn los. »Die Baustelle! Und ich habe mittags noch einen Termin. Wie spät ist es? Meine Sachen! Was machst Du in meinem Zimmer?« Dabei lächelte sie, schüttelte ihre Haare und sah so schön aus, wie sie da saß, und er wollte am liebsten alles vergessen, wenigstens für einen Tag.

»Können wir nicht anrufen? Du bei deinem Termin, ich bei meinem und wir gehen morgen auf die Baustelle?« fragte er mit rauer Stimme, denn sie streichelte ihn schon wieder - da unten.

»Ja«, hauchte sie und ließ sich auf den Rücken fallen. Ann, verzeih mir, dachte er noch.

 

 

 

  1. Schlimme Nachrichten

 

Clarisse. John. Sie kamen sich vor wie Schüler, die einen Streich gemacht hatten und nun auf ihre gerechte Strafe warteten. Er hatte sich bei ihr bedankt und verabschiedet. Ihr Blick war traurig und gleichzeitig schien sie erleichtert. »Kommst Du mal nach Irland?« hatte er gefragt und sie hatte unbestimmt gehaucht. »Vielleicht?« Ein zarter Kuß auf die Wange. »Interessantes Land.«

John hatte von Irvin erzählt und seinen Bemühungen, einen Verleger zu finden. »Ich frage meinen. Sag Deinem Irvin, er soll mir seinen Text schicken. Ich sehe ihn mir an.«

»Was Du alles kannst!«

»Ich bin auch Lektorin beim Verlag.«

»Oh, Verzeihung.«

 

Im Flieger machte er sich Skizzen von dem neuen Haus. Manchmal lenkten ihn noch die Erinnerungen an Clarisse ab, dann saß er gedankenleer da, und starrte aus dem Fenster auf die Welt, da unten. So winzig, so weit weg.

Sein Plan war, in das neue Haus das alte von Ann einzubeziehen, zu integrieren. Auch die Nebenbauten des ehemaligen Bauernhofes. Es waren so landestypische Gebäude, dass es eine Schande gewesen wäre, auch nur einen Stein davon abzureißen. Und nicht nur das: Er hätte Geschichte, Erinnerungen zerstört.

Auf dem Papier erschien ein Zwitterwesen aus Alt und Neu, Feldsteine und modernes Design. Granit, Beton, Stahl, Glas, Holz. Gleichzeitig würde es ein energieeffizienter Bau werden, der sich nahezu alleine versorgte. Die Klippe - war die Klippe! Wie lange würde sie noch halten, bis ein Stück abbrach, wie ein paar Kilometer weiter nördlich. Dort war der Fels samt Haus ins Meer gestürzt. Zum Glück waren die Bewohner bereits vorher ausgezogen. Doch er wollte die Klippe gerne einbeziehen in das ganze Projekt.

Am Ausgang wurde er von Ann und Ruby mit Grace auf dem Arm, in Empfang genommen. Die beiden Frauen warteten mit gespanntem Gesicht Arm in Arm auf dem Vorplatz. Ann winkte und strahlte jetzt. Er freute sich, als er sie sah. Seine Ann! Ich bin zuhause! Ihm wurde leicht.

Er umarmte Ann, drückte sie an sich und gab ihr einen langen Kuss. Ruby schüttelte sie beide an den Schultern. »Ich bin auch noch da! Lass mir was übrig, Ann!«

»Papa?« Grace.

Auf der Fahrt zu Ann, schwatzten die beiden Frauen fröhlich durcheinander. Sie hätten einen solventen Käufer gefunden, für das Haus. Der Preis schien aber zu hoch. »Dann lassen wir es«, entschied John.

Dann, am Küchentisch, legte er seine Entwürfe vor.

»Und wo ist mein Atelier?« fragte Ann. Und Ruby: »Und wo ist meine Werkstatt?«

John wehrte erschrocken ab. »Nein, nein! Auf keinen Fall! Nicht mit zwei Frauen unter einem Dach!« rief er. »Drei!« verbesserten ihn Ann und Ruby zugleich.

»Ich will einen Jungen!« rief er.

Ann streichelte seine Wangen: »Kriegst Du.«

»Was ist mit Pat?«

Ruby wurde still. »Wieder im Krankenhaus.«

»Ach du heilige Sch… Und?«

»Es sieht schlecht aus.«

Er sah sich um. »Wo ist Grace?«

»Sie schläft oben.«

»Und weiß sie’s?«

»Mann! Das versteht sie doch noch gar nicht.« Ann.

Sie schwiegen. Ein böser Gedanke kroch durch sein Hirn. Mir beiden Frauen zusammen, das hat was! Und dann noch Carla und Clarisse dazu … Er lachte innerlich. Spinner! Eine Ann genügte schon, um ihn außer Atem zu bringen.

»Was kicherst Du?«

»Nix, nix. Nur so.« Ann zog misstrauisch eine Augenbraue hoch.

Sie machten sich wieder über den Entwurf her. Ruby würde ihre Werkstatt bekommen, mit Blick aufs Meer, wie Anns Atelier. »Was wird Pattrick dazu sagen?« Ruby winkte ab. Zufrieden lehnte er sich zurück. Den Entwurf würde John an Ethan weitergeben. Soll der mal seine Phantasie walten lassen.

Telefon. Er wollte aufstehen, doch Ann war schneller. »Ruby, für Dich.« Ihr Gesicht war ernst.

Rubys wurde blass. »Nein«, sagte sie bestimmt, dann: »Nein! Bitte, oh Gott …«

Ungehemmt weinte sie los. Es brauchte keiner Erklärung. Ann nahm sie in ihre Arme, streichelte ihren Kopf. »Oh Grace«, rief Ruby. Jetzt weinte auch Ann, und Johns Augen füllten sich mit ungewohnter Feuchtigkeit.

»Mama?« Grace. Sie war aus dem Bett geklettert, die Treppen heruntergekrochen und stand nun im Nachthemd barfuß am Fuß der Treppe. John nahm sie auf den Arm. Grace zeigte mit ihrem kleinen Fingerchen auf Ruby. »Mama. Weinen.«

 

Sie hatten Pat noch gesehen. Waren ins Krankenhaus gerast. Man hatte ihn noch nicht weggeschafft und auch der Pathologe konnte sich noch nicht auf ihn stürzen. Ruby wurde blass, als sie Pattrick sah. »So weiß«, flüsterte sie. Sanft, als wolle sie Pat nicht aufwecken, strich sie über seine Wange. Fremd war er ihnen jetzt: die spitze Nase, eingefallene Wangen, gläserne Haut, unter der sich die Adern abzeichneten. Ruby hielt seine kalte Hand. Schmal jetzt und kraftlos. Doch sein Gesicht war ruhig. Nicht verzerrt, sondern als wäre er eingeschlafen in dem Bewusstsein, es wird Ruby und Grace gut gehen.

Leise traten ein Arzt und Krankenhelfer in das Zimmer. »Madam? Unser herzlichstes Beileid.«

»Danke.«

»Ich kannte Ihren Mann und seine Arbeiten. Ich bedaure zutiefst sein Ableben.« Das kam von Herzen. Ruby gab dem Arzt einen Kuss auf die Wange. Der hielt seine Hand auf die Stelle, als müsse er erst realisieren, was das gewesen sein könnte. »Dürfen wir dann, Ma’am?«

»Ja bitte.«

 

Das schrecklichste sind all die Formalitäten. Urkunden, Notare, Banken, Versicherungen, die Universität. Und natürlich die Beisetzung.

Ann half Ruby, wo sie nur konnte. John betreute indes Grace, und lernte so ganz nebenbei, was es bedeutet, ein Kind zu versorgen. »Gut gemacht!« lobten ihn die Frauen. Und er war stolz.

 

Scheinbar trauerte auch der Himmel. Und das tat er ausgiebig und reichhaltig. Unter hunderten von schwarzen Schirmen standen die schwarz gekleideten Trauergäste, und nahmen Abschied. Ann hatte Ruby fest im Arm. »Ganz Irland ist gekommen«, flüsterte sie Ruby zu. Und die lächelte vorsichtig und sacht, wenn sie die Beileidsbekundungen entgegennahm.

Es gab keine Feier. Es gab keinen Grund dazu. Sie zogen sich zu Anns Haus zurück. Hier wollten sie noch einmal still Abschied nehmen. Still. Das taten sie auch. Der Regen hatte schlagartig aufgehört, als sie den Friedhof verließen. Nun saßen sie vor der Veranda, im Hintergrund spielte im Radio eine Band irische Folksongs. Sie sahen aufs Meer, das seit Ewigkeiten zu bestehen schien. Unvorstellbar lange schon. Was ist dagegen die Lebenszeit eines Menschen. Nicht einmal ein Wimpernzucken!

 

 

John hatte nicht viel zu tun. Alle Bauvorhaben liefen wie am Schnürchen. Er genoss es, hatte Zeit für Pläne und Jayden hatte aufgehört Aufträge zu generieren. »Ich möchte nächstes Jahr in Rente gehen. Wenn Du weitermachen willst, kümmere Dich selbst.« Das klang schroffer, als es gemeint war. Und Jayden hatte ja Recht. Er hatte das Unternehmen in den Wohlstand geführt. John erwog, O’Connell & Murray zu verkaufen. Die Jugend würde bestimmt weitermachen wollen. Und er könnte ihnen ja dabei helfen. Eine Stelle als Dozent an der Kunstschule war auch noch für ihn offen. Ob er Carla nach Irland holen sollte? Geschäftlich war sie taff und hatte in der Normandie ein paar gute Aufträge besorgt. Mal fragen.

Sein Handy meldete sich. Clarisse schickte eine SMS. »Habe Irvins Erzählung gelesen. Tolle Sache! S. ist einverstanden. Er wird sie verlegen. Irvin soll sich bei mir melden.«

Irvin. Der ruhende Pol in Frankreich. Nicht der Spitzenarchitekt. Ihm fehlen Phantasie und Visionen. Ein zuverlässiger ‚Sachverwalter’. Ob er ein besserer Schreiberling ist? Was habe ich gerade gedacht? Keine Phantasie? Doch! Aber nicht für den Bau.

»Irvin, Alter. Du sollst Dich mit Deinem Geschreibsel ...«

»Geschreib...?«

»... bei einer gewissen Clarisse melden.« Er gab die Adresse durch. »Hast Du? Und dass Du mir nicht fremd … Ja, eine absolut … was? Ich? Nein, was denkst Du denn … Entschuldige schon! Ich habe ja Ann. Grüß Carla.« Schwindler, der ich bin. Ach ja, Clarisse, die rothaarige, sanfte Schöne! Und Carla, mit dem biegsamen Körper, der weichen Haut und den Frierpickeln beim Duschen.

Plötzlich vermisste er Ann. »Ann!?«

»Ja, Lieber? Was ist?«

Er atmete auf. »Nichts. Ich wollte nur Deine Stimme hören.« Und deinen Körper spüren, setzte er in Gedanken fort.

»Wie lieb von Dir.« Nicht wahr?!

Er ging ins Atelier. Von hier konnte er in die Werkstatt von Ruby sehen. Sie hatten erst einmal eine provisorische Werkstatt angebaut. Bis das »Haus an der Klippe!« fertig werden würde, zögen Sie in das Haus von Pat. Es war bald soweit.

Ann saß auf einem Drehhocker vor einer riesigen Leinwand. Er sah sie von der Seite. Ein warmes Gefühl durchströmte seinen Körper, das Herz schlug schneller. Ihr Profil. Er nannte es griechisch-römisch. Sie hatte heute die Haare auf dem Hinterkopf zusammengesteckt, so dass es aussah, als hätte sie ihre Frisur direkt einer griechischen Statue entliehen. Der Busen hatte an Größe zugenommen, das Bäuchlein mit seinem (seinem!) Jungen war deutlicher ausgeprägt. Ann konnte nicht mehr so lange stehen. Unter ihrem kurzen Kittel lugten ihre schönen Beine hervor. Barfuß! Der Junge wird sich eine Erkältung zuziehen.

Ruby stand in der Zwischentür. In einem Bettchen, das im Atelier stand, schlief Grace.

»Stattest du uns armen trauernden Weibern auch mal einen Besuch ab?« rief sie.

»Ich komme vom Jugendamt. Man hatte uns gemeldet, dass ein Kind vernachlässigt wird.« Er ging mit strengem Gesicht auf das Bettchen zu. Er zeigte darauf. »Es handelt sich um diesen corpus delecti! Man gibt ihm nicht die Brust.«

»Nein, Herr Inspektor. Sie haben sich in der Hausnummer verirrt«, flötete Ruby zuckersüß. Und wurde plötzlich zur Furie: »Fassen Sie mein Kind nicht an, sonst kratze …«

Er wich lachend zurück. Grace lallte etwas und Ruby stürzte sich sofort auf das Bett. »Ach, meine Kleine. Der böse, böse Onkel hat Dich geweckt.« Sie bedachte John mit einem giftigen Blick.

»Was wird das, Ann.« John sah Striche und Formen auf der Leinwand.

»Ein Auftragswerk für das Refektorium des Klosters in M.«

Er stellte sich vor das Werk. »Ja, großartig, kann man sagen. Doch. Das heilige Abendmahl. Stimmt’s?«

»Quatschkopf. Maria mit dem Kinde. Hast Du nichts zu tun?«

Er ging zu Ann. »Ich will Dich«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie legte den Kopf schief, denn es kitzelte.

»Lass mich arbeiten«, sagte sie schwach. »Kümmere Dich um das ‚Haus an der Klippe’.«

Ruby stand hinter ihnen, Grace auf dem Arm. »Kann ich euch helfen?«

»Nein«, riefen beide wie aus einem Mund.

 

Wochen später. Sie waren umgezogen. Mit allem was bei Ann gestanden hatte. Und das war viel, obwohl sie noch mehr weggeworfen und verschenkt hatten.

Der Bauch von Ann wurde größer. John zeigte darauf. »Was soll das mal werden? Eine Fußballmannschaft?«

 

Er beaufsichtigte den Bau. Wie ein Luchs schlich er herum, und passte auf, das von den alten Bauteilen nichts verloren ging. Eine Plattform schob sich frei schwebend über die Klippe. Zehn Meter würde sie überstehen, zehn Meter breit sein, abgefangen durch Stahlträger, einem gewaltige Betonquader und ellenlangen Stahlbolzen im Fels. Mit Glas verkleidet für viel Licht im Atelier und in der Werkstatt von Ann und Ruby. Er hatte sich damit abgefunden, mit zwei Frauen zusammenzuleben. Ann spornte ihn an, Ruby regte seine Phantasie an. Und, was das Beste war: Beide waren ausnehmend schöne Frauen. Und Freundinnen. Pat, Alter, wenn Du das sehen könntest! Er blickte zum Himmel, als würde Patrick auf einer Wolke sitzen, und sie beobachten.

 

 

  1. Verführung

 

Clarisse saß hinter ihrem Schreibtisch. Therese hatte Besuch angekündigt. Einen gewissen Irvin.

»Herein mit ihm.«

Oh, dachte Clarisse, als Irvin in der Tür stand. Was für ein Mann! René, entschuldige schon.

»Treten Sie näher. Irvin …?«

Er stellte sich vor, küsste ihr die Hand. Wie René damals, dachte sie und verpürte das gleiche Kribbeln auf der Haut. Weiche Satanas, dachte sie.

 

So sehen also Iren aus. Sie erinnerte sich an John, den unermüdlichen, der ihr auch gefallen hatte. Aber der hier. Olala! Konzentriere Dich!

»Irvin«, begann sie. »Ich darf Sie doch so nennen? Ich heiße Clarisse.« Er starrte sie mit großen Kuhaugen an. Sie sah deutlich, wie er schluckte. »Ja, gerne, Clarisse«, sagte er heiser. Clarisse kannte ihre Wirkung auf Männer. Deshalb versuchte sie, sich so neutral wie möglich zu geben.

»Haben Sie das französische in Afrika gelernt oder…?«

»Schon auf der Schule, aber das Schulfranzösisch…« Er winkte ab. »Ja, in Afrika, bei den Rebellen.«

Clarisse sprach über Irvins Arbeit. Lobte, kritisierte, bot Änderungen an. Er hörte aufmerksam zu. Nickte, legte den Kopf schief, um einen Gedanken zu verfolgen. Was er sagte, klang logisch und klar. Ein intelligenter Mann! Sie stellte sich vor, wie er im Bett wäre, während sie weiter über Irvins Werk sprach. Wie René, gewissenhaft, zärtlich liebevoll oder wie John? Flatterhaft, schnell, kräftig, voller Witz?

»Sie haben recht«, sagte Irvin.

Womit? Was habe ich gesagt? Er musste ihr fragendes Gesicht gesehen haben. »Ja, es fehlt der Witz. Die entspannende Note.«

Verdammt, ich werde alt. Ich fange an, laut zu denken. »Ja, aber Sie dürfen nicht übertreiben. Es ist ja eine wahre Geschichte.«

»Schon, aber wir haben nicht immer nur verbissen zusammengelebt. Es gab auch Lustiges.«

Seine Erzählung hatte sie tief ergriffen. Zuerst hatte er versucht grausame Szenen auszublenden, doch dann wieder eingefügt und das Bild vervollständigt. So war es wahr, auch wenn es seelische Schmerzen verursachte. Wie hatte er sich seine Menschlichkeit bewahrt? Sie fragte ihn direkt danach.

»Ich weiß nicht. Vielleicht weil ich ein sturer irischer Hammelkopf bin. Ich lasse mich nicht verbiegen. Ich lasse mir nicht befehlen, was ich nicht will oder nicht verstehe oder verabscheue.«

»Und der Colonell?«

»War kein Ire. Er hatte es verdient. Zu viele Menschen hatte er schon auf dem Gewissen. Ich weiß nicht, ob er nachts ruhig schlafen konnte. Ich jedenfalls nicht, obwohl ich an den Grausamkeiten nicht beteilig war.«

»Ging das?«

»Schwer. Er hatte mich schon vor eine Wand gestellt. Mir war es dann egal, ob ich erschossen werden würde oder nicht.«

»Und dann?«

»Kamen die Rebellen. Und wollten mich auch erschießen.«

Clarisse bewunderte Irvin. Ganz tief in ihrem Innern wollte sie Irvin. Das mit John war ungewollt, spontan, wie sie nun einmal war. Und Irvin? Was ist mit René? Es gab ihr einen Stich ins Herz. Böse, böse Clarisse!

»Gut, schließen wir hier erst einmal ab. Wenn sie Fragen haben, rufen sie einfach an.« Als er weg war, eine Wolke Aftershave hinterlassend, griff Clarisse zum Telefonhörer. Mailbox. »René! Bitte, komm bald nach Hause.« Eine Stunde später rief René an.

 

René trieb sich immer noch im Süden herum. Angeblich noch eine Woche zu tun. René postete, rief an, schrieb Mails und SMS. Sie wusste über jeden Tag, nahezu jede Stunde Bescheid. Immer schloss er mit »Ich liebe Dich.« Einmal: »Halte Dich tapfer. Nicht mehr lange!«

Sie hatte sich auf der Terrasse ausgestreckt. Die Sonne schien warm und es war windstill. Sie schwitzte in ihrem Shirt. Faul und schläfrig schlich sie nach unten, und suchte ihren Bikini.

Wieder oben, war es wesentlich angenehmer als in Shirt und Short. Sie amüsierte sich über das Wortspiel.

Es klingelte. Handy? René?

Faul griff sie nach dem Telefon. »Ja?« hauchte sie.

»M’dame Clarisse?« Irvin! Sofort war Clarisse putzmunter.

»Irvin. Was gibt’s?«

»Ich hätte da noch ein zwei Fragen.«

»Haben Sie jetzt Zeit? Gleich?« In den nächsten Tagen hatte sie viele Termine auf dem Kalender. Lesungen, Literaturgespräche, Abendsitzungen der Redaktion. Und sie wollte auch überraschend zu René reisen, der sich in Nizza aufhielt.

Ja, sie war wieder in Amt und Würden und noch mehr! Michel Ferrauld hatte man gefeuert. Jan-Pierre, ihr Kollege rieb sich die Hände, als er ihr das mitteilte. Michel hatte wohl übertrieben, man sprach von Hinterziehungen. Ihr war es egal. Man rief sie an. Wollen Sie wieder für uns arbeiten? Weiß nicht, wenn … Als Chefredakteurin? Moment …Ja? - »Ja!« - JA! Sie hatte aus ganzem Herzen ja gesagt, obwohl es ihr vorkam, als würde sie Verrat an Pierre S. begehen.

 

Jetzt war sie Chefredakteurin und hoffte nicht so zu werden wie der.

Und Pierre? Hatte mit den Schultern gezuckt. Ist schon O.K. sagte er. Willst Du trotzdem weiterhin für mich arbeiten? Frei? Natürlich, gerne. Wenn ich noch darf?

Also hatte sie jetzt zu tun. Sehr viel.

Irvin trug einen Laptop unter dem Arm und eine Flasche Rotwein in der Hand.

»Gehen Sie nach oben, auf die Terrasse. Es ist so schönes Wetter.« Irvin sah auf sie herunter. Sein Blick wurde weich, blieb auf ihr haften. Es fröstelte ihr, aber angenehm.

Sie sah hinter ihm her, wie er die Treppe hochging. Seine breiten Schultern, der aufrechte Gang. Er wiegte sich lässig in den Hüften. Ein selbstbewusster Mann, der viel erlebt aber auch verarbeitet hatte. Sie schnappte sich zwei Gläser aus der Küche. Erst wollte sie etwas über die Schultern legen, doch dann dachte sie: wozu? Es ist warm. Warum sollte sie schwitzen?

Irvin stand auf, als Sie auf die Terrasse trat. Höflich ist er auch noch. Vorsicht, ich werde weich. Verdammt, was für ein Mann.

»Setzen Sie sich doch.« Er sah sie an. Auf ihre Brust, ihren Schoß, sie spürte ein Kribbeln. »Ja, äh. Ich hätte da noch ein paar Stellen …«

»Lassen Sie sehen.« Sie griff sich den Laptop.

«Seite zweihundertdreißig.«

»Was, da sind Sie schon?« Sie begann zu lesen.

Er redete einfach: »Ich weiß nicht, wie weit man gehen kann, in der Beschreibung bestimmter Situationen.«

Es war hart. Sehr hart. Clarisse schluckte. »Das haben Sie erlebt?« Mit dem Finger zeigte sie auf den Bildschirm.

Er nickte. »Ich habe erst einmal ins Unreine geschrieben. Was mir so einfiel, woran ich mich erinnern konnte.« Er saß jetzt neben ihr. Sie roch sein After Shafe und etwas Schweiß. Jetzt flüsterte er fast: «All diese verbrannten Menschen. Es waren Frauen, die ihre Kinder noch an der Brust hatten. Ein paar Greise. Sie hatten einfach mit Flammenwerfen reingehalten.«

»Ich lese es.« Clarisses Hals war trocken. »Schenken Sie bitte ein?«

Das Plätschern des Weines ins Glas lenkte sie halbwegs von der Szene ab. Dann entschied sie: »Lassen sie es so. Nehmen sie erst einmal kein Wort zurück. Ihr Stil ist gut. Da gibt es nichts zu kritisieren.«

»Danke. Ich dachte schon, ich müsste alles wieder streichen.«

»Das würde den Sinn ihrer Arbeit zerstören. Denken Sie daran, was sie erreichen wollen.«

Irvin nickte. Er küsste ihren Handrücken. »Sie helfen mir sehr.« Er dachte an Carla, und sah Clarisse vor sich. Fast nackt, mit ein paar Stückchen Stoff vor ihren intimen Stellen. Es regte sich in ihm. Er wollte sie haben. Heute, jetzt.
»Clarisse …«

Clarisse fühlte sich nicht bei Sinnen. »Ja?«, hauchte sie. Dann griff sie zu, zog Irvin zu sich heran.

Das Telefon klingelte. René! Clarisse richtete sich auf. Es war dunkel, sie war eingenickt. Neben ihr schnaufte Irvin. Das Bett war zerwühlt, die Decken lagen am Boden. Sie hatte eine Gänsehaut, denn es war kühl im Raum. Das Telefon klingelte wieder.

Clarisse sprang aus dem Bett, rannte in das Wohnzimmer. »Hallo?«

»Clarisse? Habe ich Dich geweckt? Du klingst so verschlafen.«

»Entschuldige. Ich habe ein Nickerchen gemacht. Wie geht’s?«

»Ich bin einsam.«

Sie hörte Irvin kommen. Sie wedelte mit der Hand. Er sollte wieder verschwinden. Aber Irvin, schien nicht verstehen zu wollen. Er stand hinter ihr, streichelte ihren Hintern. Sie schlug ihm auf die Hand.

»Is was?«, fragte René.

»Nein. Ich komme in drei Tagen nach Nizza. Eher geht es nicht.« Irvin streichelte ihr üden Rücken. Ein Schauer nach dem anderen rannte über ihre Haut.

»Ich freue mich. Kann Dich kaum erwarten. Geht es nicht früher?«

»Unmöglich. Leider.«

»Na, ich mach’ dann mal weiter.«

»Was machst Du?«

»Ich schreibe. Du bist mir gerade durch den Kopf gegangen. Da musste ich Dich anrufen.« Irvins Hände strichen über Clarisses Bauch, er tastete sich nach oben.

»Ich denke auch an Dich.« Schlechtes Gewissen.

»Machs gut. Bis über-übermogen.«

»Ja, Du auch.« René legte auf.

Empört drehte sie sich zu Irvin, der das sofort grinsend ausnutzte. Sie schob ihn von sich. »Du musst jetzt gehen.«

»Warum. Es ist gerade so schön.«

»Und Carla?«

Er ging. Mit hängendem Kopf. Clarisse fühlte sich unwohl, schuldig, unehrlich. Unter der Dusche kam sie wieder zu sich. Sie schwor: nie mehr! Ganz, ganz sicher. Nie mehr! Nur noch René.

 

 

 

  1. Erfolge

 

Irvins Buch ging gut. Lange hatten sie über einen Titel sinniert. Der ganze Verlag machte Vorschläge. »African Darkness«. Irvin wackelte mit dem Kopf.

Pierre entschied: »Nehmen wir! Untertitel: vier Jahre unter den Rebellen.«

Der Bau in V. ging seinem Ende entgegen. Seitdem Carla das Heft in die Hand genommen hatte, war der Fortschritt sichtbar. Sie postete: »John, was ist, wenn wir hier fertig sind?«

Gute Frage. Jayden zuckte mit den Schultern. »Sie können doch nach Irland kommen«, schlug er vor. John fand das nicht erstrebenswert. Er kannte die Franzosen. Und er hatte einen anderen Plan.

 

Am Abend sprach er mit Ann über seinen Plan. »Wohin willst Du?« Sie beugte sich vor, als hätte sie nicht richtig verstanden. Er sah Ann schuldbewusst an.

»Nach Frankreich«, sagte er schüchtern.

»Darf ich darüber nachdenken?« Ihr Blick sagte etwas anderes: Bist Du verrückt geworden?

Er dachte an Carla.

Ann ging aus dem Zimmer. Ihr ganzer Körper war gespannt. John ahnte, dass es nicht gut ist, Ann zu überraschen. Das vertrug Ann nicht. Aber irgendwie musste er ihr das ja verklickern. Er hörte sie im Atelier wirtschaften. Ruby und Grace hatte er schon ein paar Tage nicht gesehen. Wo steckte sie?

Dann war Ann wieder da. Sie sah so anders aus. Was hatte sie erschreckt? Jetzt sah er es: Sie hielt sich den Bauch.

»Die Fußballmannschaft?«

»Ja«, hauchte sie mit schmerzverzerrten Zügen. Ich glaube, es geht los.«

Gelassen griff er zum Telefon, rief ein Taxi.

Das Handy summte in seiner Hosentasche. Wie gewohnt zuckte er zusammen, kramte es umständlich hervor. »Ruby, Du? Was ist? - Ach so - Ja, es ist soweit!«

»Ich komme. Warte noch ein Momentchen.«

Sie konnten nicht warten, fuhren los.

Auf dem Gang im Krankenhaus kam ihm Ruby entgegen.

»Hab ich mir gedacht. Bin deshalb gleich hierher. Wie steht’s?«

»Alles Okay. Wird noch ne Weile dauern. Die Ärzte sagen, vor morgen früh wird das nichts. Komm, wir fahren nach Hause.«

Sie gingen zu Ann. »Willst Du, dass ich warte?«

»Nein, das stehe ich schon durch. Bereite mal schon alles vor.«

»Mach ich.« Er gab ihr einen Kuss. Sie verzog das Gesicht. »Wehen«, erklärte sie.

»Ich warte.«

»Hau endlich ab!«

»Yes, Sir, Ma’am.« Er salutierte militärisch, drehte sich zur Tür und marschierte hinaus. Und hatte ein schlechtes Gewissen. Vielleicht sollte er doch … »Kommst Du?«, fragte Ruby.

 

 

 

  1. Baupläne

 

Bei La Bréche könnte er ein Grundstück erwerben. Die Gemeinde wäre dafür, dass er dort bauen würde. Bis Bayeux wäre es nicht weit, und Paris läge auch nicht in allzu weiter Ferne. Sie standen oberhalb des Strandes auf einem Hügel. La Bréche war im Osten zu sehen. »Hier«, sagte John. Sonne, der Wind von West fuhr durch die Haare der beiden Frauen, jede ein Kind auf dem Arm. »Schön hier und so still.«

»Und La Bréche hat eine Marina. Dort bringen wir unser Boot unter. Wenn wir wollen, fahren wir rüber. Jederzeit.«

»Auch bei Sturm?«

»Auch bei Sturm. Dann erst recht!«

John stand in Siegerpose und sah auf das Meer wie Admiral Nelson. Die Frauen tuschelten miteinander.

 

Ann hatte eine schwere Geburt überstehen müssen. Der Junge wollte nicht. Erst als die Ärzte nachhalfen, kam er widerwillig zur Welt und brüllte sofort los. Das erzählte Ann gerne. Es muss schmerzvoll gewesen sein, denn wenn er sie berührte, schob sie seine Hand beiseite. »Noch nicht.«

Grace und Gerry. Ann und Ruby, seine Familie. Die Kleine nuckelte an einem Schnuller, Gerry, sein Sohn, schlief tief und fest. Na wenigsten durfte er sich die Brust von Ann mit seinem Sohn teilen, gewissermaßen.

»Was sagt ihr?«

»Unser Französisch. Wir verstehen doch hier kaum etwas.« Das stimmte. Es würde schwer werden für die beiden Frauen … »Aber, es ist eine neue Landschaft, andere Menschen. Eine Herausforderung.« Ruby.

Ann: »Was meinst Du? Sollten wir es tun?«

Ruby wiegte den Kopf hin und her. »Ja«, sagte sie dann schlicht. »Tun wir es.«

»Und das Haus an der Klippe?«

 

Im Hotel klärte er sie auf: »Das Haus an der Klippe bleibt, wo es ist und wird unser Refugium, wenn wir von der Welt genug haben.«

 

Irland brachte nicht mehr genug Aufträge. Was soll er machen? Jayden war raus aus dem Geschäft. Er genoss seinen Ruhestand und war auf Weltreise. Mit einer Mail aus China grüße er alle. Schönen Dank auch.

Carla hatte Ethan zu sich ins Büro geholt. Sie war Geschäftsführerin. Aufträge gab es in Frankreich genug. Jaimie und Annabell, seine beiden Architekten, hatten geheiratet. Sie waren nach England gezogen. O’Connel & Murray gab es nur noch in Frankreich, da John das Büro in Irland aufgegeben hatte und Kayla in den Ruhestand gegangen war. Pattricks Haus war gut verkauft, seines hatten sie ebenfalls verlustlos losgeschlagen. Geld war nicht das Problem. Nur, was sollten sie im fernen Irland, weit im Westen? Hier waren sie näher dran, an der Welt.

»Wir machen eine Europareise«, schlug Ann vor. »Das wollte ich schon immer mal. Du erinnerst Dich, John?« Der nickte. »Au ja!«, rief Ruby.

 

Das Grundstück war gekauft, die Genehmigung zum Bau erteilt. Auflagen konnten sie einhalten.

Zum Frühstück rief er: »Los, Mädels. Wir machen uns auf den Weg.«

»??«

»Reisen, das wolltet ihr doch.«

»Jahaber…«

»Nix, jahaber. Sachen packen!«

»Dürfen wir unseren Kaffee noch austrinken?«

Demonstrativ trommelte John mit den Fingern auf der Tischplatte, bis Ann ihre Hand auf seine legte.
»Ruhig Brauner, ruhig. Kannst ja gleich loslaufen. Brrrr.«

Ann und Ruby saßen ihm gegenüber, ihre Kinder auf dem Schoß. Es sah nicht so aus, als würde es gleich losgehen, als würde sich eine der beiden auch nur einen Millimeter bewegen. Und da begriff er: Er hatte sie nicht gefragt. Verdammt! Er hatte sie nicht gefragt. Sie wollten sich nicht bestimmen lassen. Das wusste er doch! Nur, er war so begeistert gewesen, von seiner Idee …

»Tschuldigung«, sagte er. »Ihr habt ja Recht.«

Er griff nach seiner Kaffeetasse, und trank in kleinen Schlucken. Setzte eine schwer enttäuschte Mine auf.

»Wohin soll es denn gehen?« Ann. Er atmete auf.

»Über Paris nach Berlin. Und von dort, irgendwohin, wo es uns Spaß macht.«

Ann: »Ich will nach Madrid! Museen durchlaufen.«

Ruby: »Ich durch Rom, Neapel! Das Licht!«

Ann: »Der Vesuv, der Ätna!«

Ruby: »Athen, Moskau. Peking.«

John: »Peking ist nicht in Europa!«

Ruby: »Misch Dich gefälligst nicht ein, wenn Damen Pläne machen!«

John: »Bin ja schon still.«

Ann: »Und Florenz und Padua und Ferrara und Rooooom…« Sie verdrehte die Augen.

»Rom hatten wir schon.« John.

»Ruhe!« Ann drohte mit dem Finger.

»Gut!«, rief er. »Machen wir einen Plan.«

»Womit reisen wir?«

»Da draußen«, er deutete mit dem Daumen über seine Schulter. Ein SUV. Ein Riesenteil!

»Ist der nicht etwas groß?« Ruby wackelte mit dem Kopf.

»Für die Kinder! Sie müssen doch Platz haben.«

»Wer fährt?«

»Wer gerade nüchtern ist.«

»Affe!« Ann. »Ich fahre natürlich!«

»Nein, nein, meine Gute. Ich fahre!« Ruby stupste ihre Freundin an, kniff ein Auge zu. »Dann habt ihr hinten Zeit zum …« Sie schnalzte mit der Zunge.

Ann sah Ruby streng an. »Vielleicht hast Du Recht, Rubylein«, sagte sie zuckersüß, »Wenn ich fahre, kommst Du eventuell auf unerlaubte Gedanken …« John saß mit harmlosem Blick dabei und folge dem Geplänkel amüsiert.

 

 

  1. Entscheidungen

 

»Wir müssen einen Entschluss fassen, alter Ire.« Carla zog Irvin an den Haaren. »Nun komm schon. Werd munter!«

»Ich bin doch munter.« Er gähnte ausgiebig und ansteckend. »Was denn los?«, fragte er blinzelnd.

»John will sich aus dem Geschäft zurückziehen.«

»Na und?«

»Er macht Irland zu. Da läuft nix mehr.«

»Ah so. Und hier?«

»Sag mal, kriegst Du überhaupt noch was mit?«

»Wenig zurzeit. Was geht?«

»Also, pass auf: John hatte gemailt. Er will O’Connell & Murray verkaufen. Zuerst an uns, mich. Wer ist noch dabei? Ethan, Du und Janette.«

»Wie viel?«

»Vier Leute insgesamt.«

»Nein, wie viel er haben will?«

»Eine Millionen, Verhandlungsbasis.«

»Eine Mille.« Irvin schürzte die Lippen. »Da muss ne alte Oma lange für stricken.«

»Ich dachte, wir drei tun uns zusammen. Jeder dreihunderttausend.«

»Hast Du soviel. Und Ethan? Und was soll …«

 

Anderen Tags saßen alle mit rauchenden Köpfen in der Firma. Carla schlug vor, eine SARL zu gründen, aber den Namen beizubehalten. »O’Connell & Murray SARL.« Eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung.

»Aber das Geld?« Ethan.

»Ich habe dreihunderttausend. Mein Anteil wäre gesichert.« Irvin lehnte sich zufrieden zurück. Carla brachte einhundertausend und Ethan, obwohl er gut verdient hatte, höchsten zwanzigtausend ins Geschäft. Irvin rechnete: »Fehlen fünfhundertachzigtausend. Das ist nicht zu schaffen.«

»Ich bin morgen bei der Hausbank. Vielleicht leiht sie uns etwas.«

 

Die Bank war interessiert. O’Connell & Murray hatte einen guten Ruf in der Präfektur und darüber hinaus. Carla musste sogar Aufträge ablehnen, weil sie das nicht geschafft hätten. Doch sie war sich sicher, dass es weiter aufwärtsgehen würde. Und eine Tages flatterte er herein, der Auftrag: die Rekonstruktion eines Flughafens in der Provence. Ein so interessanter Auftrag, dass alle sofort zustimmten. »Wir brauchen Leute«, stellte Irvin fest.

»Was macht Dein Buch?«

»Fertig.«

Carla entschied: »Dann ab nach Aix. Kümmre dich um ein Büro. Nicht so teuer und Platz für vier Leute.«

 

 

  1. Paris

 

Paris war immer eine Reise wert, stellten die drei Abenteuerer fest. Es war beinahe wie in Italien. Überall waren ihre Kinder dabei: Museen, Galerien, Stadtrundfahrten. Ins »Mulin Rouge« durfte der Nachwuchs nicht mit. Ein Babysitter kümmerte sich im Hotel um die Kleinen.

Jetzt taten Ihnen die Füße und die Köpfe weh. So viele Erlebnisse!

Am Tag der Abreise erhielt John die Nachricht, dass die Firma verkauft wäre. Er fehle nur noch seine Unterschrift. Also flog er noch einmal nach Irland, unterschrieb noch im Flughafen die Dokumente und wollte unverzüglich zurückfliegen. Wollte! Doch ein Streik des Flughafenpersonals legte den Flugverkehr für zwei Tage lahm. Carla und John nahmen sich in Shannon, in der Nähe des Flughafens zwei preiswerte Zimmer in einem Hotel.

Sie feierten den Verkauf beziehungsweise Kauf an der Bar. Sehr lange. Leicht angeduselt und müde zogen sie sich zurück. Jeder in sein Zimmer.

 

John wachte auf. Etwas berührte ihn. Ein kalter Schauer zog über seinem Rücken. Wir gewohnt lag er nackt im Bett und auf dem Bauch. Verschlafen wollte er die Decke über seinen Rücken ziehen, doch das ging nicht. Sie war verschwunden. Es war stockdunkel und John hatte nicht die Absicht Licht zu machen. Mit der freien Hand tastete er um sich herum und berührte Haut. Die kenne ich doch, dachte er. Samtweich, warm, mit leichten Frierpickeln. Neugierig fühlte er weiter. Die Frau, der die Haut gehörte, seufzte. Eine Hand, warm, zart und fein, half ihm bei der Suche …

Am Morgen, als er die Augen aufschlug, lag er allein im Bett. Ich habe nur geträumt, dachte er verschlafen. Doch auf dem Laken war noch der Geruch von Carlas Parfum.

Am Frühstücksbuffet begegnete er einer aufgeräumten Carla. Sie grinste ihn an und er lächelte vorsichtig zurück. Das war doch Carla gewesen, heute Nacht, oder?

»Wie hast Du geschlafen?«, fragte sie ihn und legte sich eine Scheibe Toast auf den Teller.

John suchte Rührei. Ah, da! »Gut. Sehr gut sogar. Ich bin sehr, sehr zufrieden.«

»Schön. Das freut mich für Dich.« Sie lächelte geheimnisvoll.

»Sag mal, das warst Du doch?« Sie gingen zusammen zum Tisch. »Was?«

»Na das, heute Nacht.«

Als sie saßen, sah ihn Carla lange an. »Sagen wir so: vergiss es. Aber es war schön. Es tat gut.«

»Und Irvin?«

»Tut gut, sehr gut.«

»Venus …«

 

John dachte daran, mit der Fähre überzusetzen. Wenn er sofort losfuhr, würde er vielleicht noch eine erreichen. Doch dann fiel ihm ein, wie lange die Überfahrt dauern würde. Er wäre nicht früher in Paris, als wenn er auf einen Flug warten würde.

‚Ich komme morgen erst. Streik’, simste er.

‚Mach keine Dummheiten’, Ann.

Carla hatte vorgeschlagen, dass sie gemeinsam zurückreisen könnten. Sie muss ja sowieso nach V., um die notariellen Angelegenheiten zu erledigen.

Um sich die Zeit zu vertreiben, besuchten sie das »Haus an der Klippe«. Carla war begeistert.

»Was machst Du mit dem Haus? Ich denke, ihr wollt in Frankreich …«

»Es bleibt unser Refugium, wenn wir von der Welt genug haben.«

»Gute Idee.« Sie gingen von Raum zu Raum. »Genial!«

Die Einrichtung stand noch, bereit, dass jederzeit jemand einziehen konnte.

»Sag mal, John.«

»Ja?«

»Wollen wir nicht hier übernachten? Es ist ja nur ein kurzes Stück zum Flughafen.«

»Wenn Du meinst. Wir gehen Abendessen, schnappen uns ein paar Bier und machen uns einen gemütlichen Fernsehabend.«

»Machen wir!«

 

Beim Abendessen saßen sie sich gegenüber. »Was macht Ann und Ruby, wie geht es den Kindern?«

»Alles tutti paletti«, murmelte er mit vollem Mund. Sie hatten sich, statt Essen zu gehen, eine Pizza aus der Tiefkühltruhe geholt. Im Fernseher lief ein Krimi.

»Hast Du nichts anderes im Fernseher?«

»Was denn?«

»Ne schöne Liebesschnulze. Ich liebe Liebesschnulzen! Madame Luise, Carla Svendson.«

Er blätterte in der Fernsehzeitung. »Nix. Alles nur Shows, Krimis und Talkshows.«

»Schaaade.«

Sie aßen, sahen blicklos in die Mattscheibe.

»Warte mal.« John war eingefallen, das Ruby eine Menge DVD mitgebracht hatte. »Ich sehe mal bei Ruby nach.«

»Ruby? Ruby wohnt auch hier?«

»Jo.«

»Das geht?«

»Was geht?«

»Ruby.«

»Klar. Warum nicht. Sie ist ein großes Mädchen.«

»Das meine ich ja.«

Er sah Carla an. »Carla, Carla, Carla.« John schüttelte empört den Kopf. »Was denkst Du Dir nur?«

Sie stand dicht vor ihm. Berührte ihn im Schritt. »Das …!«

»Aber, das tut ein Klostermädchen doch nicht.«

»Ich bin Französin. Vergessen?«

»Nein.«

 

Die Verwaltung hatte es geschafft, dass alle Flüge pünktlich abgingen. »Holt mich hier raus!« mailte John.

Er wurde erwartet. Ann stand hinter der Absperrung, und winkte. Als sie Carla sah, ließ sie die Hand sinken und schaute ernst. John gab es einen Stich. ‚Oh, oh’, dachte er. Als sie ihn nicht sehen konnte, weil ein Riese von Mann vor ihm hertappte, verabschiedete sich Carla von John. Sie gab ihm einen feuchten Kuss auf die Wange, und drückte ihren Unterleib gegen den seinen. »Tschüss«, hauchte sie und war schon verschwunden. ‚Tschüss’, dachte er.

Draußen ging er mit ausgebreiteten Armen auf Ann zu.

»War das nicht eben Carla?«

»Ja? War sie.«

»Was habt ihr getrieben in Irland. War wirklich Streik?«

»Holla! Meine kleine Ann ist eifersüchtig! Wie süß.«

»Und?«

»Es war wirklich Streik. Wir haben in einem Hotel übernachtet und jeder hatte sein Zimmer.«

»Ph! Als wenn das ein Hindernis wäre.«

War es tatsächlich nicht, dachte John. Carla, das französische Biest …

»Du grinst?«

»Ja, darüber, wie es Dich erregt.«

»Schuft. Komm schon. Ruby und die Kinder warten.«

»Und ein Bett?«

»Ja. Aber allein.«

»Oooch.«

 

Ein schlechtes Gewissen ist ein hartes Ruhekissen. Ann dachte, in Abwandlung des Sprichwortes, an den gestrigen Abend. Vielleich war sie deshalb eifersüchtig? John saß neben ihr, und hielt ihre Hand. Liebevoll küsste er ihre Finger. Es kribbelte und sie freute sich.

Und fühlte sich schuldig.

Ann zu Ruby: »Willst Du heute bei mir schlafen, einsame Frau?«

»Gerne«, sagte Ruby ohne Hintergedanken.

Aber aus einem Küsschen, zur guten Nacht, war ein Kuss geworden. Und mehr als das.

Danach saßen die beiden Frauen auf der Bettkante, hinter sich die zerwühlten Kissen, und sahen auf den Teppichboden.

»Was war das eben, mit uns«, fragte Ruby. Sie sah auf Ann.

»Das hatte ich auf der Klosterschule gesehen. Es hat mir gefallen, wenn die Mädchen so zusammen … doch ich dachte, eher an Jungens dabei.«

«Du bist meine Freundin, Ann.«

»Vielleicht hattest Du schon lange nicht mehr Liebe gespürt?«

»Und Du?«

Ann nickte. »Ich schon.« Sie sah auf Ruby. Ihr schöner Körper, ihre runden, weiblichen Formen und das liebe Gesicht. Sie mochte Ruby sehr. Doch dass sie soweit gehen würden, hatte sie nicht vermutet. Oder war es nur, weil sie John vermisst hatte und einen Ersatz gesucht hatte, heute. So wie Ruby?

»Du bist eine verdammt schöne Frau, Ann.«

»Du auch.«

»Dann lass uns daran denken, dass wir Frauen sind und Männer wollen.«

»Werde ich.«

»Männer wollen?«

Ruby: »Einer genügt.« Jetzt konnten sie wieder lachen und sich umarmen, wenn auch ihre Haut noch empfindlich war. Sie blieben zusammen im Bett. Und im Arm einer jeden schlief jetzt ein Kind, das zart atmete.

 

Am späten Abend fragte John: »Sag mal, hat Ruby in meinem Bett gelegen?«

»Ja. Wieso?« Zum Glück war das Licht aus und nur von draußen erleuchtete schwach die Straßenbeleuchtung das Zimmer. Sonst hätte John gesehen, dass Ann ganz und gar rot geworden war.

Er gähnte. »Ihr Parfüm. Ich rieche es.«

Er schnupperte am Kopfkissen. »Ganz anders als Deines.«

Was wollte er damit sagen?

»Nacht. Schlaf gut, Liebes.« Er drehte ihr den Rücken zu. »Frauen«, murmelte er noch, dann schnarchte er, während Ann sich schlaflos hin und her drehte.

 

 

  1. Rubys Ängste

 

Ein Jahr später. Das Haus bei La Breché war fertig. Neben den Aufträgen, die ihre Firma noch handhabte, hatten Carla und Irvin das Haus fertig gestellt. Und damit den Rest ihres Firmenkaufs verdient.

Am Tag der Übergabe saßen oder standen sie auf der Terrasse: Ann, Ruby, John, Carla, Irvin und Ethan. Der Bürgermeister, der Präfekt und die Poliere. In Breché feierten die Bauarbeiter. Sie wollten es so. Trotz des Protestes von Ann und Ruby. »Non, non, M’dame. Lassen Sie uns nur in Breché feiern. Wir sind nicht so feine Leute …«

Die Kinder tobten im Sand, rollten und krochen über die Dünen, kreischten vor Freude oder kamen zu ihren Müttern gerannt, um sich heulend über den Anderen zu beschweren.

Ethan war für den Schlussentwurf viel in Breché herumgestrichen. Er hatte sich die Häuser angesehen und traditionelle Elemente übernommen. Es war nicht leicht, denn der Krieg hatte nicht viel übrig gelassen. Dennoch, es war modern und effizient. Ähnlich und doch anderes als das »Haus an der Klippe«.

»Gott, ist es hier schön!« Carla sah sich um. Riesige Fenster gingen zum Strand hinaus. Davor die Außenterrasse. Sie sah John. Auch er blickte auf das Wasser. Sie trat hinter ihn, umfasste seine Hüfte.

»Lass das, Carla«, sagte er leise. »Ann könnte es sehen.«

Enttäuscht ließ sie ihn los. »Magst Du mich nicht mehr?«

Er schnellte herum. »Ich mag Dich, verdammt noch mal, sogar sehr!« Sein Gesicht wurde weich: »Zu sehr. Aber ich mag auch Ann und meinen Sohn.«

Carla blickte zu Boden. Leise sagte sie: »Stimmt, John. Ich abe keinen Ansprüch auf Dir. Ich liebe Dir wie irr, und ich liebe Irvin - wie irr.« Sie hob mit einer komischen Bewegung die Hände. »Ist das verrückt, non?«

»Was ist verrückt?« Ann stand plötzlich neben ihnen. Wie viel hat sie mitbekommen, fragte sich John. Doch Anns Gesicht war entspannt. Nur neugierig. Und Carla fand sofort die Antwort: »Das ich die Chefin bin und er, ihr, meine Auftraggeber. Vor kurzer Zeit war ich noch Angestellte. Ein merkwürdiges Gefühl. Verstehst Du?«

Ann sah sie befremdet an. Ihre Augen waren zu Schlitzen zusammengezogen. Kein gutes Zeichen, dachte John. Doch dann lächelte sie. »Das kann ich mir nicht vorstellen, Carla. Ich war immer frei.« Und sofort: »Kommst Du, John. Der Präfekt wollte noch mit der reden, bevor …«

Carla hörte den Rest nicht mehr, denn beide hatten sich abgewendet und gingen ins Haus.
Schmerz! Sie hatte Schmerzen der Trauer, der Sehnsucht! Das Herz klopfte jetzt, dass sie meinte, man müsste es von Außen sehen können. Sie liebte Irvin und verzehrte sich nach John. Sie liebte John und verzehrte sich nach Irvin. Schluss dachte sie. Ich mache hier, an dieser Stelle, Schluss! Entschlossen lief sie Ann und John hinterher.

Carla stellte sich auf die Zehenspritzen. Wo ist Irvin?

Der stand in angeregte Unterhaltung mit drei Männern am Buffet, schlürfte ein Glas Sekt nach dem anderen. Carla stellte sich dazu, und hakte sich bei Irvin ein. Der sah auf sie herunter, die Männer wurden still. »Störe ich?«, fragte sie mit unschuldiger Mine. Doch den Männern war nur der Atem stehen geblieben, bei Carlas Schönheit. »N-nein«, flüsterte dann auch der eine. Carla strahlte über das ganze Gesicht, ausgenommen ihre Augen. »Dann darf ich Ihnen meinen Mann entführen?«

»Sicher, Sie haben ältere Rechte«, scherzte einer der drei.

Carla zog Irvin aus der Gruppe. »Komm«, flüsterte Carla, »lass uns verschwinden.«

»Aber warum denn?« Begriffsstutziger Irvin!

»Komm schon. Wir reden zu Hause darüber.«

»Aber wir müssen uns doch noch verabschieden …«

»Nein. Und nun los.« Carla zog den widerstrebenden Irvin aus dem Haus. Trotz seiner Proteste schob sie ihn zum Auto. Mit quietschenden Reifen jagte Carla los. Irvins Kopf wurde mit Macht in die Nackenstütze gedrückt. Staub aufwirbelnd raste Carla die schmale Straße nach La Breché bergab.

»Wo sind denn Carla und Irvin?«, erkundigte sich Ann bei John. Der sah sich um. »Ich kann sie nicht sehen. Soll ich im Gästezimmer …?« Sie lachten leise. »Nein, nein. Wir wollen lieber nicht stören!«

 

 

  1. Schmerzen

 

Dieses Piepsen! Es störte ihn. Wer piepst hier so?

Piep, piep, piep. Irvin hörte seinen Puls. Pup, pup, pup. Und gleichzeitig piepste es: Pup, piep, pup. Pieps…

Dunkelheit.

Schmerz.

Es war still. Irvin versuchte, die Augenlider zu heben. Warum ging das so schwer?

Dunkelheit.

Sie zogen durch die Savanne. Smith, der Korporal, meinte Rebellen gesehen zu haben. Irvin dachte, die sehen doch alle gleich aus: ob nun Banditen oder sie. Die Uniform war die gleiche! Die Lkw hielten mitten im Dorf. Ein Platz, rund wie ein Ball. Rote Erde, festgestampft. Rundherum Hütten aus Lehm und Astwerkgeflecht. Genauso rot wie der Boden. Ein paar Hühner rannten aufgeschreckt zwischen die Häuser. Von den Bewohnern war nichts zu sehen. Er hörte ein Kind greinen. Geschrei, Schüsse. Wer greift hier wen an? Er rannte los, krachte ins Unterholz. Stachlige Äste … Schmerz.

Piiep, piiep, piiep.

Helle! Licht. Schatten, die sich bewegten. Blaues Flackern. Er schlug die Augen auf. Dämmerung. Schmerz! Das Bein. Was ist mit meinem Bein? Irvin versuchte sich zu erheben, doch es ging nicht. Ohnmacht.

Wieder Licht, nur kurz. Dann ein Gesicht. Eine Frau. Nicht jung. Nicht Carla.

Carla? Sie waren von John und Anns Haus weggefahren. Carla war …

»Hallo? M’sieur Irvin?«

»Ja.« Es klang, als würde ein Reibeisen über Beton gezogen. Durst. »Durst. Ich habe einen fürchterlichen Durst«, sagte Irvin in das Gesicht. Ein Glas wurde an seine Lippen gehalten. »Trinken Sie. Vorsicht, langsam«, flüsterte das Gesicht. Es tat weh! Das Schlucken tat weh! Aber er wurde klarer im Kopf.

»Wo ist meine Frau?«

»Ihr geht es gut.«

»Wo ist sie?«

Jemand half ihm, den Kopf zu drehen. Einen Meter entfernt, neben ihm, lag eine Frau. Eine Frau? »Carla?«, fragte er heiser. Schweigen. »Sie schläft, M’sieur. Das sollten Sie auch tun.« Das Gesicht war verschwunden. Eine Tür ging. Irvin hörte: »Er ist aufgewacht, Herr Doktor.«

»Fein, und die Frau?«

»Noch nicht.«

»Hat er sie ... »

»Pst.«

Was heißt hier ‚Pst’, dachte Irvin.

»Oh!«

Ein Gesicht. Ein Mann. »Naaa? Wie fühlen wir uns.«

Beschissen, dachte Irvin. »Beschissen«, sagte er.

»Gut«, sagte der Mann. Gebrabbel. Es stach im linken Arm.

Angenehme Dunkelheit.

Die Savanne glühte. Ein starker Wind fegte über den Sand, drückte das magere Gras zu Boden. Kleine Äste strichen über die Erde. In der Ferne lag sein Ziel. Wenn er nur noch die Kraft hätte, es bis dorthin zu schaffen. Die Lungen brannten, die Beine waren wie Blei. Die Arme zogen ihn zu Boden. Er landete mit dem Gesicht im Dreck. Jemand trat ihm mit einem Stiefel in den Rücken. Es krachte, Schmerz. Er riss die Augen auf.

»Ahh!«

Tag. Traum. Irvin schwitzte.

Schwach, leise, kaum wahrnehmbar: »Irvin?«

»Carla?«

»Ja, bist Du’s, Irvin?«

»Ja doch, ich bin’s.«

Stille. Mit größter Anstrengung drehte er den Kopf zur Seite, nach rechts. Dort, das Bett mit dem Kopf in den Verbänden. Der Kopf drehte sich quälend langsam zu ihm. Die Augen! Carlas. »Carla!« Er dachte, er würde sie anlächeln, doch es war nur das schmerzhafte Verziehen der Lippen. Er schloss beruhigt die Augen.

Wieder ging die Tür. Das war doch erst eben gewesen? Das Gesicht einer Frau. Weißer Kittel. »Schwester?«

Sie nahm seine Hand, fühlte den Puls. »Na, wird schon. Haben Sie Schmerzen?«

Nur wenn ich lache, dachte Irvin. Er schüttelte den Kopf. »Gut«, sprach das Gesicht. Ein weiteres tauchte auf. Ein Mann. Ein Arzt, ein Doktor! War er im Krankenhaus? Er war im … was machte er hier und was Carla?

Der Mann hatte sich über ihn gebeugt. »Sie hatten einen Unfall. Ziemlich schwer.«

»Was …«

»Geisterfahrer. Er ist sie hinein gekracht.«

»??«

»Die Feuerwehr hat Sie herausgeschnitten. Sie und ihre Frau.«

»Wann …?«

»Vor eine Woche.«

Vor einer Woche!? »Was ist mit meiner Frau?«

»Wir versuchen unser Möglichstes.«

Wir versuchen … Möglichstes?. »Lebensgefahr?«, fragte Irvin.

»Nein, M’sieur. Die Lebensgeister.« Irvin wollte sich erheben. »Bleiben Sie liegen. Geduld.«

Irvins Stimme wurde hart. »Was - ist - mit - meiner - Frau?«

Das Gesicht beugte sich an sein Ohr. »Bitte. Nicht aufregen. Schnitte im Gesicht …«

Schnitte. Im Gesicht! Nicht aufregen? Seine schöne Carla! »Wie schlimm?«

»Es geht. Aber wir brauchen etliche Operationen. Und es werden ein paar kleine Narben bleiben.«

»Schieben Sie mein Bett neben das ihre«, forderte Irvin. Er spürte es mehr, als das er es sah. Seine Hand tastete nach Carla. Jemand half ihm.

Es klopfte. »Dürfen wir?« Anns Stimme!

»Kommen Sie herein.«

Ann! Und John?

»Na, Alter? Was geht?« John!

Ein zarte Hand berührte seine Wange. Ann!

Irvin atmete tief ein.

 

 

 

 

  1. Horizonte

 

»John! Johon?«

»Ja, was ist denn?«

»Kannssumalkomm?!«

»Kannisch!«

»Denntuuusdoch!«

John schleppte sich faul in Atelier. Es lag in der ersten Etage. Helles Licht fiel durch die großen Fenster. Am Boden spielten Gerry und Grace mit Holzklötzen.

Das Bild der heiligen Jungfrau hatte mehr und mehr Gestalt angenommen. Dennoch kam Ann nicht weiter. Immer wieder veränderte sie die Haltung der Maria. Mal entsprach sie mehr dem katholischen Kanon, dann wieder stellte sie die Madonna frei von allen Restriktionen und Vorschriften. Das Kind spielte zu Füßen der Madonna. Es passte! Der Hintergrund war ganz der Renaissance geschuldet. John stellte sich vor das Bild, griff sich mit der rechten Hand an Kinn. »Jaja. Jajajaja!«

»Ist das alles?« Ann.

»Ja.«

Ann stand auf. Sie sah müde und abgespannt aus. Das Bild beschäftigte sie. Sie wollte den Mönchen ein einmaliges Werk schaffen. Das machte sie fertig.

»Was gübt’s?«

Ann griff mit beiden Händen nach seinem Hals, zog sich zu ihm hoch. »Ich bin schon wieder schwanger.« Ein Kuss. Heiße Lippen! Und ließ ihn los. Dann stand sie mit vor dem Bauch gefalteten Händen vor ihm. Trotz aller Müdigkeit strahlte sie über das ganze Gesicht. Erwartungsvoll sah sie ihn an.

»Was denn, schon wieder so ein Balg?«

Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Doch dann fasste John Ann um die Hüfte, hob sie einfach hoch, wie ein kleines Mädchen und wirbelte mit ihr durch das Atelier. Sie sah sein strahlendes Gesicht. Am Boden liegend umarmten sie sich, und ein langer Kuss folgte, gestört von Gerry, der eifersüchtig an Johns Hosenbein zog.

»Was ist das für ein unerträglicher Lärm?« Ruby stand in der Tür zum Atelier. Den Spachtel, mit Ton verschmiert, in der Hand.

»Ich bin schwanger!«, rief Ann.

»Gratuliere.« Es klang gleichgültig.

»Oh, Ruby, Rubylein.« Ann lief zu ihrer Freundin. »Es tut mir so leid.«

»Ach Quatsch. Es muss Dir nicht leidtun. Ich freue mich für Dich.«

»Wirklich?«

»Und wie. Siehst Du?« Und hatte immer noch Enttäuschung im Gesicht.

Am Abendbrottisch, sie hatten sich zur Gewohnheit gemacht, zusammen und möglichst regelmäßig zu Abend zu essen, sagte John in die Stille: «Wir müssen Ruby nen Mann besorgen.«

»Glaubt ihr, ich kann das nicht alleine?« Der scharfe Ton, in dem Ruby reagiert hatte, tat ihr sofort leid. Doch gesagt, war gesagt!

Und trocken meinte John: »Ja.« Dabei sah er Ruby erwartungsvoll an.

»Ja«, gab sie zu. »Stimmt. Ich komme ja auch kaum noch außer Haus.«

»Nicht nur Du. Wir hocken hier auf unserem Felsen und versauern!«

John: »Lasst uns Urlaub machen!«

Ann: »Ab an die Cote Azur!«

Ruby: »Karibik!«

»Hawaii!« John.

»Hawaii!« Ann und Ruby im Chor.

»Die Idee gehen wir feiern«, rief Ruby.

 

»La Terrasse« hieß die Brasserie inmitten von Bayeux. Hier gab es erst einmal etwas zu essen. Die Küche überschlug sich. Endlich einmal Fremde! Satt und zufrieden zogen Ann, Ruby und John Arm in Arm weiter. Ein paar Straßenecken weiter gab es ein Café, in dem Musik spielte. Sie gingen hinein, durchquerten einen Vorraum, gingen einen langen Gang weiter, einige Stufen in die Tiefe. In einem Gewölbekeller dröhnte die Musik einer Disko. Schwitzende Gestalten hüpften auf der Tanzfläche herum. Rechts und links der Bühne bogen sich Go-go-Girls.
Neben John begann Ruby schon zu zucken und auch Ann wippe mit dem Körper. Er ahnte Schreckliches. Ein Kellner kam auf sie zu. Seine Lippen bewegten sich. John hob drei Finger. Der Kellner nickte verstehend, und wies mit dem Zeigefinger zu einem Tisch.

»Whiskey, Caipirinha 2 X«, schrieb John grinsend auf einen Zettel. Der Kellner nickte wieder, und verschwand im Lärm.

Lachend und schwitzend standen sie wieder auf der Straße. Der Lärm der Bassboxen dröhnte dumpf über den Platz. Während Ann und John langsam vorgingen, standen Ruby und ihr neuer Freund Hand in Hand auf der Straße. Ein Roller kam näher und hupte. Lachend sprangen die beiden auf das Trottoir. Ruby hielt den Mann fest, stellte sich auf Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss.

»Sieh mal«, Ann stieß John mit dem Ellenbogen an. »Ist das nicht süß?« Doch John nahm sie in die Arme: »Das ist süß!«, behauptete er und küsste Ann.

»Nein, Du schmeckst nach Whiskey.« Dabei leckte sie ihm über die Lippen.

»Lasst uns nach Hause gehen.« Ruby war herangetreten.

»Und was ist mit ihm?« Ann zeigte mit dem Daumen über die Schulter.

»Was soll schon sein?«

»Was schon?« Sie platzten vor Neugierde.
»Ja, er kommt morgen ins Atelier …«

Sie hakten sich alle drei unter, John in der Mitte, der das sichtlich genoss.

»Und dann?«

»Taxi!«

 

In der Küche tranken sie noch einen Absacker. Ja, dachte Ann, Ruby sieht zufrieden aus, auch wenn sie in der Taxe hartnäckig geschwiegen hatte.

»Also, ich finde ihn nett. Und höflich war er, stimmt’s, John?«

»Weiß nicht. Ich habe nicht mit ihm getanzt. Wie heißt er eigentlich?«

»Etienne. Er stammt aus Breché. Lebt zu Zeit in Paris und ist…« Ruby schwieg bedeutungsvoll, »…ist … Er besitzt die Fischverarbeitung bei Breché.«

»Hat man nicht gerochen.«

»John! Er ist Unternehmer, nicht Fischer.«

Ann beugte sich zu John. »Schläfst Du heute im Gästezimmer?«

»Warum?«

»Weibergeschichten. Wir haben zu erzählen.«

»Jetzt, nachts?«

»Jetzt, nachts!« Ann drehte sich zu Ruby. »Nicht wahr?«

Ruby strahlte beglückt über das ganze Gesicht. Sie nickte abwesend.

»Okay«, John seufzte, »Mach ich. Ich verschwinde dann mal schon.« Und bedauerte, dass er vielleicht Ruby an diesen Etienne verlieren würde.

 

Ungewöhnlich pünktlich stand Etienne vor der Tür. Der Gong jagte alle hoch, weil sie nach alter Sitte noch nicht mit ihrem Besuch gerechnet hatten. Ann war schneller als Ruby, John blieb an Ort und Stelle sitzen. Mal sehen, dachte er, wogegen seine Lieblingsfreundin unruhig auf den breiten Sofa herumrutschte.

»Etienne«, sagte Ann. »Komm rein.«

»Guten Tag.« Unschlüssig stand Etienne im Türrahmen, doch Ruby sprang auf und lief zu ihm hin. »Komm schon, nicht so schüchtern.«

John verspürte einen Stich der Eifersucht im Herzen. Verdammt! Der Kerl sieht verdammt gut aus! Die üblichen Höflichkeiten wurden ausgetauscht, bis dann John sagte: »S ist das also, Etienne. Wie wenn Du siehst, triffst Du auf eine Familie, die Dich heute auf Herz und Nieren prüfen wird. Mein Name ist John. Du darfst mich Papa nennen…« Alle lachten jetzt entspannt, doch John sagte mit ungewohnter Schärfe: »Wir wollen nämlich nicht, dass unserer Ruby ein Leid widerfährt. nicht noch einmal.«

»Ach komm, John. Sei nicht so streng. Sie müssen wissen, Etienne, dass John …« Damit begann eine allgemeine Vorstellung der handelnden Personen. Der arme Etienne sah von einem zum anderen, blieb länger an Ruby haften und nickte freundlich. Was sollte er auch tun. Nur Ruby saß schweigend daneben, und sah ihren neuen Freund unverwandt an. Die ganze Zeit klopfte ihr Herz wie verrückt. Etienne hatte viel Ähnlichkeit mit Pattie. Er war ein Alphatier, das mußte er auch sein, als Unternehmer. Doch ihr gegenüber aufmerksam, zärtlich. Sie hatte das Gefühl, als sei auch Etienne sehr in sie verliebt.

Gestern Abend, bei Tanz hatte sie es schon gefühlt. Mit einem netten Verbeuger war er an sie herangetreten. Und dem sicheren Gefühl, nicht abgewiesen zu werden, bat er sie - mit Handzeichen, anders war es nicht möglich - um den Tanz. Als er sie berührte, sie leicht an sich drückte, war ihr, als wenn die Zeit zwischen Pattie und dem Moment jetzt, nicht vorhanden gewesen wäre. Und er duftete! Seine Hände benahmen sich anständig, seine Führung war bestimmt und sein Tanz schwebend. Ruby fühlte sich schwerelos. Der siebte Himmel. Alles war nur noch rot!

Sie kam wieder zu sich. Etienne hatte etwas gesagt. »… das Unternehmen kostet leider viel Zeit.« Wem sagte er das? John nickte. Er kannte es! »Und deswegen hatte ich auch nie die richtige Gelegenheit. Sie verstehen?« Man nickte. »Und gestern«, setzte Etienne fort, »war es anders. Eine Schnapsidee!« Er blickte zu Ruby. »Aber eine glückliche.« Ruby griff einfach nach seiner Hand.

»Mama!« Grace stand im Türrahmen, den unvermeidlichen Gerry hinter sich.

»Das ist meine Tochter, Grace. Sag Mr. Etienne einen ‚Guten Tag’.«

Es war, als wäre ein Blitz eingeschlagen. Konsterniert sah Etienne zu Ruby und dann auf ihre Tochter, die ohne jede Hemmung auf den Fremden zuging. Gerry im Schlepptau, hielt sie dem Mann ihr Händchen hin: »Tach, Onkel.« »Tach, Onkel«, echote Gerry.

Und unvermutet lächelte Etienne das kleine Mädchen strahlend an. »Grace. Guten Tag«, sagte er schlicht, »Und der kleine Mann?«

»Das ist bloß Gerry«, verkündete Grace.

»Hi, Gerry. Nice to meet you.«

»Hi.«

»Grace, kommst Du auf meinen Schoß?«

Die Kleine kletterte auf Etienne Schoß. Als sie saß, sah sie den Fremden von unten her intensiv an. Offensichtlich gefiel ihr, was sie sah. »Bist Du Mamas Freund?«

»Ja, ich bin Mamas Freund. Und ich wäre sehr erfreut, wenn ich auch Dein Freund sein dürfte.«, sagte Etienne ernst.

»Bist Du.« Grace war ganz Großzügigkeit. Sie nickte ernst mit dem Köpfchen. Alle lachten jetzt aus vollem Halse. Doch dann wurde Etienne ernst. Er sah das Kind an: »Grace. Wenn ich Dein Freund sein darf, würdest Du meinen Sohn auch als Freund annehmen?« Ruby war erschüttert. Damit hatte sie nicht gerechnet! Dieser Etienne hatte gestern nichts gesagt! Aber ich ja auch nicht.

»Mal überlegen.« Grace machte ein sehr nachdenkliches Gesicht. »Ist der so wie Gerry?«

»Größer. Soo groß. Er wäre Dein großer Bruder«, dabei sah er zu Ruby, «der Dich immer beschützen würde.«

Grace dachte einen Moment nach. »Geht in Ordnung.« Sie krabbelte von Etiennes Schoß herunter, und ging zu ihrer Mutter. »Geht das in Ordnung, Mam?« fragte das Kind altklug. Ruby schloss sie in die Arme. Tränen rannen jetzt über ihr Gesicht. »Aber ja«, hauchte sie. »Natürlich geht das in Ordnung.« Die Kleine drehte sich zurück, stemmte ihr Ärmchen in die Hüfte, wie sie es von ihrer Mutter gesehen hatte, streckte den Bauch vor: »Und, wo isser?«

»Bei seiner Oma. Er heißt Paul.«

»Dann bring ihn das nächste Mal mit«, forderte Grace.

»Mach ich.«

Die Kinder rannten aus dem Zimmer in den Garten. Alle sahen den Kleinen hinterher. Schweigen.


»Möchtest Du sehen, was ich so arbeite?« Ruby musste irgendetwas beginnen, um Etienne aus der seltsamen Situation zu befreien. »Komm, wir gehen in mein Atelier:«

»Gerne.« Er stand auf. Groß und breitschultrig, hielt er Ruby den Ellenbogen hin. Die hakte sich ein. »Gehen wir.«

Ann und John sahen noch lange hinterher, obwohl die beiden bereits um die Ecke verschwunden waren.

»Hoffentlich …«, begannen beide zur gleichen Zeit und Ann setzte fort: »… wird was aus den beiden. Ich wünsche es mir so für Ruby.«

Wenig überzeugt, meinte John: »Ich auch.« Und nach einer Weile des Schweigens, überzeugter: »Ja, doch. Ich auch.« Er griff nach Anns Hand. »Aber ich werde sie vermissen. Ihre Unruhe, ihren Witz und …«

»Na, Vorsicht!«

»… ihre Schönheit. Doch.«

»Ja«, sagte jetzt auch Ann.

 

  1. Urlaub

 

Hawaii. Pearl Harbor. Erschüttert standen sie am ‚USS Arizona Memorial’. »All die vielen Menschen«, hatte Ann geflüstert und sich dicht an John gelehnt. Ein Film lief. Japanische Bomber und Jäger kreisten über dem Hafen, während Matrosen unter Lebensgefahr versuchten, ihre Kameraden zu retten. Und ungehemmt weinte Ann bei den Szenen der Rettungsaktionen, als die Matrosen ihre Kameraden aus den gekenterten Kriegsschiffen herauszuholen versuchten. Von draußen versuchte man ins Schiff zu gelangen, mit unzureichender Technik. Währenddessen das Klopfen aus dem Inneren immer schwächer wurde und schließlich ganz aufhörte. Und die Retter erschöpft und mutlos aufgeben mußten.

Lange waren sie am Strand entlang gelaufen. Hatten geschwiegen. Auch Gerry trippelte still an Johns Hand mit. Der Junge war erst begeistert. Die Ausstellung mit den schönen bunten Schiffs- und Flugzeugmodellen! Doch dann der Film: seine weinende Mutter und der streng blickende Vater hatten ihn nachdenklich gemacht. Vielleicht war das alles gar nicht so schön, wenn schon die Erwachsenen so ernst sind? So ging er ernsthaften Schrittes neben Mamon und Papon her.

Im Hotel sprang der kleine Mann im hohen Bogen in den Pool. Eine dicke Amerikanerin neben ihrem ebenso dicken Mann kreischte panisch auf. Aber er konnte doch schwimmen! Wozu die Angst. Gerry legte sich auf den Rücken, und strampelte vor Freude kreischend mit Armen und Beinen.

Jetzt waren sie auf Hawaii, genossen die milde Luft, die Gelassenheit Menschen, das Wasser, die Berge. Einfach Alles!

Vom Rand des Swimmingpools aus konnte man das Meer beobachten. Surfer ritten auf riesigen Wellen. Ann und John lagen nebeneinander in Relaxstühle. Faul sahen sie den Surfern zu. Gerry quietschte vor Vergnügen. »Mama, guck mal!« Weg war er, unter Wasser. Ann sprang auf, rannte zum Pool und sprang hinein. Als sie wieder auftauchte, hatte sie einen protestierenden Gerry in den Händen. »Abendessen!«, befahl Ann.

 

Ruby und Etienne. Sowohl Ann als auch John dachten immer wieder an die beiden. Ein nettes Paar, das gaben sie gerne zu. Doch, unausgesprochen, waren sie eifersüchtig auf Etienne. Und ob er wirklich der richtige Partner für Ruby war? Wer weiß es? Und ebenso unausgesprochen fühlten sie sich eher wie die Eltern ihrer Freundin als ihre Freunde.

Die zwei Wochen auf Hawaii vergingen im Fluge. Von Ruby kamen keine weiteren e-Mails. Ann machte sich Sorgen. Ob ihr etwas zugestoßen war? Oder Schlimmeres? Auch auf ihre Mails hatte Ruby bisher nicht reagiert. »Dann sitzen wir eben in einem Datenloch«, mutmaßte John.

»Quatsch!« Ann zeigt ihm einen Vogel. »Twatsch«, echote Gerry.

 

Am letzten Abend packten sie ihre Koffer. Müde vom Nichtstun, der Sonne und dem reichhaltigen Abendessen lagen sie in den Betten. Um die Moskitonetze summten verstohlen Mücken oder ein Falter rappelte am Netz herum. Mit in den Nacken gelegten Armen lag John nahe bei Ann. Doch sie hielten Abstand zueinander, denn eine zu dichte Berührung würde Schweißausbrüche zur Folge haben. Sie hatten alles probiert: nackt, angezogen, nur mit T-Shirt oder nur Hose. Nichts half! Schwitzend rollten sie auseinander und verschoben, das, was sie vorgehabt hatten, auf später, zu Hause. Anns Telefon spielte eine Melodie: The House In The Rising Sun. Ruby! Wie der Blitz war Ann aus dem Bett. Erschrocken schwirrten die Mücken auf, die sich in Erwartung frischen Blutes genüsslich auf dem Tüll des Moskitonetzes niedergelassen hatten.

»Eine Mail!«, rief Ann.

Sie kam wieder ins Bett gekrochen und blieb auf dem Bauch liegen. Mit flinken Fingern fuhr sie über das Display des Telefons. John hatte schon immer im Stillen bewundert, mit welcher Schnelligkeit Frauen auf den Displays herumfuhrwerken können.

»Ruby hat geschrieben«, sagte Ann.

»Ach was.«

Wenn Blicke töten könnten, wäre John jetzt eine Leiche. Und Ann hätte jetzt ein Problem mit mir. Grinsend sah er zu Ann hinüber.

»Was grinst Du so?«

»Ach nichts. Was schreibt sie denn?«

»Weiß nicht, das klingt so komisch.«

»Was, zum Henker, schreibt sie denn?«

»Sei nicht so ungeduldig, Mann.«

»Ich bin die Ruhe selbst. Ganzkörperentspannt.«

Ann konzentrierte sich. »Aalso, sie schreibt: Hallo ihr Beiden. Wie ist es in Hawaii? Auch so warm wie hier im Süden? Die Sonne brennt, ich faulenze am Strand. Cannes ist schön. Schön laut, schön vornehm und ganz schön teuer.«

Ann sah John an. Ihr Augen waren zu Schlitzen verengt. »Nichts von Etienne.«

»Warte ab. Vielleicht kommt noch das dicke Ende?«

»Ruby hat sonst immer von Etienne angefangen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Haben sich gezankt«, mutmaßte er.

»Ich lese weiter: Entschuldigt, dass ihr von mir so lange keine Post mehr bekommen hattet. Ich war jeden Tag mit dem Auto (eine alte Ente) oder dem Roller in den Bergen unterwegs und habe gemalt wie verrückt. Ihr Lieben, das müßt Ihr gesehen haben!«

Ann schnaufte: »Immer noch nichts von Etienne.« Sie las weiter: »Das Licht! Irre! Und die kleinen Nester, fast wie zu Van Gochs Zeiten!«

»Eine lange Mail, das«, meinte John schläfrig. »Wann wird es denn spannend?«

»Schuft!« Er bekam einen Klaps auf den Hinterkopf. »Ah, jetzt geht es los: Etienne ist abgereist. Er bekam einen Anruf. ISt ganz blass geworden und sofort nach Paris geflogen. Bis jetzt habe ich von ihm nichts mehr gehört oder gelesen. Funkstille!«

»Aha! Wir haben ihn gewarnt. Jetzt ...«
»Aber wenn wirklich etwas passiert ist? Und er sich nicht melden konnte?«

»Es gibt immer eine Möglichkeit. Heutzutage!«

»Stimmt.«
»Was schreibt Ruby noch?«

»Ich wollte ihn begleiten, doch er sagte nur, dass er das nicht wünsche. Also habe ich hier gewartet. Doch nun mache ich mir ernsthaft Sorgen. Große Sorgen. Wir sehen uns in Breché, das wollte ich euch mitteilen. Bis dann, eure Ruby. P.S. Küsschen. P.S.P.S. Ich schleppe einen Riesenpacken an Zeichnungen, Skizzen und Bildern mit mir! Ich freue mich auf euer Urteil. Bussi.«

»Na also.« John drehte sich um. »Morgen fliegen wir ab und kommen hoffentlich irgendwann an. Bis dahin empfehle ich, zu ruhen. Wird ein harter Flug.«

 

Es wurde ein harter Flug. Schon der Start begann mit Hindernissen. Der Zöllner vermutete Konterbande und ließ John von Kopf bis Fuß untersuchen. Knapp vor Abflug rannte John den Gang zum Flugzeug hinunter. Die Stewardessen zappelten schon. Und als sich gerade angeschnallt hatte, starte der Flieger, als müsse er zeit aufholen. Auf dem Pazifik gerieten sie in Turbolenzen. Gerry hätte das alles stoisch ertragen, doch eine Frau neben ihm begann hysterisch zu heulen. Also schloss sich das Kind der Panik der Frau an, und war nur schwer zu beruhigen. Als er endlich, endlich schlief, atmeten Stewardessen und Eltern auf. Die Frau hatte Beruhigungstabletten erhalten und schlief jetzt ebenfalls, währen sie kräftig durchgeschüttelt wurden.
»Erstaunlich«, sagte John.

»Was ist erstaunlich?«

»Dass der Flieger die Schüttelei aushält und nicht in hundert Stück auseinanderbricht.«

»John!«

Er schwieg unschuldig und nuckelte an seinem Whiskeyglas. Im Stillen ärgerte er sich immer noch über die Zöllner. Sah er denn aus, wie ein Terrorist? Die Amis! Paranoid! Sie hatten ihn auseinandergenommen, wie ein Brathähnchen. Erst als er splitternackt vor den Uniformierten stand, waren sie zufrieden. Vorher tasteten sie jeden Zentimeter seiner Kleidung ab. Nichts. Die Enttäuschung war den Typen ins Gesicht geschrieben, doch er verkniff sich, ein triumphierendes Gesicht zu ziehen.

 

Natürlich hatten sie Verspätung. Der Anschlussflieger wartete zum Glück. Alle die ihn bekommen mußten rannten durch die Flure und Gänge. Dann standen sie auf dem Rollfeld. Es ging nicht weiter. Niemand sagte etwas. Eine Stunde lang lächelten die Stewardessen, brachten Kaffee und klebrige Cola und wussten von nichts. Dann durften sie wieder aussteigen. Ein anderes Flugzeug, das ihrige hatte einen Schaden.

»Zum Glück nicht in der Luft. Stell Dir vor Ann ...«

»John!!«

Paris Orly: Endlich! »Ich hätte meine Stützstrümpfe mitnehmen sollen:«

Ann sah John an, als wäre er gerade vom Mond gekommen. »Stützstrümpfe?«

»Haha. Ein Witz. Trotzdem tun mir die Beine weh, als wären wir von Hawaii aus gelaufen.«

 

Das Haus roch unbewohnt. Ein merkwürdiger Geruch nach Staub und Undefinierbarem. Ann riss alle Fenster auf. Frische Seeluft strömte in die Zimmer. Die Nacht verbrachten sie noch in einem Hotel in Paris. Der Mietwagen würde morgen abgeholt.

Ruby war doch noch nicht zurück aus dem Süden.
»Wo steckt sie?« Ann schlich durch das Haus, spähte in jede Ecke. Keine Ruby! Sofort saß sie am Handy. »Wo steckst Du?« postete sie.

»So kenne ich sie nicht.« John war noch am Auspacken. Das meiste jedoch landete in der Wäsche. Ein schreiend buntes Hawaii-Hemd lag auf dem Bett. Seine Hosen waren zerknittert, die Hemden rochen nach Schweiß. »Ich könnte nicht als Zöllner arbeiten.«

»Hä?«

»Würdest Du in der getragenen Wäsche wildfremder Leute herumstöbern wollen?«

»Bin ich Zöllner?«

 

Unten ging die Tür. »Jemand zu Hause?«

»Ruby!« Ann rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter. Bis John ihr gefolgt war, lagen sich die Frauen in den Armen.

»Papa!« Grace lief auf John zu, die Arme weit vorgestreckt. Er fing sie auf, sah dabei aber zu Ruby. »Ich, äh, bin nicht… Lassen wir das.« Ruby lief auf ihn zu. Mit ihrem tränennassen Gesicht befeuchtete sie Johns Wangen, der das nicht einmal schlimm fand. Der Kuß war länger als erlaubt, weshalb Ann ihre Ansprüche anmelden mußte: »Ruby, wollen wir nicht …?«

Johns Telefon meldete sich. Ein Artzt. Unfall! Carla und Irvin.

John hatte vorläufig die Leitung der O’Connell & Murray SARL übernommen. Nach anfänglicher Verwirrung lief der Laden wieder, wie vorher. Gute Arbeit, Carla!

Der Besuch im Krankenhaus hatte ihnen die Stimmung gründlich verdorben. Von dem Unfall erfuhren sie erst jetzt! Zwei Wochen danach! Man fand bei Carla die Visitenkarte von John.

John begrüßte Irvin kühl zurückhaltend. Er wusste ja nicht, dass Carla gefahren war. Erst als Irvin stockend berichtete, dass sie überstürzt von der Einweihungsparty geflohen waren, begriff John. So war das also. Und dass Carla nicht schuld war am Unfall beruhigte ihn dahingehend, dass sie keinen Selbstmord begehen wollte. Doch ihre Verletzungen! Multiple Traumata im Gesicht und Oberkörper durch Glassplitter und Plastikteilchen. Diverse Brüche an den Armen und Beinen. Innere Verletzungen. Er schüttelte sich, Ann weinte haltlos.

»Wir werden alles dafür tun, dass Ihre …« » …Freundin«, half John. »Ihre Freundin bald gesund wird. Es ist bei aller Schwere der Verletzungen so, dass es im Laufe der Zeit heilt.«

»Und ihr Gesicht?«

»Es werden wohl Narben bleiben.« Der Arzt hob abwehrend beide Hände. »Narben, doch kaum sichtbar.«

»Wirklich?« John machte sich große Sorgen.

»Wirklich. Unser Spezialist für Schönheitsoperationen ist Doktor L.« Den kannte John. Zumindest dessen Ruf als Koryphäe für Schönheits-OP.

 

  1. Ruby

 

Himmelblaue See, meerblauer Himmel. Die Cote Azur. Den Flug nach Nizza hatte Ruby genossen. Sie durfte am Fenster sitzen. Von Paris bis Nizza, strahlend blauer Himmel! Unter sich, neuntausend Fuß tiefer zog Frankreich vorbei.

Sie sah Felder, Dörfer, Städtchen, Straßen, Eisenbahnschienen. Autobahnen, auf denen die Autos wie Schnecken krochen. Die Alpen erhoben sich dem Vorland, stiegen immer höher. Fern der Mont Blanc, mit seiner ewigen weißen Spitze. Die Täler weit. Straßen, Häuser, Flüsse… Dann das Mittelmeer. Noch blass und entfernt im Dunst. Das Flugzeug schwebte ein, balancierte auf den Luftströmungen und landete sacht.

In Cannes bezogen sie eine Ferienwohnung. Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Kinderzimmer, ein Bad. Modern, hell, mit Blick über eine Marina aufs Meer.

»Ah, hier gefällt es mir!« Ruby, Grace an ihrer Seite, trat auf den Balkon. Von See wehte ein lauer Wind. Unten, hundert Meter weiter, wogte der Verkehr. Ihr war es gleich. In hundertfünfzig Metern Entfernung lag der Sandstrand, extra hierher transportiert für die Touristen. Wenn sie nach links schaute, konnte sie das Alte Cannes sehen, nach rechts führte der Boulevard Midi immer an der Küste entlang bis nach Saint Tropez und Marseille. Ruby breitete die Arme aus, atmete tief ein. Sie fühlte den Atem

Etiennes in ihrem Nacken. Wohlig schaudernd lehnte sie sich an ihn.

»Ich liebe Dich«, flüsterte er. „Und Grace.“

„Und ich Dich und Paul.“

Sie spürten, wie gut sie zusammenpassten. Etienne lernte von ihr Zeichnen, obwohl er erst abgelehnt hatte. „Ich hatte in der Schule immer ein vier!“

„Na und. Dein Zeichenlehrer hatte keine Ahnung.“

Sie saßen zu viert auf einer Bank, jeder mit einem Skizzenblock in der Hand. Der Blick von dieser Stelle über das Tal und auf die gegenüberliegenden Berge war grandios. Ruby arbeitete wie besessen. Ihre Begleiter, Schüler, Geliebte, Kinder kritzelten auf dem Papier. Paul zeigte sich talentierter als sein Vater. Stolz zeigte er Ruby sein Machwerk und erhielt überschwängliches Lob. Die kleine Reisegruppe fuhr mit einem geliehenen Cabriolet über die Straßen des Hinterlandes. Sie waren in Marseille, Saint Tropez, Aix en Provence, Arles.

Ruby schleppte sie durch Museen und Galerien. Picasso, van Gogh, Renoir und so weiter. All die alten Meister und auch die Moderne kam nicht zu kurz.

„Hier könnte ich leben!“, rief Ruby begeistert aus. Und auch die Kinder teilten ihre Meinung.

Nur Etienne verströmte Unruhe.

Schwitzend trennte sie sich voneinander, lagen jetzt auf dem Rücken. „Das war schön, Etienne“, flüsterte Ruby und er flüsterte zurück: “Gerne wieder.“ Entspannt drehte er sich auf die Seite. Seine Blicke strichen über ihren Körper. „Ich liebe jede Faser an Deinem Körper.“

„Das ist lieb.“ Er streichelte sie. Doch sie spürte seine Unruhe. „Was ist?“

„Nichts.“

„Nichts? Du bist nicht hier, Etienne. Also, was ist?“

„Geschäftliches.“

„Probleme“, stellte Ruby fest.

„Hmhm.“ Er beugte sich vor, küsste ihre Schulter. Aus dem Nebenzimmer hörten sie Grace schwatzen und Pauls dunkle Stimme. Mit dem Daumen zeigte Etienne über seine Schulter. „Ich bin froh, dass die beiden sich so gut verstehen.“

„Hmhm. Du lenkst ab.“

“Zurzeit ist es verdammt eng. Die EU, die Provinzverwaltung, die Regierung. Alle drücken sie auf uns ein. Wir versuchen, den Fischern ehrliche Preise anzubieten. Doch dann lohnt sich die Verarbeitung nicht. Die Kosten steigen, Abgaben steigen, und die Gewinnen sinken und sinken.“

„Was willst Du tun?“

„Verkaufen, bevor es zu spät ist.“

„Und dann.“ Ruby lag jetzt auch auf der Seite. Etienne war abgelenkt. „Was hast Du gefragt?“

„Und dann? Was willst Du dann tun?“

„Weiß nicht. Das Unternehmen war bisher mein Leben.“ Er griff nach ihr. Jetzt lagen sie wieder eng aneinander geschmiegt. „Wir verschieben das Thema auf morgen?“, flüsterte Etienne Ruby ins Ohr. Und sie nickte und drängte sich noch dichter an ihn heran. Der Schweiß, der noch an ihrer Haut klebte, kümmerte sie nicht mehr…

Gleich nach dem Frühstück erklärte Etienne, dass er zurückreisen würde. Sofort!

„Ich komme mit!“ bestimme Ruby. Grace saß dabei und nickte gewichtig: „Ich auch!“

„Wenn Grace mitkommt, dann ich auch!“, Paul.

„Keiner kommt mit. Ich reise allein. Was wollt ihr zu Hause?“

„Nichts da. Du musst abreisen, wir kommen mit.“

Etienne schmunzelte. Doch seine Sorgenfalten, die Ruby zum ersten Mal an ihm sah, überdeckten das Lächeln.

„Kinder, ich liebe euch! Doch ihr stört! Ich kann euch nicht zu den Verhandlungen mitnehmen. Ist das klar?“ Er war nicht böse, er genoss die Liebe seiner neuen Familie. Er mochte es, wie sie zusammenhielten, dass sie ihm beistehen wollten. Doch das ging diesmal nicht.

Ruby dachte nach. Seine Andeutungen, das Unternehmen zu verkaufen, die Unruhe, die er neuerdings ausstrahlte. Er mußte eine Lösung finden. Das konnte nur er, sah sie ein. Und er hatte Recht. Hier wußte er sie „in guten Händen“, wie man so sagte. Was sollten sie im hohen Norden. Und Paul hatte noch Ferien.

„Gut, wie bleiben. Und Du rufst jeden Tag zweimal an?“

„Ja, so machen wir’s.“

Dann war er weg. Sie sahen noch dem Taxi hinterher, und winkten bis er um die nächste Straßenecke verschwunden war.

Paul trug Grace auf den Armen. Ruby ging das Herz auf, wie liebevoll sich Paul um seine Stiefschwester kümmerte. Er ließ sie nicht aus den Augen, passte auf, dass ihr nichts passierte. Und nebenbei erzog er das kleine verwöhnte Mädchen.

„Grace, das tut man nicht!“, „Sitz gerade, Grace.“, „Nimm die Gabel in die rechte Hand.“, „Will nicht!“, „Grace!! Will nicht gib es nicht!“ Ruby schmunzelte still in sich hinein.

Wieder waren sie unterwegs. Sie liefen durch kleine Städtchen, strichen über wundervolle Märkte, sahen von den Bergen in die Täler, schwammen im Mittelmeer.

Abends waren die Kinder so müde, dass sie ohne Diskussion ins Bett gingen und sofort einschliefen. Nur Etienne meldete sich nicht. Keine Antwort auf ihre Mails, kein Anruf. Nach dem dritten Tag machte sie sich ernsthaft Sorgen. Auch Paul fragte ständig nach. Was sollte Ruby antworten?

 

 

  1. Verhandlungen

 

„Die Delegation ist da“, flüsterte Marie. „Schick sie rein.“ Etienne lehnte sich erschöpft im Sessel zurück. Müde rieb er sich die Augenwinkel. Die Tür ging auf. Vier Männer drängten sich durch die Tür: drei chinesische Investoren mit ihrem Pariser Advokaten. Etienne war aufgestanden und ging den Männern entgegen.

Er zeigte auf die Sitzgruppe: „Bitte, nehmen wir hier Platz.“ Marie hatte für einen Imbiss und Getränke gesorgt. Die Perle! Sie kümmerte sich um die Gäste. Man sprach von der langen Reise, dem Wetter, dass es in Paris so toll sei. Shanghai! Großartig. Höflichkeiten. Stille trat ein. Erwartungsvoll sah Etienne auf den Advokaten.

„Nun, kommen wir zum Geschäft.“ Er stellte einen Aktenkoffer auf seine Knie. Umständlich öffnete er die Schlösser. Knackend sprangen sie auf. Für einen Moment verschwand der Advokat hinter dem Deckel des Koffers. Dann erschien eine Hand mit einem Aktendeckel. Der Koffer klappte zu. Über den Aktenkoffer reichte der Advokat Etienne die Papiere. „Wie abgesprochen.“

Etienne nahm den Ordner entgegen. Er schlug ihn auf, überflog den Text. Ja, alle Seiten waren von ihm paginiert. Die letzte Seite musste nur unterschrieben werden. Er griff in die Brusttasche seines Jacketts. Dort steckte sein altmodischer Füller, der noch aus den Zeiten seiner Lehre stammte.

„Halten wir uns an die Abmachung, was die Belegschaft betrifft?“ Er sah dabei die Chinesen an. Einer von ihnen übersetzte, man nickte. „Ja, wie vereinbart. In den nächsten zwei Jahren keine Entlassungen.“

„Danke.“ Doch das ungute Gefühl blieb. Aber was sollte er machen. Morgen wäre er pleite und keiner hätte mehr Arbeit. Und das in dieser Gegend! So ist Zeit für alle gewonnen. Die örtliche Presse hatte sich auf ihn eingeschossen:

„Traditionsunternehmen soll verschleudert werden!“, „Zukunft: Arbeitslosigkeit!“, „Etienne P. verschleudert Fabrik!“

Tage-, wochenlang hatte er mit der Gewerkschaft verhandelt, bis alle, auch er nachgegeben hatte und sie einen Mittelweg fanden. Diesen! Sie alle wussten, was es bedeutete, wenn die Fabrik dichtmachen würde. Das betraf nicht nur einige hundert seiner Leute, sondern auch die ganze Stadt. Nein, er hatte keinen Grund, den Vertrag zu feiern. Unter einem Vorwand lehnte er das freundliche Angebot, noch ein Restaurant zu besuchen ab. Es war schon lange nach Feierabend, Marie war nach Hause gegangen. Er stand vor dem Tor der Fabrik. Sah sich nicht um. Nein, er wollte, konnte nicht noch einmal zurück sehen. Er holte sein Handy aus der Brustasche. „Es ist vollbracht“, sandte er an Ruby. Nach fünf Tagen die erste Nachricht.

Susi nannte sie sich. Etienne war immer hier eingekehrt, wenn er sich einsam fühlte. Besonders nachdem seine Frau verstorben war. Eine lächerliche Kinderkrankheit. Doch sie hatte keine Schutzimpfung dagegen erhalten, damals, als Kind.

Susis Ausschnitt ließ einen tiefen Einblick zu. So tief, dass der Hof ihrer Knospen zu sehen war. Der Rock war kurz, kaum breite als ein Gürtel. Er kannte, ohne sich anzustrengen, ihren Schlüpfer bewundern, wenn es denn etwas zu bewundern gab und die Strapse und ihre nackten Oberschenkel, bevor die Strümpfe begannen. Sie hatte einen Arm um ihn geschlungen. Mit tiefer Stimme flüsterte sie ihm schlüpfrige Angebote ins Ohr, streichelte sacht über seine Schenkel. „Was ist? Gehen wir hoch, zu mir?“ Er schüttelte den Kopf. Was machte er hier? In Cannes wartete seine Familie, und er hing hier in dieser Stampe?

Susi war aufdringlicher geworden. Ihre Hände drängender. Schließlich hingen etliche Euro am guten Willen dieses Etienne. Wenn er nicht bald reagieren würde, müsste sie sich einen Anderen suchen.

„Sei nicht böse, Susi, es geht heute nicht.“ Enttäuscht wandte Susi sich ab.

„Dann nicht. Bis zum nächsten Mal.“ Wird es nicht geben, dachte Etienne. Er bezahlte. Was sollte er hier?

Ob er Ann und John besuchen sollte. Er brauchte heute jemanden, mit dem er reden konnte. Vor einigen Jahren war es noch sein Vater gewesen - möge ihm die Erde leicht sein - und später seine Frau. Er hatte sie abgöttisch geliebt. Bescheiden, klug. Leider gab sie ihre Arbeit auf, als der Junge da war. Doch es ist ein prächtiger Sohn geworden! Doch. Und wie er sofort dieses kleine Biest Grace aufgenommen hatte. Etienne seufzte.

„Das ist er“, hörte es er hinter sich flüstern. Ihm lief ein Schauer über den Rücken.

Ein Gefühl der Bedrohung. Etienne spannte sich an, beschleunigte seine Schritte, wollte schnell die Hauptstraße erreichen.

Hinter ihm knirschten Schritte.

 

 

  1. Verdachtsmomente

 

Ann war schneller. Sie riss den Telefonhörer an ihr Ohr. „Ja?“ Alle standen um sie herum. „Ja.“ Ann Gesicht wurde ernst. „Wo?“ Sie hörte. „Weiß Bescheid, wir kommen sofort.“

Glücklicherweise gibt es bis La Breché keine Radarfallen. Und wenn schon! Ann raste mit dem Wagen, als wären tausend Teufel hinter ihnen her. Vor dem Haus von Docteur Lavalle stoppte sie mit quietschenden Bremsen. Dann standen sie in einer Art Ruheraum neben dem Behandlungszimmer. Docteur Lavalle hatte sich wie ein Cerberus vor der Liege seines Patienten aufgestellt. Abwehrend hob er die Hände. „Vorsicht, meine Damen! Monsieur ist stabil, aber er ruht noch. Wer unter Ihnen ist seine Gattin?“

Ruby trat vor, an der Hand Grace und neben ihr Paul, der nicht von ihrer Seite wich. „Ich!“, behauptete sie. Der Doc trat zur Seite. Etiennes Kopf war dick verbunden, ein Arm in Gips. „Oh, Etienne!“ Ruby beugte sich über ihn, „Was ist mit ihm?“

„Es sah ziemlich schlimm aus, Madame. Man hatte ihn überfallen und zusammengeschlagen.“

„Aber, wieso denn?“

„Ein Racheakt, nehme ich an.“

„Rache…“

„Weil er die Firma verkauft hat.“

Etienne versuchte ein Auge zu öffnen. Doch es war, wie seine Lippen und die Nase, zu dick geschwollen.

„Bleiben Sie ruhig, M’sieur. Ihre Frau und ihre Bekannten sind hier. Wir lassen

Sie nach Hause bringen.“

Erschöpft sank Etienne zurück.

„Weiß man wer das war?“ fragte John.

„Die Polizei ermittelt. Ihr Gatte“, er wandte sich wieder Ruby zu, „hat aber keine Anzeige erstattet. „Doch die Kripo muß ermitteln, ob er will oder nicht.“

„Was machen wir nun?“

„Wenn sie ihn zu Hause pflegen wollen oder können, werde ich einen Krankentransport rufen. Er darf nur liegend transportiert werden.“

„Tun Sie das Docteur. Und vielen, vielen Dank.“

Der Doktor nahm den Hörer vom Ohr. „Wo soll ihr Gatte hin?“

„Natürlich zu uns, keine Frage“, rief Ann. Sie gab die Adresse weiter. Nachdem

der Arzt sein Gespräch beendet hatte, sagte er zu Ann: „Ah, sie sind das also.“

„Ich?“ Fragend tippte sich Ann auf die Brust.

Der Docteur schmunzelte. „Ich habe ihre Ausstellung in V. gesehen. Tolle Bilder. Und ich bin stolz, Ihnen sagen zu können, dass ich eines gekauft habe.“

„Welches?“

„Das an der Klippe. ‚Sturm’. Es hat bei mir einen Ehrenplatz.“

 

„Vorsicht, bitte, Vorsicht:“ Ruby lief neben der Trage her. „Dort entlang und jetzt hier.“ Man stelle Etienne in die Nähe von Rubys Werkstatt. „Ja, hier habe ich ihn besser unter Kontrolle.“ Ruby war zufrieden. Vorsichtig strich sie über die Verbände.

„Mein armer, armer Etienne.“ Der versuchte tapfer mit seinen geschwollenen Lippen zu grinsen, doch es sah eher lächerlich aus. „Wird schon wieder, Alter“, brummte John. Grace stand in der Nähe und beobachtete das ganze Geschehen genau. Paul hielt sie an der Schulter. Seine Mine war ernst. „Wirr er wieder ganz gesund?“

„Aber klar doch, Junge“, brummte John und dachte an die eine, die einzige Kneipenschlägerei, die er erlebt und mitgemacht hatte. Danach sah er genauso aus, wie Etienne. Nur, dass er nicht beim Arzt wieder zu sich gekommen war, sondern in einer Zelle bei der Polizei. Danach die ganze Prozedur: Erkennungsdienstliche Aufnahme hieß das, oder so. Jedenfalls schwor er sich: nie wieder eine Prügelei. Seine Genugtuung war, dass die Kneipe danach wohl schlimmer ausgesehen hatte als er.

Ann war bei der Arbeit. Ruby sortierte ihre Bilder, Skizzen und Zeichnungen, die sie von der Cote Azur mitgebracht hatte. Grace schimpfte mit ihrer Puppe, und Paul übte mit einer Gitarre. Es klang einfach schrecklich! John war in V., denn er kümmerte sich immer noch sporadisch um Carlas und Irvins Firma. Es klopfte. Ann ging zur Tür.

„Kommissar Tribaut, das ist mein Kollege Sedan. Wir kommen …“

„Treten Sie näher. Aber ich kann ihnen sagen, dass Monsieur Etienne noch nicht

sprechen kann.“

„Oh, das ist nicht weiter schlimm. Vielleicht können Sie uns helfen.“

Ann führte die Männer in den Salon. Verstohlen sahen sich die Polizisten um. Ruby kam herein.

„Können wir den Geschädigten sehen?“, fragte der Kommissar.

„Ja. Folgen Sie mir.“

 

Interessiert betrachteten die Kriminalisten den Verletzten. „Wir haben schon eine lange Liste der Verletzungen von Docteur Lavalle erhalten. Jedoch lege ich

Wert auf den Augenschein.“

Die Frauen schwiegen. Was sollten sie auch sagen.

„Man fand ihn in einer Seitenstraße. Wissen Sie, dort in der Nähe dieses Bordells.“

Was soll das, fragte sich Ann und Ruby wurde rot. „Ja, und?“ fragte Ann. Ihre Mine wurde hart, fast unfreundlich. „Was hat das mit den Verletzungen zu tun?“

„Nun vielleicht nichts. Aber…“

„Ja, Aber?“, jetzt reagierte Ruby. „Was wollen Sie damit sagen?“

„Nun, wir vermuten, dass ihr, äh…“ „Mann“, half Ruby. „…Mann.“ Er stutzte: „Sind sie verheiratet?“

„Nein, noch nicht. Wir wollten in Kürze, Bälde…“

„Wie auch immer. Wir vermuten Ihr Zukünftiger hatte vielleicht Probleme. Mit

dem Bordell.“

„Hören Sie. Wir wissen nichts von einem Bordell. Er hatte eine schwere Verhandlung

mit Investoren hinter sich. Da war er wohl noch auf ein Glas Wein …“

„Das ist natürlich auch möglich. Wir müssen nur alles beachten. Racheakt der

Arbeiter oder Bordell. Kann ja auch ein missglückter Raubüberfall gewesen

sein.“

Sein Begleiter fiel ein: „Er hatte doch noch alles bei sich?“

„Ja, soviel wir wissen:“ Ruby blieb misstrauisch. In ihrem Inneren tobte der Widerstreit. Bordell? Bordell? Hatte es das nötig? Oder? „Dann wollen wir Sie nicht länger stören, meine Damen. Nichts für ungut.“ Der Kommissar stand auf. „Und bestellen Sie ihrem Mann, gute Besserung“, fügte sein Assistent hinzu. Kaum waren die Männer in ihrem Auto weggefahren, fauchte Ruby: „Bordell!“ Wütend stampfte sie die Treppe zu ihrer Werkstatt hinauf. Ann hörte ihre Freundin rumoren. Etienne lag immer noch auf der Liege. Sein Atem ging ruhig. Er schlief. Ruby kam aus der Werkstatt geschossen, gerade als Ann nach Etienne sehen wollte. Sie fauchte Etienne an: „Was wolltest Du in diesem Bordell?“

„Hey, Ruby, ruhig“, sagte Ann.

Etienne hatte die Augen geöffnet. Er bewegte verneinend den Kopf. Leise flüsterte er etwas. Ruby beugte sich über ihn. „Was hast Du gesagt?“

„Ich liebe Dich, Ruby.“

Ruby richtete sich wieder auf. „Ach Du!“, rief sie, schon weiniger wütend. „Ich Dich doch auch.“ Aber da war Ann schon verschwunden. Irvins Krücken lehnten an der Wand. „Geht’s schon besser?“, fragte John.

„Bis aufs Leitersteigen geht es schon. Es ist alles noch ein bisschen steif.“ Er verzog das Gesicht. „Und wenn ich lache, tut’s weh.“

„Irvin sei jetzt bitte nicht sauer.“ John begann vorsichtig. Irvins Mine wurde ernst. „Ja? Ich meine nein.“

„Eure Bilanzen stehen nicht gut. Kann es sein, dass eure Ausgaben enorm gestiegen

sind?“

„Wie das? Wir geben doch nicht mehr, als sonst aus.“

„Bist Du Dir sicher?“

„Definitiv. Mir werden alle Rechnungen zur Gegenzeichnung vorgelegt.“

„Hm.“ John lehnte sich zurück. „Wer prüft die Rechnungen?“

Irvin sah John an, als hätte er ihm vorgeschlagen, Mäuse zu melken. „Ich, stichprobenartig. Wir haben Verträge.“

„Ich schlage vor, wir beauftragen einen Prüfer, der sich euer Unternehmen genauer

ansieht.“

„Was soll das? Vertraust Du mir nicht?“

„Doch. Hundertprozentig, Irvin. Ich vermute aber, dass irgendwo Geld abfließt.“

„Sollte ich nicht selbst …“

„Nein, lass es einen neutralen Prüfer machen.“

„Gut, wen schlägst Du vor?“

Sie einigten sich auf einen Bekannten von John. „Und jetzt fahren wir zu Carla.“ Es stach immer wieder in Johns Schritt, wenn er an Carla dachte. Sie fanden Carla auf dem Flur. Angeregt unterhielt sich, so gut sie es durch die Binden und Pflaster konnte, mit einer älteren Dame. „Irvin, John! Ich freue mich.“ Langsam stand Carla auf. Ihre bedächtigen und vorsichtigen Bewegungen versetzten John einen Stich. Oh Carla, Carla, dachte er mitleidig. Er sah sie auf seinem Schoß sitzen, wie sie … schnell konzentrierte er sich auf seinen Besuch.

„Wie geht’s, Carla?“ Er gab ihr einen Luftkuss auf die Wange.

„Es wird, John. Wenn diese Schmerzen nicht wären.“ Sie setzten sich an einen

anderen Tisch.

„Ich hole uns Kaffee?“ Irvin war schon unterwegs.

„Hör mal, Carla“, John beugte sich vor. „Das damals, vor Deinem Unfall …“

„Schon gut. Vergessen, ja?“ Ihre Augen straften sie Lügen. Nichts hatte sie vergessen! Sie liebte ihn immer noch und er sie. Am liebsten hätte er Carla jetzt in die Arme genommen und nicht nur das, mehr, viel, viel mehr. „Da, der Kaffee. Nah? Habt ihr euch auch nicht gelangweilt, so ohne mich?“

„Doch, Irvin. Du fehlst doch immer.“ Carla streichelte Irvins Wange. So zart, dass John fast verzweifelte. Carla Finger zitterten ein klein wenig dabei. „Sie haben fast alles aus mir herausgeholt: Glas, Plastik und kleine Holzstückchen.“

Carla holte ein Plastiktütchen aus ihrer Jackentasche. „Hier.“ Sie hielt es hoch. Die Männer sahen ein Häufchen Splitter aller Größen und Formen. „Au, verdammt“, sagte John und Irvin: „Mein lieber Schwan. Meine kleine, arme Carla.“

John würde das nächste Mal Carla allein besuchen, nahm er sich vor. Dannkönnte er nochmals in aller Ruhe mit ihr reden. Ein Grünkittel erschien auf der Fläche. „Madame. Sie müssen sich vorbereiten.“ Ernst sah er die Männer an. „Messieurs.“, drehte sich um und war auch schon verschwunden.

„Vorbereiten?“, fragte Irvin.

„Morgen früh. Die hoffentlich letzte Operation. Dann kann ich in einer Woche hier raus.“

„Ich wünsche es Dir.“

Sie standen auf. Vorsichtig nahm John Carla in die Arme. Sie drückte ihn fester, als er erwartet hatte. Ihre Lippen waren heiß und verlangend. Rechtzeitig, um nicht Verdacht zu erregen, ließ sie ihn los. „Schön, dass ihr gekommen seid“, hauchte sie, als sie Irvin drückte und John wurde es eng im Kragen seines Hemdes.

„Viel Glück. Wir sehen uns morgen Abend!“ Irvin winkte noch einmal, bevor Carla in ihrem Zimmer verschwunden war.

 

„Gut siehst Du aus!“ Ann hielt Carla mit zwei Armen von sich ab und untersuchte deren Gesicht. „Nichts mehr zu sehen!“ Carla lächelte versonnen. Die Terrasse war voller Menschen, die fröhlich schwatzten und lachten. Die Party zu Ann Geburtstag war im vollen Gange. Carla und Irvin waren später gekommen, doch das war nicht weiter schlimm. Ann hakte sich bei den beiden ein, und führte sie durch die Menschenmenge. Hier und da blieb sie stehen, um sie jemanden vorzustellen.

Cloè war gekommen und Gustave. Als er Ann umarmte, flüsterte er ihr ins Ohr: „Danke, Ann. Du hast mir gezeigt, dass es mit Frauen schöner sein kann.“ Sie lachten herzlich darüber. Cloè stürzte sich auf John. Lange war sie nicht von seinem Arm zu trennen, bis sich Gustav erbarmte. Natürlich streiften sie durch Atelier. Cloè war begeistert, Gustave höflich. Er spürte eine gewisse Konkurrenz. Doch das ist eben natürlich.

Etienne hatte noch lange benötigt, bis er wieder feste Nahrung zu sich nehmen konnte. Und auch lange hatte er gebraucht, bis er wieder aufstehen und gehen konnte. Die Stimmung in La Bréche hatte sich beruhigt. Die Chinesen hielten sich, trotz aller Unkenrufe, an die Vereinbarung. Sie hatten zwar versucht, die Arbeitszeit zu verlängern und strichen auch einige Vergünstigungen, die zu Etiennes Zeiten noch galten, doch zwei Tage Streik hatten genügt, um wenigsten die Arbeitszeit zu erhalten. Etienne war in den Stadtrat gewählt worden. Auch dank der Presse, die plötzlich umschwenkte und ihn als Retter feierte. Er wollte seinen Einfluss geltend machen und irgendwie Arbeitsplätze beschaffen. Für die Zukunft, denn absehbar war die Schonzeit für die Fabrik bald abgelaufen. Dann drängten nahezu dreihundert Menschen auf den Arbeitsmarkt. La Bréche besitzt eine uralte Tradition als Fischerort. Hier wollte er ansetzen, um den Tourismus anzukurbeln. Daher war er auf Anns Geburtstagsparty damit beschäftigt zu akquirieren, Verbindungen zu schaffen und Netze zu knüpfen.

Auf der Suche nach Irvin, den Carla in der Nähe der Bar vermutete, traf sie auf John. Der unterhielt sich angeregt mit dem Präfekten, doch als er Carla sah, entschuldigte er sich sofort. Er nahm sie am Arm: „Komm, gehen wie ein Stück.“

Sie verließen das Grundstück. Vorne, an der Klippe, blieben sie an einem Sanddornstrauch stehen. Nebeneinander stehend sahen sie auf den Kanal. Segler glitten über das Wasser, große Containerschiffe kreuzten. Eine Schnellfähre stürmte mit hoher Bugwelle auf Calais zu.

„Ein schöner Ort, John. Sehr gut gewählt.“

„Ja. Jeden Tag ist es hier anders.“

„Ist das La Bréche?“

„Hm.“

„Die Marina ist größer geworden?“

„Ja, es kommen jetzt mehr Freizeitkapitäne nach La Bréche. Ist ja auch den ganzen Sommer über was los.“

Carla drehte sich zu John, dem die Knie zitterten und das Herz bis zum Hals schlug. „Ach John. Wie ich Dich liebe.“

„Sag das nicht. Bitte.“

„Aber warum nicht?“

„Es bricht mir das Herz.“

Sie sah wieder aufs Wasser. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Eine tropfte herunter und verursachte einen nassen Fleck im Sand. Wenn er gekonnt hätte, würde er heulen wie ein Wolf. Aber da war noch Ann, die er genauso liebte. Kann ein Mensch mehrere Lieben haben, ohne sich zu verzetteln oder einen zu vernachlässigen?

„Übrigens“, Carla wurde jetzt sachlich. „Dein Prüfer hat es gefunden. Oder besser ihn.“ John war noch zu sehr mit dem anderen Thema beschäftigt.

„Was?“

„Es war Pierre. Er hatte mit mehreren Lieferanten die Rechnungen getürkt und schön nebenbei einkassiert.“

„Ah, so ist das also. Und nun?“

„Er wird wohl seinen Porsche verkaufen müssen. Vielleicht sehen wir von einer Klage ab, wenn er den Schaden ersetzt.“

„Reicht denn das?“

„Nein. Er wird sich was einfallen lassen müssen.“

„Arbeitet der immer noch für euch?“’

„Nein. Irvin hat ihn freundlich, aber nachdrücklich rausgeschmissen. Ein langer irischer Satz: You ar fired!“ Sie hatte Irvins Stimme gekonnt nachgeäfft.

John lachte laut. Irvin! „Und kein Fluch hinten dran?“

„Doch. Der war richtig lang! Ich habe kein Wort verstanden. Und die, die ich verstanden hatte, verschweige ich lieber.“

„Hier seid ihr!“ John und Carla fuhren erschrocken herum. Ann und Irvin. Arm in Arm. „Was habt ihr zu flüstern?“ Es sollte spaßig klingen, doch ein wenig Eifersucht schwang mit.

„Ich habe Carla die Aussicht gezeigt. Und wir haben über Irvin gelacht.“

„Waas. Über mich?“

„Ja. Dein langer Vortrag beim Rausschmiss dieses Typen. Kannst Du den Fluch noch einmal wiederholen?“

Irvin tat es. Jetzt lachten alle.

 

Dieses winzige Hotel lag in einer ebenso winzigen Straße auf der Ile de Paris. Verschwiegen nennt man solche Orte. Hier achtet, trotz der Enge, niemand auf den Anderen. John wartete schon eine drei viertel Stunde. Langsam wurde er unruhig. Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen, dachte er, als es klopfte. Leise, verstohlen. Er ging zu Tür, machte sie einen Spalt auf. Carla! Endlich! Sie schlüpfte ins Zimmer. „Hat Dich der Concierge gesehen?“ Doch Carla hing schon an seinem Hals, küsste sein Gesicht, seine Hände, drückte sich mit ihrem ganzen Körper an ihn. Sie schüttelte den Kopf. Nachdem sie sich von ihm trennen konnte, sah sie sich um. „Wir haben schon besser gewohnt“, stellte sie fest. Das Zimmer war nicht groß. Ein riesiges Bett stand in der Mitte. Über dem Kopfende hing ein Bilderdruck. Eine Landschaft, schon vergilbt, in einem abgeschabten Rahmen. Auf die Wände hatte man dunkelroter Tapete geklebt, die auch schon ihre Jahre hinter sich hatte. Dichte Stores verdunkelten den Raum. Von draußen konnte niemand hereinsehen. Die üblichen Möblierungen auf einem grauen, ausgetretenem Teppich. Ein alter Röhrenfernseher klemmte in der Ecke neben dem Fenster.

„Ja, aber es ist sauber hier.“ Sie roch es. Er setzte sich auf das Bett. Es knarrte leise. Carla zog ihre Jacke aus. Ihr Busen sprengte bald die Bluse. Sie machte auch nicht viele Umstände, ihre Kleidung landete auf dem Hocker, neben dem Bett. Da stand sie nun vor ihm, der sich nicht gerührt hatte, sondern sie nur fasziniert anstarrte.

„Wie jetzt? Gefalle ich Dir nicht mehr?“

John schluckte. „Komm …“

 

„Ich habe jede Sekunde mit Dir genossen!“, rief sie aus dem Bad. Das Zimmer

besaß keine Dusche, dafür eine gusseiserne Badewanne mit schönen, alten Armaturen aus Messing. Carla plätscherte und pfiff leise eine Melodie. „Johon? Bist Du noch da?“

Er stand auf, ging ins Bad. Vor der Wanne hockte er sich hin, sah Carla bei ihrer Wäsche zu, obwohl durch den dichten Schaum kaum etwas zu erkennen war. Provozierend blickte sie ihn an. Nein, dachte er. Das ist zu eng für uns beide. Er stand auf und bekam einen Schaumball auf sein Gemächt gedrückt. Sie lachte und zeigte mit dem Finger darauf. „Du Biest!“

Er trocknete den Schaum mit einem Handtuch ab. „Weist Du, dass Du einen schönen Hintern hast?“, fragte sie.

„Ja. Sagt Ann auch immer.“ Autsch, wie gedankenverloren! Doch es stimmte. Vorsichtig sah er zu Carla. Doch die griente. „Lad‘ sie doch mal ein. Dann machen wir es zu dritt.“ Franzosen!, dachte John.

 

„Ich muss heute wieder zurück“, sagte er.

„Schon klar. Ich ja auch. Irvin macht sich sonst Sorgen.“ Auch Carla verspürte einen Stich ins Herz. Irvin. Der Ärmste. Ahnt nichts. Carla, Du bist eine Böse, schalt sie sich. Carla mußte sich auf die Straße konzentrieren. Bei der ersten Ausfahrt nach ihrem Unfall zitterten ihr noch die Hände. Doch das hatte sich schnell gegeben. Ja, sie hatte es genossen, mit John, obwohl jeder zweite Gedanke Irvin gegolten hatte. Mehr als früher. Viel mehr. Seit dem Unfall waren sie sich noch näher gerückt. Er war unglaublich zärtlich zu ihr. So zart, als hätte er Angst, sie bestünde aus dünnem Porzellan. Und aufmerksam. Es war, als könne er ihre Gedanken erraten. Dazu eine neue Vertrautheit. Damals, also vor dem Unfall, schämte er sich vor ihr. Er sah zur Seite, wenn sie nackt durch die Wohnung sprang. Hielt die Hände vor sein Geschlecht, damit sie nicht sehen konnte, wie sehr erregt er war. Doch das ist vorbei. Diese neue Offenheit gefiel ihr. Ihre Gefühle für Irvin waren anders, tiefer. Sie mochte alles an diesem Mann, auch wenn er manchmal nach Whiskey roch. Und seine Küsse! Die harten Lippen, wenn sie sich auf ihre drückten und wenn seine Zunge begann, die ihrige zu suchen. Und John? Sie entfernte sich von ihm. Ja, bis eben glaubte sie noch, sie würde verbrennen. Doch als sie dann zufrieden auf dem Rücken lag und die Mückenleichen an der Decke zählte, spürte sie: Das ist es nicht mehr. Nicht mehr so wie vor einem Jahr oder einem Monat oder einer Woche. Jetzt wollte sie nur noch schnell nach Hause und Irvin in die Arme schließen und sich still und heimlich bei ihm entschuldigen. Ja, das würde sie tun! Er musste es ja nicht hören. Es genügte, wenn er es spürte.

 

  1. Zu Hause

 

John hatte noch ein Weilchen auf der Bettkante gesessen. Immer noch Carlas Parfüm und den Badeschaum in der Nase. Sie war gegangen. Ein Küsschen auf die Wange. „Machs gut“, hatte sie geflüstert. Das war alles. Es fühlte sich an, wie ein Abschied. Er langte nach seinen Sachen, zog sich langsam an.

Ein Abschied?

Ja, ich denke, das war’s. Ein letztes Mal.

Er spürte Carlas Lippen auf den seinen. Wild hatte sie ihn geküsst, ihre Zunge fuhr in seinem Mund herum, dann war sie seufzend auf ihn gefallen. Schweiß klebte auf ihrer Haut. Er streichelte sanft den Rücken, ihren Po, drückte ihren Unterleib gegen den seinen. Da war sie plötzlich aufgestanden und ins Bad gegangen.

„Oh, eine Wanne!“, hatte sie gerufen.

 

Die Treppe knarrte. Bei jeder Stufe dachte er: Carla, Ann, Carla, Ann, bis er unten war. Er zahlte. „Wollten Sie nicht länger bleiben, Monsieur?“

„Ja. Doch eine dringende Angelegenheit …“

Dunkel war es inzwischen. Auf der Straße nach Le Bréche kamen ihm wenige Autos entgegen. Er erschrak, als er von einem Motorrad überholt wurde. Dann liefen seine Gedanken wieder in ruhigen Bahnen.

Ann. Ann ist meine Frau, Gerry sein Sohn. Carla ein Abenteuer. John sagte er zu sich, du wirst älter. Denke daran. Und Carla hatte ihm heute deutlich gezeigt: Es ist Schluss. Aus, vorbei, perdu. Und John spürte Erleichterung statt Trauer. Hatte er nur nicht den Mut gehabt, zu Ann zu stehen? Hundert Prozent? Nicht nur fünfzig oder siebzig? Nein, das war vorher anders. Er hatte sich zu Carla hingezogen gefühlt. Sexuell! Denn sie ist einmalig im Bett. Besser als Ann, wenn ehrlich ist. Aber Ann ist anders. Sie lässt ihn spüren, dass sie ihn liebt, mit jeder Faser ihres Körpers. Es kribbelte, als er sie sich vorstellte, seine Ann. Nackt, süß, verschämt. Und dann wild und schrecklich erotisch, wenn sie singt und tanzt.

Es tut nicht mehr weh. Hatte er das nicht in einem alten Schlager gehört? Egal. Es tut wirklich nicht mehr weh. Aber die Erinnerung ist unglaublich schön.

„Ann!“ John stürmte die Treppe hoch. Ann stand in ihren berühmten, mit Farben bekleckerten Kittel vor der Staffelei. Sie sah ihn durch die Tür stürmen. Er nahm ihr die Palette ab, legte sie vorsichtig auf den Hocker neben der Staffelei. Dann umarmte er SEINE Ann. Fest und lange. „Ich bin wieder da.“

Und Ann?

„Das sehe ich.“

 

 

* * *

 

 

 

 

 

»Grüne Augen«

© 2014 Reiner A. Hampusch

 

 

Impressum

Texte: 2014 by Reiner A. Hampusch
Bildmaterialien: 1992 by Reiner A. Hampusch
Lektorat: 2. Überarbeitete Auflage Oktober/November 2015
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2014

Alle Rechte vorbehalten

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