Er hatte es nur einmal ausprobieren wollen, ein einziges Mal, verdammt noch mal! Niemand konnte ihm daraus einen Vorwurf machen. Doch die Sache war mächtig in die Hosen gegangen. Nicht zu leugnen.
Jaczek lag auf dem Boden und versuchte das Gesicht des Mannes zu sehen, dessen Schuhsohle ihn auf den feuchten Boden drückte. Keine Chance. Der Absatz des Halbschuhs bohrte sich ihm in die Nase und machte das Atmen zu einer schwierigen Angelegenheit. Jaczek hörte wie seine Atmung gepresst ging und ein schleifendes Geräusch machte.
Der Mann wiederholte die einzigen Worte, die er in den zwanzig Sekunden ihrer Bekanntschaft gebellt hatte: „Gib mir den Code!“
Jaczek war alles andere als sportlich, sonst hätte er sich jetzt mit einem Jiu Jitsu-Schlag befreit, so wie er dies in seinen virtuellen Spielen jeweils durch eine besondere Tastenkombination zu tun pflegte.
Der Mann erhöhte den Druck und drückte Jaczeks Gesicht noch brutaler auf den Boden der öffentlichen Toilette. Dann spuckte er ihn an.
„Gib mir den Code!“
Drei Jahre später
Paris, 1 Tag vor „Tag X“
Eine schmerzende Wärme breitete sich zwischen ihnen aus. Nur der Verkehr brauste irgendwo da draussen, einer Klangkulisse gleich, an ihrem Paradies vorbei. Wortlos blickte er sie an. Ihr dunkelrotes Haar fiel im Licht der Kerze, die auf dem Nachttisch stand, mit einem goldenen Schimmer auf ihre Schultern. Worte hätten dem Augenblick nicht Genüge getan. Als er sie an der Hand nahm und sie näher zu sich heran ziehen wollte, begann er zu zittern. Sein ganzer Leib bebte. Die Macht Amors hielt ihn in Bann und begann ihn immer mehr in Besitz zu nehmen.
Das Gefühl hatte sich über die letzten Tage aufgebaut. Wie aus dem Nichts war es aufgetaucht und hatte seine Wirkung zu entfalten begonnen. Niemand hätte es erwartet. Guillaume nicht, und Yeva auf gar keinen Fall. Es war genau so absurd, wie es jetzt unvermeidbar und unausweichlich erschien. Dieser Macht konnte man nicht widerstehen, und man wollte es auch gar nicht.
Yeva liess sich bereitwillig zu ihm heranziehen. Und je näher sie kam, desto unerträglicher wurde sein Verlangen. War es Liebe? Oder war es einfach eine chemische Wirkung, die ihre Körper aufeinander ausübten? Gott allein kannte die Antwort auf diese Frage. Ganz sicher war es etwas, das sie beide noch nie erlebt hatten. Ein Begehren jenseits von Sprache. Guillaume streichelte ihren Hinterkopf, dort wo der Nacken in die Wölbung des Schädels überging. So zärtlich wie seine zitternden Hände es erlaubten, strich er durch ihre seidenen Haare. Und das unkontrollierbare Beben in seinem Körper nahm zu, wurde immer mehr zu einem unwillkürlichen Zucken. Dann küsste sie seinen Hals. Der Rest war Perfektion. Zwei Körper in symphonischer Harmonie vereinigt. Seelenverwandtschaft, unverständlich und unerklärlich. Wie sonst liess sich die Vollkommenheit des Augenblicks erklären?
Oder war es vielleicht eine Reaktion auf die Angst, die ihnen beiden tief in den Knochen sass? Die Angst vor dem ersten Auftrag, der über das Leben und den Tod hunderter von Menschen bestimmen würde? Diese Angst hätte eine sexuelle Entladung gerechtfertigt, ein gemeinsames Loslassen in diesem ganzen Stress verständlich gemacht. Aber sie hätte nicht diesen Einklang erklärt. Nicht dieses tiefe Gefühl der Einheit, das die ganze Nacht bestimmte. Es war keine Entladung einer Spannung, die mit Angst zu tun hatte. Was hier geschah liess sich nicht einordnen und schlussendlich musste es nicht erklärt oder interpretiert werden, obwohl der Intellekt nach einer Erklärung für die Nacht verlangte.
Es schien zum Menschsein dazuzugehören, dass man die Dinge immer in einem Ursache-Wirkung Verhältnis zu verstehen versuchte. Als sei etwas erst dann wirklich befriedigend verstanden, wenn man es in ein Konzept gezwängt hatte.
Guillaume begriff vielleicht zum ersten Mal, wie sehr die alltägliche Erfahrung des Lebens vom eigenen Denken zensiert wurde. Zensiert, gefiltert und den eigenen Vorstellungen angepasst.
Die Nacht war ein Kunstwerk. Und irgendwann waren sie dann eingeschlafen. Erschöpft, erstaunt und in unschuldigem Frieden.
Frieden. Unschuld. Welch Worte ...
Die Gegenwart kannte alles ausser den Frieden. Die Welt war verrückt geworden. Niemand traute dem Nächsten über den Weg. Nachbarn beobachteten sich voller Misstrauen. Zweifel, Angst und Wahnsinn waren an der Tagesordnung und die Nachrichten kamen nicht mehr nach. Es gab nichts mehr, das irgendwer hätte richten können. Erst gar nicht im Nachhinein, wie es das Wort Nachrichten implizierte. Die Regierungen hatten das weisse Tuch in den Ring geworfen. Aber der Schiedsrichter brach den Kampf nicht ab, weil es ihn nicht gab oder weil er sich schon lange verkrümelt hatte. Der Feind war unsichtbar, überall und skrupellos. Und manchmal hatte man das Gefühl, dass er ohne Plan und Ziel operierte. Ähnlich einem Krebsgeschwür, das ziellos zerstörte.
Vielleicht hatte es so kommen müssen? Vielleicht war der ganze Wahnsinn eine Art Selbstheilungsversuch der Menschheit. Oder der Erde, die unter dem Szepter der Menschen zu Grunde zu gehen drohte?
Natürlich ging das Leben weiter. Es war immer weiter gegangen, egal wie lange und wie brutal die Kriege geführt wurden. Doch alle wussten, dass diese Wunde der Menschheit so schnell nicht heilen würde, selbst wenn der Albtraum ein Ende fände. Wie auch immer, es war kein Ende in Sicht und das Leben ging weiter.
Guillaume und Yeva hatten deswegen ohne weitere Probleme in dem Hotel einchecken können. Man tat gemeinhin, als ob alles in bester Ordnung sei.
„Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt in Paris!“, hatte der Portier gesagt, nachdem er ihr Gepäck ins Zimmer gestellt hatte. Eine Strategie, welche die Menschheit schon seit Urzeiten zelebrierte. Leugne es, dann ist es nicht real. Das war die Devise.
Und doch konnte man dem Wahnsinn nicht entkommen. Es konnte jeden treffen. Immer und überall. Ohne Vorwarnung, ohne Sinn und ohne Erklärung. Das Ganze war bereits so weit fortgeschritten, dass niemand mehr nach einer Erklärung verlangte.
Vor zwei Jahren hatte es die Stellungnahmen noch gegeben. Damals hatten sich die Organisationen noch zu ihren Attentaten bekannt. Doch diese Zeiten waren längst vorbei. Die Medien begnügten sich jetzt damit über die Anschläge zu berichten, die mehr als hundert Menschenleben gekostet hatten. Nur eine Internetseite namens World Terror Update machte sich noch die Mühe, auch über kleine Anschläge zu berichten. Alles andere hätte den Rahmen der Sendezeit der grossen Fernsehsender gesprengt. Zudem interessierte es die Leute nur noch am Rande. Man war froh es heil zur Arbeit zu schaffen, ohne dass die Metro oder der Zug in die Luft gejagt wurde. Jeder begnügte sich damit, das eigene Überleben sicher zu stellen. Und das war bei Gott nicht einfach. Wie sollte man wissen, welche Mittel die Organisationen und ihre Splittergruppen als nächste anwenden würden? Das Schicksal der Anderen interessierte niemanden mehr.
In Paris gingen die meisten Leute zu Fuss zur Arbeit. Das Gehen war mittlerweile die sicherste Transportvariante; doch auch so konnte man den eigenen plötzlichen Tod nicht wirklich verhindern. Alle wussten das. Verrückte Selbstmordattentäter, die sich mitten in der Gesellschaft in die Luft sprengten, gab es in jeder grösseren Stadt. Giftgas-Alarm, sabotierte Autos, deren Bremsen plötzlich versagten und die infolgedessen Fussgänger über den Haufen fuhren, oder Heckenschützen, die aus dem Hinterhalt unschuldige Opfer abknallten. Das alles war Alltag.
Der einzige Weg um einigermassen sicher am Leben zu bleiben war auf‘s Land zu ziehen. Und genau diese Strategie verfolgten immer mehr Menschen. Es fand eine Umverlagerung statt: die Städte leerten sich und die Dörfer auf dem Land wurden langsam zu Städten. Vielleicht gab es einfach zu viele Menschen und der ganze Wahnsinn war eine Methode um die Bevölkerungsdichte zu dezimieren? Doch wessen Methode?
Guillaume träumte immer wieder von den Wirren des Alltags. Vielleicht war das die Art und Weise mit der das Bewusstsein sich vom Dreck der Alltagserfahrungen reinigte. Nur diese Nacht war sein Schlaf tief, ruhig und traumlos gewesen.
Der Tag X war seit sechs Monaten das Ziel jeder seiner Handlungen gewesen. Und dasselbe traf auf Yeva zu.
Kennen gelernt hatten sie sich erst vor einer Woche. Es war ein Teil des Plans, so sagte man ihnen, dass die B-Teams sich erst kurz vor ihren Einsätzen kennen lernten. Der erste Moment war eigenartig gewesen. Eine Mischung zwischen Erinnerung und Sympathie. Guillaume erkannte Yeva sofort. Das heisst er erkannte etwas in ihr, das ihm bekannt vorkam und das ihn irgendwie aufrüttelte. Und dieses Gefühl hatte sich gesteigert. Gesteigert bis zu eben dieser Nacht, die einer Explosion glich, die den Weg in unbekannte Seelentiefen freigab.
Als Guillaume am nächsten Morgen aufwachte, spielte Yeva mit seinem Haar. Die Sonne spähte durch die geschlossenen Holzjalousien in das Zimmer hinein und warf ihr goldenes Licht an die blumige Tapete. Guillaume öffnete seine Augen und drehte sich Yeva zu. Sie war an diesem Morgen fast noch schöner, als sie es abends gewesen war. Ihre goldbraunen Augen strahlten die Ruhe einer Einsiedlerin aus. Es war, als betrachte sie die Welt von fern ab, als sei der ganze Wahnsinn, der sich immer schneller über die Welt ausbreitete für sie nichts anderes als der Streich eines unerzogenen Kindes. Wahrscheinlich hatte die Recruiting Spezialisten sie genau aus diesem Grund gewählt.
Es gab nicht viele Menschen, die der ATO angehörten. Sicher, wenn man bedachte, dass es die ATO erst seit sechs Monaten gab, so war sie doch schon eine recht grosse Organisation, aber wie gross sie genau war, das wussten nur Oliver Palms und Helena Mesic. Niemand wusste, wer zur ATO gehörte und wer nicht. Nur Helena und Oliver hatten den Überblick, damit niemand die Organisation infiltrieren konnte. Die ATO gehörte zu den bestgehüteten Geheimnissen aller Zeiten.
Dann kam der Augenblick.
Es war, als ereile sie gleichzeitig die Gewissheit, dass die Zeit gekommen war. Ein tiefer Atemzug läutete das neue Kapitel in ihrem Leben ein. Sie wussten beide nicht, ob und wie sie den heutigen Tag überleben würden. Aber auf diese Ungewissheit waren sie sechs Monate lang vorbereitet worden. Das eigene Leben war ein geringer Preis, den man bezahlte, stellte man es dem Ganzen gegenüber.
Ein letzter intensiver Blick, der sich tief in die Seele hineinbohrte. Dann erhoben sie sich wortlos. Genau so, wie sie sich gestern wortlos geliebt hatten.
Das Gepäck mit der Ausrüstung stand noch dort, wo der Portier es gestern hingestellt hatte. Guillaume zog sich das T-Shirt an, welches ihm Yeva gestern so leidenschaftlich vom Körper gezogen hatte. Der Duft seines Deodorants hatte den dünnen Baumwollstoff ganz durchtränkt. Wenn er schon sterben sollte, dann wenigstens gut riechend, dachte er sich, während er sich das T-Shirt zurecht zupfte. Doch vielleicht war das etwas zu pessimistisch. Yeva und er waren intensiv auf ihre Aufgabe vorbereitet worden, und wenn sie sich an die Angaben des C-Teams halten würden, dann würden sie den Tag überleben.
„Ihr müsst den C-Teams vertrauen, ihr habt keine andere Wahl! Aber die Jungs und Mädels sind gut, sie haben euer Vertrauen redlich verdient!“ Olivers Worte hatten sich in Guillaumes Gedächtnis eingegraben.
Yeva stand vor dem Spiegel und kämmte sich andächtig die Haare. Sie summte eine Melodie dazu, was Guillaume an seine Kindheit erinnerte. Seine Mutter hatte auch immer leise vor sich hin gesummt, vor allem wenn sie sich geschminkt oder sich die Haare frisiert hatte. Er schlüpfte in seine schwarzen Hosen. Der leichte Stoff fiel perfekt; die Hose war meisterhaft geschnitten. Die ATO hatte wirklich keine Kosten gescheut. Die ganze Ausrüstung bestand nur aus Klasse 1A Materialien. Selbst die Koffer mit den Waffen waren luxuriös. Aber schliesslich ging es ja darum nicht aufzufallen, und wenn man schon ins Ritz eincheckte, dann am besten im richtigen Outfit. Nichts wäre katastrophaler gewesen, als das vorzeitige Scheitern der Mission. Und das traf auf jedes Team weltweit zu, denn für alle Teams auf dem Planeten war heute der Tag X.
Die teuren Kleider und das luxuriöse Drumherum waren eine Widerspiegelung der Situation. Die ATO war der letzte Versuch der zivilisierten Welt den Wahnsinn zu stoppen. Und da wurde nicht gespart, denn sollte die ATO versagen, spielte Geld alsbald sowieso keine Rolle mehr. Dann würde das Faustrecht gelten und die Menschheit würde ins Mittelalter zurück fallen. Wenn die ATO versagte, dann machte alles keinen Sinn mehr.
Guillaume öffnete den Samsonite-Koffer, in dem die Spezialwaffen versorgt waren. Yeva zog sich das schwarze Kleid über, das Guillaume gestern so sehr in Verzückung gebracht hatte. Nur, dass es jetzt keine solche Wirkung mehr auf ihn hatte. Sein Verstand war jetzt nüchtern auf die Mission eingestellt. Nichts, nicht die schönste Frau der Welt, hätte ihn jetzt von seinem Ziel abbringen können. Und Yeva war verdammt nah daran die schönste Frau der Welt zu sein.
Guillaume steckte die Waffe zusammen und schraubte das Objektiv darauf. Dann stellte er die Präzisionswaffe an die Wand neben das breite Fenster. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass ihnen eine Stunde blieb. Yeva schminkte sich mit einem dezenten roten Lippenstift die Lippen.
Alles war so weit. Der Rest war Warten, die Details noch einmal durchgehen und dann hart und bestimmt den Plan durchziehen. Sie hängten das Schildchen Bitte nicht stören an die Zimmertür, schlossen ab, und gingen nach unten, um zu frühstücken. Eine letzte Stärkung vor dem Anfang, der über den weiteren Verlauf der Geschichte der Menschheit bestimmen würde.
1569 Tage vor „Tag X“
WORLD TERROR UPDATE Zürich, Schweiz Während eines Kongresses des Internationalen Währungsfonds in Zürich kamen heute weit mehr als hundert Menschen ums Leben. Ein Selbstmordattentäter stürmte um 15.37 Uhr lokale Zeit die Kongresshalle und zündete mitten in der Menschenmenge einen Sprengsatz. Der Täter starb an Ort und Stelle. Die Polizei rechnet damit, dass die Zahl der Toten im Verlauf des Nachmittags weiter nach oben korrigiert werden muss. Es gab weit über fünfzig Schwerverletzte, die in die umliegenden Spitäler Zürichs verlegt wurden. Beim Täter handelt es sich um einen Schweizer Familienvater. Der Sozialarbeiter war laut Angaben der Polizei unauffällig gewesen und hatte keine Vorstrafen. Die Ermittlungen laufen intensiv. Für Angehörige von Teilnehmern des Kongresses hat die Schweizer Polizei eine Notfallnummer eingerichtet, die sie der Webseite der Zürcher Polizei entnehmen können.
New York, 202 Tage vor „Tag X“
„Mike, wie wir soeben erfahren, müsste die Konferenz innerhalb der nächsten Stunde beendet werden. Selbstverständlich werden wir vor Ort bleiben. Sobald die anschliessende Pressekonferenz beginnt, sind wir wieder am Ball! Bis dann wünschen wir dir und unseren Zuschauern viel Spass auf LTG, denn wir sind immer zuerst vor Ort! Zurück ins Studio!“
Livia Keighs drückte ihrem Assistenten das Mikrofon grob in die Hand, fuhr sich mit der Hand kräftig durch das blonde Haar und verliess dann impulsiv die Stelle, die ihr von den Sicherheitskräften für ihre Live-Reportage zugewiesen worden war. Sie rempelte im Vorbeigehen einen Kameramann von ABC an und verschwand dann in der Menge. Überall Reporter, überall Neugier, überall Hoffnung auf eine Story, welche die Zuschaltquoten endlich wieder einmal in die Höhe schnellen lassen würde. Aber Livia war nicht die Einzige, die gereizt und am Rande eines Nervenzusammenbruchs war. Es ging allen ähnlich. Nur die Art und Weise, wie der Stress geäussert wurde war unterschiedlich, hing vom Temperament ab. Der eine wurde eben ruhig, die andere begann wild Leute anzurempeln. Aber gestresst waren sie alle, die Leute, die während Jahren den Ton auf dieser Erde angegeben hatten, indem sie sich für die Meinungsbildung verantwortlich zeichneten.
Im Studio drückte Pete Torrey den Knopf, welcher Kamera 9 auf Sendung brachte. Er schüttelte den Kopf. Die Nachricht war gerade hereingekommen. Schon wieder war ein Flugzeug abgestürzt. Diesmal mitten in den Ozean. Gott sei Dank, denn das hiess, dass wenigstens am Boden keine Menschen hatten dran glauben müssen. Näheres war noch nicht bekannt. Aber alle gingen vom Selben aus: Es war wieder ein Terroranschlag, genau wie gestern abend, gestern morgen und vorgestern mittag auch. Also das Übliche, sprach man im Sinne der letzten Jahre. Die Menschen waren am Durchdrehen.
In der Tasche seiner Lederjacke, die über dem Stuhl hing, klingelte sein Handy. Es war Livia. Pete erkannte es an der Melodie, die er für Livia gewählt hatte und die jetzt immer erklang, wenn sie ihn anrief.
„Hallo?“
„Pete, ich bin’s. Hör mal, das wird nichts diesmal. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es hier in Washington aussieht. Überall Polizei und Secret Service! Ich denke, die werden heute nicht mal eine Pressekonferenz geben. Ich hab ein schlechtes Gefühl. Nehme mal an, dass sie diesmal alles für sich behalten, nach der letzten Katastrophe. Wenn das so weiter geht, ist unser Beruf dem Tode geweiht, das sag ich dir!“
Pete streckte sich. Er war schon viel zu lange in dem gottverdammten Studio.
„Liv, mein Schatz! Bleib dran, auch wenn’s nichts wird. Wir haben ein Image aufrecht zu erhalten. Spiel die Frau von Welt, als ginge dir die ganze Sache am Arsch ab, okay?“
„Ich weiss nicht. Ich brauche ein Bett! Ich bin seit über dreizehn Stunden hier. Das ganze ist Warten auf Godot! Und es geht mir alles andere als am Arsch ab. Ich habe Angst!“
„Du musst jetzt stark sein! Das müssen wir alle!“ Pete wartete kurz. „Hast du es schon gehört?“, fragte er sie dann.
„Was?“
„Es gab noch einmal einen Absturz. Die Nachricht ist soeben rein gekommen. Irgendwo über dem Atlantik, zwischen England und New York.“
Livia fluchte.
„Scheisse! Wo führt das hin? Was denken sich die Typen? Wollen sie unsere Spezies ein für allemal ausrotten? Das macht doch keinen Sinn mehr!“
„Halt durch, mein Kleines!“
Der rote Knopf, der Pete anzeigte, dass die Werbung in fünf Sekunden aufgeschaltet werden musste, blinkte auf.
„Ich muss gehen! Werbung! Ruf mich in einer Stunde nochmals an!“
Pete hing auf und drückte den Knopf, der die Werbung in Millionen von Haushalte spedieren würde. Dann lehnte er sich in seinem schwarzen Lederstuhl zurück. Er war müde und verzweifelt. Livia hatte recht. Das machte überhaupt keinen Sinn mehr. Wahrscheinlich wussten die Terroristen nicht einmal mehr gegen wen oder für was sie eigentlich kämpften. Die Sache entbehrte jeglicher Logik. Mal traf es Frankreich, dann China, dann die USA, dann Ägypten, dann die Schweiz und dann wieder die USA. Der totale Wahnsinn.
Pete kämpfte gegen seine Augen. Sie hatten genug gesehen und wollten das Gehirn vor noch mehr Input schützen, wollten die Augenlider schliessen. Er brauchte einen Kaffee, schon wieder. Mit seiner linken Hand winkte er Pamela heran.
„Übernimmst du mal kurz, bitte? Ich brauche einen Kaffee.“ Pam zwinkerte ihm zu. Sie war erst seit zwei Stunden im Studio, hatte noch Kraftreserven, zudem war sie frisch verliebt und die Sache ging ihr wirklich am Arsch ab.
Pete liebte seinen Kaffee stark und schwarz. Eine Leidenschaft, die er mit vielen anderen Journalisten teilte. Normalerweise tat er nur einen Würfel Zucker in den Kaffee, aber heute waren es drei. Als könne die Süssigkeit ihn über die Ängste und Sorgen dieser Welt hinwegtrösten.
Er dachte an Livia, während er sich in dem kühlen Pausenraum eine Zigarette ansteckte. Sie war am Limit, das hatte er deutlich gespürt, und trotzdem musste er sie als ihr Vorgesetzter zum Durchhalten auffordern. In diesen Tagen waren alle an ihren Grenzen. Pete dachte nach, während er darauf wartete, dass der blaue Dunst ihm den nötigen Abstand zu der Sache bringen würde. Aber vielleicht konnte man sich gegen diese selbstmörderische Welt mit milden Drogen gar nicht mehr zur Wehr setzen.
Wenn die Regierungen dieser Welt – und seines Wissens nach hatten fast alle Länder einen Abgesandten zu dem Kongress geschickt, oder waren durch ihre jeweiligen Präsidenten selbst vertreten – es nicht schaffen würden mit einem Plan aufzuwarten, der wirklich etwas zu ändern im Stande war, dann konnte man nur noch auf Gott hoffen. Dass er endlich eingreifen und dem Wahnsinn ein Ende setzen würde. Falls es ihn denn gab?
Pete war eigentlich religiös. War es schon immer gewesen. Seine Mutter hatte ihn so erzogen, mit dem wöchentlichen Gang in die Kirche und allem drum und dran. Doch je länger der Wahnsinn dauerte, desto mehr musste man die Existenz Gottes in Zweifel ziehen. Welcher Vater schaute denn schon kaltblütig zu, wie sich seine Söhne und Töchter gegenseitig abmurksten und dazu den ganzen Planeten, das ureigene Werk, zu zerstören drohten? Wenn es so weiter ging, dann würden alle Tiere, alle Pflanzen, eben der ganze Planet dran glauben müssen.
„Scheisse, das macht doch alles keinen Sinn!“, wiederholte er leise fluchend.
Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Doch gleichzeitig war er sich schmerzlich darüber im Klaren, dass die Medien und vor allem das Fernsehen eine grosse Rolle im Hinaufbeschwören der Situation, die jetzt so total ausser Rand und Band geraten war, gespielt hatten. Er hatte dabei geholfen den ganzen Irrsinn mit Negativschlagzeilen zu füttern und zu erfinden – schliesslich gab so etwas früher mehr Zuschaltquoten, also mehr Geld.
Und jetzt war der Schuss nach hinten losgegangen.
Die einzige Hoffnung lag jetzt bei den Politikern in Washington, dort wo sich heute alles mit Rang und Namen versammelt hatte.
Und doch war die Situation heute so wie sie immer gewesen war. Was einzig und alleine zählte waren die Einschaltquoten. Denn wenn sie diese nicht nachweislich liefern konnten, würden die Sponsoren abspringen. Auch wenn es sich um LTG handelte. LTG wäre nicht der erste grosse Sender, der den Laden dicht machen müsste. Einige waren schon gefallen, und Staatssender gab es soviel Pete wusste nur noch einen, nämlich in Cuba. Die Regierungen mussten sparen, um den Alltag aufrecht erhalten zu können, und da wurden solch unnütze Dinge wie Fernsehketten und Radiostationen eben aufgegeben.
Pete zwang sich logisch nachzudenken.
Die Situation war wie sie war, daran konnte man nichts mehr ändern. Die Vergangenheit war geschrieben, aber man konnte versuchen die Gegenwart zu formen und der Zukunft eine leichte Kursänderung zu verpassen. Was also konnte er noch in die Wege leiten, was die Konkurrenz in diesem spezifischen Fall ausstechen würde. Wie konnte er dafür sorgen, dass LTG wirklich an Informationen über diese Konferenz herankommen würde?
Er zündete sich eine weitere Zigarette an. Gewohnheit. Die Schreie seines Körpers, der das Zeug nicht mehr ausstehen konnte, überhörte er dabei genauso, wie die Stimme seines Gewissens, die ihn dazu aufforderte mit dem ganzen Scheiss Schluss zu machen, anstatt wieder nach neuen Strategien zu suchen, die das weitere Überleben des Senders garantierten.
Washington, 202 Tage bis „Tag X“
Oliver Palms stieg die drei Stufen zum Podest langsam und gemächlich hoch. Er war die Ruhe in Person. Palms war einer der Typen, die immer gleich alt zu sein schienen, als unterstehe er keinem Alterungs-Prozess. Sein schwarzer Anzug mit dem dunkelblauen Seidenhemd darunter, sein Gang, sein Ausdruck, und nicht zuletzt auch seine Begleitung, eine etwa dreissigjährige Frau mit rabenschwarzen Haaren, die ihm vorausging, machten den ganzen Eindruck zu einem rituellen Erlebnis. Vielleicht auch deshalb, weil es allen schmerzlich bewusst war, dass kaum noch Zeit war, das Ruder noch einmal herum zu reissen. Zudem wussten, nein, hofften alle, dass er vielleicht die Lösung hatte.
Wenn nicht er, wer dann?
Palms hatte den Nobelpreis drei Mal nacheinander gewonnen. Seine revolutionären Anschauungen und Thesen hatten schon vieles auf der Welt neu definiert. Beispielsweise seine Arbeit über den Welthunger: Sie hatte nicht nur Millionen das Leben gerettet, sondern ihre Umsetzung hatte den Regierungen sogar zusätzliches Geld eingebracht.
Die Aufmerksamkeit des Abends gehörte ihm. Der grosse Saal im weissen Haus war bis auf den letzten Platz besetzt. Etliche Staatsoberhäupter mussten sogar stehen, weil es nicht genügend Stühle gab. Aber es schien, als mache das niemandem wirklich etwas aus. Nicht heute. Angesichts der Not wurden Helden wieder zu Normalsterblichen ohne den Sonderstatus, auf den sie üblicherweise bestanden. Zu sehr wussten alle Teilnehmer dieser letzten offiziellen Konferenz, was von dem Abend abhing. Die Zivilisation war kurz davor aufzugeben.
Man hatte dem Terrorismus den Krieg erklärt. Das war jetzt viele Jahre her. Doch der Terrorismus hatte sich ausgeweitet; wie ein Waldbrand hatte er schonungslos jeden Versuch der Welt ihn zu stoppen hinweggefegt. Dann hatten sich die Industriestaaten verbündet, und wenig später hatte sich die ganze Welt, das heisst alle Regierungen dieser Welt verbündet, um gegen den Terror zu bestehen. Aber je mehr man gegen den Terror unternahm, desto grösser wurde sein Ausmass. Und als man vor einem halben Jahr geglaubt hatte, die federführenden Personen in einem Überraschungsangriff eliminiert zu haben, ging es erst richtig los. Seit dann waren Terrorangriffe an der Tagesordnung und die Zivilisation war quasi nur noch damit beschäftigt, die Scherben wieder aufzuwischen und die Toten zu begraben. Das letzte halbe Jahr war die Hölle gewesen, was dadurch noch schlimmer wurde, dass niemand wusste wer der Feind war. Natürlich wurde ab und zu ein Terrorist gefasst, aber es gab so viele Splittergruppen, dass das nur ein Tropfen auf den heissen Stein war.
Die Frage war, wer hinter dem ganzen Wahnsinn steckte. Gab es überhaupt eine übergeordnete Instanz, die alles organisierte, oder hatte sich alles verselbstständigt?
In der Zwischenzeit schien es, als spiele es keine Rolle mehr, ob man die Antwort auf diese Fragen kannte oder nicht. Es würde keinen Unterschied mehr machen. Die meisten Menschen hatten die Hoffnung aufgegeben, dass man die Lawine noch zum Stoppen bringen konnte, indem man den Leithammel tötete. Falls es denn überhaupt so etwas wie einen Chef gab.
Im Saal war es still. Überall ernste Gesichter mit starrem Blick auf Palms oder seine Begleiterin. Doch für einmal zog die weibliche Schönheit nur wenige Blicke an. Die meisten Blicke klebten an Palms.
Eine dichte Ruhe herrschte. Lediglich ein unterdrücktes Husten hier und da.
Die Frau mit dem schwarzen Haar ging am Mikrophon vorbei und wartete etwas abseits. Palms blieb vor dem Mikrophon stehen. Er richtete sich in seiner ganzen Grösse von fast zwei Metern vor dem Publikum auf. Einen kurzen Moment lang schaute er wie in sich hinein. Es sah aus, als sammle er sich, oder als mache er sich das Ausmass dieses Momentes nochmals ganz bewusst.
Dann begann er zu sprechen. Worte, die in die Geschichte eingehen würden.
„Was ich Ihnen heute als Vorschlag unterbreiten werde, darf diesen Raum unter keinen Umständen verlassen. Wir wissen alle, was davon abhängt, deshalb möchte ich gleich jetzt zu Beginn darauf bestehen, dass die Presseverantwortlichen die Orientierung, die für acht Uhr angesagt war, absagen!“
Ein Raunen ging durch die Reihen der Pressesprecher.
„Jetzt gleich, bitte! Sonst warten die Leute für Nichts und wieder Nichts vor dem Gebäude. Sie sollen nach Hause gehen und sich etwas ausruhen.“
Er wartete.
Langsam, fast schon zögernd wegen des inneren Widerstandes, den die Pressesprecher gegen diese Massnahme verspürten, erhoben sie sich, einer nach dem anderen.
Palms war berühmt für seine unorthodoxen Methoden. Aber die Presse gänzlich auszuschliessen, das hatte es noch nie gegeben. Und vor allem in einer Zeit wie dieser erschien es als das Abstruseste, das man tun konnte. Würde die Bevölkerung nicht durchdrehen und auf ihr Recht an Information bestehen? Wollte Palms den Kessel noch mehr einheizen, oder übersah er schlichtweg, dass seine Anordnung genau diesen Effekt haben würde?
Während die Presseverantwortlichen den Raum unsicher und frustriert, manche auch wütend verliessen, wurde in den Reihen leise geflüstert. Niemand wusste, worauf Palms heute hinaus wollte.
Dann wurden die Türen wieder geschlossen. Zwei ganze Reihen waren nun leer. Palms forderte die Stehenden dazu auf sich zu setzen. Die Pressesprecher kämen nicht mehr zurück, weil er der Security den Auftrag gegeben hatte niemanden wieder herein zu lassen.
Diesmal ging das Raunen durch die Reihen der Präsidenten und Staatsoberhäupter. Das war ein Skandal. Palms behandelte die Presse wie ein kleines unartiges Kind, dem er nicht einmal eine Erklärung für die Bestrafung zu geben gedachte. Doch kaum sprach Palms weiter, kehrte die Ruhe sofort wieder ein.
„Lassen Sie uns zu Beginn etwas eingestehen!“ Alle Augen waren jetzt auf Palms gerichtet. Die verschiedensten Emotionen flackerten in den Augenlichtern der Versammelten. Wut, Neugier, Unsicherheit, Sympathie je nach Einstellung der Zuhörer, doch im Saal herrschte Stille.
Palms klopfte sich mit der Faust auf den Brustkasten, was über die Lautsprecher deutlich im ganzen Raum als dumpfes Klopfgeräusch zu hören war.
„Wir haben versagt!“ sagte er dazu. „Wir haben alle eine Politik betrieben, deren Folgen wir jetzt zu spüren bekommen. Doch bevor Sie sich innerlich zu rechtfertigen beginnen: ich klage niemanden an! Ich fordere Sie lediglich am Anfang meiner Ausführungen dazu auf, dem Drachen in‘s Gesicht zu blicken. Einzugestehen, dass vieles in der Vergangenheit falsch gelaufen ist. Wir können die Zukunft unseres Planeten nur dann retten, wenn wir aufhören unsere vergangenen Fehler zu verdrängen. Wir alle haben Fehler gemacht, haben um Macht gekämpft und uns oft falsch entschieden. Wenn wir aber in eine neue Zukunft aufbrechen wollen, und das müssen wir – soll es denn eine geben – dann müssen wir aus unseren Fehlern lernen. Wir müssen unsere Fehler identifizieren, zu ihnen stehen und dann bessere Lösungen für die Probleme dieser Welt finden. Und das bedarf unseres Mutes und unserer Ehrlichkeit.“
Palms wartete kurz.
„Ich frage Sie deshalb: Sind Sie bereit, sich selbst, Ihre Anschauungen und Ihre Verhaltensweisen zu ändern, damit die Welt für unsere Kinder fortbestehen kann? Sind Sie bereit zuzugeben, dass die alten Methoden nicht länger das Fundament dieser Welt sein können? Haben Sie den Mut mit der Macht, die Ihnen die Menschen dieser Welt verliehen haben, eine neue, bessere Zukunft zu formen?“
Palms blickte streng und zugleich traurig in die Reihen. Aber nichts an seiner Erscheinung milderte die Strenge in seinem Blick. Jeder war angesprochen, und alle wussten es. Palms hielt die Stille der Betroffenheit für eine kleine Ewigkeit aufrecht. Er hatte das Segel bereits herumgerissen. Und wer es noch nicht bemerkt hatte, würde es bald zu spüren kriegen.
Wie viele Männer und Frauen waren hierher gereist, um neue Strategien gegen die Terroristen kennen zu lernen? Um zu lernen, wie man den Bösen ein für alle Male den Garaus machen könne?
Doch Palms kehrte den Spiess um. Und wer Palms kannte, wusste, dass sein Plan von Genialität zeugen würde.
Auch das letzte Hüsteln war jetzt verstummt.
„Was ich Ihnen vorschlagen werde, ist die Frucht langer Überlegungen und tagelanger Kontemplation. Es ist mein einziger Vorschlag; einen anderen habe ich nicht. Sie können ihn entweder annehmen, nachdem Sie mich angehört haben, oder ihn ablehnen. Ich werde beides mit derselben Demut annehmen. Die Welt wird, was wir aus ihr machen. Unser Leben wird, was wir aus ihm machen. Ich appelliere an die Vernunft und an die Menschlichkeit, aber ich werde nicht für meinen Plan kämpfen! Ich hoffe Sie verstehen mich! Die Welt der Zukunft basiert nicht mehr auf Kampf. Und die Zukunft beginnt jetzt!“
Ein Politiker oder Philosoph, der nicht für seine Theorie kämpfen würde. Das war für viele neu. Einzig diejenigen, die Palms schon kannten, hatten so etwas erwartet.
„Lassen sie mich also beginnen.“ sagte er dann. Palms winkte die schwarzhaarige Schönheit zu sich heran.
„Ich möchte Ihnen zuerst Helena Mesic vorstellen und mit Helenas Hilfe ein kleines Experiment durchführen. Dafür brauche ich zwei Freiwillige.“
Bewegung kam in den Saal. So sehr die Männer und Frauen es eigentlich gewohnt waren im Rampenlicht zu stehen, so sehr scheuten sie sich nun doch davor, sich für das kleine Experiment von Palms freiwillig zu melden. Als sich nach zwanzig Sekunden immer noch niemand gemeldet hatte, kehrte Palms seine autoritäre Seite nach aussen. Sein Ton liess keine Widerrede zu.
„Mister Benson und Miss Al-Gajer, darf ich Sie bitten hervor zu kommen?“
Benson war in seiner ersten Amtszeit als Präsident der USA und Al-Gajer war die erste Präsidentin des Freistaats Palästina. Die beiden erhoben sich sichtlich verunsichert. Im Rampenlicht hätte niemand es gewagt Palms auszuweichen, aber auch ausserhalb des Rampenlichts widerstand niemand seiner Autorität.
Dann wandte Palms sich wieder an die Zuhörer. Al-Gajer und Benson waren auf ihrem Weg nach vorne und drückten sich durch die Reihen, die viel zu eng gestuhlt waren.
„Neben mir steht Helena Mesic. Ich kenne Frau Mesic seit dreissig Jahren, genauer - seit sie drei Jahre alt ist -, und vertraue ihr wie keinem anderen Menschen. Sie ist für mich so eine Art Tochter, aber sie ist eine sehr begabte Tochter. Helena wurde von Kreisen, die hier nicht weiter erwähnt werden wollen, in einem äusserst speziellen Gebiet ausgebildet. Die US-Army, als auch viele andere militärische Spezialeinheiten verschiedener Länder haben sich Jahre lang mit Helenas Spezialgebiet befasst. Mit unterschiedlichem Erfolg, das liegt im Wesen der Sache. Aber niemand hat es zu der Meisterschaft gebracht, die Helena zu jedem beliebigen Zeitpunkt an den Tag legen kann. Sie fragen sich natürlich, um welches Spezialgebiet es sich hierbei handelt?“
Er pausierte. „Und genau das wollen wir Ihnen jetzt mit unserem kleinen Experiment zeigen.“
Al-Gajer und Benson standen jetzt seitlich vor dem Podest. Palms trat einen Schritt zur Seite und liess Helena Mesic ans Mikrophon.
„Guten Abend, werte Zuhörer.“
Sie räusperte sich und griff sich kurz symbolisch an den Hals. Allem Anschein nach war sie es nicht gewohnt vor vielen Menschen zu sprechen. Sie wirkte unsicher.
„Ich möchte Ihnen heute beweisen, dass es möglich ist, die Zukunft verlässlich voraus zu sagen!“
Ein ungläubiges Raunen ging durch den stickigen Saal, der offensichtlich ein Problem mit der Klimaanlage hatte. Die Luft war bereits dick, weil aufgebraucht, und jetzt wurde sie noch dicker, denn was hatten parapsychologische Experimente mit der Lösung der Weltsituation zu tun?
Helena wartete, bis sich der Lärm im Saal wieder gelegt hatte. Es schien als habe sie solch eine Reaktion erwartet, denn, obwohl sie immer noch unsicher wirkte, hatte sie sich doch gut im Griff.
„Ich möchte Mister Benson bitten, zu mir hoch zu kommen.“
Benson, ein mächtiger Mann mit der Figur und Ausstrahlung eines Bären, ging die drei Treppenstufen zum Podest hoch. Seine Bärenhaftigkeit verlieh ihm ein gemütliches Aussehen, aber wer es schon mit ihm zu tun gehabt hatte, wusste, dass hinter der scheinbaren Gemütlichkeit ein messerscharfer Verstand und ein eiserner Wille steckten. Dann stand er neben Helena und schaute sie mit grossen fragenden Augen an.
„Mister Benson, ich schreibe Ihnen hier fünf Worte auf.“
Helena nahm einen Stift hervor und kritzelte fünf Wörter auf ein bereit liegendes Papier. Benson beobachtete sie dabei. Dann richtete sie sich wieder auf. Die Aufmerksamkeit im Saal war gespannt wie ein Bogen, der gleich seinen Pfeil durch die Luft zittern lassen würde. Was hatte Palms vor? Wer war diese Helena Mesic und was schrieb sie dort oben auf diesen Zettel?
„Mister Benson und ich sind jetzt die einzigen beiden Menschen in diesem Raum, die wissen, was auf diesem Blatt steht.“
Sie faltete es zweimal und drückte es Benson in die Hand. Es schien, als spiele sie mit der Geduld der Zuhörer.
„Nun möchte ich Frau Al-Gajer bitten, von der anderen Seite her hier hoch zu mir zu kommen.“
Die Palästinenserin setzte sich nach einem kurzen Achsel-zucken in Bewegung. Ihr ganzer Ausdruck und ihre Haltung zeigten deutlich, dass sie nicht viel von irgendwelchen Experimenten hielt. Helena wartete, bis die Frau bei ihr angekommen war. Sie ignorierte die eindeutige Körpersprache der Präsidentin. Bei genauem Hinsehen sah man, dass sie sogar ein stolzes Lächeln zu unterdrücken versuchte.
„Vielen Dank für Ihre Kooperation Frau Al-Gajer.“
Al-Gajer nickte ihr kalt zu.
„Ich möchte Sie jetzt bitten, fünf willkürlich gewählte Worte auszusprechen, bitte dort ins Mikrophon, damit alle die gewählten Worte hören können!“
Die ehrwürdige Präsidentin mit dem vollen grauen Haar zog eine Augenbraue hoch.
„Irgendwelche Wörter?“ Sie betonte die zwei Worte fast schon lächerlich.
Helena nickte.
„Also dann, lassen Sie mich überlegen.“ sagte Al-Gajer überlegen.Wenige Sekunden später griff die Präsidentin zum Mikrophon.
„Weintraube, Kochlöffel, Winter, Niere und hell.“
Helena bedankte sich und winkte Benson wieder herbei. Der Mann kam kopfschüttelnd das Podest hoch, als habe er gerade etwas Unglaubliches erlebt.
„Würden Sie uns bitte die fünf Wörter vorlesen, die ich Ihnen vorher auf das Blatt geschrieben habe?“
Wiederum trat Helena zur Seite.
Der amerikanische Präsident schüttelte noch immer ungläubig den Kopf. Dann sprach er mit seinem mächtigen Bass in das Mikrophon.
„Weintraube, Kochlöffel, Winter, Niere, hell!“ las er vor.
Es war unfassbar. Der Lärm im Saal schwoll an, jeder sprach mit seinem Nachbarn. Doch Helena sorgte schnell wieder für Ruhe.
„Nun gibt es sicher solche unter Ihnen, die skeptisch sind und denken, hier sei etwas nicht mit rechten Dingen vorgegangen. Ja? Bitte heben Sie die Hand hoch, wenn Sie nicht daran glauben können, dass sich die Zukunft genau voraussehen lässt.“
Mindestens die Hälfte der Leute im Saal hoben die Hand. Palms, der etwas abseits auf einem freien Stuhl Platz genommen hatte, lächelte. Er erinnerte sich daran, wie er sich gefühlt hatte, als er das erste Mal mit Helenas eindrücklichen Fähigkeiten konfrontiert worden war.
„Gut, dann hätte ich gerne vier Freiwillige, die zu mir hoch kommen!“ sagte Helena. Sie hatte ihre Unsicherheit abgelegt.
Diesmal dauerte es keine zehn Sekunden, bis vier Freiwillige ausgemacht waren. Es waren drei Frauen und ein Mann. Jocelyne Pignon war seit zwei Jahren französische Präsidentin, Mbeja Owambe war die frisch gewählte Präsidentin von Kenia, Ute Meringer, die jüngste deutsche Bundeskanzlerin aller Zeiten, und Dirk van Meyers, der langjährige Präsident von Belgien.
„Darf ich zwei von Ihnen zu mir hoch bitten?“
Miss Owambe und van Meyers setzten sich in Bewegung. Dann ging das gleiche Spiel von vorne los. Helena kritzelte je fünf Worte auf einen Zettel und hiess die beiden Abstand nehmen, während die anderen zwei zum Mikrophon schritten. Madame Pignon stand vor den Tisch mit dem professionellen Tonabnehmer.
„Sie haben gesagt es können irgendwelche Wörter sein, das heisst es müssen keine englischen Worte sein, ja?“ fragte sie mit einem Lächeln im Gesicht.
Helena nickte wiederum.
„Gut, dann hier meine Wahl: Fraises, Table, la manche, jaune und Thierry, das ist der Name meines Hundes!“
Dann trat van Meyers an den Tisch mit dem Mikrophon. Er entfaltete den Zettel und räusperte sich.
„Fraises, Table, la manche, jaune und Thierry!“
Beim letzten Wort hätte fast seine Stimme versagt und er musste sich erneut räuspern. Die französische Präsidentin stand wie geohrfeigt da und bekam den Mund kaum mehr zu. Helena winkte das andere Paar herbei.
Diesmal war es an der deutschen Bundeskanzlerin fünf willkürlich gewählte Worte auszusprechen.
„Trigonometrie, Spektralanalyse, Vakuum, Cantus firmus und Vanille-Eis.“
Frau Owambe begann lauthals zu lachen, so frei und unbekümmert wie es nur Afrikaner in ihrer Spontanität können. Sie las genau die selben fünf Worte laut vor, wobei sie eine so kräftige Stimme hatte, dass sie keinen Bedarf für das Mikrophon hatte. Helena bedankte sich wiederum bei den Freiwilligen.
„Ich nehme an, dass jetzt auch die Skeptiker unter Ihnen zufrieden sind, ja?“
Diesmal kam keine Antwort aus dem Saal. Es war still und man hatte das Gefühl die Leute seien alle innerlich beschäftigt. Hiess das nicht, dass die menschliche Willensfreiheit somit eine Illusion war? Was sie soeben erlebt hatten, hatte riesige Implikationen. Helena interpretierte die Stille so, dass es vorerst keine Fragen mehr gab.
„Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Ich nehme an, Sie haben jetzt alle viele Fragen, die Sie beschäftigen. Wir werden am Ende dieses Abends noch Zeit dazu haben, Fragen, die im Verlauf des Abends nicht beantwortet werden, zu besprechen. Jetzt möchte ich das Wort wieder Mister Palms geben.“
Helena setzte sich auf den Stuhl, den Palms jetzt freigab, um sich weiter an die Gemeinschaft zu wenden.
1426 Tage vor „Tag X“
WORLD TERROR UPDATE Okinawa, Japan In Japan fand heute der siebte Anschlag auf eine Schule statt. Seit Anfang Monat häufen sich die Anschläge auf Universitäten und Schulen in Japan. In Okinawa schlich sich heute um 09.20 Uhr lokale Zeit ein Feuerwehrmann in das Schulgebäude der technischen Schule im Zentrum des Stadt ein. Er ging wahllos von einem Klassenzimmer ins nächste und schoss in seinem terroristischen Amoklauf mindestens zweihundertzehn Studenten, Studentinnen und Lehrerinnen nieder. Die Polizei, die schon nach drei Minuten vor Ort war, konnte den Mann erst stoppen, als er ins obere Stockwerk der Schule unterwegs war. Weil die Fenster, die wegen der Terroranschläge erst kürzlich mit schusssicherem Glas versehen worden waren, sich nicht öffnen liessen, konnten die Studenten die Räume nur über die Gänge verlassen, wo der Amokschütze wild umher schoss.Der Rat von Okinawa trifft sich heute, um über zusätzliche Sicherheits-Massnahmen in Schulen und Universitäten zu diskutieren. Über den Feuerwehrmann ist nicht viel bekannt. Er arbeitete als Ausbildner und seine Kollegen bezeichneten ihn als unauffälliges Mitglied der örtlichen Feuerwehr. Der Mann hatte vom Stadtrat zwei Medaillen auf Grund seines vorbildlichen und untadligen Verhaltens in Krisensituationen erhalten.Der japanische Präsident ordnete eine landesweite Niederlegung der Arbeit um Punkt 17.00 Uhr an, um der Opfer zu gedenken.
New York, 202 Tage bis „Tag X“
Der erlösende Gedanke kam Pete auf der Toilette. Er hielt den Zauberer, wie er sein bestes Stück jeweils nannte, in seiner rechten Hand, als ihm der Gedankenblitz kam. Lord Kensington war ihm noch etwas schuldig. Kensington war der Präsident des Rotary-Clubs in England gewesen und mit einer weltweiten Kampagne für die Treue in der Ehe aufgefallen. Es war mittlerweile drei Jahre her, dass eine Affäre, die der Lord mit einer dreissig Jahre jüngeren Frau gehabt hatte, fast aufgeflogen und fast die Reise um den Globus angetreten hätte. Pete hatte damals in letzter Sekunde, auf die verzweifelten Bitten des alten Lords, die Sache aus dem Programm gestrichen. Sehr zum Leidwesen des damaligen LTG-Direktors, der die Entscheidung seines Hauptredaktors hinten und vorne nicht verstehen konnte. Aber Pete war halt auch noch Mensch neben seiner Arbeit als Redaktor und beachtete die Wünsche der Menschen, sofern er dies irgendwie konnte. Und damals hatte er dem englischen Lord den Gefallen getan und damit schätzungsweise seine Ehre und Ehe gerettet.
Pete steckte den Zauberer in die Unterhose zurück, wusch sich die Hände und hatte bereits auf dem Weg zurück in sein Büro die Nummer von Kensington auf seinem Mobiltelefon aufgerufen. Blieb nur zu hoffen, dass Kensington die Nummer nicht geändert hatte und den Gefallen bereitwillig retournieren würde. Pete brauchte irgendetwas über die Konferenz. Die Zahlen mussten wieder in die Höhe, sonst war der LTG-Traum bald Vergangenheit, wie so vieles gegenwärtig zu Vergangenheit wurde.
Immerhin war die Nummer noch aktiv. Es klingelte. Nach drei Summtönen meldete sich jemand.
„Hallo?“
„Mister Kensington?“ fragte Pete.
„Am Apparat. Wer spricht?“
„Pete Torrey von LTG, Sie erinnern sich?“
Einen langen Moment war es am anderen Ende der Leitung still. Pete wusste, dass sein Name in Kensingtons Gehirn alles andere als ein Freudenfest auslösen würde. Sein Name war mit unangenehmen Erinnerungen verknüpft, keine gute Voraussetzung für einen Gefallen, aber Pete hatte keine andere Idee gehabt, als Kensington anzurufen.
„Ja, erinnere mich ...“ kam die zögernde Antwort. „Was verschafft mir die Ehre?“
„Mister Kensington, lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Wir sind Businessmänner und brauchen keinen Smalltalk um uns aufzuheizen. Sie erinnern sich an den Gefallen, den ich Ihnen im Zusammenhang mit der Vanessa Gagliardi Affäre getan habe?“
„Wie könnte ich das vergessen?“
„Genau! Ich befürchte heute muss ich Sie um einen Gefallen bitten, Mister Kensington.“
Am anderen Ende wurde im Hintergrund lautstark diskutiert. Das Ganze klang ein wenig nach Weltuntergangsstimmung.
„... ist kaum der richtige Moment jetzt, Pete. Kann ich Sie zurück rufen?“
„Nein, leider nicht, die Sache eilt. Sie sind doch seit einem Jahr der Pressesprecher Ihrer Regierung, ja?“
Kein Antwort.
„Mister Kensington, ich brauche Informationen über die Konferenz in Washington! Irgendwas, fast egal ob wahr oder gelogen. Ich muss die Zuschauerzahlen in die Höhe kriegen. Sie verstehen? Was können Sie mir über die Konferenz sagen?“
Kensington seufzte deutlich hörbar.
„Scheint als habe niemand Interesse an einem anderen Thema. Hören Sie mir zu! Palms hat alle Presseverantwortlichen rausgeschmissen. Niemand wird irgend etwas erfahren! Die Security lässt uns nicht mehr hinein und die Presse wurde soeben dazu aufgefordert das Gelände zu verlassen. Hier ist der Teufel los, sag ich Ihnen! Keine Ahnung was sich da drinnen abspielt, Pete, aber wenn ich was höre wird LTG - das heisst werden Sie - sofort verständigt. Okay?“
„Mehr liegt für einen alten Freund nicht drin?“, fragte Pete enttäuscht.
„Fürchte nicht ...“ Kensington legte auf.
Kurz darauf war Pete wieder am Handy. Es war Livia. Sie erzählte ihm die selbe Story wie Kensington. Irgendetwas war da eigenartig. Sehr eigenartig. Die Presse konnte man doch nicht einfach ausschliessen. Oder doch?
Pete bestellte Livia und ihr Team zurück nach New York. Wenigstens würde sie heute zuhause übernachten können, so dass der Zauberer etwas zu tun haben würde. Aber dass die Presse einfach so mir nichts dir nichts ausgeschlossen wurde, das verkraftete Pete nur schlecht. Direkter konnte man einen Journalisten kaum reizen. Einem Journalisten zu sagen, dass er nichts über ein spezifisches Thema ausfindig machen durfte, war genau so gut wie mit einem roten Pullover vor einem Stier herum zu winken. Pete witterte eine Herausforderung. Sein Stolz war angekratzt, und das war nie gut ... für die Anderen.
Livia würde schätzungsweise um elf in New York ankommen. Das war in vier Stunden. Pete machte sich ans Suchen einer neuen Strategie, um herauszufinden, was da in Washington geschah. Irgendwo gab es sicher ein Leck, das Informationen durchliess.
Washington, 202 Tage bis „Tag X“
Palms stand wieder vor dem Mikrophon. Mit seinen grossen Händen stützte er sich auf dem Tisch auf. Sein Blick schweifte über die Menge, schien herausfinden zu wollen, wie die Leute das Experiment aufgenommen hatten und was jetzt in ihren Köpfen vor sich ging. Seine Menschenkenntnis half ihm da nicht schlecht, Menschen waren oftmals offene Bücher für ihn. Er führte das darauf zurück, dass er sich selbst gut analysiert hatte. Wer sich selbst gut kennt, kennt auch andere gut.
Palms hatte die Leute dort, wo er sie wollte. Sie lechzten nach mehr Informationen und wollten das Puzzle zusammensetzen, das er und Helena ihnen soweit präsentiert hatten. Eins und eins war nicht schwierig zusammen zu zählen, trotzdem machte es den Eindruck, als habe die Mehrheit noch nicht kapiert, was Helenas Fähigkeit mit der gegenwärtigen Weltsituation zu tun habe.
Palms atmete tief ein, was wiederum im ganzen Saal zu hören war. „Es dürfte jetzt klar sein, dass Helena auch jeden terroristischen Anschlag voraussagen kann. Und wer dies noch immer nicht glaubt, kann am Ende der Veranstaltung, wie erwähnt, zu ihr gehen. Sie ist für jede Art von Beweis bereit und wird die letzte Skepsis, die Sie noch in sich haben, in den Wind schlagen. Aber lassen Sie mich ein wenig genauer sein.“
Er nahm das Mikrophon aus der Verankerung und begann jetzt auf und ab zu gehen, während er die weiteren Ausführungen kommunizierte.
„Jeder Mensch hat einen freien Willen. Diese Tatsache führt dazu, dass Helena im Durchschnitt einen Tag vor einem Anschlag eine verlässliche Voraussage machen kann. Früher geht das nicht, weil vorher zu viele Variablen im Spiel sind. Etwas kann in den Vorbereitungen schief laufen und Leute können ihre Meinung ändern; auch Terroristen haben einen freien Willen. Es kommt gar nicht einmal so selten vor, dass ein Terrorist seine Absicht zwei Tage vor der Durchführung fallen lässt, entweder aus Gewissensgründen oder einfach nur aus Angst. Doch das kriegt die Allgemeinheit alles nicht mit. Was wir mitbekommen sind die Anschläge, die tatsächlich durchgeführt werden. Und genau diese wollen wir ja vereiteln. Helenas Forschungen haben ergeben, dass sie einen Tag im Voraus mit 99% Sicherheit voraussagen kann, wann und wo ein Anschlag stattfinden wird. Aus dem einfachen Grunde, weil die Terroristen ihre Meinung so kurzfristig nicht mehr ändern, der freie Wille also berechenbar wird, weil er seine eigene Freiheit zugunsten eines Plans aufgibt.“
Palms machte eine kurze Pause. Er ging zum bereitstehenden Videoprojektor und schaltete das Gerät ein. Auf der Leinwand hinter dem Podest erschien ein grosses weisses Lichtfeld. Dann drückte Palms die Taste, welche das erste Bild der Powerpoint-Präsentation auf der Leinwand erscheinen liess.
„Wie Sie hier auf dieser Darstellung sehen, besteht mein Vorschlag aus drei Stufen. Ich nenne die Stufen A, B und C. Diese Stufen entsprechen verschiedenen Abteilungen. Lassen Sie uns bei Stufe und Abteilung A beginnen.“
Palms drückte wieder auf den Knopf und diesmal erschien ein animiertes Bild, das sich langsam aufzubauen begann.
„Da der Terrorismus sich längst nicht mehr auf einige Länder beschränkt, sondern alle Nationen dieser Welt betrifft, braucht jede Nation ein Team der Abteilung A. Was Sie hier also sehen betrifft Sie alle! Das Team A wird während sechs Monaten in einem besonderen Camp von Helena und ihren Mitarbeitern auf seine Aufgabe vorbereitet. Diese Leute werden dazu ausgebildet, zuverlässig Anschläge voraussagen zu können. Wir nennen diese Abteilung deshalb „TIT“, das steht für Terror Identification Team. Helena ist der Meinung, dass sie die Teammitglieder in etwa sechs Monaten soweit haben wird, dass sie diese Aufgaben gewissenhaft übernehmen können. Selbstverständlich eignet sich nicht jeder Mensch für diese Arbeit, doch zu den Fragen der Rekrutierung kommen wir später. Das A-Team, oder besser die TIT-Einheiten, sagen also einen Tag vor dem Anschlag voraus, wann und wo ein Terrorakt welcher Natur stattfinden wird. Dann kommt Team B zum Zuge.“
Palms drückte wieder auf den Knopf. „Team B besteht aus jungen Menschen, die in Nahkampf-Techniken, Waffen und Betäubungsmittelkunde ausgebildet sind. Sie werden diejenigen sein, die die Terroranschläge im Keime ersticken werden, die Terroristen gefangen nehmen und sie sicher zu den Mitgliedern der C-Teams bringen werden. Das heisst ...“
Palms Stimme wurde jetzt ein wenig lauter.
„Entgegen unserer Vergangenheit werden die Terroristen unter keinen Umständen getötet. Niemand, und ich unterstreiche, niemand, wird bei diesen Einsätzen sein Leben verlieren. Wir brauchen jeden einzelnen Terroristen, um an die Quelle des Wahnsinns zu gelangen. Die Teams der B-Abteilungen werden die Terroranschläge verhindern, ohne dabei viel Aufsehen zu erregen. Sie bringen die Terroristen dann in die speziellen Camps, in denen vornehmlich die Mitarbeiter der C-Teams arbeiten.“
Palms drückte wieder auf den Knopf, der die Präsentation zum nächsten Bild weiterschreiten liess. Auf der Leinwand war jetzt eine Auflistung der drei Punkte.
A - TERROR IDENTIFICATION TEAM (TIT)
- Scannen der unmittelbaren Zukunft- Terrorzellen – Identifikation- Detaillierte Kommunikation an B – Teams
B - TERROR COMBAT TEAM (TCT)
- Vereitlung der Anschläge- Isolierung der Terroristen- Transport in die Camps der C – Teams
C - TERROR SOLUTION TEAM (TST)
- Verhören der Terroristen- Terroristen - Umschulung- Bereitstellung von Hinweisen an die A – Teams
„Und wie Sie sehen, hat das jeweilige C-Team ebenfalls drei Aufgaben. Die Terroristen werden in den Camps mit speziellen Fragetechniken verhört, damit wir möglichst schnell möglichst viel über die interne Logik der Terroristen, ihrer Zellen und ihrer Führer herausfinden. Dann werden die Terroristen umgeschult, so dass sie uns mit ihrem Wissen tatkräftig zur Seite stehen werden, und ...“
Hier unterbrach ein kleiner, untersetzter Mann Palms Vortrag abrupt und erhob sich impulsiv. „Sie wollen mit den Terroristen kollaborieren?“
Es war Jose Felipe, der chilenische Präsident, der lautstark den Fluss der Veranstaltung unterbrochen hatte. Er hatte allen Grund zu diesem Ausbruch. Es war letzte Woche durch alle Medien gegangen, dass sein Bruder von Terroristen entführt und trotz der Bezahlung des Lösegelds umgebracht worden war. Jose Felipes Augen funkelten wild. Der Wunsch nach Vergeltung war ihm deutlich anzusehen. Doch Palms liess sich nicht aus der Ruhe bringen.
Mit seinem klaren Blick, der schon so manches emotionales Dickicht durchleuchtet hatte, schaute er den aufgebrachten chilenischen Präsidenten verständnisvoll an.
„Zu dem Zeitpunkt, an dem die Terroristen mit uns zusammen zu arbeiten beginnen, werden sie keine Terroristen mehr sein. Genauso, wie jemand einer negativen Gehirnwäsche unterzogen werden kann, können wir Menschen auch einer positiven Gehirnwäsche unterziehen.Vergessen Sie nicht, dass wir die Menschlichkeit als Richtlinie für unsere Mission verwenden wollen. Zur Menschlichkeit gehört dazu, dass man verzeiht. Wenn die Terroristen durch unsere Methoden dazu gebracht werden können, dass sie einsehen, welche Fehler und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sie begangen haben, dann werden sie der Welt nicht mehr gefährlich sein. Es ist nicht an uns diese Menschen zu bestrafen. Vielmehr ist es an uns ihnen zu helfen. Und glauben Sie mir: Wenn die Terroristen wirklich eingesehen haben, dass ihr Weg nur Leid und keinen Frieden erschaffen kann, dann werden sie uns freiwillig helfen, andere Terroristen zu fassen. Ich schätze sie werden zu den besten ATO Mitgliedern gehören, die wir haben werden.“
Der chilenische Präsident hob die Schultern. „Wenn Sie meinen ...“, sagte er, wenn auch sichtlich nicht ganz überzeugt. Wer konnte es ihm verübeln?
Doch Palms wusste, dass schlussendlich nur der Erfolg und die Zukunft die Regierenden dieser Welt von seiner Strategie überzeugen würden. In der Theorie klingt vieles gut, was in der Praxis nichts hergibt. Die Resultate würden ihm Recht geben müssen.
In der hinteren Reihe erhob sich eine Frau. „Mister Palms, wofür stehen die drei Buchstaben ATO, die Sie gerade verwendet haben?“
„Wir werden unsere geheime Organisation ATO nennen. ATO steht für Anti-Terror-Organisation. Ich gebe zu, der Name ist nicht wirklich kreativ, aber er umschreibt, was wir tun werden. Wir werden das Gegenteil des Terrors organisieren.”
Palms verliess das Podium kurz und besprach leise etwas mit Helena. Als er das Mikrofon wieder ergriff, hatte er einen lockereren Ton in der Stimme.
„Wir brauchen in jedem Land rund 20 Mitglieder für jedes Team! Wie wir diese Leute rekrutieren ist erst teilweise geklärt. Ich möchte Sie jetzt bitten, sich in Arbeitsgruppen zusammen zu tun und in 30 Minuten einen Vorschlag auszuarbeiten, wie wir an die richtigen Menschen herankommen! Das Alter für die Teams wird 22 bis 35 Jahre sein. Keine Jüngeren und keine Älteren, wir brauchen diese Menschen auf dem Höhepunkt ihrer Kräfte und ihrer Leistungsfähigkeit. Bitte machen Sie sich an die Arbeit!”
Palms teilte noch kurz die Gruppen ein und verliess kurz darauf zusammen mit Helena den Saal.
1320 Tage vor „Tag X“
WORLD TERROR UPDATE Lima, Peru Bei einer Flugzeugentführung kamen heute alle 286 Insassen des Flugs DG389 von Buenos Aires nach Lima ums Leben. Die peruanische Luftwaffe erhielt um 20.10 lokale Ortszeit den Befehl die Maschine abzuschiessen, nachdem die Terroristen die Maschine in ihre Gewalt gebracht hatten und jegliche Kommunikation beendet hatten. Laut Angaben des Geheimdienstes wollten die Terroristen das Flugzeug in die Innerstadt von Lima steuern und dort in ein Businessviertel krachen lassen, worauf Präsident Martinez den Befehl erteilte, die Maschine abzuschiessen. Peru ist die dritte Nation, die in einer solchen Situation den Abschuss eines Zivilflugzeuges genehmigt hat. Die Maschine vom Typ Boeing C8 stürzte zweihundert Kilometer vor Lima in unbewohntem Gebiet ab.
Nizza, 192 Tage vor „Tag X“
Guillaumes Geschichte
Er ging schnellen Schrittes dem steinigen Kieselstrand entlang, der unterhalb der Strasse verlief. Das Klick-klack seiner glanzpolierten Designerschuhe auf dem Asphalt machte deutlich, dass er in Eile war. Es war regelmässig und das Klack des rechten Fusses folgte rasch auf das Klick des Linken. In Nizza schlenderten die Leute eigentlich eher dem Strand entlang, aber nicht so die Einheimischen, wie Guillaume. Nizza war zwar nicht Marseille, aber eine gewisse südfranzösische Hektik hatte man als Niçois eben trotzdem angeboren. Guillaume schaute auf seine Uhr, eine goldene Cartier mit Platineinlagen im Zifferblatt, die das Dezernat ihm zur Verfügung gestellt hatte. Das war einer der angenehmen Nebeneffekte, die die Undercover-Arbeit für die Gendarmerie mit sich brachte: Man konnte teure Anzüge, modische Designerschuhe, unbezahlbare Uhren etc. tragen, ohne die Dinge selbst berappen zu müssen; zumindest, wenn man in den oberen Schichten Undercover arbeitete, so wie er. Guillaume beschleunigte seine Schritte weiter. Er wollte nicht zu spät kommen, obwohl seine Rolle ihm solch einen Umstand locker verziehen hätte.
Er verkörperte Julien Grand, einen Neureichen, der sein Geld im Dotcom-Boom gemacht hatte und jetzt nicht recht wusste, was er mit all dem Zaster anstellen sollte. In etwa fünf Minuten würde er Mireille und Philippe Broccart treffen, zwei international gesuchte Hochstapler, oder wie man diese Gattung Mensch heute eher nannte: zwei Con-Artisten, die ihn von seinem Geld befreien wollten. Guillaume hatte sich über die letzten drei Monate an den Orten aufgehalten, wo diese Leute ihre Opfer primär suchten: in Spielcasinos, in Fünfstern Hotels, in Fitness Studios der oberen Klasse oder in den einschlägigen Galerien von Nizza.
Und genau dort, in einer Galerie, hatten Mireille und Philippe ihn an Land gezogen und als Beute auserkoren. Sie wollten ihm einen Matisse verkaufen, den sie angeblich von einer verstorbenen Tante geerbt hatten. Ein unbekanntes Bild, das noch in keinem Verzeichnis sei, aber sie hätten ein Gutachten eines Experten, das beweise, dass es sich um einen echten Matisse handle. Verkaufspreis 1,8 Millionen Euro.
Man ging im Dezernat davon aus, dass es eine Fälschung war. Wie könnten zwei bekannte Betrüger besser vorgehen, um schnell an viel Geld zu kommen?
Guillaume hatte sich mit dem Ehepaar in der Lobby des Hotels Etoile verabredet. Sie wollten ihm dort das quadratische Bild mit einem Umfang von dreissig auf dreissig Zentimeter zeigen, die Gutachten vorlegen und dann den Kauf abwickeln. Wie alle Betrüger machten sie Druck, was den Abschluss des Geschäfts anbelangte, weil sie angeblich zwei andere Interessenten hatten, die das Bild heute Abend kauften, wenn er nicht heute Morgen zuschlagen würde. Ein typisches Szenario. Locken - Stressen - Drohen - Verkaufen.
„Bin in zwei Minuten dort ...“, sagte Guillaume in das Mikrophon, welches als Kugelschreiber getarnt sein Leben in seiner Hemdtasche fristete.
„Wir sind vor Ort. Alles bereit.“, kam die Antwort. Er trug ein Hörgerät, hörte angeblich schlecht seit Kindheit. Zumindest für die Broccarts.
Guillaume war sich bestens im Klaren darüber, dass das kein Routine-Einsatz war. Die Sache konnte durchaus böse enden. Philippe Broccart hatte seinen seit Jahren bestehenden Flirt mit Gewalt alles andere als abgebrochen. Wäre er nicht so geschickt und strategisch, sässe er für dreifachen Mord mindestens lebenslänglich. Doch er hatte immer ein hieb- und stichfestes Alibi, und so hatten die Staatsanwälte jedes Mal den Kürzeren gezogen.
„Guillaume, pass auf Alter! Der Typ hat ein Stück im Mantelsack. Hab‘s gesehen, als er sich hinsetzte. Kein Risiko, okay? Lass dir die Matisse-Fälschung verkaufen und such dann das Weite. Den Rest übernehmen wir.“
„Gebe mir Mühe!“
Die letzten fünfzig Meter vereinte Guillaume sich mit seiner Rolle. Er und sein fiktiver Charakter mussten ein und derselbe sein, und das hiess er musste denken wie ein Neureicher, sprechen wie einer, der nicht wusste, was mit dem vielen Geld angestellt werden konnte und so echt wie möglich wirken. Seine Stimme, seinen Akzent, seine Bewegungsmuster, das alles versuchte Guillaume erst gar nicht zu verändern; diesbezüglich blieb er sich selbst, aber alles andere war ein Schauspiel.
Kurz bevor er das Hotel betrat, gab er seiner Rolle einen Extra-Energie-Stoss, indem er einige Male tief ein und aus atmete. Dann stieg der die vier Treppenstufen zum Eingang hoch und es ging los.
Mireille und Philippe sassen an einem Tisch in einer Ecke. Als sie ihn eintreten sahen, stand Mireille auf. Sie winkte ihm zu. Mireille trug ein weisses Kleid, unter dem fein gezeichnet ihre Unterwäsche zu sehen war. Sie hatte teuer anmutende Ohrringe an und machte den perfekten Eindruck einer Dame mit Bildung und Niveau.
Unglaublich, dachte Guillaume, als er lächelnd auf die beiden zu ging. Sie wirken beide so sympathisch. Niemand auf der Welt hätte geglaubt, dass dieses süsse Paar in den späten Fünfzigern ruchlose Kriminelle waren, die ohne mit der Wimper zu zucken ein menschliches Leben beendeten, wenn es ihnen nicht passte.
Guillaume streckte ihnen die Hand entgegen. „Tut mir Leid. Bin ich zu spät?“
„Nicht der Rede Wert!“
Er setzte sich und bestellte sich ein Glas Rotwein.
„Kann ich es sehen?“
Philippe lächelte Mireille an. „Er hat es eilig. Das ist gut.“
„Sie können sich ja nicht vorstellen, was wir momentan für einen Renn auf dieses Bild erleben. Wir wissen nicht mal wie das geschehen konnte, weil wir doch wirklich diskret vorgegangen sind, aber in der Zwischenzeit haben sich noch zwei weitere Interessenten bei uns gemeldet, die das Bild heute sehen wollen.“
Sie spielte mit ihrem Armring, als sie das sagte.
„Das treibt natürlich den Preis in die Höhe ...“, fügte Philippe an. Seine gepflegten Hände legten eine Papiertüte auf den Tisch und begannen flink das in ein Tuch gewickelte Bild frei zu legen. Mireille nahm es in die Hände, positionierte sich auf ihrem Stuhl so, dass sie Guillaume anschaute, und legte das Bild auf die Schoss.
„Nehmen Sie sich Zeit. Am besten lässt man es zuerst mal auf sich wirken.“ Das Bild zeigte eine im Mondlicht tanzende nackte Frau.
Guillaume hätte beim besten Willen nicht sagen können, ob es wie ein Matisse aussah oder nicht, aber das musste er nicht mal überspielen. Sein Undercover-Charakter hätte das ebenfalls nicht sagen können. Also sass er einfach mit offenem Mund da und staunte das Bild an.
„Das ist also ein echter Matisse?“, sagte er.
„Durch und durch!“, sagte Mireille,
„Hat er immer in diesem Stil gemalt?“
„Das Bild entstammt seiner letzten Schaffensperiode vor seiner Erkrankung. Es gehört zu den Kunstwerken, die er fertigte, als er seinen eigenen Stil gefunden hatte, was das Bild für die meisten Leute natürlich nur umso attraktiver macht.“, antwortete Philippe. Er hatte ein überhebliches Lächeln im Gesicht.
„Es gefällt mir sehr gut. Würde gut in meinen Flur passen ...“
Philippe und Mireille tauschten einen Blick aus.
„Monsieur Grand, wir haben die Sache bevor Sie kamen noch einmal durch besprochen. Wir würden das Bild ungerne irgend jemandem verkaufen, sondern am liebsten Ihnen. Wir denken es würde bei Ihnen in angemessner Würde behandelt werden. Aber sind Sie wirklich bereit tief in die Tasche zu greifen? Überlegen Sie sich das gut. Immerhin ist es ein Matisse, kein neues Fahrrad ...“
Guillaume streichelte mit den Fingern über den Rand des Bildes. „Es gefällt mir wirklich sehr gut. Wie viel wollen Sie dafür?“
„Nun, die Dame, die das Bild heute Nachmittag besichtigt, hat uns bereits ein Angebot von 1,8 Millionen gemacht, und das ohne dass sie das Bild schon gesehen hätte. Dieses Angebot müssten Sie natürlich übertrumpfen.“, sagte Philippe.
Mireille legte das Bild flach auf die Schoss und begann in ihrer Aktenmappe zu kramen, welche auf dem Tisch lag. Sie zog zwei amtlich wirkende Blätter hervor.
„Hier sind die beglaubigten Zertifikate von zwei unabhängigen Kunstexperten aus Paris.“ Sie legte sie Guillaume vor die Nase.
Er nahm sie, hielt sie in Lesedistanz vor die Augen und überflog den Text. Dann legte der eine Kunstpause ein. Blick nach innen gerichtet, als habe er ein intensives Selbstgespräch. In Wirklichkeit zählte er auf sieben, um tiefes Nachdenken zu simulieren.
Das Ehepaar frass ihn währenddessen mit gierigem Blick fast auf.
„Ich nehme es! Ich biete ihnen 1,8 Millionen Euro und noch einen Hunderter drauf, womit ich das Angebot der Dame übertrumpft hätte. Deal?“
Philippes Mundwinkel zuckten. Mireille hielt ihm die Hand hin. „Einverstanden! Das Bild wird Ihnen nur Glück bringen, Monsieur Grand!“
Guillaume schlug ein. „Nennen Sie mich Julien!“
Philippe lehnte sich über den Tisch und schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. „Freut mich, dass es bei dir an der Wand landet, Julien! Ich bin Philippe. Ich bestelle uns einen Cognac. Dann stossen wir an.“
Philippe Broccart drehte sich der Bar zu. Mit lauter, selbstsicherer Stimme rief er der Bedienung die Bestellung zu. Dann rutschte er seinen Sessel näher an den Tisch. „Das müssen wir feiern, Julien. Wir haben schon gedacht, wir müssten den Matisse an einen dieser stinkreichen alten Böcke verkaufen, die sowieso nicht mehr wissen, wo sie die Bilder alle hin hängen sollen. Ist mir sehr recht, dass ein junger Kerl wie du einen Sinn für Kunst hat! Sonst landet das Bild noch in einem Safe, anstatt an einer Wand.“
Guillaume lächelte. „Ich werde es in Ehren halten.“
In dem Moment hallte ein kurzes Wort durch das Foyer des Hotels. „Ha!“
Mireille drehte sich dem Ruf zu. Ihre Augen wanderten zwischen Guillaume und dem Rufenden hin und her. „Da will jemand etwas von Ihnen, Julien ...“
Guillaume drehte sich um. Mit einem riesigen Grinsen im Gesicht und gerade ausgestreckter Hand kam Robert, ein alter Kollege aus der Schule, auf ihn zu.
Verdammt, dachte Guillaume. Was jetzt? Was um Himmels Willen hatte Robert in einem Hotel wie diesem verloren? Er trug einen Anzug. War er in den letzten vier Jahren seit dem letzten Klassentreffen zu einem Geschäftsmann geworden? Mist!
„Guillaume, alter Knabe! Das ist ja ewig her!“ Robert war jetzt auf Tischhöhe. „Mein Gott, wann haben wir uns das letzte mal gesehen? Immer noch bei der Polizei?“
Scheisse, war das einzige Wort, das Guillaume in seinem Kopf Runden drehen hörte; es hämmerte wie ein Presslufthammer an seine Schädeldecke. Verdammte Scheisse!
Es verging keine Sekunde, da stand Philippe auf, brachte Robert mit einem direkten Kinnhaken zu Fall, und stand dann mit erhobener Waffe hinter Guillaume. Er drückte ihm das Eisenteil in den Rücken, als wolle er ein Bohrloch anlegen.
Vier Polizisten in Zivil kamen wie aus dem Nichts aus versteckten Winkeln des Foyers hervor. Wie Feuerameisen waren sie alle auf einen Schlag da, um einem Kollegen aus der Patsche zu helfen. Jetzt waren fünf Waffen auf Guillaume gerichtet. Eine hatte er von hinten im Rücken, die anderen vier zoomten von vorne auf ihn ein. Gemeint waren sie zwar für Philippe, aber da dieser hinter ihm stand, sah Guillaume sich mit einer Überdosis an Pistolenläufen konfrontiert.
„Lassen Sie die Waffe fallen! Das Haus ist umstellt. Sie sind verhaftet, Philippe Broccart!“, schrie Manuel, Schützenkönig des zweiten Reviers.
Guillaume spürte, wie die freie Hand von Broccart zu seinem Kopf hoch wanderte. Mit viel zu viel Kraft zog er an Guillaumes Haar, so dass sich dessen Kopf nach unten auszudehnen schien. Die andere Hand hielt die Waffe jetzt direkt gegen seine Schläfe.
„Wir gehen jetzt ganz langsam hier raus. Verstehen Sie? Wenn Ihnen das Leben Ihres Freundes etwas Wert ist, dann lassen Sie uns jetzt ruhig das Hotel verlassen. Klar?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stiess Philippe Guillaume vorwärts. Mireille bewegte sich wie eine Wildkatze elegant in den Schatten von Philippe und folgte, als sei die ganze Sache unzählige Male einstudiert worden.
„Auf den Boden!“, krächzte Guillaumes Chef heiser. Doch Philippe Broccart liess sich nicht der Spur nach beirren.
„Einfach ruhig bleiben und wir alle werden den Tag überleben! Bleiben Sie, wo Sie sind! Oder wollen Sie heute noch die Familie von dem Spitzel hier anrufen, um ihnen zu sagen, dass Sie ihn auf dem Gewissen haben? Einfach ruhig bleiben!“, antwortete er, als spreche er mit einer Horde Kindern.
Zwanzig Sekunden später wurde Guillaume Kopf voran auf den Hintersitz eines Taxis geschoben. Philippe nahm neben ihm Platz, während Mireille sich hinter das Lenkrad setzte. Der Taxifahrer hatte seinen Wagen von selbst verlassen, als er verstand was los war.
Manuel, der Chef und zwei andere Kollegen standen jetzt zwar auf dem Vorplatz des Hotels, Waffen immer noch feuerbereit, doch Guillaume wusste, dass sie ihn gehen lassen mussten. Es war zu brenzlig.
„Du weisst wohin, Kleines!“, sagte Philippe zu Mireille.
Mireille nickte und fuhr los, als habe sie als Kind Rennfahrerblut im Brei gehabt. Ein greller Ton von klebrigem Gummi auf heissem Asphalt drang von aussen durch die Karosserie in das Wageninnere. Der Wagen spulte eine Sekunde lang. Dann brausten sie davon.
„Du dämlicher Bulle!“ Philippe schlug Guillaume mit der freien Hand ins Gesicht, was dieser aber mit vorgehaltenen Armen abblocken konnte.
„Ihr entkommt uns nie und nimmer! Du bist ein wichtiger Mann, Philippe. Wir haben ein Grossaufgebot für dich mobilisiert. Der Hubschrauber ist euch von oben an den Fersen, der Mikrochip, den wir vor jeder Mission schlucken müssen, sagt meinen Kollegen auf den Meter genau, wo ihr mich hinbringt, und unser ganzes Gespräch ist auf Band aufgenommen. Für diesen Betrug wirst du mindestens sieben Jahre kriegen. Und deine Frau mindestens fünf. Gib auf, dann hast du wenigstens mildernde Umstände!“
„Du hast ja keine Ahnung, Bulle!
Fünf Minuten später fuhren sie bereits ins hügelige Hinterland von Nizza. Mireille liess den Wagen im zweiten Gang die Landstrasse hinauf heulen. Sie überholte zwei Sonntagsfahrer in halsbrecherischen Stunts und wich in letzter Sekunde einer Frontalkollision mit einem entgegen kommenden Fahrzeug aus. Guillaume hatte derweil den Lauf der geladenen Pistole konstant im Gesicht, während Philippe seine Unterlippe blutig biss. Ganz so cool und gelassen nahm er es doch nicht. Die Aussicht auf mehrere Jahre Knast wollte ihm scheinbar nicht gefallen. Er blickte immer wieder aus dem Fenster, suchte den Hubschrauber, den Guillaume erwähnt hatte.
Gut so, dachte Guillaume. Er wusste genau, was seine Kollegen jetzt gerade taten. Dort herrschte jetzt reines Chaos. Einen Hubschrauber gab es nämlich nicht, nicht für Einsätze dieser Art. Und die Sonde hatte er zwar vorschriftsmässig geschluckt, aber Guillaume wusste genau, dass die Tracking-Apparate alles andere als zuverlässig funktionierten. Das Equipment war veraltet und hätte ein Upgrade bitter nötig gehabt, aber dafür fehlten der Abteilung die Finanzen.
„Wo wollt ihr hin? Das hat doch keinen Zweck!“, sagte Guillaume.
Doch Philippe verpasste ihm als Antwort einen weiteren Schlag mit der Waffe. „Halt dein Maul!“
In dem Moment verlangsamte Mireille das Tempo, weil die Strasse eine scharfe Kurve machte. Philippe schaute selbstgefällig, stolz, dass er einem Polizisten die Waffe auf den Schädel gedonnert hatte, geradeaus.
Jetzt oder nie, dachte Guillaume. Er spähte um die Kurve. Kein Gegenverkehr. Mit einer blitzschnellen Bewegung öffnete er die Tür und warf sich der Länge nach aus dem Wagen. Er milderte den Aufprall mit den Armen so gut es ging ab und rollte sich weg von der Strasse, als sei er ein eleganter Sack Kartoffeln, der von einem Laster gehechtet war. Die stundenlangen Abroll-Übungen in seinem Training kamen zum Tragen. Er verletzte sich nicht, kam bei einer kleinen Mauer zum Halt, stand sofort auf und rannte davon in den Wald. Kein einziger Blick nach hinten. Zickzack geradeaus. Nur weg, dachte Guillaume. Von seiner Stirn strömte ihm Blut in die Augen. Scheisskerl!
Philippe Broccart hatte ein Problem mit Gewalt und das durfte er gerne für sich behalten.
Paris, „Tag X“
Die Zusammenarbeit verlief wie geölt. Hatten Yeva und Guillaume gestern im Bett miteinander harmoniert, so harmonierten sie jetzt in der Vorbereitung des ersten Einsatzes miteinander. Jeder Handgriff sass. Musste sitzen. Sollte sitzen, denn die letzten Wochen hatten sie sowohl zusammen, als auch alleine, nicht viel anderes getan.
Die Waffen wurden gekonnt zusammengesetzt. Die speziellen Feldstecher mit Nachtsicht-Funktion wurden millimetergenau positioniert und eingestellt. Die Sonden und Ortungsgeräte ein letztes Mal überprüft und so bereit gelegt, dass sie im entscheidenden Moment zur Hand waren.
Zwei Einsätze standen an. Ein kleiner Einsatz in knapp 150 Minuten und ein grosser um 21.27 Uhr. Klein, das hiess um die fünfzig Tote. Gross, das hiess mehr als Hundert, wenn der Kunde nicht gestoppt würde.
Nachdem im Hotelzimmer alles vorbereitet war, hing Yeva wiederum das Bitte nicht stören Schildchen an die Tür und dann verliessen die beiden das Hotel, um mit der Metro an den Ort des ersten Einsatzes zu fahren: Les Halles.
Es gab weder Small Talk noch sonst irgendwelche Anzeichen von Nervosität. Was die Passanten anging, waren Yeva und Guillaume ein ruhiges und schweigsames Pärchen, das seine Ferien in Paris verbrachte. Verträumt und bezaubert vom Charme der Stadt. Es war etwa neun Uhr. Das A-Team, mit dem Guillaume und Yeva zusammen arbeitete, hatte ihnen den ersten Terroranschlag auf die Sekunde genau angegeben. Man konnte für die exakte Arbeitsweise und für die entsprechenden Resultate der A-Teams nichts anderes als Ehrfurcht empfinden.
Die Infos hatten sie dann auswendig gelernt und hätten sie im Schlaf wiedergeben können. Alles, von der familiären Situation der Täter - die intern Kunden hiessen - über den genauen Ort und Zeitpunkt des Anschlages bis zum Anschlags-Ablauf wurde an die B-Teams weitergeleitet, so dass diese sich optimal vorbereiten konnten. Und trotzdem war das Vorbereiten ein kontinuierlicher Prozess, da jede Stunde neue Informationen dazukommen konnten. So wurde von den B-Teams so einiges an Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und spontaner Improvisationslust gefordert. Alles Eigenschaften, die Guillaume und Yeva im Überfluss hatten.
Im Kopf ging Guillaume die Details noch einmal durch:
ANSCHLAG 2.März
ZEIT: 11.23 AM - Kasse Kinokomplex UGC, Les Halles, Paris
KUNDE: Jean Vurieux - 24 Jahre altMutter: Adèle Vurieux, 22, Rue de Concorde, ParisSchwester: Florence Vurieux, wohnhaft bei Mutter Beschreibung Jean Vurieux:Schwarze kurzgeschnittene Haare; braune Augenblaue Jeans; gelbes Hemd; schwarze Nylonjackeroter Schirm; dunkelgrüner Handkoffer
PROZESS: Sprengsatz befindet sich im Handkoffer; Zündung wird durch den Kunden ausgelöst, indem er einen Text-Code per SMS an einen Zünder im Koffer schickt. Er nimmt das Mobiltelefon um 11.22 aus der Tasche und gibt den Code ein. Explosionszeit um 11 Uhr 23 Minuten und 14 Sekunden.
Er hatte die Infos intus. Doch ein Rest Zweifel blieb. So, wie ein Schauspieler vor der Premiere hofft, dass er den Text nicht vergessen wird, hoffte Guillaume, dass ihn sein Gedächtnis nicht im Stich lassen würde. Jeder Teil der Infos konnte zu jedem beliebigen Zeitpunkt das Leben von Menschen retten. Und im Gegensatz zum Schauspieler, der auf einen Souffleur vertrauen durfte, wusste Guillaume, dass er im Endeffekt auf sich selbst gestellt sein würde. Zwar gab es immer den Begleiter, der ihn mit allen anderen Teammitgliedern verband, aber die Technik konnte immer ausfallen, gestört werden, oder irgend eine Fehlfunktion an den Tag legen. Und einen Terroristen lahm legen, das konnte auch der Begleiter nicht.
Während sie bei der Metrostation Opéra auf die U-Bahn warteten, überprüften beide noch einmal, ob sie wirklich alles dabei hatten. Immer alles dreimal überprüfen, hatte die Ausbildner ihnen unzählige Male gepredigt.
*Die Armbinde der ATO, die sie als Mitglieder der Geheimpolizei Frankreichs ausweisen würden. Eine gelbe Armbinde auf der mit dicken Buchstaben ATO - POLICE NATIONALE DE FRANCE stand. *Einen gelben Tazer X3 für den Notfall, falls der Kunde zu viel Widerstand leisten sollte und mit Muskelkraft alleine nicht überwältigt werden konnte. *Ein Navigationsgerät, damit jeglicher Einsatzort ohne Probleme gefunden werden konnte, und damit die A- und C-Teams immer vom Aufenthaltsort der B-Teams wussten, da das Gerät die Koordinaten ständig in die Zentralen übermittelte. *Das spezielle ATO-Kommunikationsgerät, um mit den A-Teams und C-Teams in Verbindung bleiben zu können. Ein High-Tech-Gerät, auf das normalerweise Verlass war. Die ATO hatte es den Begleiter getauft, weil es hinter dem Ohr angeknipst wurde und sowohl den A- und C-Teams mit einer Minikamera eine Life-Übertragung aller Geschehnisse übermittelte, als auch mittels eines kleinen Kopfhörers und Mikrofons die Möglichkeit bot, mit allen Teammitgliedern in Kontakt zu bleiben, auch wenn man sich in der Hitze des Gefechts aus den Augen verlieren sollte. *Neuartige Handschellen aus geflochtenem Kevlar, die einem Kunden innerhalb von zwei Sekunden angezogen werden konnte.
Alles war da. Guillaume und Yeva nickten sich gegenseitig zu, um die Vollständigkeit der Ausrüstung ein letztes Mal zu bestätigen. Danach war es Zeit Kontakt mit der Zentrale aufzunehmen.
„Luc, kannst du mich hören?”, fragte Guillaume, nachdem er sich den Begleiter angesteckt hatte.
„Klar und deutlich!”, kam die Antwort aus dem Kopfhörer.
„Irgendwelche Änderungen seit gestern?”, fragte Yeva, während sie sich das Kleid im Winde einer vorbeifahrenden U-Bahn nach unten hielt.
„Wir sehen momentan keine Änderungen. Yeva, pass auf, dass du den Begleiter ans linke Ohr heftest. Rechts wird er dir abfallen, weil der Kunde sich ungestüm bewegen wird.”
Yeva nahm den Begleiter von ihrem rechten Ohr und steckte ihn hinter das linke. „Erledigt! Over and Out! Wir melden uns vor Ort!”
„Over and Out!”, sagte Luc trocken.
Luc gehörte zu den Besten. Das hatten sie in der letzten Woche unzählige Male demonstriert bekommen. Er war skeptisch, faktenorientiert, präzis und nüchtern. Ein besseres A-Team als ihn und Danielle hätten sie sich nicht wünschen können. Aber grundsätzlich: Die Chemie zwischen allen sechs Teammitgliedern der Gruppe Wachholder, wie sie von Helena getauft worden waren, stimmte bis ins Detail. Gruppe Wachholder bestand aus Yeva und Guillaume als B-Team, Luc und Danielle als A-Team, und Lea und Kahil als C-Team, wobei Kahil der Einzige war, der nicht aus Frankreich oder Belgien stammte. Kahil war Libanese und Französisch war nicht seine Muttersprache, trotzdem hatte er fast keinen Akzent in seinem Französisch. Er und Lea, die im C-Camp die Kunden des Trupps Wacholder versorgen, pflegen und verhören würden, kannten sich schon länger als eine Woche. Sie waren diejenigen, die die Motive der Terroristen untersuchen mussten und sich deswegen so gut kennen mussten, wie sich sonst nur Geschwister kennen. Die ATO hatte auch hier eher unorthodoxe Methoden verwendet. Kahil und Lea wurden am Anfang ihrer Schulung für drei Monate in einer Waldhütte irgendwo in Kanada abgesetzt. Alles, was sie in die Hütte mitnehmen durften, war das Trainingsmanual für die Interviews und Interaktionen mit den Kunden. Weder Wasser noch Nahrung wurden von der ATO mitgegeben, weil man wollte, dass sie sich bis in ihren Überlebensinstinkt hinein kennenlernen würden. Tatsache war, dass sie sich heute blind vertrauten und so jedes Psychospiel gewinnen würden, egal wie pathologisch, indoktriniert und stur die Kunden sein würden.
Aber wahrscheinlich hatten alle Teams dieses Gefühl, dass sie ideal zueinander passten. Helena hatte diesbezüglich ihre Fähigkeiten voll ausgeschöpft, als sie die Teams zusammengestellt hatte. Alles passte.
Die U-Bahn war um diese Zeit nur halbvoll. Paris war bereits am Arbeiten, so dass der Pendler- und Arbeitsverkehr schon abgeschwollen war. Guillaume bemerkte, wie Yeva die Blicke in der U-Bahn auf sich zog. Sie selbst schien es nicht wahrzunehmen. Die Gedanken an die letzte Nacht, die sich aufdrängten, wies er diszipliniert von sich, auch wenn er Stolz war, dass er die Nacht mit Yeva hatte verbringen dürfen, was mancher der Herren im Abteil wohl auch gerne getan hätte.
Kurz darauf waren sie bei der Metrostation Les Halles angekommen. Es war keine lange Fahrt, vielleicht zehn Minuten. Sie gingen zuerst den Einsatzort inspizieren, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Les Halles, ein riesiger Komplex voll von Gängen, Plätzen, Restaurants, Kleidergeschäften, Kinos und Eisbuden, war für einen Neuling nicht leicht zu überblicken. Und innerhalb des Komplexes half auch das Navigationsgerät nichts, da es keine Karte von innerhalb des grossen Gebäudekomplexes geladen hatte. Trotzdem war das UGC Cinéma mit seinen vielen Kino-Sälen schnell gefunden. Die ersten Vorstellungen begannen um 9.30 Uhr und so hatte es bereits einige Leute an der Kasse.
Vor Ort zu sein machte die Sache plötzlich viel realer. Guillaume blieb kurz der Atem weg, als er sich ausmalte, dass er hier in etwa zwei Stunden einen wild fremden Mann herausfordern musste. Er würde ihm das Mobiltelefon wegnehmen und ihn dazu bringen müssen, ihm ohne eine allzu grosse Szene zu folgen. In anderen Worten, er würde ihn unauffällig verhaften müssen. Er wusste, wie die Sache ablaufen würde. Luc und Danielle hatten alles im Detail geschildert. Trotzdem war er jetzt nervös.
„Haben wir die Sache im Griff?”, fragte er Yeva.
Sie drehte sich ihm zu. “Entweder wir haben die Sache im Griff oder die Sache hat uns im Griff! Wir müssen die Sache im Griff haben!“
„Bist du jetzt auch angespannt?”, fragte er.
Yeva nickte. „Mein Bauch fühlt sich plötzlich wie ein Brett an!”
Im Kopfhörer knackte es. “Ihr werdet das schon schaffen! Es sieht immer noch alles sehr gut aus. Seht ihr den grossen Abfalleimer links hinter euch?”, fragte Danielle, die durch den Begleiter alles mitbekam.
Guillaume drehte sich um. “Was ist mit ihm?”
„Stell ihn einen Meter nach rechts hinter die kleine Mauer, der Kunde stolpert sonst über den Abfalleimer, wenn er versuchen wird sich zu verdrücken.”
Yeva schob den metallenen Abfalleimer hinter die kleine Mauer. „Besser so?”
„Perfekt! Und jetzt noch was: Gestern Abend hat sich der Lehrer einer Gruppe von Jugendlichen, die hier einen Französischkurs machen, dazu entschlossen mit den Teenies ins Kino zu gehen. Das kam erst vor wenigen Minuten heraus. Dumm ist nur, dass er sich vor der Gruppe aufspielen wird und dem Kunden helfen wird, indem er eine riesige Szene macht. Sorry, das kam erst kürzlich dazu. Das sind diese Last-Minute-Änderungen von denen Helena immer gesprochen hat. Jetzt müsst ihr improvisieren. Am besten ihr kontaktiert zwei Polizisten im Gebäude und erklärt denen irgendwie, dass ihr Hilfe benötigen werdet. Der Lehrer wird so blöd tun, dass ihr das alleine nur schwer schaffen werdet!”
Jetzt spürte auch Guillaume den Knoten im Magen, den Yeva zuvor als Brett bezeichnet hatte.
„Okay, machen wir!”, bestätigte er.
„Moment noch, ich überprüfe den Impuls und seine Reaktion ...”, antwortete Danielle.
Yeva und Guillaume hörten, wie Danielle und Luc eine neue Einschätzung der unmittelbaren Zukunft vornahmen. Sie tuschelten miteinander und kritzelten verschiedene Symbole auf einen Notizzettel, wie sie das immer taten, wenn sie einen sogenannten Scan durchführten. Das Gekritzel war in den Kopfhörern deutlich auszumachen.
„In Ordnung, das klappt so. Der eine Polizist ist ein wenig fest, schwingt einen grösseren Bauch und hat eine Glatze. Der andere ist wohl frisch von der Akademie. Jung, hager und blond. Könnt ihr nicht verfehlen, wenn ihr ihn antrefft!”
„Danke! Over und Out!”, sagte Yeva.
Sie schaute Guillaume an. “Wir trennen uns besser. Ich suche die oberen Stockwerke ab und du die unteren?”
„Einverstanden. Wir brauchen Story 3, nehme ich an?”
„Hätt’ ich auch vorgeschlagen!”
Die zwei machten sich auf den Weg. Durch die Verbindung des Begleiters konnten sie aber trotzdem weiter miteinander sprechen.
„Es wird also genau so, wie es im Training durchgespielt wurde. Änderungen bis ungefähr zehn Minuten vor Touchdown, so scheint es.”, sagte Yeva, als sie die Stufen der Rolltreppe hochstieg, damit die Aufwärtsreise etwas schneller ging.
„Ich hab jetzt auch ein Brett im Bauch, wie du sagen würdest!”
„Denk einfach nicht dran, dass der erste Einsatz im Vergleich zu dem heute Abend ein Kinderspiel ist! Einfach nicht dran denken, wie Palms doch sagen würde. Einfach ausblenden ...” Sie lachte, aber es war kein unbekümmertes Lachen. Nur nicht das Schicksal heraus fordern, schien es zwischen den Zeilen zu sagen.
Guillaume suchte die Gänge mit geschultem Blick nach einer Uniform ab. Gross, dick und Glatze, oder hager und blond mussten sie sein. Fündig wurde er jedoch nicht. Er wollte gerade ins Freie gehen, als er im Kopfhörer des Begleiters Yevas Stimme hörte.
„Entschuldigen Sie bitte. Ich brauche zwei Minuten Ihrer Zeit!”
Guillaume wusste, dass Yeva jetzt ihren Ausweis hervor nahm und ihn dem Beamten vor die Nase hielt.
„Kein Problem, Commissaire! Um was geht’s?”
„Wir haben hier im Gebäude eine Situation, die wir managen müssen. Ein gesuchter Aktivist hat heute um 11.20 eine Verabredung mit einem Links-Radikalen. Wir haben einen Haftbefehl für den Aktivisten, rechnen aber mit Widerstand seitens des Links-Radikalen. Leider sind wir wegen den andauernden Terroranschlägen unterbesetzt. Ich und mein Kollege, Commissaire Perez, müssen wegen Personalmangel bereits selbst die Verhaftungen durchführen. Wir brauchen Ihre Hilfe, falls der Kumpane ausrastet. Können Sie mich um 11.15 bei den Rolltreppen gerade oberhalb des UCG’s unterstützen? Ist das ein Problem?”
„Kein Problem, Commissaire! Gar kein Problem.”
„Haben Sie einen etwas jüngeren, kräftigen Kollegen in der Nähe?”
Guillaume konnte sich vorstellen wie betupft der Polizist jetzt sein musste, dass Yeva nach einem jungen, kräftigen Polizisten fragte. Aber sie wählte den direkten Weg. Es gab keine Zeit zu verlieren, indem man die Gänge nach dem zweiten Polizisten absuchte.
Der Polizist nahm deutlich hörbar sein Funkgerät hervor. „Fabien, kommen!”
Guillaume hörte in seinem Kopfhörer das Knacken des Äthers, während der Polizist auf eine Antwort wartete.
„Fabien, kommen!” Einen Moment später kam die Antwort.
„Hier Fabien, was gibt‘s François?”
„Erklär ich dir unter vier Augen, triff mich beim Westeingang. Ich bin in drei Minuten dort!”
„In Ordnung, gib mir fünf!”
„Bis gleich!”
„Sehr gut, vielen Dank. Bis um 11.15 Uhr dann!”, hörte man wiederum Yevas Stimme in der Übertragung.
Guillaume machte sich auf den Rückweg zum Kinokomplex. Der Einsatz war soweit geplant, wie man ihn zum momentanen Zeitpunkt planen konnte. Doch mit jedem aktivierten Willen, mit jeder Absicht, die mit der Anschlags-Situation zu tun hatte, und die ein Mensch fasste, veränderte sich die Situation. Das hiess in anderen Worten, dass Danielle und Luc die gesamte Situation wieder von neuem analysieren und Yeva und Guillaume weitere Inputs geben mussten, damit der Anschlag zuverlässig vereitelt werden konnte. Die Absicht des Polizisten Yeva um 11.15 Uhr bei der Rolltreppe zu treffen, veränderte die Gesamtsituation. Und die Absicht des zweiten Polizisten ebenfalls um 11.15 dort zu sein veränderte die Situation auf‘s Neue.
„Wir melden uns in zehn Minuten, sobald Fabien genau weiss, um was es geht. Bis dann sollte die Zukunft geschrieben sein.”, meldete sich Luc aus der Zentrale.
Guillaume dachte an die schöne, idyllische Gegend in der Danielle und Luc sich aufhielten. Alle Teams hatten die letzte Woche dort verbracht. Es war ein Stück Himmel auf Erden. Die Zentrale lag im Bois des Hubertes mitten im Naturpark Des Monts d’Ardèche. Man entspannte sich in dem Gelände, wenn man schon nur die Augen öffnete und in den Wäldern einatmete. Und genau darum ging es natürlich.
Die A-Teams mussten sich gänzlich entspannt ihrer Sache widmen können. Autolärm, die Hektik einer Stadt, ja selbst Menschen, die auf dem Gehsteig hirnlos dahin palaverten, konnten die Atmosphäre, die für das Lesen der Zukunft notwendig war, so zerstören, dass nichts mehr ging. Deshalb waren die A-Teams isoliert vom Rest dieser Welt und gönnten sich ein Leben ohne Stress und Zivilisation. Gezwungenermassen, auch wenn sie das alles freiwillig taten.
Es war zehn Uhr fünf als Luc und Danielle sich wieder meldeten.
„Die Rechnung geht auf, aber es wird viele Schaulustige geben. Von einer stillen Verhaftung kann nicht mehr die Rede sein.”, erklärte Luc.
„Sonst etwas, das wir beachten müssen?”, fragte Yeva.
„Nichts.”, antwortete Luc.
Mehr gab es nicht zu tun. Sollte sich doch noch etwas ändern, würden Luc und Danielle sie sofort informieren. Jetzt hiess es warten und sich mental auf den Einsatz vorbereiten. Wie man das genau tat, hatte man ihnen ebenfalls immer wieder und wieder eingebläut. Sie hatten es auch auf hundert und zurück geübt. Trotzdem war es jetzt anders. Das Wissen, dass es jetzt um echte Menschenleben ging, liess die Haare auf der Haut aufstehen. Alles war jetzt in Alarmbereitschaft: die Haare auf der Haut, das Brett in den Eingeweiden, die Gedanken im Kopf und der Atem in den Lungen.
Genau, wie sie es gelernt hatten, schlenderten Yeva und Guillaume zu einem kleinen Kaffee. Es war ganz bewusst ein Schlendern, damit die Nervosität nicht die Oberhand kriegen würde. Sie setzten sich, bestellten sich einen Pfefferminz-Tee und begannen mental ein Mantra aufzusagen. Es ging darum, das eigene Denken in Schach zu halten. Keine Verselbständigungen, hatten Palms und Helena sie immer wieder gewarnt. Ihr müsst das Szepter in der Hand halten und die Kontrolle fordern! Das war einer der Sätze gewesen, den sie sicher fünfzig Mal gehört hatten. Und genau das taten sie.
Die Repetition des Mantras verfehlte ihre Wirkung nicht. Guillaume merkte, wie die Nervosität innerer Sicherheit Platz machte und wie sein Atem langsamer und ausgeglichener wurde. Das Ziel war der Moment, wo er das Atmen ganz an die Weisheit des Körpers abgeben konnte und er eins wurde mit seiner Welt und seinem Körper. Kaum in diesem Zustand angekommen, verstrichen die weiteren Minuten bis zum Moment der Wahrheit in Gewissheit.
Um 11.10 Uhr meldeten sich Luc und Danielle.
„Yeva, Guillaume?”
„Hier!”, antworteten sie, wie aus einem Mund.
„Gute Nachrichten! Team Efeu hat den ersten Kunden erfolgreich ins C-Lager überführt! Unser Erfolg beginnt!”, sagte Danielle. Sie kam nicht ganz so nüchtern wie Luc daher. Danielle klang immer nach frischer Lebenslust.
Yeva und Guillaume schlugen ihre geballten Fäuste gegeneinander. Diese Nachricht war Gold. Team Efeu hatte damit soeben mindestens eintausend Menschenleben gerettet, indem sie einen Kunden an Bord einer Maschine der Lufthansa daran hinderten, die Maschine in einen dicht bewohnten Stadtteil von Reims krachen zu lassen.
Und jetzt war es an ihnen. Yeva und Guillaume standen ruhig auf. Yeva ging die Rolltreppe hoch, um Fabien und François pünktlich um 11.15 Uhr zu treffen. Die Arbeit der A-Teams erlaubte es, keinen Zweifel am pünktlichen Auftauchen der Polizisten zu haben. Tatsächlich waren sie schon dort.
Yeva instruierte die beiden oben mit ihr zusammen zu warten und sie positionierten sich so, dass sie Guillaume unten auf dem Vorplatz des Kinos gut sehen konnten.
Guillaume wartete, sich léger an einer Wand anlehnend. Yeva suchte das Areal mit den Augen nach dem Kunden ab. Im Innern begann sie mit ihm zu sprechen. “Wo bist du, Jean. Komm mir ja nicht zu spät! Wir haben eine Verabredung!”
Die Polizisten standen selbstsicher neben ihr und harrten ihres Einsatzes. Einer Kommissarin der Police Nationale bei einer Verhaftung helfen zu dürfen war durchaus nicht Alltag und würde sicher guten Gesprächsstoff für das Abendessen zuhause liefern. Yeva und Guillaume tauschten einen Blick aus. Es war der erste intime Moment seit gestern. Kurz, flüchtig und intensiv. Guillaume wurde es warm im Herzen.
Dann kam der Kunde. Er war eindeutig zu identifizieren. Es war Punkt 11.18 Uhr, wie Guillaume mit einem Blick auf seine Casio -Uhr feststellte. In knapp fünf Minuten würde Jean sein Leben und das von rund fünfzig Menschen vor den Kinokassen skrupellos beenden.
Guillaume schaute ihn unauffällig ein wenig genauer an. War dieser Mensch skrupellos? War er ein Radikaler? Litt er an einem Minderwertigkeitskomplex? Oder war er einfach das Opfer einer Gehirnwäsche und jemand hatte ihn überzeugt, dass er diesen Anschlag verüben musste? Jean war nicht einfach zu lesen. Auf der anderen Seite war es auch nicht Guillaumes Spezialität Menschen zu lesen und ihre Mimik zu analysieren. Nur eines konnte Guillaume mit Bestimmtheit feststellen: Jean war bleich. Er sah irgendwie fiebrig aus, fand Guillaume.
„Der Kunde sieht nicht gut aus ...”, flüsterte er in den Begleiter.
Yeva wies die Polizisten an ihr langsam zu folgen, aber ein wenig hinter dem Geländer der Galerie, auf der sie standen, zu bleiben, so dass der Kunde beim Hochblicken keine Uniformen sehen würde.
Um 11.20 hörte man wie eine Schar Jugendliche in einem der Gänge, die zum UCG führten, auftauchten. Sie bewegten sich ohne Eile auf die Kassen zu und der einzige Erwachsene war mit einer hübschen Schülerin in ein Gespräch verstrickt.
Guillaume hörte im Begleiter wie Yeva den Polizisten die letzten Anweisungen gab. “Kommen Sie genau sechzig Sekunden nach mir die Rolltreppe hinunter. Nicht früher und nicht später, ja?” Ein bestätigendes In Ordnung war nur knapp vernehmbar. Dann ging Yeva zur Rolltreppe hinüber.
Guillaume sah wie der Kunde in seiner Jackentasche etwas suchte. Die Zeiger auf seiner Uhr zeigten 11.21 Uhr. Guillaume stiess sich von der Wand ab, ging ein paar Schritte und positionierte sich in Jeans Schatten. Er war jetzt etwa fünf Meter von Jean entfernt.
Jean hatte mittlerweile sein Handy hervor genommen und war daran, eine Packung Kaugummi, das er ebenfalls aus der Tasche gezogen hatte, wieder zu versorgen. Guillaume nahm die ATO-Armbinde aus der hinteren Hosentasche und stülpte sie über seinen linken Oberarm. Die neongelbe Armbinde zog sofort die Blicke der Jugendlichen, die jetzt ebenfalls auf dem Vorplatz des Kinos angekommen waren, auf sich. Guillaume wusste, dass jetzt jeder Moment zählte. Bevor die Jugendlichen realisierten was los war, war Guillaume von hinten an Jean herangetreten und nahm ihm schnell und bestimmt das Mobiltelefon ab, welches Jean nur mit leichtem Griff in seiner linken Hand gehalten hatte.
„Police Nationale! Jean Vurieux, sie sind verhaftet!”, sagte Guillaume mit nur leicht erhobener Stimme, um nicht unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er griff Jean fest am Oberarm und zog ihn in Richtung der Rolltreppe. Doch Jean spielte keinen Deut mit. Genauso wie Guillaume es bereits schon gewusst hatte, entzog er sich Guillaumes Griff und schrie lauthals los: “Was soll das! Geben Sie mir sofort mein Telefon zurück.”
Guillaume versuchte Jean in einen Polizeigriff zu nehmen, doch Jean wehrte sich vehement und versuchte Guillaume mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Die beiden Männer rangen einen Moment lang um die Oberhand, aber Guillaume war seinem Gegner weit überlegen und hatte Jean nach zwei Sekunden bewegungsunfähig gemacht, indem er ihm das Handgelenk gehörig verdrehte.
„Ich komme!”, hörte Guillaume Yevas Stimme im Begleiter. Genau in diesem Moment schrie der Lehrer der Jugendlichen los und eilte Jean zur Hilfe.
“Was soll das! Lassen Sie den Mann in Ruhe! Sie können uns weder vor den Terroranschlägen beschützen, noch die Ordnung aufrecht erhalten! Lassen sie uns Bürgern doch wenigstens das Wenige an Freiheit, das wir noch haben! Lassen Sie sofort den Mann los!” Die Stimme des Lehrers überschlug sich. Er war sehr emotional und schien null Respekt vor der Polizei zu haben.
Guillaume sah, wie der Lehrer mit gehobener Hand auf ihn zu kam. Zwei Meter trennten ihn noch vom ihm, da trat Yeva in die Lücke, die Armbinde leuchtend um den Oberarm geschnallt, und schrie den Lehrer lautstark an: “Police Nationale! Treten Sie zurück!”
„Nichts werde ich! Lassen Sie sofort den Mann los!” Er versuchte Yeva aus dem Weg zu stossen, doch Yeva war nicht nur Schwarzgurt Jiu-Jitsu-Meisterin, sondern auch auf den Strassen in den Banlieues von Paris aufgewachsen. Sie wich dem Grabschen des Mannes flink aus und zog ihn an den Haaren zu Boden.
Der Lehrer kreischte wie ein hysterisches Mädchen und begann wild um sich zu schlagen. Guillaume lockerte kurz den Griff an Jeans Handgelenk, weil er sich
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Tag der Veröffentlichung: 29.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5190-8
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