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Einführung

Einführung

 

 

Liebe LeserInnen

 

Es freut mich, Sie wieder in einem neuen Band meines Berichts begrüssen zu dürfen. 

 

Eigentlich hatte ich vor, die Aufzeichnungen meines ersten Studienjahres mit Band 7 zu beschliessen. Aber leider hat das so nicht geklappt. Jetzt sind daraus Band 7 und Band 8 geworden. Ich musste diesen Teil meiner Geschichte in zwei Teile teilen, wollte ich nicht plötzlich einen Band mit sechshundert Seiten der Öffentlichkeit übergeben. Man möge mir verzeihen und mich nicht der Langatmigkeit oder Detailbesessenheit beschuldigen; ich persönlich glaube nicht, dass ich die Dinge zu ausführlich geschildert habe. Eher im Gegenteil.

 

Band 7 / 8 stellen also gewissermassen das Finale meines ersten Ausbildungsjahrs in der Cymdeithas dar. Finale deshalb, weil die Ereignisse, die ich hier dokumentiere, eine Zuspitzung meiner Abenteuer auf dem Weg zum Meddyg repräsentieren. Es liegt im Wesen der Sache, dass ich im zweiten und dritten Ausbildungsjahr tiefer und gründlicher in die Zusammenhänge blicken konnte, und insofern soll unter Zuspitzung keine solche meiner Fähigkeiten und meines Verständnis gemeint sein, sondern eine solche der Gefahren, welche ich durchschreiten musste, und welche mich auf die folgenden Jahre des Curriculums vorbereiteten.

Das Cystadleuaeth (Hornzwerg-Rennen) verdient schon allein deshalb einen eigenen Untertitel in meiner Buchreihe, weil es in der Gemeinschaft wenige Dinge gibt, die es übertrumpfen oder an Bedeutung übertreffen würden. Ich hoffe, das wird den Lesern im Verlauf dieses Bandes klar.

Bevor wir aber mit dem eigentlichen Inhalt dieses Buches beginnen wollen, ist es unabdingbar, dass ich noch einige zusätzliche Worte an die Leserschaft richte.

Ich habe in diesem Band auch Ereignisse festgehalten, die noch nicht direkt mit mir und meinem Weg zu tun haben. Die Betonung liegt aber auf noch nicht. Dieser Band führt also in einen parallelen Handlungsstrang ein, der zwar in die grosse Geschichte mündet, aber durchaus eigenständig beginnt. Diese Geschichte wird heutzutage in der Gemeinschaft schlichtweg als die von Mel und Mel bezeichnet. Die Leser werden so auch mehr mit dem Leben und Wirken von Eleri Haf in Kontakt kommen. 

 

Die LeserInnen werden später erkennen, wieso dies so sein muss; spätestens im neunten Band meiner Erzählung, in dem es um uns Studenten als Zweit- und Drittklässler geht.

 

 

 

James Tannot

Aberystwyth, im Juni

 

1 Ein Monat in Kanada

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Ein Monat in Kanada

 

 

„Wer die Dynamik des Geistes und seiner Fakultäten versteht, weiss, wie die Dinge ihre Erfüllung finden. Im Fundament unseres Geistes liegt die Macht der Erwartung. Wer diese Kraft richtig anzuwenden weiss, dem erschliesst 

sich die Welt, weil die Erwartung magnetischer Natur ist.“

 

Callineb Elwedig, Adnod 588

 

 

Manush klebte mit ihrem Blick an Nareks Händen, als dieser in jedem Heft einige Zeichen auf die erste Seite kritzelte.

Er hob belehrend den Zeigefinger und schaute uns an.

„Es ist wichtig, dass die Pobol von eurem Projektmonat wissen. Diese Zeichen unterrichten sie darüber, dass es sich ab jetzt in eurem Leben um den Projektmonat handelt ...“.

Und als wolle das Universum seine Worte unterstreichen, fielen in just diesem Moment goldene Sonnenstrahlen auf seine Hände, weil die Wolken am Himmel vom Wind voran getrieben wurden.

Die Zeichen sahen wie eine Mischung chinesischer Schriftzeichen und ägyptischer Hieroglyphen aus.

Wir standen auf einem Feld in der Grafschaft Kent in England, wo Narek uns hinbestellt hatte, um einige letzte Worte, vor dem Aufbruch in den Projektmonat, an uns zu richten.

Manush stach mich mit ihrem Zeigefinger leicht in den Rücken und schmiegte sich eng an mich heran.

„Gummiwolf, hast du das gehört?“, flüsterte sie.

Ich nickte ihr verschwörerisch zu.

Die Hinweise auf die Pobol awyr häuften sich, und zwar nicht nur seitens der Lehrer, die plötzlich jeden zweiten Tag etwas über sie verlauten liessen, sondern auch seitens der Zweitklässler, denen wir seit einer Woche andauernd über den Weg liefen, und die ihre Freude darüber, dass sie alle die Pobol gefunden hatten, nicht für sich behalten konnten.

„Alles ändert sich, wenn du sie gefunden hast!“, hatte beispielsweise José, ein Zweitklässler aus Kuba, uns mit glasigen Augen gesagt. Oder: „Wenn sie dir den Kontext zeigen, fällst du auf die nackten Knie. Das sag ich dir!“, waren Nurits Worte gewesen. Nurit war die junge Frau aus Israel, welche seit einigen Tagen mit Mercim zusammen war.

Manush hatte angefangen ein Büchlein mit sich herum zu tragen, in dem sie alle Hinweise auf die Pobol schriftlich festhielt. Und auch jetzt kramte sie das Büchlein wieder aus ihrem Rucksack hervor und notierte sich stichwortartig irgendwelche Dinge, ebenfalls in Hieroglyphen, fand ich. Oder war es stenografiert? Meine Schulter diente ihr als Unterlage.

„Wie Luan Blakter euch gestern erzählt hat, werden anschliessend an den Projektmonat die Blumennacht und das Cystadleuaeth stattfinden. Wer in dieser Klasse macht an dem Rennen mit?“, fragte Narek.

Vier Hände gingen hoch, was mich doch ein wenig erstaunte. Dass Manush und ich teilnahmen, wusste ich, doch dass Leonardo und Small Owl ebenfalls mitmachen würden, war mir neu. Irgendwie hatte ich geglaubt, dass sich bei dem Cystadleuaeth alles um mich und Cyfimiad als Favoriten, und um Dimitri und Hmer als Herausforderer drehen würde. Bnuch und Manush hatte ich diesbezüglich nie ernst genommen, und dass andere aus meiner Klasse dabei sein könnten, soweit hatte ich nicht gedacht.

„Gut. Lasst euch von euren Hornzwergen aber nicht irre machen. Das Cystadleuaeth ist wichtig, sicher, aber der Projektmonat ist genau so wichtig. Als Richtlinie würde ich euch vorschlagen, dass ihr höchstens einmal täglich für das Cystadleuaeth trainiert. Nicht mehr.“

Er betrachtete uns, als wisse er genau, dass wir uns unmöglich an seinen Ratschlag halten konnten. Dann wechselte er das Thema.

„Früher gingen die meisten von uns für die Projektmonate nach Hause, doch jetzt in der Situation mit den Schwarzen Schlangen, die uns in unseren Häusern und Wohnungen auflauern, ist das keine gute Idee. Ihr habt euch alle Gedanken gemacht, wo ihr euren Aufgaben nachgehen werdet?“

Man nickte.

„Gut, dann machen wir jetzt eine kleine Runde Sheren,  bevor wir gehen. Es ist gut zu wissen, was eure werten  Klassenkameraden in dem Monat tun werden und wo sie sich aufhalten. Wer beginnt?“

Vero hob die Hand.

„Ich werde zuhause bei meinen Eltern sein. Weil mein Vater erst ein halbes Gemeinschaftsmitglied ist, geht Liam davon aus, dass zuhause keine Gefahr für mich besteht. Als Thema habe ich mir vorgenommen mit dem Studium meiner zweiten Gemeinschaftssprache zu beginnen.“

„Was war deine erste?“, fragte Narek.

„Portugiesisch. Und jetzt werde ich das Mangyaro dazu nehmen. Mein Siaraduon hat mir versprochen, mich zu unterrichten. Ich will, dass Little Owl ...“, sie zeigte auf ihren Bauch - „... auch mit mir in der Sprache der Mangyaro sprechen kann.“ 

Narek nickte. „Gute Entscheidung!“, sagte er. Dann drehte er sich Leonardo zu.

Dieser blickte mit scharfem Blick geradeaus.

„Ich werde mich mit dem Chi-Aspekt im Tair Fraich auseinander setzen, insbesondere im Bezug auf die gesundende Wirkung der gemeinschaftlichen Kampfkunst.“, sagte er.

„Wunderbar. Die Salutogenese darf als Thema nicht unterschätzt werden. Mit anderen Worten, du studierst unsere Lichtnatur, schön!“, kommentierte Narek.

Leonardo nickte, obwohl ich mir fast sicher war, dass er nicht wusste, was das Wort ,Salutogenese‘ bedeutete. Ich jedenfalls musste es später in einem medizinischen Lexikon nachschlagen, wo ich herausfand, dass sich die Salutogenese, als Teilgebiet der Medizin, damit beschäftigte, wo die Gesundheit herkam und wie sie gefördert werden konnte.

„Und wo wirst du deinen Studien nachgehen?“, fragte Narek dann.

„In Gwagedd. Ich besuche dort das Gras hinter dem Schloss. Ich vermisse meine Freunde der Erde und hoffe, dass die Grashalme mir bei der Erforschung des Themas zur Seite stehen werden ...“

„Du bist dir aber im Klaren darüber, dass der Projektmonat für dich in unserer Welt dann nicht stattfinden wird? Wenn du Gwagedd verlässt, wirst du den Monat immer noch vor dir haben.“

„Umso besser, dann kann ich danach einen Monat Ferien in Palermo machen und richtigen Kaffee trinken.“

Er liess seine Knöchel knacken, indem er eine Faust machte. 

Ich war mir unsicher, ob diese Gesten Eindruck schinden sollten, oder ob sie einfach unbewusste Verhaltensmuster waren, die Leonardo nicht mehr abstellen konnte. 

Wir gingen weiter durch die Runde. Fenella und Sali würden sich weiterhin mit ihrem Geheimprojekt beschäftigen und ihren Monat an einem geheimen Ort verbringen, wobei Fenella des öfteren betonte, dass es ihr Leid tue, dass sie uns nichts Näheres darüber berichten dürfe. Narek meinte nur es sei besser, dass wir nichts über ihre Mission wüssten. 

Konnte man uns - ich meine Manush und mich - noch direkter reizen? Das ging jetzt schon seit Monaten so, dass Fenella und Sali andauernd von der Klasse abgesondert wurden und wegen dieser geheimen Sache eine Extra-Behandlung erhielten. Ich machte mir eine mentale Notiz: Fenella und Sali über ihre Mission ausquetschen und gegebenenfalls hinter ihnen her spionieren. Dabei ging es mir nicht bloss um die Befriedigung meiner Neugier, sondern auch darum, dass ich es mir - als inoffizieller Anwärter für das Prismenträgertum - zur Gewohnheit machen wollte, über die Dinge des Lebens orientiert zu sein. Wenn ich einmal alle Zeitstränge überblicken sollte, so musste ich damit beginnen verschiedene Geschichtsstränge zu verfolgen. Natürlich wusste niemand sonst, dass ich ernsthaft vor hatte ein Prismenträger zu werden. Ja, meine Klassenkameraden wussten nicht einmal, dass es so etwas überhaupt gab, aber ich persönlich wollte die Sache so ernst nehmen, wie es überhaupt nur ging.

Das Sheren ging weiter.

Small Owl wollte als Thema mich nehmen. Ja, ich hörte richtig. Ausgelöst durch seinen eigenen Kulturschock, nachdem er als Erstklässler in die Gemeinschaft gekommen war und es zum ersten Mal mit Kinos, Restaurants, Bars, Autos und Büchern zu tun gekriegt hatte, wollte er nun meinen Umgang mit seiner Kultur studieren.

Bevor ich meinen Beitrag zum Besten gab, wanderten die Gedanken kurz zu Gareth. Es stellte sich nämlich heraus, dass seine Dan Gyfaredd-Symptome hartnäckiger und schlimmer, als die anderer Leidensgenossen waren. Er verbrachte seinen Projektmonat in der Gemeinschaftsklinik, wo er sich langsam an seine eigenen Eifersuchtsattacken gewöhnen musste. Auch eine Art Lernprojekt, sagte ich mir. Leider hatte ich ihn bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht besuchen dürfen, weil er in einer Art Intensivstation war, wo Besuche verboten waren. 

Dann kam ich an die Reihe.

„Ich werde meine Zeit bei Small Owls Stamm in Kanada verbringen. Und thematisch werde ich mich wie Vero mit dem Mangyaro auseinandersetzen.“

Narek nickte.

„Ich hätte dazu aber noch eine Frage.“, fügte ich an und holte kurz aus. „Als wir mit dem Studium in der Gemeinschaft begonnen haben, hast du mir am Strand bei La Ciota erzählt, dass es etwa sieben Wochen dauern würde, bis ich fliessend Arabisch sprechen würde. Jetzt bin ich aber seit bald einem Jahr in der Gemeinschaft und immer noch nicht fähig eine anspruchsvolle Diskussion auf Arabisch zu führen. Bin ich einfach zu faul und untalentiert, oder hast du damals ein wenig übertrieben?“

Narek dachte kurz nach.

„Ich erinnere mich. Das war der Tag, wo du dir deine Schulter ausgerenkt hast, oder?“

„Ich glaube es ...“

„Nun, die Geschwindigkeit in einem Lernprozess hängt von mehreren Faktoren ab, wie ich dir gerne erklären werde, wenn es dich interessiert. Aber grundsätzlich habe ich mit meiner Aussage damals weniger den Erstklässler in dir angesprochen, als mehr den ausgebildeten Gemeinschafter. Wenn du mal mit der Ausbildung fertig bist, hast du das Terrain, auf welches eine neue Sprache trifft grundsätzlich verändert, und dann wird es noch etwa sieben Wochen dauern, bis du dir eine neue Sprache angeeignet hast. Aber momentan ...“

Manush hob kurz die Hand. „Also, bei mir geht es bei jeder neuen Sprache schneller und für das Norwegische hab ich glaub tatsächlich nur ein wenig länger als sieben Wochen gebraucht ...“

„Es hängt, wie gesagt, von mehreren Faktoren ab, wie lange es dauert. Die Sache ist individuell, wie alles, das mit dem Menschen zu tun hat.“, wiederholte Narek sich.

„Also, wenn wir noch Zeit haben, würde ich gerne ein bisschen mehr über diese Faktoren herausfinden.“

Narek schaute mich streng lächelnd an.

„Ihr seid jetzt bald Zweitklässler, James, und das bedeutet, dass ihr euch nicht mehr nach der Zeit richten werdet, sondern dass die Zeit sich nach euch richten muss. Die DHAs haben sich dem Konzept der Zeit verknechtet und die meisten tun so, als könne man dagegen nichts tun. Wie oft hört man auf den Strassen Aussagen wie Ich habe keine Zeit dafür ... oder, Wenn ich nur mehr Zeit hätte ... Doch wir Gemeinschafter lernen im zweiten Ausbildungsjahr, dass es umgekehrt sein muss. Nicht wir warten, bis die Zeit uns etwas erlaubt, sondern wir erlauben der Zeit die Dinge. Und zwar dann, wann wir wollen, und nicht umgekehrt. Das wäre ja absurd, wenn wir die Zeit erschaffen würden, um ihr dann ausgeliefert zu sein. Ach, Erstklässler, vieles in der Welt ist verdreht, das werdet ihr immer besser verstehen, wenn ihr den weisen Worten Luan Blakters im Unterricht lauscht.“

Er blickte kurz zum Himmel hoch. Die Wolken zogen wieder vor die Sonne und es sah aus, als beginne es bald zu regnen. Typisch englisches Wetter eben. Oder irisches, denn bei uns zuhause waren die Wetterverhältnisse nicht anders.

„Natürlich haben wir Zeit, um die Faktoren zu besprechen. Wir haben immer Zeit, alles andere ist Einbildung. Interessiert euch das alle?“

Vero, Manush und ich nickten. Für Fenella war die Diskussion wohl eher müssig, weil sie schon so viele Sprachen beherrschte. 

„Gut. Es gibt sechs Faktoren; das könnt ihr später auch in den Memoiren von Eleri Haf nachlesen, weil sie diejenige war, die die sechs Faktoren identifiziert hat. Erstens, ist die Schnelligkeit des Lernens eine Frage der persönlichen Vergangenheit. Nehmen wir Manush und das Norwegische als Beispiel. Es fiel dir nicht gross schwer, die Sprache zu lernen, nicht wahr?“

Manush nickte. „Ging fast wie von selbst ...“

„Das hängt damit zusammen, dass Manush in ihrem letzten Leben ein norwegischer Silberminen-Arbeiter war. Das war so rund 1770. Und deshalb fiel ihr das Norwegische eher leicht, weil sie die Sprache quasi noch in sich hatte ...“

Manush schaute ihren Vater entgeistert, ja leicht schockiert an.

„Ich war was?“, fragte sie.

„Ich mache nur ein Beispiel, um die Zusammenhänge aufzuzeigen ... “, antwortete Narek.

„Das heisst, ich war kein norwegischer Silberminen-Arbeiter?“, sagte sie erleichtert.

„Doch, du hast in einer der Minen in Kongsberg gearbeitet.“

Nicht nur Manush blickte jetzt ihren Vater entgeistert an. Nein, alle, ausser Small Owl, waren etwas konsterniert.

„Ihr seid jetzt bald Zweitklässler. Da dürfen wir Dozenten durchaus ein wenig mehr Zusammenhänge herstellen.“

Narek ging nicht weiter auf seine Behauptung ein. Dass für manche von uns die Reinkarnation nicht wirklich Teil unserer Welt war, schien ihn nicht zu verunsichern oder weitere Erklärungen nötig zu machen.

„Dann gibt es den zweiten Faktor, den Eleri Haf den geographischen Faktor nennt. Es ist bei weitem einfacher eine neue Sprache zu lernen, wenn man sich an einem Ort befindet, wo sie vorwiegend gesprochen wird. Und das ist nicht nur, weil man die Sprache dann passiv oft hört ... auf der Strasse, im Zug oder am Radio, sondern auch weil die Sprache sozusagen in den Lebensfeldern der Region sitzt. Und wenn man die Energie der Region atmet, isst und mit jedem Sinnesreiz aufnimmt, lernt man die entsprechende Sprache eben schneller.“

Ich hörte ihm zu, versuchte mir aber gleichzeitig vorzustellen, wie Manush als norwegischer Bergarbeiter ausgesehen haben mochte, was mir nicht recht gelingen wollte.

„Der dritte Faktor ist das persönliche Lernfeld. Es ist nicht zu verleugnen, dass es so etwas wie Talent gibt. Dem einen fällt dies leichter, dem anderen jenes. Folgt ihr mir?“

Ich nickte, weil ich ja die Frage gestellt hatte.

„Dann der vierte Faktor. Hierbei handelt es sich um die Methodik, die man verwendet. Grundsätzlich kann man sagen: je mehr Sinne mit einbezogen werden, desto schneller und tiefer lernt man. Weiter haben wir den fünften Faktor, welchen wir kurz als den Willen zum Lernen bezeichnen können. Je grösser das Willensfeuer, das in euch lodert, desto schneller der Fortschritt.“

„Du meinst wie intensiv man die Sprache lernen will ...?“, fragte Vero.

„Genau, denn das bestimmt unter anderem mit wie viel Aufmerksamkeit du an die Sache heran gehst, und wie viel Zeit du investierst. Und dann haben wir noch den sechsten Faktor. Bei diesem handelt es sich um die Zukunft. Wenn ihr eine Zukunft habt, die auf die Sprache angewiesen ist, geht das Lernen einiges schneller voran. Wenn die Sprache in der Zukunft nur wenig Anwendungsmöglichkeiten erhalten wird, ist dieser Faktor unbedeutend.“

Er hob den Finger lehrerhaft in die Höhe. 

„Eleri Haf erschuf für die sechs Faktoren eine Eselsbrücke, die man sich perfekt merken kann.“, sagte er und machte dann eine Kunstpause.

„Und die wäre?“, fragte Vero.

„Vogel-Gänse-Leber-Meridians-Welten-Zeit“, antwortete Narek.

„Bitte?“, fragte Manush.

Narek wiederholte das Wort. 

„Vogel-Gänse-Leber-Meridians-Welten-Zeit. Das Wort Vogel steht für das V von Vergangenheit, Gänse für das G in Geographie, Leber für das L Lernfeld, Meridian für das M in Methodik, Welten für das W in Wille und schliesslich Zeit für das Z in Zukunft. So kann man sich die Sache sehr einfach merken ...“

„Vogel-Gänse ...“, stammelte Vero.

„... Leber-Meridians-Welten-Zeit.“, beendete Narek die Eselsbrücke.

„Und du findest das hilft?“, fragte Manush.

„Sicher. Wenn ihr die Memoiren studiert, werdet ihr besser verstehen, wie man die einzelnen Faktoren tiefer fassen kann, aber als Einführung wird das heute genügen müssen.“

Narek begann die Hefte, in welche er vorher die Zeichen gemalt hatte, zu verteilen. 

„Wie gestern erwähnt, ist es während des Projektmonats nicht erlaubt mit anderen Studenten Kontakt aufzunehmen. Ausser man befindet sich sowieso am selben Ort, wie James und Small Owl, oder wie Fenella und Sali. Was die Hefte angeht ... ich bitte euch alle Erkenntnisse, die sich zu euch gesellen, in diesem Heft festzuhalten. Die Pobol können euch dann besser euren individuellen Aufgaben im zweiten Ausbildungsjahr zuweisen.“

„Und wenn man nichts erkennt?“, fragte Fenella.

„Dann schreibt man nichts auf.“, antwortete Narek.

 

Da standen wir also mitten in einem Feld in der Grafschaft Kent. Der Regen würde jeden Moment loslegen, erkannte man mit einem kennerischen Blick in den Himmel. 

Der Projektmonat, welcher mir schon ganz am Anfang meiner Ausbildung in der Cymdeithas prophezeit worden war, würde nun also endlich beginnen und danach unmittelbar ins Cystadleuaeth übergehen. Zwischenstation Blumennacht; was auch immer das war.

Keine uninteressante Zukunft, fand ich. Auf jeden Fall besser, als meine unmittelbare Vergangenheit, die mich tatsächlich aus der Gemeinschaft hätte schmeissen können,  oder, noch schlimmer, die ganze Gemeinschaft hätte in die Nichtexistenz werfen können, wenn sie sich nicht von ihrer besten Seite gezeigt hätte. 

Ja, ich war bereit für etwas Abwechslung. Zwar schmerzte es mich in der Seele, einen vollen Monat ohne Manush sein zu müssen, aber schlussendlich taten solche Zwangspausen einer Beziehung ja gut, hatte Cyfimiad mir in einem seltenen Moment der Geistesklarheit versichert. Und falls ich es gar nicht aushalten sollte, so hatte ich ja mein T‘maheek mit dem ich mich sicher unsichtbar machen und so unerkannt Manush einen Besuch abstatten konnte. 

Das Leben war gut. 

Und ein Leben mit T‘maheek als Trumpf noch besser.

 

Interludium

 

Interludium

 

An die Redaktion der London Times

 

Menschen der Redaktion

 

Ich möchte Ihnen meinen letzten Brief kurz in Erinnerung rufen, weshalb er hier kurz zitiert sei:

 

Heiri brachte mir heute früh fantastische Nachrichten. Apropos magische Welt und Zauberei: er will mich morgen an ein sogenanntes Vollmondfest mitnehmen, wo ich anscheinend einen magischen Zauberstab oder so erhalten soll. Meine Worte, nicht die seinen. Er umschrieb es als ein Fenster in eine andere Welt, das meine Sicht auf die Dinge substantiell verändern würde. Vor allem mich als Molekularbiologin, meinte er, müsste das Fenster in die Glückseligkeit transportieren.

 

Ich bin natürlich gespannt, wie Sie sich denken können. Doch das ist nicht alles, das er mir offenbaren will. Angeblich - und wieso sollte ich ihm misstrauen? - wird er mir nach dem Fest einen netten Mann vorstellen.

 

Nun, Redaktion, das Vollmond-Fest war gestern. Anscheinend war es ein kleineres Fest, weil nur knapp zweihundert Menschen anwesend waren. Doch egal ob gross oder klein, für mich war es ausserordentlich spektakulär.

Es gibt wahrscheinlich viele Gründe, wieso Heiri darauf bestanden hat, dass ich das Tanzen lerne, wovon eine Steigerung der Lebenslust sicher nur einer ist, aber gestern verstand ich auf einer tieferen Ebene, was der Tanz uns im Leben bietet.

Stellen Sie sich die Sache mal so vor:

 

Auf einer grossen Wiese neben einem Bächlein treffen sich spät Nachts rund zweihundert Erwachsene, die fast alle dunkelgrüne Gewänder tragen. Die karge Wiese liegt mitten in der Mongolei und ein Areal so gross wie zwei Fussballfelder ist durch Jurten vom Rest der Welt abgetrennt. In zwei Jurten findet man die wunderbarsten Mezze-Tafeln, die sich ein Feinschmecker nur wünschen kann, und die Stimmung der Leute ist in einer ansteckenden Weise ausgelassen und fröhlich. Auf dem Bächlein wurde ein Floss installiert, wo eine Band eine Mischung aus kubanischer Salsa-Musik und slawischer Volksmusik zum Besten gibt. Ich kann leider nicht besser beschreiben, was diese Musik mit einem tut, als zu sagen, dass ich stundenlang ohne Unterbruch getanzt habe. 

Ich hatte keine Ahnung, wie fit ich in meinem zarten Alter von einundvierzig noch bin. Gelinde gesagt, war ich erstaunt, wie viel Ausdauer ich an den Tag legte. Und ich kann verstehen, wenn Sie nicht nachvollziehen können, wie sehr dieses Erlebnis mir durch Mark und Bein fuhr. Worte können Erfahrungen nur bedingt wiedergeben, nicht wahr? Das wissen Sie als Redaktoren ja nur zu gut. Manchmal ist die Sprache wie ein bockender Esel, der partout nicht tun will, was man von ihm verlangt. 

Aber zurück zu meinem Zitat aus meinem letzten Brief. 

Ja, Heiri hat sein Versprechen gehalten. Er hat mir dieses Ding gegeben. Ich weiss, ich hatte es als einen Zauberstab beschrieben, doch jetzt, wo es vor mir liegt, während ich diese Zeilen schreibe, müsste ich es eher als eine Zauberlupe beschreiben. Wie kann ich Ihnen schildern, zu was es mich befähigt, ohne Ihre Vorstellungen zu sprengen? Wie erklärt man, was man weder verstehen, noch wirklich anzuwenden weiss? Machen wir es so: Ich schreibe Ihnen wieder, wenn ich die Zauberlupe eine Woche lang ausprobiert habe und bis dann gehen Sie Ihrer Arbeit nach und vergessen mich und meine Welt. Okay?

 

Tamara Rosenstein, PhD & Zauberlupen-Forscherin

Reading, UK

 

PS Leider war der Mann, den er mir vorstellen wollte, nicht an dem Fest.

 

2 Die Mangyaro

 

2

 

Die Mangyaro

 

 

„Bilden heisst Lernen, nicht Spekulieren. So vieles in unserer Welt ist verbildet, weil es aus dem Raten stammt. Nicht Theorien, welche uns weitgehend verbilden, brauchen wir, sondern Tatsachen sind gefragt. Tatsachen, die wir der Wirklichkeit ablauschen, ohne ins Raten abzugleiten.“

 

Callineb Elwedig, Adnod 589

 

 

T‘maheek sicher im Hosensack verstaut, war ich bereit für was auch immer kommen mochte. Ich wusste zwar nicht, wie wir in unsere Projektmonate reisen würden, aber die unzähligen Transportvarianten der Gemeinschaft rangen mir nicht mehr viel Gedankenenergie ab. Mal reiste man mit dem Dwr Mawr, dann mit dem RRV, dann mittels eines Mynedfas und dann mal indem man einen Kreis bildete und ein Lied sang. (So waren wir von Jakarta aus ins Ty Bwyta gereist. Die werten LeserInnen erinnern sich?) 

Und scheinbar wollte Narek die Gelegenheit heute dafür verwenden, uns in eine wiederum neue Transportvariante einzuweihen. Mir sollt‘s recht sein.

So zumindest mein Gedanke, bevor er uns mit den Details vertraut machte.

„Erstklässler, wir haben noch einige Wochen vor uns, bevor ihr endgültig Zweitklässler seid. Einige davon werdet ihr mit euren Projekten verbringen, einige danach werden dem Cystadleuaeth gehören.“

Ich hob kurz meine Hand.

„Dauert das Rennen denn einen ganzen Monat?“

Narek antwortete für einmal unverblümt.

„Das hängt von den individuellen Teilnehmern ab. Bnuch und Theo Vaal, der Ruderer, haben beim Cystadleuaeth vor zweiundzwanzig Jahren mehr als drei Jahre für die Route benötigt. Aber auch wenn ihr nach drei Tagen im Ziel ankämet, wäre viel Zeit danach mit Schlafen und Erholen ausgefüllt. Unterschätzt nie ein Cystadleuaeth!“

Ich hörte wie Manush neben mir laut schluckte. Zögerlich hob auch sie ihre Hand.

„Wieso hat Bnuch so lange gehabt?“, fragte sie unsicher.

Doch Narek winkte ab. „Das musst du sie selbst fragen. Es kursieren etliche Gerüchte darüber ... Ich persönlich glaube, dass sie einfach von der Route abgekommen ist und sich sozusagen verlaufen hat.“

Nicht nur Manush hatte jetzt eine Sorgenfalte im Gesicht.

Narek klatschte in die Hände, um etwas mehr Motivation auf unsere Visagen zu zaubern.

„... und weil ihr jetzt schon bald Zweitklässler seid, wollen wir euch die Vorzüge des Neidio oddiar rywbeth nicht länger vorenthalten.“

„Des was?“, fragte Manush, in einem Tonfall, den nur eine Tochter hinkriegte.

„Fenella kann uns das sicher ins Englische übersetzen ...“, meinte Narek und blickte unser Sprachgenie an. 

Das Sprachgenie runzelte aber nur die Stirn.

„Das ist Walisisch und heisst so viel wie ... irgendwo runter springen.“, sagte sie, wenig begeistert.

„Genau. Wir kürzen diese Reisemethode oft mit N.O.R. ab. Es ist ganz einfach. Ihr klettert auf eine Erhöhung und springt herunter während ihr ein walisisches Lied singt. Es kann ein Baum sein, auf den ihr klettert, oder ein Stuhl, oder ein Steinchen am Wegrand; egal wie hoch ... einfach singen und springen.“

Nareks Stimmung, welche man wie immer als gut gelaunt und energiegeladen bezeichnen musste, stand im krassen Gegensatz zu der unsrigen. Was genau uns über die Leber gekrochen war, konnte ich nicht sagen, aber wahrscheinlich war es eine Kombination aus Bnuch verirrt sich für drei Jahre im Universum und wir reisen mit der Hilfe eines walisischen Liedes.

„Und wie weiss die Methode, wo wir hin müssen, wenn wir alle dasselbe Lied trällern?“, fragte Tochter.

„Als Zweitklässler müsst ihr euch euren Hang alles kontrollieren zu wollen langsam abtrainieren. Diese Reisemethode entscheidet im Verbund mit den Pobol awyr selbst, wo ihr hin müsst.“

„Du willst uns sagen, dass wir auf das Bäumchen dort drüben klettern, ein Liedchen singen und dann an einem Ort landen, zu dem wir je nach dem gar nicht hin wollten ...?“, bohrte Manush weiter.

„Ja, so können sich die nötigen Geschichten besser entfalten.“, entgegnete Narek, welcher sich von töchterlichem Ton nicht zu beleidigen lassen gedachte.

„Und wieso hast du uns vorher gefragt, wo wir hin gehen, wenn wir je nach dem gar nicht dort hin gehen werden?“

„Erfahrungsgemäss wird mindestens die Hälfte von euch an eurem gewünschten Ziel ankommen.“

Manush drehte sich einmal um sich selbst. Ich streichelte ihre Schultern. Zuerst die linke und bei weiterer Drehung die rechte.

„Wer von euch kennt das schöne walisische Lied Dacw 'Nghariad?“

Als wir alle still blieben, hiess er uns ihm zu einem Baum nahe einer Hecke zu folgen. „Ihr müsst das Lied heute und hier auswendig lernen ...“, erklärte er auf dem kurzen Weg dorthin. Bei der Ulme angekommen - es nieselte jetzt - fing er unter dem schützenden Blätterwerk an, uns die Strophen des Liedes vorzusprechen.

 

Dacw nghariad lawr yn y berllan

O na bawn i yno fy hunan

Dacw’r ty a dacw’r sgubor

Dacw’r ddrws y beudy’n agor

 

Dacw’r dderwen wych ganghennog

Golwg arni sydd dra serchog

Mi arhosaf dan ei chysgod

Nes daw ‘nghariad, daw fy nghariad

 

Dacw’r delyn, dacw’r tannau

Beth wyf well heb neb i’w chwarae?

Dacw’r feinwen hoenus fanwl

Beth wyf nes heb gael ei meddwl?

 

Es ist kein einfaches Unterfangen einen Liedtext in einer fremden Sprache auswendig zu lernen. Einerseits versteht man nichts, andererseits sind gewisse Laute, vor allem im Walisischen, so gewöhnungsbedürftig, dass man sie nicht so mir nichts dir nichts aussprechen kann. Der Laut, der mit einem Doppel-L geschrieben wird, braucht beispielsweise einiges an Übung, bis man ihn aussprechen kann. Man presst die Zunge an den Gaumen und bläst Luft aus dem Mund, ähnlich wie bei einem englischen th, nur dass die Zunge weiter hinten ist. Das Wort perllan (zu Deutsch: Obstgarten) zum Beispiel brachte uns an jenem Nachmittag fast in die Verzweiflung, weil der schnelle Wechsel der Zungenstellung beim R in besagte Zungenstellung beim Laut ll sich wie Zungenakrobatik anfühlte.

Jedenfalls liess Narek nicht locker bis auch der hinterste und letzte von uns den Text auswendig vorsagen konnte, und wir alle die Melodie sicher singen konnten. In unserem Falle war der Hinterste und Letzte Leonardo, der nicht recht verstehen wollte, wieso er nicht ein italienisches Lied singen durfte.

Und dann kam der Moment.

Narek kletterte auf die Ulme, was er erstaunlich leichtfüssig und griffsicher tat, und machte sich für den Sprung bereit.

„Das Schöne an dieser Reisemethode ist, dass ich keine Ahnung habe, wo ich landen werde, aber mir ganz sicher sein kann, dass es für mein Vorankommen der richtige Ort sein wird. Erstklässler, ich wünsche euch einen ereignisreichen Projektmonat. Wir sehen uns in der Blumennacht vor dem Cystadleuaeth!“

Dann begann er zu singen.

Es ist ein Erlebnis, einen Mann in einer Ulme, umrundet von nassem Blätterwerk, ein walisisches Lied singen zu hören und dann aus zwei Metern Höhe hinunterspringen zu sehen. Es war auch deshalb eindrücklich, weil Narek eine schöne Singstimme hatte. Vielleicht war er in einem letzten Leben ja ein Artistiaid gewesen?

Meine Gedanken wanderten kurz zu Gareth, der jetzt alleine im Krankenhaus war und gegen seine Dämonen und Eifersuchtsattacken kämpfte und dann von Gareth zu Eileen. Ich hatte keine Ahnung, ob die Artistiaid auch einen Projektmonat durchlaufen mussten. Eileen hatte auch so genug Neues um die Ohren. 

Dann sprang Narek. Als er sich von seinem Ast abstiess, war er in der zweiten Strophe des Lieds. Er hatte das Wort serchog gerade auszusprechen begonnen und war dann plötzlich weg, und mit ihm auch der Klang seiner Stimme. Das klang eigenartig. Ser... - Stille.

Vero, schwanger im etwa sechsten Monat, stieg - kaum war er verschwunden - als Nächste auf die Ulme. Ich machte mir einen Moment lang Sorgen, ob der Sprung für das Kind in ihrem Leib nicht gefährlich sein könnte, doch sie hatte so viel Vertrauen in die Wege der Gemeinschaft, dass ihr dieser Gedanke scheinbar nicht in die Quere kam. Sie begann kräftig zu singen, stiess sich ab - und war weg. 

 

Die Leser meines Berichts kennen mich mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass ich den Sprung nicht ohne Sorgen tat. Ich freute mich auf den Projektmonat bei Small Owls Stamm, aber die Möglichkeit, dass die Pobol awyr mir in der Wüste Gobi vielleicht mehr Entwicklungsmöglichkeiten einräumten, wollte mir nicht so recht gefallen. Doch als angehender Zweitklässler vertraut man; muss man vertrauen. Ich sprang als Letzter und sorgte mich vergebens. Denn kaum berührten meine Füsse sicheren Boden, war die liebliche Landschaft in Kent verschwunden und stattdessen blickte ich auf eine Graslandschaft, wo in etwa zwanzig Metern Distanz ein breiter dunkelgrüner Fluss floss.

„Wow!“, waren meine ersten Worte.

„Wo sind wir?“

Small Owl stand neben mir, hatte auf mich gewartet.

„Das ist der South Saskatchewan-Fluss, wie ihr ihn in eurer Sprache getauft habt. Wir nennen ihn Makadaa nibi-waabi ...“

„Saskatchewan klingt aber auch nicht gerade englisch.“

„Ja, das Wort stammt aus dem Algonkin und bedeutet rascher Fluss, aber wir - die Manyaro - sind nur sehr entfernt mit den Algonkin verwandt.“

Einen Moment lang staunte ich, wie eloquent Small Owl sich plötzlich ausdrücken konnte, doch dann realisierte ich, dass sein Siaraduon auf seiner Schulter sass und für ihn sprach.

Da sieht man mal, was ein imposanter Eindruck mit den Fähigkeiten des Erkennens anstellt. Ich hatte wirklich nicht bemerkt, dass es nicht Small Owl war, der Englisch sprach. Vielleicht hatte ich mich auch schon so sehr an die Stimme seines Siaraduon gewöhnt ...

„Ich dachte immer dein Stamm wohnt in einer waldigen Gegend ...“, sagte ich.

„Wir ziehen umher. Manchmal sind wir in waldigen Gegenden etwas weiter westlich und im Sommer eher hier in der Prärie von Kanada.“

„Und dein Stamm ist wirklich immer noch unentdeckt? Wie schafft ihr es hier unterwegs zu sein ohne andauernd mit der Zivilisation anzuecken?“

„Wir haben viel Platz hier. Und wir verwenden ein wenig Stammesmagie, um unentdeckt zu bleiben. Das wirst du alles bald sehen. Komm, wir müssen los.“

„Wieso, sind wir noch nicht angekommen?“

„Nein, die Pobol haben uns etwa zwanzig Meilen zu weit westlich abgeladen.“

Ich schaute ihn an. „Wieso würden sie das tun?“

„Wahrscheinlich wollten sie uns noch ein wenig Natur und Ruhe gönnen bevor wir in den Alltag aufbrechen ...“

„Ruhe gönnen?“

„Du kennst meine Mutter nicht ...“

 

Es war ein gnadenvolles Erlebnis Small Owl durch die unberührte Natur der kanadischen Prärie zu folgen. Linkerhand begleitete uns der Fluss, und die Gemälde, welche die Wolken an den Himmel zeichneten, waren in ihrer Pracht Ehrfurcht gebietend. Das trockene hohe Gras verursachte ein schleifendes Geräusch, als wir es durchschritten, und einzelne besonders hohe Grashalme berührten hin und wieder meine Hände.

Unterwegs erzählte Small Owl mir einiges, über die Geschichte und Besiedlung von Kanada, insbesondere Saskatchewan. Anscheinend hatten manche Stämme ihre ersten Begegnungen mit den Europäern erst anfangs des siebzehnten Jahrhunderts, was mir wieder mal vor Augen führte, wie jung die Geschichte des amerikanischen Kontinents war. Zumindest wenn man damit die postkoloniale Epoche meinte.

„Du musst dir vorstellen, dass es hier viele verschiedene Stämme gegeben hat ...“, führte er aus. „Manche machten mit den Engländern gemeinsame Sache und handelten mit Pelzen, manche mit den Franzosen, manche verbündeten sich miteinander um zahlreicher gegen die Eindringlinge vorgehen zu können, und manche bekriegten sich als Erzfeinde, so wie etwa die Cree und die Blackfoot. Und mit der Zeit wurde alles noch viel komplizierter, weil die Nachkommen von französischen Siedlern und indianischen Frauen - gemeinhin Métis genannt, sich untereinander organisierten und ihre Interessen auch kriegerisch vertraten. Mit der Zeit sprachen sie sogar eine eigene Sprache, nämlich das Michif, das eine Mischung aus Französisch und Cree war, was sie noch mehr isolierte ...“

Ich staunte, wie gut Small Owl über die Geschichte hier orientiert war.

„Woher weisst du das alles?“, fragte ich beeindruckt.

„Wir lernen von früher Kindheit an, wie unser Stamm sich von anderen Stämmen unterscheidet und was unsere Vorfahren alles erlebt haben, weil unsere Eltern uns jeden Abend viele Geschichten darüber erzählen. Und abends geben uns die Stammesältesten immer wieder die Gelegenheit aus ihrem Leben und dem ihrer Grosseltern zu lernen, indem sie uns von vergangenen Zeiten berichten ...“

Ich war beeindruckt, vielleicht auch ein wenig neidisch, dass Small Owl in einer solch familiären Atmosphäre sein Wissen hatte erwerben dürfen.

„Es gab eine Mischsprache?“, leitete ich wieder ins das Thema über.

„Nicht nur eine. Die Nachkommen der Cree und Schotten entwickelten eine Sprache namens Bungee, die eine Mischung aus Cree und dem schottischen Gälisch ist.“

„Wirklich? Dann könnte ich diese Leute ja vielleicht sogar verstehen. Das Schottische ist vom Irischen gar nicht ganz so weit entfernt ...“

Small Owl schüttelte den Kopf.

„Die Sprachen sind fast ausgestorben. Bungee wird, so viel ich weiss, gar nicht mehr gesprochen, und Michif nur noch von knapp tausend Seelen, vorwiegend älteren Menschen. Aber es gab noch viele andere Mischsprachen. Viele Stämme, die man heute als die Algonkin zusammenfasst hatten eine Mischsprache in der sie sich mit den baskischen Walfängern unterhielten, welche man Algokin-Baskisch nannte. Aber fast überall, wo Europäer auf die Stämme unserer Brüder und Schwestern trafen, entwickelten sich sogenannte Handelssprachen, die fast allesamt wieder untergegangen sind ... “

Ich fand es erstaunlich, was ich in der Schule alles nicht gelernt hatte. Small Owl erzählte mir in dem dreistündigen Marsch zu seinem Dorf vieles über grosse Krieger wie zum Beispiel Pitikwahanapiwiyin der River Cree oder auch Kapapamahchakwew, der von den Weissen zum Tode verurteilt wurde und auf dem Schafott ein Liebeslied für seine Frau sang, bevor er starb. Diese Geschichte rührte mich enorm.

 

Als ich ihn näher über seinen eigenen Stamm und dessen Herkunft ausfragte, sagte er, sie seien entfernte Verwandte des Matouashita Stamms. Nicht, dass ich gewusst hätte, wo ich diesen einzuordnen hatte.

Schliesslich gingen wir über einen letzten Hügel und dann lag es vor mir. Das indianische Dorf, wie aus dem Bilderbuch. Ein silbergrauer Himmel breitete sich endlos vor uns aus und warf einen milden goldenen Glanz auf die kleine Zeltstadt. Wir waren vielleicht noch eine halbe Meile weit von den äussersten Teepees, welche in Small Owls Sprache Tenipii hiessen, entfernt. Die hohen weissen Zelte waren mit Zeichnungen und Symbolen bemalt, was auch über diese Entfernung deutlich zu sehen war. Zwei Hunde rannten uns entgegen und, ermuntert durch deren Gebell, waren kurz darauf auch drei Kinder springend und schreiend zu uns unterwegs.

„Ich würde die Hunde am ersten Tag nicht streicheln. Sie sind etwas misstrauisch und nehmen ihre Aufgabe als Bewacher unseres Dorfs sehr ernst.“

„Du meinst, sie beissen?“, fasste ich zusammen.

„Kann gut sein. Zeig ihnen einfach keine Angst. Am besten, du beachtest sie nicht.“

Dann begann Small Owl den Kindern entgegen zu laufen. Bei ihnen angekommen, hob er den ältesten und schnellsten der drei Jungs hoch und drehte sich mit ihm im Kreis. Die Hunde sprangen an ihm hoch und beschlossen dann sich als Team um mich - den Fremden - zu kümmern. Sie visierten mich an und rannten wie tief gelegte Rennautos auf mich zu. Ihre Bäuchlein streiften das Gras und ihre Gestalt und die zielgerichteten Schnauzen zeigten klar, dass es sich um eine lustvolle Jagd handelte. Gemeinsam den Fremden untersuchen und wenn nötig in Stücke beissen, schien der Konsens zu lauten. Man musste kein Gedankenleser sein, um zu verstehen, dass die Hundegemüter voller Tatendrang waren. Das freute mich nur mässig; aber dann, lieber Hunde als Schwarze Schlangen, dachte ich mir. 

Ich schaltete meinen eigenen Gesichtsausdruck auf stur und richtete die Augen unmissverständlich auf Small Owl, dem ich zulächelte. Hunde nicht beachten, widerhallten seine Worte in meinem Kopf. Und das schien auch zu funktionieren, stellte ich fest, als die beiden Kläffer bei mir angekommen waren. Sie schnüffelten mich zwar intensiv an, aber mein stures Nach-vorne-Blicken bot ihnen keinen Widerstand, gegen den sie sich hätten richten können. Sie mussten wohl oder übel einsehen, dass der Fremde ihr Jagdspiel nicht mitspielte.

Diese kurze erste Begegnung mit den Hunden erinnerte mich an eine Tair Fraich-Strategie, die Leonardo uns einmal beigebracht hatte. Er hatte gesagt, dass man die meisten Kämpfe dadurch gewinnen konnte, dass man nicht auf das Spiel des Gegenübers einging, sondern sich strikte an die eigenen Spielregeln hielt. Ich war erleichtert, dass das auch bei Hunden funktionierte.

Doch es sollte nicht meine letzte Begegnung mit den Dorfhunden sein. Darüber später mehr.

Small Owl stellte mich den Kindern vor und man brachte mir meinen ersten Satz auf Mangyaro bei.

„Taar‘e uachd te‘mpayt.“, hiess die Begrüssung, die man mir beibrachte. Übersetzt hiess das: Ich hoffe, du bist auf deinem Weg! Einen Moment lang stellte ich mir vor, wie diese Begrüssung unser Leben in Europa verändern würde. Der Gruss implizierte, dass es so etwas wie einen persönlichen Weg gab und dieser wurde bei jedem Treffen angesprochen. In diesem Sinne hatte die Mangyaro-Begrüssung vielleicht eine ähnliche Funktion wie der Schlachtruf des Gemeinschafters und sollte einen an die eigene Bestimmung oder Aufgabe erinnern. Ich fragte Small Owl, was er über die Wirkung der Begrüssung dachte, aber der hatte sich noch nie mit der wirklichen Bedeutung des Grusses auseinander gesetzt ...

Trotzdem, mich rüttelten die Worte des Grusses auf und ich fand sie inspirierender als unsere europäischen Begrüssungen.  Auch wenn wir in Europa ebenfalls schöne Begrüssungen haben: Das deutsche Guten Tag oder französische Bonjour, waren ja auch nicht ohne, wenn auch ein wenig trockener. 

Vielleicht tat es mir die Mangyaro-Begrüssung auch deshalb an, weil sie mich an meine eigene Heimat erinnerte. Unser irisches Dia is Muire Dhuit sprach ebenfalls einen breiteren Kontext an, wenn es auch weniger poetisch daher kam. (Zu deutsch: Gott und Maria seien bei dir). Und unser Go n-éiri an bóthar leat, das auf Deutsch Möge die Strasse sich erheben, um dir entgegen zu kommen hiess, konnte dem Mangyaro-Gruss in Bezug auf Romantik und Bildhaftigkeit durchaus das Wasser reichen.

Fünf Minuten später standen wir auf dem Dorfplatz. Es war eine Feuerstelle umrundet von Sitzgelegenheiten wie liegenden Baumstämmen oder Hockern, die aus einer Art Bast gewoben und mit Fellresten gestopft waren, wie ich später herausfand, als ich die Dinger selbst stopfen musste.

Was mir sofort auffiel, war, dass niemand hier ein Horn trug, ausser Small Owl und mir. Und das irritierte mich ein wenig, weil ich ja wusste, dass der Stamm der Mangyaro offiziell zur Gemeinschaft gehörte. Und das zweite, das ich nicht einreihen konnte, war die Tatsache, dass niemand hier eine Fremdsprache zu sprechen schien, denn man sprach ausschliesslich auf Mangyaro auf mich ein.

Einen Moment lang fühlte ich mich in Ntagas Dorf in Indonesien zurück versetzt, wo ich bei meinem ersten Besuch ebenfalls von Ureinwohnern umrundet worden war, und man in einer Buschsprache auf mich eingeredet hatte. Nur dass die Leute hier weniger spärlich bekleidet waren, als dort.

Small Owl begann das Gedränge um mich zu regulieren. Er positionierte sich vor mich und winkte wie ein Verkehrspolizist in verschiedene Richtungen, und zwar ziemlich autoritär. Kurz darauf hatte er Ordnung hergestellt. Die Kinder und Jugendlichen sassen am Boden und die Männer und Frauen standen in einem Halbkreis hinter ihnen. Während der nächsten fünf Minuten hielt Small Owl dann eine Rede, wobei er mir immer wieder mal auf den Rücken klopfte, oder auf mich zeigte. Und dann war der Rummel erst mal vorbei. Was auch immer er gesagt hatte; das Interesse an meiner Person ebbte ab. Die Leute zogen ihrer Wege.

„Was hast du ihnen gesagt?“, fragte ich ihn.

„Dass wir heute Abend alle Fragen beantworten werden. Komm, ich zeig dir unser Tenipii. Wir schlafen bei meiner Schwester und meinen Cousins und Cousinen.“

„Du hast eine Schwester?“

Eine Schwester und zwei Brüder, aber die sind noch klein und schlafen noch bei meinen Eltern. Der Junge, der uns entgegen rannte, ist mein älterer Bruder. Der Kleinere ist mit meiner Schwester am Pflanzen sammeln. Komm ...“

Small Owl ging voraus und führte mich zu einem Tenipii am Rande der Zeltkolonie. Ein Bärenfell hing im Eingang und diente als Türe, wobei sein Kopf über der Öffnung hing und uns wachsam zu beobachten schien.

 

2½ Sergejs Schwur

 

 

Sergejs Schwur

 

Oder: Rache ist auch eine Motivation

 

 

Als Sergej Iwanowitsch Mayr zuhause ankam, schlug er die Eingangstür fast ein, weil sie sich nicht schnell genug öffnen liess. Dann rannte er quer durch das Wohnzimmer in die Küche, wo hinter einem Gewürzschränkchen sein teurer Spezial-Safe versteckt war. Dort gab er mit zittrigen Fingern die Zahlenkombination ein.

Er verstand nicht, wie dieser fremde Buschmann ins U-Boot seines Bruders gelangt war, geschweige denn, wie er sich wieder aus dem Staub gemacht hatte. Aber eines wusste er. Er würde ihn aufspüren und ihn mit der zweiten Waffe, die in diesem Safe lag, auslöschen. Vielleicht war es Tertiär-Technologie gewesen, die ihn dazu befähigt hatte, so wie Gregory das behauptet hatte, aber das war ihm Wurst. Wer sich mit ihm anlegte, zog den Kürzeren. Egal ob Tertiär-Technologie im Spiel war, oder nicht, Buschmann oder FBI-Spezialagent, egal: Gegen ihn zog man den Kürzeren.

Ein Klicken in der Mechanik entriegelte die Tür des Safes. Sie sprang einen Spalt breit auf. Sergej atmete kurz durch, um sich etwas zu beruhigen. Auf der ganzen Fahrt zurück nach St. Johns und von dort aus während des ganzen Flugs zurück nach St. Petersburg hatte ihn diese blöde Angst fast meschugge gemacht, obwohl ihm sein Verstand ganz klar sagte, dass er sich alles nur einbildete. Doch er hatte sich die Sorgen, dass auch die zweite Waffe weg sein könnte, einfach nicht aus der Seele vertreiben können. 

Et atmete noch einmal ein und noch einmal aus, wie sein Yoga-Lehrer es ihm gezeigt hatte. Dann zog er die Tür auf.

Gähnende Leere sprang ihm in die Augen. Er rieb sie mit einigen schwungvollen Bewegungen und verpasste sich eine Ohrfeige, um eine nahende Ohnmacht zu vertreiben. Dann schaute er ein zweites Mal. 

Der Safe blieb leer.

Sergej schluckte krampfhaft, weil sein Mund plötzlich ganz trocken war. 

Dann organisierte er einen Tobsuchtsanfall. Und zwar einen ganz klassischen mit fliegendem Geschirr und viel Geschrei. Drei kaputte Teller, eine in tausend Stücke zersplitterte Kristallglas-Schüssel und vier aus dem Fenster geschmissene Kaffeetassen später, begann die Atemübung zu wirken.

Sergej bemerkte, wie eine lauwarme Ruhe über ihn kam. Als würde er in einem Massage-Salon von einer langbeinigen schönen Blondine mit Honigwasser in Körpertemperatur begossen. Er begann bei der bildhaften Vorstellung zu seufzen. Diese Technik hatte ihm ebenfalls sein Yogalehrer beigebracht. Er solle sich in akuten Stresssituationen eine schöne Landschaft vorstellen und das Rauschen der Brandung imaginieren, hatte er gesagt. Doch das führte nie zu Resultaten, also hatte Sergej den Inhalt der Vorstellung zu der Blondine verändert, und das tat Wunder. Anstatt der Brandung hörte er ihr von seinem Muskelspiel entzücktes Atmen, was fast einem Hecheln gleichkam, und anstatt der Landschaft, stellte er sich ihre Rundungen vor.

Er verharrte bei der Vorstellung, die ihn vor der brutalen Realität abschirmte. Wie konnte man ihm nur sein Baby rauben? Es musste doch jedermann klar sein, wie viel seiner Seele in der neu entwickelten Waffe steckte. Wer konnte so unmenschlich sein und ihm sein Heiligtum entreissen? Und das gleich zweimal?

Sergej spürte wie salzige Tränen seine Wange herab zu laufen begannen. Er hatte seit Jahren nicht mehr geweint; doch das hier ging ihm zu sehr an die Substanz, als dass er sich gegen die Emotion hätte wehren können.

Immer wieder musste er an die schlichte Form seiner Waffe denken: ihre lieblichen Ecken, ihre kecken Knöpfe mit dem modischen Gummiüberzug, ihr schlanker Körper mit dem warmen Abzug. Und dann die Macht, die sie ausgeströmt hatte ... 

Bei dem Gedanken an ihre Wirkung, heulte er auf wie ein Kind, dem man im entscheidenden Moment des Einschlafens den Schnuller entwendet. 

Enttäuscht über die Welt und ihre Bewohner ging er schluchzend in sein Zimmer, wo er zwanzig Minuten später auf einem nass geweinten Kissen einschlief. Sein letzter Gedanke gehörte der Rache; denn nachtragend, ja, das war er. 

 

3 - B Der Weg zum Buch

 

3 - B

 

Der Weg zum Buch

 

 

„Als ich die Kraft zum ersten Mal spürte, wusste ich instinktiv, dass sie meine Welt sprengen würde. Zu mächtig fühlte ich mich, als dass dies ein zufälliges Ereignis hätte sein können. Also begann ich ihr nachzuspähen, sie zu locken, sie herauszufordern und sie anzurufen. Darüber will ich in den nächsten Kapiteln mehr schreiben.“

 

Aus: Memoiren einer Gemeinschafterin von Eleri Haf

 

 

Melinda, rot-blonde Haare, einige über‘s Gesicht verteilte Sommersprossen, die eher den Eindruck hinterliessen, sie hätten sich verirrt, als dass sie sich bewusst auf dem schlanken Gesicht niedergelassen hatten, stand erbost auf.

„Wenn ihr meint, dass das lustig ist, muss ich euch leider sagen, dass ich kein bisschen lachen muss.“

Sie fischte ihre neue Jacke aus dem See und hätte fast das Übergewicht gekriegt - wäre um ein Haar im Wasser gelandet -, doch wenigstens das blieb ihr verschont. Sie balancierte einen Moment lang auf einem Bein und suchte ihr Gleichgewicht. Einen Augenblick später waren beide Füsse wieder sicher am Boden. 

Als sie die tropfnasse Jacke in den Händen hielt, spürte sie etwas Hartes. Auch das noch. Ihr Vater hatte ihr das neue Nokia gestern geschenkt, damit sie in diesem neuen Land und in der neuen Schule einen guten Start haben würde. Auch, damit sie mit Melanie, ihrer besten Freundin in Wales, in Kontakt bleiben konnte. Es war ihr erstes Handy, weil ihre Eltern strikte auf der Meinung beharrt hatten, dass Mobiltelefone nicht in die Hände von Jugendlichen unter sechzehn gehörten. Heute war sie sechzehn geworden. Was für ein grossartiger Auftakt ins neue Lebensjahr. 

Sie funkelte die vier Mitschüler, mit denen sie die nächsten drei Jahre an der High School in Springfield verbringen musste, verachtend an. 

Dabei hatte der Morgen eigentlich ganz gut begonnen. Ihre Klassenlehrerin hatte sie der Klasse vorgestellt, und die vier coolsten Kids der Klasse, hatten sich in der Pause um sie geschart und sie über Wales ausgefragt. Und als sie sie nach der Schule - weil die letzte Stunde ausfiel -, gefragt hatten, ob sie mit ihnen an den See käme, hatte sie das eigentlich als ein gutes Zeichen bewertet.

Doch dann hatte es angefangen. 

Dein Akzent ist echt schräg. Sprechen alle Leute in Wales diese behinderte Sprache? Möchtest du nicht ein wenig zunehmen? Ein Mensch besteht hier bei uns aus mehr als bloss Knochen, du Gestrüpp! Ich finde du stinkst nach Schafen. Nennt ihr diesen Kleidungsstil in Wales Mode? Bei uns nennen wir ihn Kleidersammlung.

Anfangs dachte Melinda es sei amerikanischer Humor und sie lachte mit. Doch dann wurde es immer klarer, dass die Dinge wirklich beleidigend gemeint waren. Und schliesslich hatte Jim, der Rudelführer, ihre Jacke genommen und sie in den Lake Springfield geschmissen. In denselben See, den ihr Vater ihr als einen Ort verkauft hatte, wo sie die besten Erlebnisse ihres Lebens haben, mit Freundinnen schwimmen gehen und sich im Sommer braun rösten lassen würde.

Es gab nichts mehr zu sagen. Melinda machte kehrt und ging über das Gras zum Parkplatz, wo sie vor einer Viertelstunde parkiert hatten; dann zum Lake Park Drive, und von dort aus zur befahreneren Zoo Trail.

Der VW Beetle, in dem Jim sie und die anderen an den See gefahren hatte, überholte sie drei Minuten später und eine Sammlung von Mittelfingern ragte aus den Fenstern. Doch dann riss der Wagen einen Vollstopp. Die drei Mädchen - zwei davon regelrechte Sumo-Ringerinnen - stiegen aus und kamen zielstrebig auf sie zu. Die erste wummerte ihr eine Ohrfeige, dann schubste die zweite sie in einen Busch am Strassenrand und schliesslich verpasste die dritte ihr einen Tritt

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 29.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5188-5

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