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Einführung

Einführung

 

 

 

Wir brechen in den letzten Bericht meines ersten Ausbildungsjahres in der Gemeinschaft auf. Manches wurde mir in dieser Zeit klarer, manches blieb mir schleierhaft.

 

Willkommen!

 

Einige Zeit ist seit der Publikation des fünften Bandes Attacca verstrichen, weil verschiedene Ereignisse im Alltag der Gemeinschaft mich daran gehindert haben, schneller zu schreiben. Dafür entschuldige ich mich.

 

Wie meine werten LeserInnen wissen, wurde ich am Ende des fünften Bandes dazu gezwungen die Pforte der Neugierigen zu durchschreiten, wollte ich nicht aus der Gemeinschaft geworfen werden. Das alles, weil Cyfimiad - beduselt durch seine Fengi-Phase - Schwarze Schlangen ermordet hatte, was gegen so ziemlich jedes Gesetz in der Gemeinschaft verstösst. Dieser sechste Band schildert die Ereignisse, die der Gerichtsverhandlung folgten.

 

Mein Bericht geht - wie immer - nahtlos weiter, so dass LeserInnen, die aus einem mysteriösen Grund mit diesem sechsten Band die Lektüre beginnen wollen, dazu ermuntert seien, sich den ersten Band (Präludium) zu zu tun und dort zu beginnen. Dieser Bericht eignet sich nicht für‘s Quer-Einsteigen.

 

 

 

James Tannot

Aberystwyth, im März

 

 

1 Der Hüter der Pforte

 

1

 

 Der Hüter der Pforte

 

„Wenn die Kraft da ist, bist du im Lot. Die Gewebe sind geschmeidig und gehen ihrer Aufgabe nach; die Intelligenz fügt sich dem Plan der Pobol; der Rhythmus des Lebens ist ohne Hetze und die Zeit plötzlich dein Freund. Die Kraft soll deswegen der Verbündete des Gemeinschafters sein.“

 

Callineb Elwedig, Adnod 508

 

 

Die Wachen führten mich durch einen Hinterausgang ins Freie, wo ruhig ein Bächlein an dem Gerichtsgebäude vorbei floss. Birken standen mit tief hängenden Ästen am Ufer, und zwischen den Bäumen wuchs Moos, was einen idyllischen Eindruck machte. Mein Blick tastete die Umgebung ab, während ich den Wachen hinterher ging. 

Bjechtra war vielleicht ein Dorf von zwanzigtausend Seelen, schätzte ich. Die Grösse des Ortes war gut auszumachen, weil er in einem Talkessel lag und ringsum Berge imposant in die Höhe ragten. Auf manchen Bergen lag Schnee, andere leuchteten bläulich im Sonnenlicht. Bjechtra selbst war fast nur aus Riegelbauten gebaut und wurde von schmalen Gassen durchzogen. 

Man führte mich durch einige dunkle Gassen, wobei ich von den Zwergen auf der Strasse angeschaut wurde, als sei ich eine Touristenattraktion. Dann hielten die Wachen vor einem unscheinbaren Haus mit schwerer dunkelbrauner Holztür an. Sie stiessen sie auf und sie gab mit einem singenden Knarren den Weg ins Innere frei. Ich betrat das Gebäude und zuerst umfing mich Dunkelheit, weil von der schmalen Gasse her kaum Licht ins Haus drang. Dann wurde ich weiter ins Dunkle voran gestossen, bis ich mir die Nase an einer weiteren Tür anschlug.

„Öffne diese Türe, sobald wir das Haus verlassen haben. Dahinter findest du die Pforte der Neugierigen.“, sagte eine der Wachen hinter mir.

„Wir wünschen dir Glück und Erdbeeren, Erstklässler!“, sagte die andere Stimme.

„Ja, Erdbeeren wirst du wohl brauchen ...“, wiederum die erste.

Danach hörte ich, wie sich die Wachen mit ihren rasselnden Rüstungen von mir weg bewegten. Wenig später fiel die Eingangstür ins Schloss.

Dunkelheit. Stille.

Was würde mich jenseits dieser Schwelle erwarten? Was war die Pforte der Neugierigen? Wieso wünschten mir die Wachen Erdbeeren? Waren die genau so fengi wie Cyfimiad? War es ein schlechter Witz? Eigentlich verfügten Zwerge über guten Humor, aber vielleicht waren die Erdbeeren nur kümmerliche Vertreter ihres Humors.

Ich nahm die Klinke in die Hand. Sie fühlte sich kalt an.

Obwohl ich wusste, dass es nur ein Vorwärts gab, stand ich eine kleine Ewigkeit lang mit der Türfalle in der Hand dort. Ich stand in einem Haus in einer Stadt, die von Zwergen erbaut worden war, in einer Welt von der die meisten Menschen nicht einmal wussten, dass es sie gab. Ich war - noch - ein Mitglied einer Gemeinschaft von Heilern, deren Existenz jeder nüchtern denkende Mensch heftig verleugnen würde. 

Und hier stand ich; hatte keine Ahnung, was mich auf der anderen Seite dieser Tür ereilen würde; musste ehrlicherweise einsehen, dass es mit mir und der Gemeinschaft vielleicht bald vorbei sein würde, und dass ich vielleicht bloss noch eine trostlose Zukunft vor mir hatte.

Tausend Dinge gingen mir durch den Kopf. Die Türklinke wurde von der Wärme meiner Hand aufgeheizt und fühlte sich irgendwie freundlich an. Und doch verkörperte sie alles, was ich nicht wusste.

Schliesslich drückte ich sie hinab und stiess die Türe auf.

Zunächst blendete es mich und ich konnte nicht viel erkennen, aber dann gewöhnten sich meine Augen an das grelle Licht im nächsten Raum und ich begann Umrisse zu erkennen.

Ich stand in einem Zimmer, wo es - abgesehen von der Pforte, welche mehr als offensichtlich war - nur einen Tisch gab, auf welchem eine goldene Glocke lag. Die Pforte selbst thronte in der Mitte des Raumes. Ein geschwungener Bogen umrahmte sie und sie schien aus wässrigem Licht zu bestehen. Über dem Bogen hing ein Schild mit einer walisischen Aufschrift, die ich natürlich nicht entziffern konnte, weil ich ja noch kein Walisisch sprach.

Ich klopfte Harald herbei, damit er mir die Inschrift übersetzen konnte. Harald weinte wie ein Schlosshund, als er sich auf meiner Schulter materialisierte. Sein Hemd war feucht von den nicht zurück gehaltenen Tränen.

„Harald, was ist los? Wieso weinst du?“

Er warf sich an meinen Nacken und schluchzte jetzt noch intensiver. 

„Harald?“

Er gestikulierte zu der Pforte.

„Die Pf ... Pfo ... Pfor ...“

„Was ist mit der Pforte?“

Harald putzte sich die Tränen mit dem Hemdsärmel weg.

„Das Monster in der Pforte. Es wird ... wird .... wird dich verspeisen. Mein Erstklässler wird gegessen ...“

„Was redest du?“

Er zeigte wieder auf die Pforte.

„Meine Freunde haben es mir gesagt. Dort drin wohnt ein Monster - es heisst Brimp und hat drei Münder und Krallen, scharf wie kleine Messer. Seine Haut ist schleimig, damit man es nicht greifen kann und abrutscht, zudem raucht es aus allen Poren und sondert einen Gift ab, das dich lähmt ... Ich will nicht, dass du stirbst!“

Ich streichelte das kleine Siaraduon am Hinterkopf.

„Mach dir keine Sorgen, Harald. Ich werde kämpfen wie ein Löwe!“

Gleichzeitig merkte ich, wie sich in meinem Bauch ein Klumpen bildete. Was sollte das? Schickte die Gemeinschaft mich in meinen sicheren Tod, anstatt mir mein Horn wegzunehmen? Das konnte doch nicht sein. Mein Vater hätte mich doch nie zur Pforte ziehen lassen, wenn mich dort ein Monster erwarten würde.

„Deine Freunde haben sicher übertrieben ...“

Harald protestierte. „Nein, sie haben es mit ihren eigenen Augen gesehen. Es ist grauenhaft, böse und kennt kein Mitleid. Und es hat immer Hunger, immer, immer!“

„Jetzt kann ich sowieso nicht mehr zurück, Harald. Wir werden sehen, was die Zukunft bringt.“

Ich tönte bei weitem tapferer, als dass ich mich fühlte.

„Chef, du bist so mutig!“

Harald lehnte sich wieder an meinen Nacken, vergrub sich in in seinen Armen und schluchzte weiter aus vollem Herzen. Seine warmen Tränen liefen mir seitlich den Hals hinab. Mit einer Verrenkung meines rechten Arms schaffte ich es an sein Köpfchen zu gelangen. Ich streichelte ihn, bis er wieder ein wenig ruhiger wurde.

„Harald, ich brauche eine Übersetzung. Siehst du das Schild da oben über der Pforte?“

Harald schielte hoch.

Dann heulte er wieder los. Das nahm kein Ende ...

„Was ist jetzt wieder, mein kleiner Freund?“

„Du hast nur drei Anläufe um Brimp zu besiegen, danach bis du Knochenmehl ...“

„Das steht dort oben?“

Ich schaute ungläubig die Buchstaben der walisischen Worte an.

„Nein, aber das ist gemeint, Chef.“

Er zog sich laut den wässrigen Schleim, den sein Weinen in der Nase losgelöst hatte, hoch.

„Die direkte Übersetzung wäre: Dreifaltig ist unsere Natur. Drei Chancen sollst du haben.

Ich nickte.

Harald blickte unschuldig wie ein kleines Kind zu mir hoch.

„Brauchst du mich noch, Chef? Ich will an die Trauerfeier, die ich organisiert habe. Es ist ein Fest vor der Beerdigung, Chef. ... hab ich extra für dich ins Leben gerufen, damit wir dein Leben noch einmal feiern können. Meine Freunde warten schon.“

„... ein Fest vor der Beerdigung?“

„Wir müssen doch dein Leben feiern! Chef, ich werde persönlich dafür sorgen, dass dem Monster die übrig gebliebenen Knochen entrissen werden, damit wir etwas zum Begraben haben!“

Jetzt war mir eindeutig übel.

Ich klopfte Harald auf die kleinen Schultern. 

„Geh du nur, Harald. Wir sehen uns sicher bald wieder, wenn Gott uns gnädig ist.“

Harald blickte mich ehrfürchtig an. Ich hatte keine Ahnung, was er in mir sah, aber er schien davon überzeugt, dass ich Halbgott-Charakter hatte.

„Du bist so mutig, Chef. Ich werde an der Trauerfeier eine Rede über dein Leben und über deine Tugenden halten. Leb wohl, Chef.“

Er zog sich den Schleim noch einmal in die Nasenhöhlen hoch, dann verschwand er.

Ich war wieder alleine.

Dreifaltig ist unsere Natur. Drei Chancen sollst du haben.

Ich wiederholte die Worte innerlich, um ihnen einen Sinn zu entlocken. Wartete wirklich ein Monster auf mich auf der anderen Seite dieses Lichtspiels?

Ich betrachtete die Pforte etwas genauer. Der Rahmen des Tors war verziert, hatte eingelegte Holzstücke, die eine dezente Erinnerung an die Verzierungen um das Schallloch einer Gitarre entstehen liessen. Man hatte sich auf jeden Fall viel Mühe gegeben dieses Tor würdig zu gestalten. Und das tat man doch kaum, wenn es das Tor zum persönlichen Henker in Form eines Ungeheuers war, oder doch?

Gerade weil man in den Tod schritt, sollte man noch ein wenig Schönheit mit auf den Weg erhalten? Als Wegzerrung?

Ich vertrieb die Gedanken. Sie waren weder hilfreich noch ermutigend. Ich war allein. Allein, aber nicht einsam. In meinem Inneren spürte ich immer noch die Verbindung zu Cyfimiad. Es war eine vage Wahrnehmung, an die sich ein getröstetes Gefühl anschloss. Nein, ich war nicht alleine. 

Ich drehte mich um mich selbst, suchte den Raum mit meinen Blicken ab. Es gab tatsächlich nur einen Tisch, die goldene Glocke darauf und das schimmernde Tor. Das war‘s. Doch im nächsten Augenblick registrierte ich noch etwas: Die Tür, durch die ich herein gekommen war, war weg. Der Raum hatte nur noch einen Ausgang und zwar die Pforte. Meine Entscheidung hatte mich in eine Einbahnstrasse manövriert. 

Es gab kein Zurück mehr.

Ich machte zwei Schritte zum Tisch hin. Dort nahm ich die schwere und kühle Glocke zur Hand und brachte sie zum Klingen. Ein tiefer Ton ertönte. Ich ging davon aus, dass die Glocke einen Sinn hatte und nicht nur zur Verzierung auf dem Tisch stand. Und tatsächlich, im nächsten Moment erschien auf dem Tisch eine Pergamentrolle, schön säuberlich zusammen gerollt und mit einem Band mit Schleife versehen. 

Ich packte und entrollte sie. In verschnörkelter Schrift hatte ich einen Text vor mir, doch wie nicht anders zu erwarten, war der Text auf Walisisch verfasst. Ganz oben auf dem Pergament leuchtete das Wappen von Wales: ein roter Drache auf grün-weissem Untergrund. Ich tippte mit meinem Zeigefinger auf das Wappen, worauf es sich sofort in das Wappen von Schweden verwandelte und mit ihm veränderte sich die Länge, die Schrift und das Aussehen des Textes. Jetzt stand der Text in schwedischer Sprache da. Die Sache erinnerte an die Bedienung eines Tabletts. Ich tippte noch einmal auf das Wappen. Jetzt leuchtete die italienische Flagge, wo gerade noch die Schwedische gewesen war und der Text war Italienisch verfasst. Ich klickte mich durch unzählige Landes-Wappen durch, bis ich nach vielleicht vier Minuten auf meine Muttersprache stiess. Die irische Flagge und ein korrespondierender irischer Text lagen vor mir. Obwohl mein Englisch natürlich genau so gut war, wie mein Irisch, wählte ich instinktiv die Sprache mit der ich gross geworden war. Irgendwie gab mir das Sicherheit. Dann begann ich zu lesen.

 

An James Tannot, Erstklässler

 

Du hast viel Mut gezeigt, als du dich für die Pforte entschieden hast. Ehre sei dir! Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr, sondern nur noch das Gelingen oder das Versagen. Gehen wir zuerst zum Versagen: Wenn du es nicht schaffst, dein Ziel in der Pforte zu erreichen, wirst du deine Vergangenheit verlieren. Wir werden dich in einem fremden Land aussetzen und dir dein Gedächtnis auslöschen. Du wirst neu anfangen müssen und nie etwas über deine eigene Vergangenheit wissen. So ist es. Gewinnst du aber, sollst du als Erstklässler mit deiner Ausbildung weitermachen können und Cyfimiad wird dir weiterhin als Zwerg dienen dürfen; sämtliche Vorwürfe würden ihre Berechtigung verlieren und der Prozess wird nie nötig sein. So ist es.

 

Dreifaltig ist unsere Natur. Drei Chancen sollst du haben.

 

Dies sind die Regeln der Pforte. Hast du nach dem dritten Versuch keinen Erfolg, wirst du in dieser Form nicht mehr existieren und Cyfimiad wird für den Rest seines Lebens im Kerker bleiben.

 

Dein Ziel ist einfach, Erstklässler. Du musst die toten Menschen in ihrem Leben dazu bringen, dass sie nicht am Ort des Verbrechens auftauchen werden, weil Cyfimiad sie dann nicht töten kann. Und damit wäre die Schuld aufgehoben. Laut den Regeln der Pforte, hast du dazu drei Chancen. 

 

Deine Aufgabe ist es also, die Opfer davon zu überzeugen, dass sie zu gegebenem Zeitpunkt auch wo anders sein könnten. Oft ist das keine einfache Angelegenheit, Erstklässler. Aber es ist nicht unmöglich. 

 

Du hast jetzt drei Fragen, die du stellen kannst. Danach musst du durch die Pforte schreiten. Sprich, Erstklässler!

 

 

Ich überlegte. Welche Frage wäre sinnvoll?

„Darf ich mich selbst warnen?“

Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, begann sich eine Schrift auf dem Pergament zu formieren.

 

Du darfst von dir, Manush oder Cyfimiad weder gesehen noch gehört werden.

 

Wer auch immer am anderen Ende der Leitung war, hatte keine besonders blumige Sprache.

 

Kann ich die Schwarzen Schlangen nicht einfach entführen, jeden einzelnen allein, und sie so daran hindern uns zu verfolgen?

 

Du kannst tun was du willst, Erstklässler. Aber Gewalt ist ein denkbar schlechtes Werkzeug, um begangene Gewalt wieder gut zu machen.

 

Kann ich mich drüben meiner Fähigkeiten bedienen?

 

Du wirst auf der anderen Seite der Pforte der Neugierigen all deine gemeinschaftlichen Fähigkeiten verloren haben und dein Zwerg ist im Kerker; er wird dir nicht helfen können. Du bist allein, Erstklässler.

 

Das war deine letzte Frage. Schreite durch die Pforte und blicke deinem Schicksal ins Angesicht, James Tannot!

 

2 Erste Schritte in der Vergangenheit

 

2

 

Erste Schritte in der Vergangenheit

 

„Was ist diese Kraft, fragst du? Entdecke sie, 

indem du sie studierst, sage ich.“

 

Callineb Elwedig, Adnod 509

 

 

Ich hätte zweifellos Stunden in dem Zimmer mit der Pforte verbringen können, doch es gab nichts mehr anderes zu tun, als den grossen Schritt zu wagen. Das Pergament hatte deutlich gesprochen: 

 

Schreite durch die Pforte und blicke deinem Schicksal ins Angesicht, James Tannot!

 

Klarer konnte man es nicht formulieren.

Manush, meine Freunde, meine Familie, die Dozenten, einfach alle, waren unerreichbar weit weg. Wahrscheinlich dachten sie genau so an mich, wie ich jetzt an sie dachte, aber ändern tat das nichts. Ich konnte den Weg vor mir nur alleine gehen, musste selbst herausfinden, was die Zukunft für mich bereit hielt; wenn sie denn schon geschrieben worden war. Und selbst wenn sie schon in Stein gemeisselt worden war, so konnte nur ich entdecken, was sie für mich bereit hielt, egal wie gefährlich es war, oder wie sehr es mein Ende bedeutete.

Zigmal war ich durch einen RRV gegangen und hatte nicht gewusst, was mich am anderen Ende erwarten würde. Ich war immer davon ausgegangen, dass die Gemeinschaft auf mich aufpasste. Aber diesmal war alles anders. Diesmal passte die Gemeinschaft nicht auf mich auf. Diesmal war es die Gemeinschaft, die mir eine letzte Chance gab, bevor sie mich wie einen Fremdkörper ausschied. Ich war wirklich alleine.

Ich hielt den Atem an und machte drei Schritte vorwärts, wobei ich mir wohl bewusst war, dass ich diesmal etwas tat, das ich noch nie getan hatte: ich reiste in meine eigene Vergangenheit. 

Das wässrige Licht der Pforte fühlte sich warm an, als es zuerst an meinen Händen, die ich herausgestreckt vor mir hielt, hochkletterte. Wie eine leicht elektrische Substanz, die sich um jedes meiner Unterarm-Haare herum schmiegte und dann zum nächsten emporstieg. Schliesslich war mein ganzer Körper von diesem Prickeln umgeben. Meine Augen hielt ich geschlossen. Wenn ich schon durch die Zeit reiste, dann wenigstens mit dem Segen des Unwissenden.

Und dann endete ganz plötzlich und abrupt einfach alles. 

Wo vor einer Sekunde noch elektrisches Kitzeln gewesen war, war jetzt eine kalte Stille, als hätte ich ein Vakuum betreten. Instinktiv wartete ich auf die nächste Phase des Transports durch die Zeit, doch nichts weiteres geschah. Nach etwa dreissig Sekunden müssigen Wartens öffnete ich die Augen. Wo auch immer ich war, ich schien angekommen.

Ich sah Dunkelheit, wenn man denn Dunkelheit sehen konnte. Vor mir am Boden ein Schlitz, wo ein wenig Licht in die Dunkelheit eintrat, aber abgesehen davon, war nichts auszumachen. Und es war kalt. Ich ging auf den kleinen Lichtbalken zu, Hände schützend vors Gesicht gehalten, damit ich nicht plötzlich einen Balken an der Nase hatte und mein Abenteuer in der Vergangenheit mit blauen Flecken im Gesicht beginnen musste. 

Bei der Tür angekommen, tastete ich nach der Klinke, atmete tief ein und drückte sie hinunter.

 

Es war ruhig. Regen. Ein Weiher, umrundet von dämmrigen Weiden und einem Bänkchen im Halbdunkel lag vor mir. Es war noch Nacht, aber linkerhand am Horizont sah man den nahenden Tag, wie er in helleren Blautönen daher kam. Ich blickte mich um. 

Das Gebäude, aus dem ich soeben getreten war, gehörte zu den städtischen Wasserwerken, wie ich an einem Schild an der Tür erkennen konnte:

 

Pumpstation 683, Wasserwerke North Carolina, USA

 

Ich schluckte leer. Wieso hatte man mich nach Amerika geschickt, wo ich doch eine Vergangenheit in Irland korrigieren sollte? Ein Fehler der Pforte? Vielleicht war es der Pforte ja auch egal, wo sie jemanden ausspuckte, und nur der Zufall hatte entschieden? Wenigstens war ich nicht in der Sombrero-Galaxie gelandet.

Mein Herz schlug immer noch aufgeregt, als wisse mein Körper genau, dass er gerade durch die Zeit transportiert worden war. Also entschloss ich mich dazu, zuerst meine Gedanken zu ordnen und mich auf dem Bänkchen beim Weiher etwas zu sammeln; meinem Herz die Chance zu geben, dass es wieder seinen Rhythmus finden konnte.

Das Holz der Bank war nass vom Tau, aber das kümmerte mich nicht, weil ich einen wasserundurchlässigen Dwr Mawr-Umhang trug. Zudem hätte selbst ein Hosenboden trocknen können, während falsche Entscheidungen, die ich hier fällen würde durchaus nicht rückgängig gemacht werden konnten. Lieber nass am Hintern und besonnen, als aufgescheucht wie ein Huhn und trocken.

Einige Sekunden lang sog ich einfach nur die frische Morgenluft tief in meine Lungen ein und versuchte meine jüngste Vergangenheit davon ziehen zu lassen.

Was tun? Wie vorgehen? 

Kaum stellte ich mir diese Fragen, stolperten Antworten in meine Gedankenwelt. Zuerst musste ich wissen, was für ein Tag das war, das genaue Datum in Erfahrung bringen. Wie viel Zeit hatte ich, um mich vorzubereiten? Wie viele Tage bis zum Tag der Mutprobe, an dem ich die Schwarzen Schlangen daran hindern musste uns zur Lagerhalle zu folgen? Wie würde ich das Geschehene ungeschehen machen? 

Ich starrte auf den Weiher, der lieblicher nicht sein konnte. Auf der anderen Seite, eingefasst in Beton, sprudelte Wasser aus einem Rohr und fiel verspielt in die Wassermasse. Das Wasser schmiegte sich behutsam jeder Situation an und änderte seine Form andauernd. Musste ich es nicht genau so tun? Instinktiv dachte ich an das Arsenal und die Artikelnummer fünf, die ich auswendig konnte. 

 

Alles fliesst, wenn du es lässt.

 

Wie würde ich die Dinge so fliessen lassen, dass ich meine Aufgabe hier bestehen würde?Sollte ich die Feste so feiern, wie sie fielen? Was nützte es, hier in den USA eine Strategie zu schmieden, wenn doch die Realität, die ich ändern musste, in Irland und damit weit weg war? War die richtige Vorgehensweise die langsame, die Schritt für Schritt an die Zukunft heran ging?

Ich musste schmunzelnd an Leonardo denken, wie er in Gwagedd mit dem Gras gesprochen hatte. Schlussendlich in der Wiese vor dem Schloss sogar einen treuen Freund gefunden hatte, der ihm Einblicke in Geheimnisse offenbart hatte, die er alleine nicht entlarvt hätte. War das jetzt so eine Situation? Riet das Wasser des Weihers mir, die Sache langsam anzugehen, nicht jetzt schon alles planen zu wollen?

Ich erhob mich. Egal, jedenfalls machte es Sinn. Zuerst würde ich nach Irland reisen und erst dann und dort überlegen, was ich unternehmen konnte, um die Schwarzen Schlangen von mir und Manush fern zu halten.

Ein schmaler Kiesweg führte von dem kleinen Weiher zu einer geteerten Landstrasse hinunter. Eine Ortschaft war weit und breit nicht zu sehen. Mein Abenteuer würde also mit einem Fussmarsch beginnen, realisierte ich. Zeitgleich verstand ich, wie verwöhnt wir als Mitglieder der Gemeinschaft waren. Es war Monate her, dass ich einen längere Strecke hatte gehen müssen. Durch das Elwuyn, unsere Fähigkeit zu fliegen, die RRVs, die Dwr Mawr-Stationen, unsere Zwerge und den HO875 hatten wir konstant Abkürzungen zur Verfügung und längere Strecken wurden meist geflogen oder mit Hilfe von Gemeinschafts-Transportmitteln angegangen. Und jetzt plötzlich musste ich mich wieder einmal auf meine Füsse verlassen, weil ich keine Gemeinschaftsfähigkeiten mehr hatte. Während ich der Strasse in Richtung des nahenden Tages folgte, stutzte ich innerlich. Wer sagte denn, dass ich die Fähigkeiten wirklich verloren hatte? Hatte ich mir die Fähigkeit zu fliegen nicht mühsam durch Meditationen und Vorstellungsübungen erworben? War es nicht meine Fähigkeit, die man mir eigentlich gar nicht wegnehmen konnte? Instinktiv - vielleicht auch aus Trotz - formte ich mit meiner Hand mein Aktivierungszeichen, das mich normalerweise im Nu abheben liess. Doch mein Körper reagierte nicht der Spur nach auf das Zeichen, obwohl es gut aufgeladen war. Man hatte meine Fähigkeit abgestellt. Wie auch immer das ging ...

Augen geradeaus gerichtet, ging ich der Strasse entlang. Und obwohl ich schon vorher gewusst hatte, dass ich mich in einer ernsten Lage befand, sank die wahre Erkenntnis darüber erst jetzt - als ich vergebens mein Zeichen benutzt hatte - in mich hinein. Ich fühlte eine Last auf mir. 

Ob Cyfimiad wohl eine Chance hatte mich auf meiner Reise zu beobachten? Oder sass er in einer Zelle und wartete einfach auf sein Schicksal ohne etwas über meine Taten herauszufinden?

Ich legte einen Zahn zu. Es ging um mein weiteres Leben und das von vielen anderen, nicht zuletzt Cyfi. Ich musste alles geben, all meine Kräfte, meine ganze Intelligenz und all mein Verlangen in eine Richtung lenken, damit ich die Realität wieder gerade biegen konnte. 

Eine gute Stunde ging ich der asphaltierten Strasse entlang ohne an einem Haus vorbei zu kommen. Ich folgte einfach der hügligen Route. Was sonst konnte ich tun? Doch innerlich warf ich mit Vorwürfen nur so um mich. Wieso konnte man mich nicht einfach direkt nach Irland schicken? Wieso zu einer Wasserpump-Station inmitten von North Carolina? Wenn man mir schon eine letzte Chance gab, wieso spielte man dann nicht wenigstens fair? Und was genau sollte der Mist mit dem Wegnehmen meiner mühsam erarbeiteten Fähigkeiten? Dass ich keinerlei Geld bei mir hatte, mit dem ich den Flug nach Irland hätte bezahlen können, bedachte ich erst gar nicht. Alles zu seiner Zeit. Jedenfalls war ich mit der Zeit recht geladen und bestrafte etliche am Wegrand liegende Steinchen mit scharf getretenen Fusstritten.  Wenigstens mein Tair Fraich war mir erhalten geblieben.

Gott sei Dank hörte ich fünf Minuten später ein Auto. Ich drehte mich um, stand an den Strassenrand und streckte meine Hand mit erhobenem Daumen aus. Es war ein weisser Subaru, der gemütlich auf mich zu tuckerte. Ich setzte ein Lächeln auf die Lippen. Dann blickte ich an mir herunter. Das Dunkelgrün des Dwr Mawr-Gewands passte wunderbar in die waldige Umgebung, aber nicht ideal um Autostopp zu machen. Wer würde schon am frühen Morgen für einen jungen Mann in einem dunkelgrünen Rock anhalten?

Der Subaru verlangsamte dennoch die Fahrt. Ich schöpfte Hoffnung. Der Wagen fuhr an mich heran. Eine Gestalt im Inneren lehnte sich auf den Beifahrersitz herüber und kurbelte das Fenster des Subarus, der direkt aus den Siebziger Jahren zu kommen schien, herunter. Ich blickte in das Antlitz eines glatt rasierten Mittvierzigers, der in makellos gebügeltem Anzug hinter dem Steuer sass.

„So früh schon unterwegs?“, sagte er.

„ ... hab einen langen Tag vor mir. Könnten Sie mich ein Stück mitnehmen?“

„Wo geht‘s denn hin?“

„Einfach der Sonne entgegen.“

„Ich kann sie bis Greensboro mitnehmen. Dort muss ich um halb zehn sein ...“

„Perfekt. Vielen Dank.“

Der Geschäftsmann machte die Beifahrertüre von innen auf und ich hüpfte leichtfüssig auf den Sitz.

„Ein lustiges Gewand, das Sie da anhaben. Kommen Sie von einer der berüchtigten Parties bei den Bradleys?“

„Genau, die Anderen sind alle immer noch mächtig am Feiern, aber ich musste ein wenig früher gehen, und dann hat mein Motorrad mich im Stich gelassen.“

„Da haben Sie ja mächtig Glück, dass ich heute nach Greensboro muss und die Festerei der Bradleys kenne. In dem Aufzug hätte Sie sonst niemand mitgenommen.“

Er lachte. Strahlend weisse Zähne kamen zum Vorschein.

„Ja, das hab ich eben befürchtet, umso dankbarer bin ich Ihnen. Wie weit ist es bis nach Greensboro? Ich habe mein Einschätzungsvermögen durch den langen Fussmarsch verloren. Hab keine Ahnung mehr wie weit ich schon gefahren war.“

„Ach, vielleicht noch hundert Meilen, oder so.“

Der Mann langte zu dem vorsintflutlichen Radio, welches in der Verschalung neben dem Steuerrad steckte, und drehte an dem Gerät bis er einen Sender eingefangen hatte.

„Mögen Sie Jazz?“, fragte er.

Ich nickte. „Ich mag jede Musik, so lange sie erkennbare Melodien hat.“

 

Den Rest der Fahrt verbrachten wir in einem angenehmen Gespräch, das von dem Jazz-Giganten Miles Davis begleitet wurde. Tom, wie er hiess, war Verkäufer für elektronische Rodeo-Anlagen, die er an grössere Bars und Pubs verkaufte. Ein Business, das in den USA anscheinend recht gut lief. Er sagte, dass sich der Verkauf seit den Beach Boys vervielfacht habe. Eigentlich hätte ich da schon stutzig werden sollen; wurde ich aber nicht.

Als wir der Stadt näher kamen, erkundigte ich mich unauffällig danach, ob Greensboro einen Flughafen habe. Der nette Mann schaute mich etwas befremdet an. 

„Du bist nicht aus der Gegend, was?“, sagte er.

Es stellte sich heraus, dass Greensboro einen Flughafen hatte. Der Piedmont Triad International Airport hatte aber weit mehr nationale Flüge im Angebot, als dass er andere Kontinente anflog, fand ich bei meinen weiteren Erkundungen heraus. Eine Stunde später lud mich der nette Mann beim Flughafen ab. 

Da stand ich also in meinem Dwr Mawr-Umhang vor dem Eingang eines mittelgrossen Flughafens mitten in North Carolina. Ich hatte keinen Cent Geld und keinen Plan. Ich setzte mich auf eine Bank beim Eingang und realisierte erst zwei Minuten nachdem er mich abgeladen hatte, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.

Zunächst bemerkte ich all die Autos aus den Siebzigern, die vorfuhren oder in der Nähe parkiert waren. Dann fiel mir der Kleidungsstil der Leute auf und schliesslich - als eine Gruppe von Frauen aus dem Flughafengebäude herauskam, die allesamt Frisuren hatten, die eindeutig aus der Mode gekommen waren - fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich wehrte mich zwar noch gegen den Gedanken, aber wenig später hatte ich die befürchtete Gewissheit. Es war eine Zeitung, die neben mir auf der Bank lag, die mir bestätigte, was ich nicht wahrhaben wollte.

 

Greensboro News, March 12th, 1972

 

Das Datum auf der Zeitung liess mein Herz einen Schlag aussetzen. 

„Enteneier!“, hörte ich mich sagen. Die Wahl des Wortes verstehe ich bis zum heutigen Tage nicht wirklich. 

Was verdammt noch mal war hier schief gelaufen?

Wie bitte sollte ich Cyfimiad daran hindern Schwarze Schlangen umzubringen, wenn ich nicht nur im falschen Land, sondern auch noch in der falschen Zeit abgeliefert worden war? Wie konnte etwas nur so mächtig schief gehen? Erwartete man von mir, dass ich die rund vierzig Jahre nun rum sitzen würde und dann als Sechzigjähriger einen Vorfall verhindern würde, an dessen Details ich mich bis dann mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht einmal mehr erinnern würde? Waren die denn alle von Sinnen? Wer hatte die verdammte Pforte bedient? Der würde etwas von mir zu hören bekommen. 

Ich sass kochend vor Wut auf der Bank. Starr geradeaus blickend folterte ich in Gedanken den Pforten-Bediener, indem ich ihm Tair Fraich-Schläge auf den Brustkasten hämmerte. Dann wanderten meine Gedanken zu Manush, die momentan noch nicht mal auf die Welt gekommen war. Manush, die irgendwo in der Zukunft auf mich wartete und bestimmt gerade einen Achubiad zu bestechen versuchte, damit sie mich in der Abteilung für Vergangenheitsforschung beobachten durfte.

Wenig später überkam mich eine depressive Verstimmung. Musste ich mein Leben jetzt in einer anderen Zeit leben, all meine Freunde verlieren, nur weil irgend so ein Spinner die Pforte falsch eingestellt hatte? War das mein Schicksal? Verloren in einer anderen Zeit? Einsam für den Rest meines Lebens? Das durfte ja einfach nicht wahr sein.

Ich sass sicher eine Stunde vor dem Eingang des Flughafengebäudes und brütete vor mich hin. Die meisten Leute, die an mir vorbei gingen, warfen mir einen unsicheren Blick zu und versuchten dann krampfhaft so zu tun, als fänden sie mich und meinen dunkelgrünen Umhang normal.

Dann - nach ganz sicher drei Haaren, die sich im Farbspektrum von braun nach grau verschoben hatten - kam etwas Licht in meine Seele. Es musste einen Ausweg aus meiner Misere geben. Ich würde mein Gestrandet-Sein in dieser mir fremden Welt auf keinen Fall akzeptieren. Ich würde kämpfen bis ich wieder mit Manush, Gareth, Eileen, meinen Eltern, meinen Lehrern und nicht zuletzt wieder mit Cyfimiad vereinigt sein würde. Koste es, was es wolle, ich würde in meine Zeit zurückfinden; und zwar nicht erst als alter Mann.

Also erhob ich mich.

Zuerst musste ich mich anpassen. Das hiess vorerst mal andere Kleider finden, damit ich weniger auffiel. 

Ich stieg frech in ein Taxi und knurrte ein verschlossen wirkendes Zum Bahnhof. Der Fahrer äugte mich zwar eigenartig an, aber anscheinend hatte man in den Siebzigerjahren noch mehr Anstand, als in meiner Zeit. Er sagte nichts und fuhr los. Ich ging mal davon aus, dass der Bahnhof irgendwo im Zentrum von Greenboro war und dann würde ich weiter sehen.

Zwanzig Minuten später hielt der Wagen neben zwei Greyhound-Bussen an. Der Mann streckte den Kopf nach hinten und nannte den Preis. 

„Sieben Dollar, bitte.“

Das war mein Stichwort. Ich stiess die Türe auf und rannte so schnell mich meine Füsse trugen an den Bussen vorbei. Der Fahrer hupte drei mal empört, rannte mir aber nicht nach. Mein Gewissen regte sich dafür sofort. Seit ich in der Gemeinschaft lebte - oder besser - seit ich ein Leser des Arsenals der Weisheit war, zollte ich meinem Gewissen mehr Respekt und versuchte es, wo immer möglich, zu berücksichtigen. Eine Taxifahrt nicht zu bezahlen war zwar fast schon ein Kavaliersdelikt, aber mein Gewissen sah das ganz und gar nicht so, sondern plagte mich für den Rest des Tages mit Schuldgefühlen.

Vom Bahnhof aus erkundete ich dann die Stadt und die Hauptgeschäftsstrassen von Greensboro. Mein Plan war, mir in einem grossen Kleidergeschäft eine Hose, ein Hemd und eine Jacke zu klauen und mir dann anderswo anständiges Schuhwerk und Socken zu besorgen.

Doch ich hatte die Rechnung ohne die Siebzigerjahre gemacht. Die GAPs und H&Ms suchte ich nämlich vergebens in den Strassen. Es gab wohl Kleidergeschäfte, aber die hatten mehr Boutique-Charakter. Da würde das Stehlen schon einiges mehr an Finesse erfordern, wurde mir schnell klar.

 

Schlussendlich gelang es mir in meinem vierten Versuch die gewünschten Kleider zu stehlen und dieses Prozedere wiederholte ich über die nächsten Wochen etliche Male, weil ich einfach mehr zum Anziehen brauchte. Ich fand einen mässig bezahlten Job als Hilfskraft auf einer Farm und sparte all meinen Verdienst, um mir ein Flugticket nach Irland leisten zu können.

Vier Monate später war es soweit. Ich hatte das Geld beisammen und versuchte mir einen regulären Linienflug zu leisten, hatte aber eines vergessen: auch in den Siebzigern brauchte man für solch ein Ticket einen Pass. Und den hatte ich ganz und gar nicht. 

Ich schimpfte gehörig mit mir, dass ich so etwas Selbstverständliches ausser Acht gelassen hatte. 

Nach Irland kam ich dann, indem ich auf einem Containerschiff anheuerte, das Liverpool in England ansteuerte. Ich half in der Küche und überquerte so den Atlantik, wohl wissend, dass ich irgendwann über Achubiad-City war und absolut nichts tun konnte, um dorthin zu gelangen. 

In England angekommen, schmierte ich mit meinem restlichen Geld einen Fischer, der mich dann auf seinem Kutter nach Irland brachte.

Ein halbes Jahr nachdem ich durch die Pforte gegangen war, stand ich in einer typisch amerikanischen Jeans, einem Holzfällerhemd und einer Jeansjacke vor Eileens Schuhladen, der bereits schon existierte. Ich hatte reichlich Zeit gehabt, um mir einen Plan zurecht zu legen und hatte bis ins Detail ausgefeilt, wie ich vorgehen würde, um wieder in meine Zeit zurück zu finden.

 

3 Bortuk, der Übeltäter

 

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Bortuk, der Übeltäter

 

 

„Die Kraft zu studieren, bedarf dreier Dinge: 

Sie anerkennen. Ihr vertrauen. Ihr danken.“

 

Callineb Elwedig, Adnod 511

 

 

Meine Eltern würden nächstes Jahr heiraten - im Sommer 1973. Ich hatte keine Ahnung, wann sie zur Gemeinschaft gestossen waren, ob vor oder nach ihrer Hochzeit, also waren sie für mich uninteressant. Ganz anders aber meine Grosseltern. Die waren ganz bestimmt in der Gemeinschaft, und mein Grossvater - daran erinnerte ich mich nur zu gut - war der Gemeinschafter, der an Cyfimiads Seite durchs Leben ging. Das war meine Eintrittskarte. Musste sie sein.

Es ging also zunächst darum meine Grosseltern aufzusuchen, ihnen klarzumachen, dass ich ihr ungeborener Enkel war und sie dann dazu zu bringen, dass sie mir helfen würden zurück in meine Zeit zu finden. 

Wieso ich zu Eileens Schuhladen gegangen war, verstand ich nicht ganz; wahrscheinlich einfach, um mich an meine Freunde zu erinnern und sie zu spüren, obwohl sie alle erst in der Zukunft zur Welt kommen würden. Jedenfalls zeitigte der Besuch des Schuhladens insofern den gewünschten Effekt, dass ich mich frischen Mutes zum Haus meiner Grosseltern aufmachte. Dieses war nicht weit weg, sondern gleich um die Ecke von dem Haus, das meine Eltern nach ihrer Heirat kaufen würden und in dem ich aufwachsen würde.

Es war ein sonniger Oktobertag in Dublin. Die Leute waren in T-Shirts unterwegs und flanierten durch die Strassen. Alles wirkte friedlich und entspannt. Je länger ich in den Siebzigern lebte, desto merkte ich, dass die Zeit durchaus ihren Reiz hatte. Das Leben war weniger hektisch und die Leute waren anständiger und zivilisierter. Es gab viel weniger Bettler und Obdachlose und die Strassen waren sauberer als in meiner Zeit. Nicht, dass ich in dieser Zeit bleiben wollte, aber sie war mir durchaus sympathisch geworden. Ich erfreute mich an dem Dublin meiner Eltern. 

Fünfzehn Minuten später stand ich vor dem Haus meiner Grosseltern. Die Topfpflanzen standen genauso vor dem Haus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich hatte meiner Grossmutter immer geholfen die kräftigen Blumen zu giessen, und sie hatte mir dabei Geschichten über die verschiedenen Pflanzen erzählt. 

Es war kurz vor Mittag und ich war mir sicher, dass jemand zuhause war, weil sowohl im unteren, als auch im ersten Stock das Licht brannte. Ich war nervös und ging die Strasse zehn Mal auf dem Gehsteig auf und ab. Meine Grossmutter hatte ich das letzte Mal vor Jahren gesehen, und zwar als ich in der elften Klasse war. Sie war am Abend bei uns zum Abendessen gewesen und wachte am nächsten Tag einfach nicht mehr auf. Meinen Grossvater hatte ich kaum gekannt; er kam bei einem Autounfall ums Leben, als ich noch im Kindergarten war. 

Würde ich jetzt einfach läuten und mich als der Enkel aus der Zukunft vorstellen? Die Vorstellung machte mich nicht unbedingt glücklich. Doch dann wanderten meine Gedanken einen kurzen Moment lang zu Manush und meine Finger betätigten die Klingel von alleine. 

Der schrille Klingelton liess mich sofort in die eigene Vergangenheit reisen. Ich sah meine Grossmutter innerlich, wie sie immer lächeln musste, wenn jemand läutete, weil mein Grossvater den Klingelton nie anders eingestellt haben wollte. Er hatte anscheinend das Kitzeln gemocht, das der schrille Ton in den Ohren entfachte. Nach seinem Tod hatte sie die Klingelanlage dann genau so gelassen, weil sie mit jedem Klingeln spontan an ihren Gatten dachte.

Ich hörte, wie jemand die Treppe herunter kam. Dann öffnete eine bei weitem jüngere Version meiner Grossmutter die Tür. Ich war erstaunt wie gut sie aussah. Eine Frau in ihren frühen Vierzigern mit modernem Haarschnitt und einem schnittigen orangen Jupe.

Sie blickte mich nett an. 

„Guten Morgen, junger Mann. Was kann ich für Sie tun?“, sagte sie auf Englisch, weil das Irische in Irland auch damals nicht von vielen Leuten gesprochen wurde.

Ich suchte nach Worten. Fand aber keine. Also stammelte ich einfach drauflos. Was war das Einzige, das eine Gemeinschafterin auf jeden Fall überzeugen würde? Ein Hilfeschrei?

„Ich bin verloren ... ich brauche Hilfe, glaube ich ...“, sagte ich ebenfalls auf Englisch.

Mehr kam für den Moment nicht heraus. Ich blickte sie an; geradewegs in die Augen.

„Sie glauben, dass Sie Hilfe brauchen, junger Mann?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiss es.“

„Na, dann kommen Sie mal rein. Ich mach Ihnen zuerst mal einen Tee und dann schauen wir gemeinsam, was mit Ihnen nicht stimmt. In Ordnung?“

Ich atmete auf. Genau so hatte ich es mir gewünscht und ausgemalt. Auf die Hilfsbereitschaft der Gemeinschaft war einfach Verlass.

Sie liess mich in den Flur treten und zog dann die Türe hinter sich zu. Instinktiv zog ich meine Schuhe aus, wie sie es mir als Kind beigebracht hatte. Ich stellte die Schuhe im kleinen Nebenzimmer in den Schuhschaft. 

Meine junge Grossmutter schaute mich verdutzt an. Sie zog die linke Augenbraue hoch. 

„Ihr Anstand, der ist in Ordnung. So viel wissen wir jetzt schon ...“

Sie ging in den hinteren Teil des Hauses voraus, wo die Küche in einen Wintergarten über ging, von wo aus man eine prachtvolle Sicht auf den Kräutergarten hatte. Sie führte dort mit all ihren Patienten die ersten Gespräche. Ich war unzählige Male dabei gewesen.

„Setzten Sie sich, junger Mann. Wie heissen Sie?“

„Mein Name ist James ...“

„Sehr gut, ein solider Name. Sind Sie aus der Gegend?“

„Ja, von hier.“, antwortete ich.

„Sprechen Sie Irisch?“

Diesmal antwortete ich in meiner Muttersprache. 

Der Rest war Irisch.

Meine Grossmutter machte zunächst mal ein wenig Small Talk, wie das auch Narek immer zu tun pflegte bevor er zur Sache kam. Doch dann plötzlich fixierte sie mich mit ihren blauen Augen und wurde ernst.

„Wie kann ich dir helfen, James?“

Das war der Moment, der wesentlich zum Gelingen oder Scheitern meines Planes beitragen würde. Wie es sagen? Wie es formulieren? Einfach gerade aus, so wie es war? Oder mit Verzierungen und Schnörkeln? 

Ihr Blick frittierte mich. Ich entschied mich für die direkte Variante. Wie hatte doch Ahmed einmal gesagt: Je direkter dein Schlag auf der Mitte, desto mehr unterstützt dich der Grund. Also würde ich es so tun. Ich würde die Wahrheit unverblümt und ohne Umwege in den Raum stellen und dann hoffen. Was war meine Familie anderes als mein Grund und Boden? 

„Ich bin ein Gemeinschafter aus der Zukunft und bin hier in der Vergangenheit gestrandet. Ich brauche deine Hilfe, weil ich in dieser Zeit niemand anders habe ...“

Jetzt war es draussen. Ich wagte nicht aufzublicken. 

Doch anstatt zu antworten, stand meine Grossmutter auf und holte das heisse Wasser, das gerade den Wasserkocher zum Pfeifen gebracht hatte. Sie goss das Wasser in eine Tasse vor mir auf dem Tisch. Dann öffnete sie ihren Teeschrank, wo immer mindestens fünfzig verschiedene Teesorten fein säuberlich in Portionen aufgeteilt auf ihren Einsatz warteten.

„Ich gebe dir Apfelschalen-Tee. Wenn du die Wahrheit sprichst, James, wird er dich trösten, wenn du nur verwirrt bist, wird er dich beruhigen und dir Klarheit schenken.“

Kurz darauf schwammen klein gehackte Apfelschalen-Stückchen im Teenetz meiner Tasse.

„Ich bin nicht verwirrt, nur mittlerweile etwas einsam.“

„Was soll das für eine Gemeinschaft sein, zu der du gehörst?“

Ich schaute sie irritiert an.

„Wieso? Gibt es mehrere davon?“

„Was weisst du über diese Gemeinschaft, James?“

In meinen Gedanken hatte ich so eine Reaktion halb erwartet. War ja klar, dass sie die Gemeinschaft nicht einfach so mir nichts dir nichts vor einem Fremden ohne Horn anerkennen konnte. Sie musste mir Fragen stellen. Jeder Gemeinschafter hätte es so getan.

Also begann ich aufzuzählen: „Mein Name ist James Tannot und ich bin dein Enkel. Mein Grossvater heisst Caneuon Tannot und sein Hornzwerg ist Cyfimiad, der auch schon Ali dem Türken, dem Begründer der Achubiad gedient hatte. Das grosse Zentrum in Istanbul besitzt einen wandernden Eingang und bewegliche Gebäudeteile, die dem Schiffsverkehr ausweichen. Im obersten Stock des Zentrums liegt die Sonnenterrasse, die auf den Weltmeeren unterwegs ist und nie still steht. Die Achubiad sind unsere Beschützer und wohnen in Achubiad-City, welches man am besten mit der Hilfe der Morcyfeillgar erreicht, indem man vorher einen Schluck Lechmyi trinkt.“

Ich hielt inne. „Reicht das?“, fragte ich.

Meine Grossmutter war ein wenig bleich geworden. 

„Du bist mein Enkel?“, fragte sie.

Ich nickte.

Dann stand sie auf und breitete ihre Arme aus.

„In meine Arme mit dir!“

 

Sie löcherte mich förmlich, wollte alles über ihre Schwiegertochter wissen, die sie scheinbar noch gar nicht kannte. 

Gemeinschafter können immens neugierig sein und sich wahrhaftig in ein Thema verbeissen. Ihre Augen glitzerten, als sie alles über die Gewinner der Tanzwettbewerbe bei den Vollmond-Festen wissen wollte und sie musste schallend loslachen, als sie hörte, dass Heiri, der Berner, des öfteren gewonnen hatte.

Es tat gut, endlich wieder über Gemeinschaftsbelange zu reden. Zu meiner grossen Freude öffnete meine Grossmutter dann auch noch den Kühlschrank und holte einen ihrer berühmten Apfelkuchen hervor, den sie im Ofen leicht wärmte und dann mit Clotted Cream  servierte.

Wir palaverten gut eine Stunde ohne weiter auf meine Situation einzugehen. Dann hörte ich, wie die Eingangstüre aufgeschlossen wurde.

„Caneuon!“, rief sie. „Wir haben Besuch aus der Zukunft.“

„Kommen wir nicht alle aus der Zukunft, mein Schatz?“, antwortete er, während man hörte, wie er die Schuhe versorgte. 

„Sicher, sicher, Goldstück, aber man lernt nicht alle Tage den eigenen Enkel aus der Zukunft kennen ...“

Ich hatte nur vage Erinnerungen an meinen Grossvater. Ich kannte ihn vor allem von verschiedenen Familienfotos. Nur eine Erinnerung war noch deutlich in mir vorhanden, und zwar die an einen Ausflug an den Strand, den er und ich unternommen hatten als ich noch im Kindergarten gewesen war. Ich weiss das noch, weil er mir dort das Schwimmen beigebracht hatte. Doch das lag alles noch Jahre in der Zukunft.

Herein trat ein hagerer Mann mit grossen hellgrauen Augen und rotblonden Haaren. Er war grösser, als ich ihn in Erinnerung hatte.

Er schaute mich mit strengen Augen an.

„Du willst mein Enkel aus der Zukunft sein?“, zischte er.

„In einigen Jahren werden wir zusammen im Meer schwimmen, dann wirst du keine Zweifel mehr haben.“. entgegnete ich.

Er musste lachen.

„Dass du meine Vererbungslinie fortsetzt, das sehe ich bereits. Aber, wenn du ein Gemeinschafter sein willst, der Zeitreisen unternehmen kann, dann habe ich eine Frage: Wo ist dein Horn?“

Ich blickte an mir herunter. Wo normalerweise Cyfimiads Behausung deutlich unter meinem Hemd zu sehen war, herrschte jetzt Leere. 

Jetzt musste ich meine Geschichte zum Besten geben und hoffen, dass meine Grosseltern verstehen würden, dass die Pforte sich geirrt haben musste; dass irgendjemand in ihrer Handhabung einen gravierenden Fehler gemacht haben musste. 

„Setz dich, Grossvater, und ich will euch alles erzählen.“, gab ich zur Antwort. Ich musste meine Gedanken noch eimal ordnen, um am richtigen Zipfel meiner Geschichte anzuknüpfen.

„Ich mach dir eine Tasse Hirtentäschelkraut-Tee, ja?“, sagte währenddessen meine Grossmutter. 

Er nickte ihr zu.

„Mit einem Schuss Granatapfelsaft, bitte, das Fräulein.“

„Sicher, der Herr ...“, gab sie zur Antwort.

Bevor er sich setzte, legte er seine Hand auf meine Schultern und sprach langsam einige Worte.

„Noch einige Jahre, sagst du?“

Doch er wartete meine Antwort nicht ab, sondern setzte sich und sagte: „Fel `na mae pethau. Schiess los.“

Ich erkannte den walisischen Spruch. Es war die Artikelnummer sieben. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her und begann zu erzählen. Zur Untermalung benutzte ich meine Hände.

„Alles fing vor einigen Monaten an. Meine Freunde und ich wurden von Narek - unserem Klassenlehrer - auf eine Mutprobe geschickt. Wir durften frei wählen. Das fand ich zwar mühsam,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 29.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5187-8

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