Cover

Einführung

Einführung

 

 

Ein weiterer Band meiner Erzählung findet hiermit seinen Weg in die Welt. Es ist der fünfte und zugleich der vorletzte, der meinen Weg als Erstklässler abzeichnet. Im siebten Band werde ich bereits ein Zweitklässler sein, doch bis dahin werden die verbündeten LeserInnen sehen, wird sich noch  viel ereignen. 

 

Hin und wieder muss auch die Gemeinschaft im Kampf gegen das Böse Opfer beklagen; leider kann ich das auch in meinem Bericht nicht beschönigen. LeserInnen mit sanftem Gemüt mögen diese Stellen mit geschlossenen Augen lesen, um das innere Gleichgewicht nicht zu verlieren. Doch nicht nur das Morden wird in diesem Band thematisiert. Er handelt auch von kleinen Durchbrüchen, die man als Erstklässler erleben darf, von neuen Einblicken in die Gemeinschaft, die man so nie erwartet hätte, und von den Qualen, welche die Menschen ereilen, die sich auf die destruktive Seite schlagen.

 

Dieser fünfte Band - Attacca - schildert meinen Weg in eine Sackgasse, die ich nicht kommen sah, die mein Leben aber auf nachhaltigste Weise beeinflusst hat. Und nicht nur meines. Zugleich wird auch die Leserschaft die Gemeinschaft und ihre Wege besser verstehen lernen.

 

 

Aberystwyth, im Dezember

James Tannot

 

1 Die Zwergenwelt

 

1

 

 Die Zwergenwelt 

 

 

„Wieso einen Umweg machen, wenn man ein Problem auch direkt angehen kann? Geh in dich Gemeinschafter und finde den direkten Weg in die Lösung. Doch vergiss nie, 

dass die Lösung nur nötig ist, weil du vorher zu 

viel verklebt hast.“

 

Callineb Elwedig, Adnod 412

 

 

Nachdem alle herkömmlichen Recherchen keine Resultate gebracht hatten, entschloss Liam sich dazu auf nicht herkömmliche Weise Informationen zu beschaffen, um das Hornzwerg-Problem endlich zu lösen. Er tat etwas, das Achubiad nur selten taten; er entschloss sich dazu um Hilfe zu fragen. Nicht, dass das in Achubiad-Kreisen eine Schande oder Schmach gewesen wäre; es war einfach üblicher die Probleme selbst zu lösen. 

Jeder Achubiad war in kreativem Denken und in unorthodoxen Lösungsansätzen geschult, wie sonst niemand auf dem Planeten, deshalb war es wirklich eine Ausnahme, dass Liam diesen Schritt erwog. Es war noch nie in der Geschichte der Achubiad, seit ihrer Gründung durch Ahmed den Türken, vorgekommen. Doch für alles gab es ein erstes Mal und Liam war garantiert nicht derjenige, der ein Problem damit hatte, von seinem Podest, auf das ihn alle Welt hievte, hinunter zu klettern. 

Die Lösung des Problems musste an der Quelle erforscht werden. Deshalb war Liam an diesem Abend unterwegs nach Grönland. Er zog es vor die Distanz von Achubiad-City nach Grönland mit der Hilfe von Elwuyn zu fliegen, damit er sein Zeichen nicht abnutzte. Ein Achubiad wusste, dass Kräfte, wo immer möglich, geschont werden mussten, damit man sie in wichtigen Momenten zur Verfügung hatte. Er hatte sich deswegen dazu entschlossen, weder einen Taithwr noch einen HO875 zu verwenden. Natürlich brauchte er als Achubiad für den HO875 keinen Hornzwergen, da er das Tempo selbst bewältigen konnte, aber er bevorzugte einen gemütlichen Flug, um innerlich noch einmal alle Enden durch zu gehen und sicher zu stellen, dass er nichts übersehen hatte. Und das ging eindeutig am besten, wenn man gemütlich, ohne jegliche Anstrengung, mit Elwuyn unterwegs war.

Er hatte ein Tempo gewählt, das ihn die knapp zweitausend Kilometer innerhalb von drei Stunden zurücklegen liess. Der Wind war bei solchen Geschwindigkeiten selbstverständlich auch für einen Achubiadmeister eine Herausforderung, aber für diesen Umstand hatten die Fforiwr den Achubiad eine Technologie besorgt, die wie ein Schutzschild fungierte, so dass Liam sich konzentriert dem Problem widmen konnte, ohne sich vom Wind belästigt zu finden. Der Wreduk übernahm den Schutz für den Meister.

Liam war um zwei Uhr grönländischer Zeit vor dem Hornhaus, wo die Hörner hergestellt wurden, und wo die Hornzwerge den Gemeinschaftern zugeteilt wurden. Das Haus war aus rotem Backstein gebaut. Es stand am Hang eines grossen Fjords und übersah somit ein wunderschönes, wenn auch karges Stück Land. Die Wellen des Meeres kräuselten sich weiss an den steilen Hängen hinauf, um in tausend Tropfen wieder ins Meer zurück zu stürzen. Ein lottriger Weg führte vom Wasser zum Hornhaus hoch. Er begann unten auf einer kleinen Betonplattform, die als Anlegeplatz diente, und führte über morsch anmutende Bretter hinauf.

Liam war schon als Kind oft hier gewesen. Als Jungendlicher hatte er sogar seine Ferien hier verbracht und Walja Cohen beim Schnitzen der Mundstücke geholfen. Ein Prozess, der für jedes Horn mindestens eine Woche in Anspruch nahm. Liam hatte die Stille des Ortes und die bedächtige Arbeit so sehr geliebt, dass er als junger Erwachsener seine Arbeit als Achubiad fast an den Nagel gehängt hätte, um ins Hornbau-Business einzusteigen, doch Ahmed hatte ihm damals ins Gewissen geredet. Obwohl verunsichert, hatte Liam sich dann dazu entschlossen, seine Aufgabe in der Rettung von Gemeinschaftern zu sehen; doch vielleicht wäre er ohne Ahmeds Intervention heute ein Hornbauer. 

Liam lächelte, er kam immer noch sehr gerne hier her. 

Walja Cohen entsprang der Cohen-Hornbauer-Familie, die seit Jahrhunderten das Hornhaus verwaltete und die kunstvollsten Hörner herstellte. Man munkelte, dass Eleri Haf den Hornbauern sogar ein eigenes Arsenal der Weisheit geschrieben hatte, weil sie der Familie für ihr Horn so dankbar gewesen war. Doch das war ein Gerücht. Die Cohens selbst sagten, das Werk dürfe nur von Familienmitgliedern gesehen werden, und sie zeigten das Manuskript deshalb niemandem. Der offizielle Verlag des Arsenals bestritt die Existenz eines Hornbauer-Arsenals: Eleri Haf habe nur ein Arsenal geschrieben und das sei für alle Gemeinschafter gültig. Man stritt sich bis heute darüber. 

Bevor Liam auf dem Vorplatz landete, deaktivierte er den Wreduk und drosselte das Tempo.

Was von aussen wie ein kleines Haus anmutete, war drinnen nur die Empfangszone, von wo aus unzählige Gänge ins Innere des Hangs führten. Die Hörner wurden in Schächten gelagert und ähnlich wie das Holz bei einem Geigenbauer, mussten sie etliche Jahre trocknen, bevor sie für die Verarbeitung bereit waren.

Liam klopfte an die Tür und trat ein. Der typische Geruch von Tannenharz drang ihm in die Nase. Er atmete tief ein. Hunderte von Bildern seiner Jugendzeit stiegen in ihm auf und er spürte die entspannende Wirkung des Dufts.

„Walja?“, rief er ins Innere.

„Liam, bist du das?“, kam die Antwort auf Walisisch und dann hörte man Fusstritte. Ein alter Mann mit grauen Haaren, viel zu viel grauen Haaren, die hinten zusammengebunden waren und durch eine Spange in Form gehalten wurden, kam mit ausgebreiteten Armen auf Liam zu. 

„Liam, mein kleiner Hornbauer!“

„Nicht mehr ganz so klein ...“

„Nicht wirklich! Aber, jung, im Vergleich zu mir! Was führt dich nach Grönland? Hattest du lange Zeit nach mir?“

„Natürlich! Doch auch viel anderes führt mich hierher, aber das kann warten ... steht das Spiel noch?“

„Es wartet geduldig, aber ich brauche nicht mehr viele Züge bis du schachmatt bist.“

„Wir werden sehen, Walja, wir werden sehen ...“

Die beiden Männer verbrachten die nächsten Stunden damit das unvollendete Schachspiel weiter zu führen. Das war ein Brauch, der sich vor Jahren eingebürgert hatte. Ein Spiel unter Meistern. Liam, der bekannt dafür war, dass er beim Schachspiel seine Strategie bis auf dreissig Züge voraus plante und die Optionen bei jedem Zug seines Gegners neu berechnete, war der beste Achubiad-Schachspieler. Er bezwang selbst Ahmed neun von zehn Malen. Walja Cohen, so sagte man, hatte das Schachspiel vor sieben Inkarnationen in Indien erfunden. Er hatte das selbst nie bestätigt, hüllte sich diesbezüglich in Schweigen, aber er war in der Gemeinschaft eindeutig einer der besten Schachspieler. Um genau zu sein wurde die Schachwelt innerhalb der Gemeinschaft nur von drei Gemeinschaftern dominiert: von Liam, Walja Cohen und Flamur, dem Leiter der Abteilung für Offenbarungs-Entwicklungen, wie man die Fforiwr-Abteilung auch nannte.  

Nach einer Stunde war der Stand des Spiel immer noch unentschieden. Liam entschied sich dafür das Spiel zu unterbrechen und den Grund seines Besuches anzusprechen.

„Walja, hast du schon mitgekriegt, dass die Hörner nicht mehr funktionieren?“, fragte Liam.

„Wie meinst du das? Ein Hornzwerg kann nicht nicht funktionieren. Sie können krank werden und schlecht gelaunt sein, aber sie hören mit Sicherheit nicht auf zu funktionieren. Es sind unsterbliche Wesen, die manchmal zwangspensioniert werden, aber nein, zu funktionieren aufhören werden sie nie und nimmer.“

Liam zog sein Horn hervor. Es hatte einen Griff in der Form eines Drachenkopfes, an dem Liam es in sicherer Hand hielt.

„Schau ...“, sagte er.

Dann blies er hinein. Wie zu erwarten, kam die Lichtkugel zum Vorschein, aber sie war leer.

„Wo ist Anja?“, fragte Walja vor den Kopf gestossen.

„Genau das ist die Frage! Aber es ist nicht nur Anja. Auch Mati und Clach und ... einfach alle Zwerge sind weg!“

Liam hob die Schultern. „Wir haben alles, was irgendwie Sinn macht, untersucht. Die Fforiwr haben sogar die Andromeda-Galaxie, wo die Hörner einstmals entdeckt wurden, abgeklappert, doch auch dort wusste niemand Bescheid. Wir wissen nicht mehr weiter.“

„Hmm. Das ist mir auch neu. Ich kenne die Tagebücher meiner Vorfahren alle auswendig, aber so etwas ist definitiv noch nie vorgekommen.“

Walja versuchte in Anjas Horn hineinzublicken, sah aber nichts was ihm weiterhalf. Dann begann der Mann mit der grauen Haarpracht laut zu lachen. Er klopfte sich selbst grob auf die Schenkel.

„Ist das nicht wunderbar, wie das Leben uns immer wieder neue Rätsel stellt?“

Liam stimmte mit ein. Er klopfte Walja auf die Schulter.

„Es ist grossartig!“ Er kicherte herzhaft. 

Danach setzten sich die beiden wieder an den Schachtisch und spielten weiter, als sei das Thema vorerst mal erschöpft. Wiederum wurde eine Stunde gespielt.

Liam gewann das Spiel mit knappem Ausgang.

„Es freut mich, dass ich dich bezwungen habe!“, sagte Liam.

„Ja, ich bin auch ganz gerührt. Es tut so gut die eigenen Grenzen auszuloten!“, erwiderte Walja. Er erhob sich.

„Lass uns das Problem näher untersuchen ...“

„O‘r gore te!“, sagte Liam, was so viel wie In Ordnung auf Walisisch hiess.

„Ich war schon seit drei Wochen nicht mehr im Zwergenreich. Das Holz für die neuen Hörner muss noch etwas reifen, deshalb habe ich mich vor allem um meine Schnitzereien gekümmert. Und dann halt auch nicht mitgekriegt, dass die Hörner nicht mehr bewohnt werden. Aber wer würde so etwas auch erwarten? Ich sicher nicht. “

Walja ging voraus.

„Aber jetzt wollen wir der Sache auf den Grund gehen.“

Obwohl Liam sich im Hornhaus auskannte, hätte er den Weg ins Zwergenreich alleine kaum gefunden. Es gab einfach zu viele Schächte und Wege in dem Berg drinnen und wenn man sich nicht täglich in dem Wirrwarr von Gängen aufhielt, hatte man keine grosse Chance sich einen inneren Orientierungsplan anzulegen. Auch als Achubiad nicht. 

Je tiefer man vordrang, desto weniger beleuchtet waren die Schächte und desto mehr sahen sie nach normalen Bergwerksschächten aus. Die Wände waren unverkleidet und an manchen Stellen gab es Felsspitzen, die in den Schacht hineinragten und an denen man sich mächtig den Kopf anstossen konnte, wenn man nicht aufpasste. Walja entzündete an einem kleinen Feuer, das in einer Nische brannte, eine Fackel. 

Es ging abwärts. Ab und zu begegneten sie einem Morcyfeillgar, der emsig einer Arbeit nachging. Auch im Hornhaus waren die Morcyfeillgar vorwiegend für Botengänge verantwortlich. Es war eine Arbeit, die sie sehr mochten, und für die sie sehr geeignet waren, weil sie sowohl an Land als auch im Wasser schnell vorankamen. Der Aufwand, einem neuen Gemeinschafter ein geeignetes Horn zu verschaffen, war nicht zu unterschätzen, und ohne die Morcyfeillgar hätte Walja die Arbeit nicht bewältigen können. Wie überall waren auch die Morcyfeillgar im Hornhaus überaus höflich, zuvorkommend und fröhlich. Einer der Boten insistierte, dass er Liam ein Lied vorsingen müsse; sein Tag sei sonst nicht fröhlich. Die beiden Männer hörten dem Morcyfeillgar interessiert zu und gingen danach, die leicht keltisch anmutende Melodie summend, weiter. Pure Gemeinschaft, überall wurde gesungen und gesummt, auch in den Tiefen eines Bergwerks.

Schliesslich kamen sie an eine dreifach verriegelte Metalltür, die sehr dem Eingang zu einem Safe glich. Walja kramte sein Horn unter seinem zu grossen Hemd hervor. Er hielt es an jedes einzelne Schloss, worauf eines nach dem anderen aufsprang. Er schob die schwere Tür langsam auf, stemmte sich regelrecht dagegen.

„Nach dir!“, sagte er und liess Liam den Vortritt.

„Immer ein Erlebnis zu den Zwergen zu gehen!“, antwortete Liam voller Vorfreude. 

Auf der anderen Seite des Eingangs lag eine Welt ohne Grenzen, das wusste er von Erkundungen, die er in seiner Jugendzeit angestellt hatte, doch seit dann war er nie mehr hier gewesen. Es hatte sich einfach nicht mehr ergeben. 

Die Tür, durch welche sie gerade geschritten waren, schien - vom Blickwinkel der Zwergenwelt aus - zu einem alten Riegelbau zu gehören. 

Vor ihnen lag Bjechtra, die Hauptstadt der Hornzwerge, die den Gemeinschaftern loyal waren. Die Stadt war in eine hügelige Graslandschaft gebaut und der Ort selbst bestand fast nur aus alten romantischen Riegelbauten, wie man sie im französischen Elsass findet. Doch das auch hier etwas nicht stimmte, war sofort ersichtlich. Die Stadt war schlicht und einfach leer gefegt. Nicht ein einziger Zwerg war auf dem Rathausplatz zu sehen, auf dem es normalerweise von musizierenden Zwergen und Marktständen nur so wimmelte.

„Na, da stimmt etwas ja ganz und gar nicht!“, sagte Walja.

„Die Wege des Herrn sind unerschöpflich!“, bemerkte Liam nebenbei.

Walja holte Luft und hob seine Hände an den Mund, um einen Trichter zu formen. „Hallo, ist da jemand?“, rief er mit beträchtlicher Lautstärke.

Liam spitzte seine geschulten Ohren. Keine Antwort.

„Haben die einen Feiertag?“

Walja schüttelte den Kopf. „Nein, Drenach ist erst nächste Woche ...“

Sie gingen einige Schritte und erkundeten den Platz und die umliegenden Gebäude. Liam öffnete die Tür der Fnöldür-Schenke, eines berühmten Restaurants, wo sonst immer etwas los war. Doch auch dort: Leere. Kein Zwergenbein weit und breit.

„Na, dann wollen wir mal! Lass uns zuerst einmal zu Toni reisen. Mein Zwergchen wird schon wissen, was los ist.“

Sie gaben sich die Hände. Walja zeichnete die Gesten eines Taithwrs in die Luft; die blauen Sternchen erschienen, dann waren sie weg. Die Reiseroute eines Taithwr-Transports wurde jeweils von den Pobol Awyr geplant und überwacht, was auch erklärte, wieso man als Reisender selbst nicht wissen musste, wo sich jemand befand. Diesen Überblick hatten die Pobol Awyr; eigenes Zutun war nicht erforderlich. Man aktivierte den Taithwr und war im nächsten Atemzug am Zielort. 

Als sie bei Toni, dem leitenden Zwerg des Hornhauses - Waljas Hornzwerg - ankamen, trauten sie im ersten Moment kaum ihren Augen. Sie waren im Hinterland von Bjechtra gelandet, wo es von kleinen und mittelgrossen Bergseen nur so wimmelte. Sie standen neben Toni, der etwas abseits auf einem grossen Stein sass und lustlos eine Angelrute in der Hand hielt. Der ganze See war umrundet von angelnden Hornzwergen.  Es war totenstill. Kein Zwerg sprach mit dem anderen. Alle hielten mit entmutigter Miene eine Angelrute in den kleinen Zwergenhänden und starrten aufs Wasser. Anja, Liams Hornzwerg, in der Wahrnehmung genauso geschult wie ihr Meister, erspähte Liam vom anderen Ufer aus, wo sie sass, hüpfte vor Freude mit einem lauten Schrei ins Wasser und schwamm quer durch den See zu dem Leiter der Achubiad. Sie kraxelte das Ufer hoch und flog auf ihn zu. Dann umarmte sie ihn und wollte gar nicht mehr los lassen. Toni war nicht ganz so stürmisch, aber ähnlich intensiv, als er realisierte was geschehen war. Er begann zu weinen und schluchzte Walja ins Baumwollhemd. In die ganze Zwergenschar kam nun Bewegung.

Man hörte einen kleinen Zwerg in der Nähe, wie er Endlich! sagte und seine Angelrute in zwei Teile brach. Liam war sofort klar, was sich hier abgespielt hatte. 

Als die Zwerge den Kontakt zu den Gemeinschafter verloren hatten, gingen sie in die Zwangspensionierung, wie dieser Umstand in ihren Kreisen genannt wurde. Und Zwangspensionierung wurde unter Zwergen mit Fischen am Bergsee gleichgesetzt.

„Ihr habt euch alle zwangspensioniert?“, fragte Liam Anja.

Sie liess ihn los. „Was blieb uns anderes übrig! Ihr wart alle weg!“

„Aber wieso? Wieso sind wir weg? Auf unserer Seite funktionieren die Hörner einfach plötzlich nicht mehr. Wir haben mit allen Mitteln versucht dieses unbekannte Rätsel zu lösen, haben geforscht, haben meditiert, haben die Hörner mit speziellen Ölen gepflegt, aber hatten einfach keinen Erfolg. Wir wurden zwar durch einen Atombombenangriff auf das Zentrum in Istanbul abgelenkt, aber konnten das Problem selbst mit der Hilfe der Fforiwr, die wir beizogen, nicht lösen. Deshalb bin ich jetzt hier, um mit eurer Hilfe die Sache wieder ins Lot zu rücken. Das geht so nicht weiter!“

Anja schaute ihren Meister mir grossen Augen an.

„Auf unserer Seite fehlte einfach plötzlich der Landeplatz. Wir haben jeweils mitgekriegt, wie ihr uns gerufen habt, aber als wir in der Lichtkugel erscheinen wollten, fehlte dort die Resonanz. Man kann dort einfach nicht Fuss fassen, egal was man versucht. Wir haben‘s alle unzählige Male versucht - Gelegenheiten habt ihr uns ja genug gegeben - aber es wollte uns einfach nicht gelingen. Man rutscht dort ab und fällt ins Niemandsland. Also haben wir uns halt eben zwangspensioniert.“

Einige Hornzwergen versammelten sich um Liam und Walja und hörten dem Gespräch zu. Doch die meisten hatten ihre Angelrute irgendwo ins lockere Erdreich gestossen und waren jetzt in kleinen Gruppen unterwegs ins Tal nach Bjechtra. Das Auftauchen von Walja und Liam hatte die Zwangspensionierung abrupt beendet. So wirkt die Hoffnung.

Toni ergriff das Wort. „Wir müssen der Sache ein Ende bereiten. Lasst uns ins Fnöldür gehen und bei einem Holundersirup auf unsere Wiedervereinigung anstossen!“

Anja schloss sich dem Plan sofort an. 

„Prächtig! Und dazu essen wir frittierte Petersilienwurzeln an Biersauce!“

Sie schlossen sich dem Marsch nach Bjechtra an.

Kurz darauf waren sie in der Fnöldür-Schenke, die ihren Namen von dem kleinen Fnöldür Bach, der durch Bjechtra floss, erhalten hatte. Das besondere an der Fnöldür-Schenke war die Tatsache, dass das grosse Riegelhaus wortwörtlich über den Bach gebaut worden war, welcher nun durch das Restaurant floss. Die Tische in dem Wirtshaus waren nahe am Bach aufgestellt und so hörte man immer ein angenehmes Plätschern und ab und zu sah man Fischschwärme durchs Restaurant ziehen.

Der Tisch, an dem Walja, Liam und ihre Hornzwerge sich niederliessen, war bald von vielen Hornzwergen umrundet, die alle das Ihrige zur Lösung der Situation beitragen wollten. So war schnell eine rege Diskussion im Gange, während man am Holundersirup nippte und die frittierten oder gerösteten Petersilienwurzeln an Biersauce zu Leibe führte.  

Liam berichtete mir später, dass Cyfimiad auch in der Schenke gewesen war, aber mit einigen Freunden über das Cystadleauth gesprochen und Fjereng gespielt hatte und sich nicht wirklich für die Lösung des Problems eingebracht hatte, obwohl er zu den erfahrensten Zwergen gehörte. Das nur nebenbei, weil es wieder einmal aufzeigt, wie sehr Cyfimiad ein Suchtproblem hatte, unter dem vor allem ich leiden musste, nicht er. Aber ist das nicht auch ein Merkmal jeder Sucht, dass sie andere mindestens so sehr in den Abgrund zieht, wie den Süchtigen selbst? 

Während des Essens wurde viel gelacht, aber es gab auch heftige Meinungsunterschiede, was das Problem betraf. Fazit war, dass auch in der Zwergenwelt niemand verstand, was vorging. Man konnte lediglich die Tatsachen aus verschiedenen Blickwinkeln schildern; wie es sich anfühlte, was für Beobachtungen man angestellt hatte und so weiter, doch was wirklich vorging, entzog sich den Zwergen genauso wie den Achubiad und den Fforiwr.

Am Ende der Diskussion stand Toni, als Leiter des Hornhauses auf Zwergenseite, auf und fasste die Ergebnisse zusammen.

„Der Schluss muss lauten, dass man ihn nicht ziehen kann. Nein, wir können vorerst noch keine Schlüsse ziehen, müssen wir uns eingestehen. Wir werden in unmittelbarer Zukunft weiterhin keinen direkten Kontakt miteinander haben, und das wird so bleiben, bis wir das Problem behoben haben. Wir richten deswegen also einen Kurierdienst ein, der Post in beide Richtungen über das Hornhaus überbringt. Die Hoffnung wäre, dass unsere Brüder und Schwestern, die Morcyfeillgar, diesen Dienst übernehmen werden. Somit wäre das Kommunikationsproblem erst mal gelöst, was uns die Zwangspensionierung erspart, aber das Problem an sich muss noch gelöst werden. Hierzu arbeiten wir von beiden Seiten aus. Wir bilden drei verschiedene Gruppen: eine technische Gruppe, die sich mit dem Vorgang der Interface-Technologie auseinandersetzt, eine Schicksals-Gruppe, die sich mit den Pobol Awyr in Verbindung setzt, um heraus zu finden, ob es ein Schicksalsschlag ist, den wir so hinnehmen müssen, und eine Gegner-Gruppe, die erforscht, ob die Lledrith in irgendeiner Form für diese Sabotage verantwortlich zu zeichnen sind. So hoffen wir das Problem in möglichst kurzer Zeit zu lösen. Hab ich was vergessen?“, fragte Toni und setzte sich wieder.

„Nein, gute Zusammenfassung, Toni!“, sagte Walja.

Walja und Liam blieben bis spät in die Nacht hinein im Fnöldür. Die Zwerge sangen Lieder, inszenierten kleine Theaterstücke, und stellten den beiden Menschen Rätsel, was eine ihrer liebsten Beschäftigungen war.

Was ist grün, wird braun gemacht, ordnet die Gedanken und lässt auch den stärksten Krieger zittern?

Das war ein Rätsel, welches Anja Liam stellte.

Doch der Achubiad löste es ohne viel Anstrengung. 

 

(Lösung für die werten Leser am Ende des Nachworts)

 

2 Wunder und Staunen in Jakarta

 

 

Wunder und Staunen in Jakarta

 

 

„Es gibt drei Arten des Verklebens: 1) nicht Zuhören, 2) nicht Umsetzen, oder 3) nicht Dranbleiben; wir fassen sie zusammen unter dem Begriff: nicht Grundeln.“

 

Callineb Elwedig, Adnod 413

 

 

Jason Albright zog eine Augenbraue hoch.

„Diese Gemeinschaft hat keine Webseite?“

„Nein, es ist nicht eine Gemeinschaft, die bekannt sein will. Es ist mehr eine Gemeinschaft von Heilern, die Menschen in Not beistehen und die Entwicklung der Menschheit ins Gute vorantreiben will, aber das Ganze im Verborgenen tut. Deshalb gibt es keine Webseite.“, sagte Manush.

„Aber wie findet man denn heraus, dass es diese Gemeinschaft überhaupt gibt? Angenommen jemand möchte die Sache finanziell unterstützen?“

Manush schaute uns an. Es war klar, sie würde weiter ausholen müssen.

Man konnte ja nicht erwarten, dass man zu einem Arzt rein spazierte, ihm sagte Du ich gehöre zur Gemeinschaft und dieser dann vor Wonne in Ohnmacht fallen würde, ohne zumindest einige Fragen zu stellen. Nein, die Glückseligkeit würde ihn erst dann ereilen, wenn er den vollen Umfang der Aussage Wir gehören zur Gemeinschaft erahnen würde.

Also holte Manush aus.

„Die Sache ist etwas komplizierter. Aber ich will alles erklären.“

Sie räusperte sich und erhob sich, wie sie es immer tat, wenn sie länger zu sprechen gedachte.

„Diese Gemeinschaft gibt es seit Jahrhunderten. Sie ist so etwas wie ein Geheimorden mit ausschliesslich guten Intentionen. Sie will niemanden kontrollieren, nicht für den eigenen Nutzen einstehen oder die Geschichte so manipulieren, dass Geld in die Gemeinschaftskasse wandert. Sie besteht nur aus Menschen, die sich für das Wohl der Menschheit einsetzen und verleiht diesen Menschen besondere Fähigkeiten im Heilen, als auch in anderen Dingen. Diese Ärzte beherrschen beispielsweise den Röntgenblick und sie werden manchmal von Wesen aus anderen Galaxien in ihrer Arbeit unterstützt.“

Dr. Albright unterbrach sie. Er war sichtlich irritiert, versuchte das aber hinter einem Lächeln zu verstecken.

„Habt ihr euch im Datum geirrt? Wir haben nicht den ersten April, der ist schon geraume Zeit vorbei, Jungs und Mädels!“

„Nein, das ist kein Aprilscherz. Wir wurden erst gerade heute morgen von Ausserirdischen vor dem sicheren Tod gerettet ...“

„Graue Männchen?“, witzelte Jason.

„Nein, grosse Gestalten mit langen roten Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammen binden.“

Jason realisierte, dass Manush nicht mitlachte, dass sie es ernst meinte. 

„Manush, wir kennen uns doch schon eine kleine Zeit lang. Wieso erzählst du mir Märchen? Ich hab dich doch gutmütig bei mir im Haus aufgenommen. Willst du mich verulken? Ist das so eine Art Versteckte-Kamera-Sendung und ich werde an der Nase herumgeführt, so dass sich die Allgemeinheit amüsieren kann? Du weisst doch, dass ich als Jamu-Arzt sowieso schon gegen Vorurteile seitens der Kollegen kämpfen muss. Wieso erzählst du mir diese Märchen? Ich verstehe nicht ...“

„Jason, der Punkt ist, dass es keine Märchen sind. Es ist die Wahrheit und der einzige Grund, wieso ich dir das erzähle ist, weil du mich mit deiner Arbeit so beeindruckt hast, dass ich das Gefühl habe, auch du könntest von der Gemeinschaft profitieren. Und die Gemeinschaft von dir!“

„Ich hoffe schwer, dass du mich nicht einfach zu einem Witz machen willst. Du weisst, was ich durchgemacht habe, um diese Praxis zu eröffnen und um die Jamu-Medizin zu erlernen.“

„Ja, ich weiss. Und ich weiss auch, dass du Hoffnungen hast, die du nicht zeigst, und dass du auf einer gewissen Ebene von deinem Lehrer, dem Schamanen, enttäuscht wurdest, weil er seinen Aberglauben nicht ablegen konnte und keine magischen Fähigkeiten hatte.“

„Manush, das hab ich mir lange her abgeschminkt. Magische Fähigkeiten gibt es nicht, ausser in den Herr der Ringe-Filmen, oder bei Harry Potter. Aber ich verstehe immer noch nicht, wieso du mir einen Bären aufbinden willst? Was hab ich denn getan? Was soll das?“

Dr. Albright nahm die Sache weit weniger cool, als wir es uns erhofft hatten. Er hatte Tränen in den Augen und fühlte sich offensichtlich schon jetzt total verarscht.

Ich versuchte Manush zu unterstützen.

„Dr. Albright, Manush sagt die Wahrheit. Wir sind zwar alle um einiges jünger als Sie, aber vor nicht allzu langer Zeit wurden auch wir in die Gemeinschaft eingeführt, und niemand von uns konnte glauben, was uns erzählt wurde. Doch ich schwöre bei meinem Herzen, dass wir alle nur das Beste für Sie und Ihre Patienten wollen, und dass wir nie und nimmer etwas tun würden, was zu Ihrem Schaden wäre.“

Dr. Albright schwieg.

„Deine Worte mögen süss sein, James. Aber der Nachgeschmack bleibt bitter!“

Er wandte sich wieder Manush zu.

„Jetzt schenk mir mal klaren Wein ein! Um was geht es hier?“

„Es geht um deinen weiteren Weg als Arzt!“ Manush richtete sich an Eileen. „Steh mal auf, Eileen.“

Eileen erhob sich.

„Ich weiss, dass man all die Dinge, die ich dir heute noch erzählen werde, nur glauben kann, wenn man Beweise erhält. Und die wollen wir liefern. Es gibt Magie. Es gibt Ausserirdische. Es gibt Zwerge und es gibt menschliche Fähigkeiten, von denen die meisten Menschen nur träumen.“

„Wenn du das Beweisen kannst, sprechen wir weiter ... ansonsten muss ich euch bitten meine Wohnung zu verlassen! Ich lass mich nicht an der Nase rum führen, erst recht nicht zur allgemeinen Belustigung.“

Dr. Albright glaubte kein Wort. Und er hatte es satt Märchen zu hören.

„Gut, ich beweise dir, was ich sage. Wir haben vor einigen Wochen in unserer Ausbildung gelernt, wie man Organe ohne die Hilfe von technischen Mitteln untersuchen kann, wie man sie quasi sehen kann ohne einen Menschen aufzuschneiden oder mit einer Sonde in ihn reinzublicken. Weil die Amtssprache in der Gemeinschaft das Walisische ist, nennen wir diese Techniken Hud yr anatomeg - Magische Anatomie. Das will ich dir als erstes demonstrieren, weil es deinen Glauben an die Magie ein für alle Mal etablieren wird. Ich habe das in den letzten Wochen intensiv geübt, weil anfangs nur der Ausübende die Resultate sieht und es ein wenig dauert, bis man die Sache so beherrscht, dass auch andere die Dinge sehen können.“

Manush nahm die stehende Eileen ins Visier, klatschte in die Hände, wie wir es im Unterricht bei Sara gelernt hatten, und dazu sagte sie: „Cyhirau!“

Das hiess so viel wie Muskeln. Eileen verwandelte sich vor den Augen aller von einer jungen bildhübschen rothaarigen Frau in ein aufrecht stehendes Bündel Muskeln, wobei man an der Beinmuskulatur sah, dass das Aufrechtstehen kontinuierliches Ausbalancieren erforderte.

Jason Albright hatte eigentlich gerade seine Kaffeetasse in der Hand gehabt, aber die fiel nun geräuschvoll zu Boden, zerbrach in mehrere Teile und ergoss ihren Inhalt auf den schlecht versiegelten Holzboden.

Sein Mund stand offen. Aber Mundatmung ist sicher nicht nur ungesund.

„Das ... was ... wie ... aber ...“, stammelte er.

Manush klatschte erneut in die Hände, sagte aber ein anderes Wort dazu: 

„Stumog!“

Woher sie bereits all die walisischen Worte kannte, ist mir bis heute ein Rätsel, aber das war eben auch typisch Manush. Sie lernte mehr, als man ihrem schalkhaften Gemüt zutraute, und das oft im Geheimen, damit sie immer wieder mit einem Trumpf aufwarten konnte. Stumog heisst Magen auf Walisisch. 

Sofort verwandelte sich die stehende Muskelmasse namens Eileen in einen im Raum hängenden Magen.

„Ich ... aber ... wie ...“, sagte Dr. Albright.

„Wie gesagt, wir nennen diese Untersuchungstechnik Hud yr anatomeg und man lernt sie im ersten Ausbildungsjahr der Gemeinschaft anwenden.“

Eileen, welche zum Zeitpunkt, als wir das bei Sara gelernt hatten noch nicht in der Gemeinschaft gewesen war, verstand nicht was los war.

Weil sie uns ansah und nicht an sich selbst runterschaute, hatte sie gar nicht mitgekriegt, dass momentan nur noch ihr Magen in dieser Realität dargestellt wurde. Manush klatschte ein letztes Mal, worauf Eileen wieder ihre gewohnte Gestalt annahm.

„Was habt ihr alle?“, fragte Eileen.

„Später!“, erwiderte Manush. Sie wandte sich wieder Jason zu. 

„Du siehst, wir binden dir keinen Bären auf und auch kein anderes Tier. Die Gemeinschaft ist das beste, was einem als Mensch und Arzt passieren kann.“

„Kannst du das noch mal tun?“, fragte Jason.

„Sicher. Gareth steh du mal kurz auf!“

Kurz darauf sah man von Gareth nur noch das Gehirn und das Rückenmark und alle Hirn-und Rückenmarksnerven.

Jason ging näher an Gareth heran, während Eileen diesmal den offenen Mund hatte und deutlich oberflächliche Mundatmung praktizierte. 

„Kann ich ihn anfassen?“, fragte Jason.

Manush nickte. „Sicher, aber es ist nur dein Sehsinn, der dir diese Version von Gareth präsentiert. Dein Tastsinn wird dir eine andere Realität vermitteln.“

Jason fuhr mit seinen Händen die Stelle ab, wo sich Gareths Nacken befand.

„Tatsächlich. Dass es so etwas gibt! Stellt euch nur mal vor, wie genau Diagnosen mit dieser Methode gestellt werden können ... keine aufwändigen CTs oder Sonographien mehr, nur noch Hud yr anatomeg!“, sagte er.

„Wow, Sie sind aber schnell! Jetzt beherrschen Sie sogar schon einen walisischen Ausdruck.“, sagte ich.

„Nein, ich spreche fliessend Walisisch. Ich bin in Nordwales aufgewachsen und ging dort in eine Ysgol cymraeg.“

„Na, dann haben Sie uns ja etwas voraus. Wir müssen die Amtssprache erst noch lernen.“

„Aber das ist ja der reine Wahnsinn! Dann stimmt das alles, was du mir vorher erzählt hast, Manush? Das kann doch nicht sein. Warum weiss niemand von dieser Gemeinschaft?“

„Nun, es gibt viele, die von der Gemeinschaft wissen. Sie umfasst ungefähr einhundertfünfzigtausend Mitglieder, die über den ganzen Planeten verteilt leben. Aber grundsätzlich versucht die Gemeinschaft im Backstage-Bereich zu wirken. Dafür gibt es Gründe, aber die würden momentan zu weit führen.“

Jason setzte sich. Dann stand er wieder auf. „Also, erst muss ich mal den Kaffee am Boden aufputzen und die Sache einige Sekunden setzen lassen.“

Er holte einen Lappen und wischte den Boden trocken.

„Und es gibt noch andere solch magische Dinge?“

„Die Geschichte hat erst gerade begonnen!“

Jason goss sich eine frische Tasse Kaffee ein. 

„Unglaublich!“

„Ich könnte dir noch so viel zeigen, aber leider funktioniert in der Gemeinschaft momentan nicht ganz alles nach Plan. Es gibt da im Moment Komplikationen, aber wir können dir trotzdem noch einiges zeigen und dir beweisen, dass wir Menschen gehörig mehr Potential haben, als gemeinhin angenommen wird. Hast du daran Interesse?“

„Manush, natürlich habe ich daran Interesse! Alles, was meinen Patienten helfen kann, ist für mich von Interesse! Und gegen das Prinzip Hoffnung habe ich garantiert nichts, denn was du mir hier gezeigt hast, macht mir eine Menge Hoffnung.“

„Gut, dann lass uns ein wenig aufs Land fahren; dort zeigen wir dir Dinge, die deine Hoffnungen um ein zehnfaches steigern werden.“

„Ich habe sonst nichts mehr anderes vor.“

Jason Albright erhob sich, nahm seine Jacke von der Garderobe und hatte jetzt bereits das Leuchten eines Neu-Gemeinschafters in den Augen.

Wir nahmen am Hafen ein Schiff, das uns auf‘s Land ausserhalb der Metropole brachte. Es war der schnellste Weg um wirklich aus der Stadt zu kommen, hatte Jason uns versichert, weil die Vororte von Jakarta schier kein Ende nahmen, wenn man den Landweg nahm. Nach einer Stunde waren wir dann auch schon an einem idyllischen Strand, der sogar einen Schiffssteg hatte, so dass wir uns nicht mal die Füsse nass machen mussten.

Jason hatte mittlerweile keine Zweifel mehr, wieso sollte er auch? Er löcherte uns mit Fragen und jede einzelne Frage, die wir beantworteten, machte uns ein klein wenig stolzer zur Gemeinschaft zu gehören. Es ging nicht lange, da hatten auch wir wieder den Blick der Staunenden, weil uns wieder bewusst war, was für ein Leben wir eigentlich lebten. Jason wollte vor allem wissen, wie wir zur Gemeinschaft gefunden hatten, und so gaben wir alle unsere Story zum besten. Natürlich kamen wir dabei auch auf die Schwarzen Schlangen und die Lledrith zu sprechen, weil Eileens Geschichte ja wortwörtlich mit einer Entführung begonnen hatte, wenn man die kurze Episode, wo sie vom Wirken dressierter Leguane überzeugt gewesen war, beiseite legt. Trotzdem gaben wir ihm keine Details preis, weil wir den Überraschungseffekt der Demonstrationen nachher nicht vermasseln wollten. 

Kaum an Land, konnte Jason seine Neugier nicht länger zähmen.

„Was zeigt ihr mir als nächstes?“

„Zuerst müssen wir ein wenig in den Wald hinein. Die Leute hier am Strand sollen nicht sehen, was wir dir zu zeigen haben.“, antwortete Manush.

Der angrenzende Wald war zwar nicht dicht, aber doch verlassen und menschenleer. Wir gingen etwa dreihundert Meter ins Landesinnere einem Trampelpfad entlang.

„Hier wäre gut!“, sagte Gareth bei einer Weggabelung, die von schönen Farnen nur so strotzte. 

„Auf was muss ich mich vorbereiten?“, fragte Jason mit kindlicher Spannung.

„Also, wir haben dir ja erzählt, dass fast alles in der Gemeinschaft irgendwie mit Medizin zusammen hängt, deswegen habe ich dir auch als erstes die magische Anatomie gezeigt. Doch es gibt auch Dinge, die nicht direkt mit Medizin zu tun haben, wo es vor allem darum geht, dass das Leben als Gemeinschafter angenehmer wird.“

Jason lehnte sich an einen Baum an und nickte.

„Die magische Anatomie ist nicht die einzige Magie, die wir besitzen und beherrschen. Wir sind alle recht gute Kämpfer, weil wir in der Gemeinschafts-Kampfkunst Tair Fraich ausgebildet werden.“

„Tair Fraich? Das heisst drei Arme!“

„Ja, weil wir ihm Kampf immer einen Arm mehr zu haben scheinen. Das Training schaut so aus, schau!“

Manush forderte mich dazu auf mit ihr die Übung der rollenden Arme zu machen, was einigermassen spektakulär aussah.

„Ach, weisst du Manush, mit Kampftechniken hab ich nichts am Hut. Ich bin mehr am Heilen, als am Zerstören interessiert.“

Die rollenden Arme schienen nicht sehr zu imponieren.

„Und was hat das mit Magie zu tun?“

„Du hast recht. Wie wäre es, wenn wir fliegen könnten?“

„Das wäre schon besser, aber ich gehe davon aus, dass sich auch die Mitglieder dieser Gemeinschaft an die Naturgesetze halten müssen, zu denen die Schwerkraft eindeutig gehört. Ausserirdische kann ich mir erklären. Wieso sollte das Universum nur uns beherbergen? Die magische Anatomie ist mit der Quantenmechanik der Wahrnehmung sicher auch zu erklären. Aber fliegen? Ja, das wäre schön, wird aber sicher immer ein Menschheitstraum bleiben. Kommen wir wieder zurück in die Realität ... was ist das Nächste, das du mir zeigen kannst?“

„Ich könnte dir zeigen, dass der Mensch aber trotzdem fliegen kann, trotz der Schwerkraft und den Naturgesetzen.“

„Na, da haben wir wieder so eine Sache, die ich nur dann glauben würde, wenn ich sie mit eigenen Augen sehen würde. Ach ja, und ich kenne die Levitations-Techniken, welche die Strassenmagier anwenden. So einen Trick würde ich gleich erkennen, einfach falls du mit dem Gedanken liebäugelst ...“

„Ich denke nicht, dass ich das nötig habe.“

Manush formte ihr Zeichen. Sie hob sanft vom Boden ab und flog gute zwei Meter hoch, so dass ihre Füsse deutlich über Dr. Albrights Kopf waren.

„Ist das ein Levitationstrick?“, fragte sie.

Dr. Albright wurde jetzt sehr bleich. Gareth und ich stützten ihn, damit er das Gleichgewicht nicht verlor.

„Das ist doch unmöglich! Wie tut sie das? Sind das Nylonschnüre?“

Als er wieder für sich stand und nicht mehr wackelte, beendeten wir den Nylon-Erklärungsversuch. Wir flogen ebenfalls einen guten Meter hoch und Eileen tat es uns gleich.

Jason lehnte sich jetzt gegen einen Baum an. Nach etwa fünf Sekunden landeten wir wieder, da er doch recht wacklig auf den Füssen schien. Nach einem kurzen Schweigen hatte er sich wieder gefasst.

„Wo muss ich mich für diese Gemeinschaft bewerben?“

„So läuft das nicht. Es gibt kein Anmeldeverfahren. Wir wurden einfach in die Gemeinschaft eingeladen, weil unsere Eltern schon zu der Gemeinschaft gehört haben, obwohl sie uns das ein Leben lang verschwiegen hatten. Ich nehme an, dass wir dich irgendwie einladen können. Wir werden‘s heraus finden.“

Jason hatte grosse Augen, die fiebrig glänzten.

„Wie ist es da oben? Ich meine, wenn man ganz ohne Schwerkraft in der Luft schwebt? Ist es nicht befreiend?“

„Doch sicher! Es ist fantastisch! Vor allem die ersten zwanzig Mal oder so ...“

„Wenn ich das in meinem Leben erleben dürfte ...“, murmelte er mehr zu sich selbst, als zu uns.

Gareth blinzelte mich an. 

„Es gibt in Jakarta doch sicher einen Hangar, wo wir etwas Elwuyn auftreiben könnten?“

„Sicher, aber wie finden wir den ohne unsere Hornzwerge? Oder weiss jemand von euch, wo in Jakarta ein Hangar-Eingang ist?“, fragte Eileen.

Allen war klar, dass wir Jason das Fliegen ermöglichen wollten.

„Vera wüsste es sicher! Sie ist irgendwie nicht von den Zwergen abhängig ...“

Jason Albright hob die Hände defensiv hoch.

„Halt, halt, halt. Ihr wollt mir klar machen, dass es auch Zwerge gibt?“

Er schüttelte ungläubig den Kopf dazu.

Manush zog ihr Horn unter der Bluse hervor. „Ja, sie wohnen in diesen Hörnern, aber momentan haben wir den Kontakt zu ihnen verloren und verstehen nicht wirklich wieso. Aber du wirst sie früh genug kennenlernen.“

„Unglaublich, aber mehr Beweise brauche ich nicht mehr. Mein Zweifel ist beseitigt und mein Vertrauen gehört euch!“

„Und die versteckte Kamera dort oben in den Bäumen? Die stört nicht mehr?“, sagte Gareth. Sein Lausbubentum ging wieder mal mit ihm durch.

Jason blickte instinktiv zu den Bäumen hoch, fasste sich jedoch gleich wieder. Er packte Gareth an den Schultern und verpasste ihm einen freundschaftlichen Schlag auf den Brustkasten.

„Und was ist ein Hangar?“, fragte er danach.

„Das wirst du bald sehen.“, sagte ich. 

Ich begann laut mit meiner Leber zu sprechen, denn wie wir erst kürzlich herausgefunden hatten, waren meine Leber und Vera Mrat immer noch ein Team.

„James Hauptzentrale ruft Vera Mrat!“

Keine Sekunde verging, da erhielt ich eine Antwort.

„Hier Vera Mrat, was wünschen James Hauptzentrale?“

„Können Sie mit dem Holer hierher kommen oder uns sagen, wo in Jakarta ein Hangar zu finden ist?“

Es knackte im Buschwerk. Dann hörten wir ein Grunzen.

Die Frau war echt schnell, auch wenn ihre Küchenmedizin morsch war, das musste man ihr lassen. Und zuverlässig, zuverlässig war sie auch.

Wir drehten uns dem Grunzen zu. Sie war gerade am Absteigen. Der Holer hatte bereits damit begonnen die Waldfläche mit seinen Zähnen zu roden. Er tat sich genüsslich an all dem saftigen Kraut auf dem Waldboden.

„Was...?“, sagte Jason, der schon wieder an einer Erweiterung seines Weltbilds arbeitete.

„Das ist Vera Mrat, Jason. Sie ist unsere Lehrerin für Küchenmedizin und kommt aus einer anderen Galaxie.“, sagte Manush.

Vera hob den Fuss. 

Würde ihr je jemand ihr Missverständnis mit unseren Begrüssungsriten erklären?

„Angenehm bin ich berührt durch Ihre Präsenz!“, fügte sie dem gehobenen Fuss an.

Jason streckte ihr seine rechte Hand hin. 

Sie war irritiert. Ich tat meine Hand auf die seine und drückte sie wieder hinunter. Wir wollten Vera nicht verwirren.

„Vielen Dank für dein rasches Erscheinen, Vera!“ Mein Fuss war oben.

„Gibt es hier in Jakarta einen Hangar? Das ist die Frage, die uns veranlasst hat, dich hierher zu bitten.“

„Seit das Zwergenreich wurde versiegelt von dem Menschenreich, viele Gemeinschafter trauen in die Dienste des grossen Sombrero. Wir sind jetzt vier Helfer aus Sombrero, die für solche Informationen stets zu Diensten sind. Es ist eine willkommene Abwechslung für meines Hauptzentrale, weil ich so viele neue Dingen sehe und mitbekomme.“

Sie liess sich abrupt auf den Boden fallen und kroch zu meinem Fuss, den sie fest in ihre Hände nahm und stürmisch drückte.

„Vielen Dank für dieses Auftrag! Wie sonst wäre ich je ins Reich von das Indonesien gekommen, wenn es nicht Eure Güte wäre?“

Das Drücken an meinem Fuss tat weh. Behandelte sie gerade noch irgendwelche Akupunkturpunkte an meiner Fusssohle?

„Gibt es einen Hangar hier?“, fragte Eileen, die an meinem Gesichtsausdruck erkannt hatte, dass die Danksagung an meinen Fuss mir Unwohlsein bereitete.

Vera stand wieder auf. „Ja, das Hangar ist nicht weit weg von hier. Es gibt siebzehn Eingänge in dieses 30 Millionen Seelen Stadt. Das nächste Eingang von hier ist am besten von das Meer her zu erreichen. Haben Sie das Schiff?“

Da kam mir plötzlich eine Idee, die das Unterfangen noch einfacher machen würde.

„Wir haben kein Schiff, Vera. Der Mann, der uns hierher gefahren hat, ist wieder nach Jakarta zurück gegangen. Aber ich habe eine Idee, die die Sache noch einfacher machen würde. Darf ich kurz den Holer verwenden?“

„Sag mir mehr über das Gedanken ...“

„Der Holer könnte mich schnell in den Hangar bringen, dort hole ich, was wir brauchen, und dann kann er mich wieder hier her bringen. Somit müssen wir nicht alle in den Hangar.“

„Deines Gedanken sind logisch. Das wird dem Holer gefallen. Wir fragen ihn.“

Sie pfiff nach dem Holer, der sich ein wenig entfernt hatte und interessiert den Waldboden abschnüffelte. Kaum hatte er den Pfiff gehört stand er schon neben Vera, obwohl er sich nicht hierher bewegt hatte. Er schien, wo immer möglich, eine Abkürzung durch geistige Gefilde zu nehmen. Jedenfalls konnte man nicht beobachten, wie er sich vom einen Ort zum anderen bewegte, wenn er nicht gerade am Schnüffeln war.

Vera bückte sich zu dem Wildschwein hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann blickte der Holer mich an. Es war ein kalter, objektiver Blick, als betrachte er eine Kuckucksuhr, um die Zeit zu lesen. Dann stand das Wildschwein plötzlich neben mir.

„Das Holer ist einverstanden.“, dokumentierte Vera.

Na dann, nichts wie los, dachte ich. Ich stieg auf und nahm auf dem borstigen Rücken Platz. Die Umgebung änderte sich sofort. Wie auch immer das funktionierte; einen Augenblick später war ich im Hangar von Jakarta.

Jason Albright hätte vor Freude getanzt. Statt des Tee-Shops gab es hier einen Laden, der gross mit dem Schild JAMU HERBAL REMEDIES angeschrieben war. Ich stieg vom Holer ab, ging schnurstracks an den Dwr Mawr-Schaltern vorbei und zur Abflugszone, wo ich einen Behälter mit Elwuyn zu finden hoffte. 

Es war traurig, all die Gemeinschaftsanlagen so verlassen vorzufinden. Vor allem, wenn man wusste, wie sehr es unter normalen Umständen an diesen Orten vor Leben nur so strotzte. Neben der Startbahn war wie immer ein Käfig mit lärmenden Fluglotsen. Der Käfig war offen, wie immer. Links daneben stand dann auch der obligate Elwuyn-Behälter. Ich roch an dem Gebräu: Kokosnussmilch.

Wunderbar. In Frankreich gab es Elwuyn auf Orangensaft-Basis. In Griechenland war es Elwuyn in Schafsmilch. Und hier wurde Elwuyn in Kokosnussmilch serviert. Ein wahrlich lokales Business, dieses Elwuyn.

Als ich mich zum Holer zurück begeben wollte, hielt ich kurz inne. Etwas hatte sich soeben in meinem Inneren verändert. Irgendeine Verschiebung in meiner Lebenskraft hatte stattgefunden, was ich immer daran ablesen konnte, dass ich mich plötzlich anders fühlte; und das, ohne ersichtlichen Grund. Ich stand still und horchte in mich hinein. Das Gefühl wurde stärker. Was war das? Angst? Tatsächlich, ich fühlte Angst, wurde mir klar. Aber Angst vor was? 

Oder missinterpretierte ich die Vorfreude auf den Elwuynflug mit Jason Albright als Angst? Dann bemerkte ich, dass es sich nicht nur um Angst handelte, sondern dass ich auch Wut in mir spürte. Aber wieder: Wut auf was oder auf wen?

Dann wurde plötzlich alles klar. Mein Inneres hatte auf die nahe Zukunft reagiert, da es immer im Kontakt mit der Zukunft war. 

Ich hörte Stimmen.

Instinktiv wusste ich, dass es sich nicht um Stimmen von Gemeinschaftern handelte. Die Stimmen sprachen abrupt und der Austausch erinnerte mehr an einen befehlerischen Informationsaustausch, als an ein Gespräch. Ich versteckte mich hinter der Mauer, welche die Abflugrampe vom Verbindungsgang zur Halle trennte. 

Es war Englisch, was die Stimmen sprachen. Das waren ganz sicher keine Gemeinschafter, denn ausser uns Studenten sprach kein Gemeinschafter Englisch, um sich zu unterhalten. Walisisch war nicht nur die Amtssprache der Gemeinschaft, sondern genauso die Alltagssprache aller Mitglieder. 

Es schien sich um einen Schichtwechsel zu handeln. Ich hörte wie ein Mann mit dunklem Timbre in der Stimme sich verabschiedete. Dann, wie mehrere Männer miteinander sprachen ohne sich wirklich zuzuhören.

„Lasst uns den ganzen Ort noch einmal absuchen, bevor wir vor dem Wasser Stellung beziehen ...“, sagte schliesslich eine Frau, die das Kommando zu haben schien. Ich hatte noch nie eine Frau im Kreis von Schwarzen Schlangen gesehen. Handelte es sich um eine Frau aus Mittletans Armee? Die Schritte der Gruppe hallten durch den leeren Hangar. Zuerst wurden sie leiser, doch dann wieder lauter und ich realisierte, dass die Gruppe sich auf mich zubewegte. Hatte der Holer sich versteckt? Wieso hatten sie das Wildschwein nicht entdeckt, das doch mitten in der Halle stand?

Konnte ich wegfliegen? Mit einem kurzen Blick zur Seite sah ich, dass das Dach der Abflugrampe geschlossen war und nur ein Spalt offen war, der für die Fluglotsen gedacht war. Im Notfall würde ich an die Hangardecke fliegen können und dann einen beliebigen Ausgang nehmen können, aber hier war ich gefangen. Die Decke im Abflugbereich war nieder und wurde erst in der Halle etwa sechs Meter hoch.

Ich hörte wie die Gruppe jetzt den Gang zur Abflugrampe hinunterkam. Geradewegs auf mich zu. Noch drei Sekunden und sie würden mich hinter der Mauer stehen sehen. Wäre ich doch nur bei dem Tarntraining dabei gewesen, durchfuhr es mich. Vor meinem Inneren Auge sah ich Cyfimiad, wie er mit seinen Freunden Fjereng spielte, anstatt mich zum Unterricht von Ahmed zu geleiten und mich rechtzeitig zu wecken. Doch das war alles ein alter Zopf. Mir wurde klar, dass ich meinen Weg in die Halle würde freikämpfen müssen. Wenigstens hatte ich die Überraschung auf meiner Seite. Den Becher mit dem Elwuyn stellte ich auf den Boden. Mit einem Becher in der Hand würde ich kaum gut kämpfen können.

Dann, die Gruppe kam gerade nichtsahnend um die Ecke, stürmte ich hervor. Meine Faust landete aggressiv im Gesicht des ersten Mannes. Um mir selbst Mut zu machen, schrie ich meinen Schlachtruf dazu: „Alamashdà!“

Der erste Mann ging zu Boden. Doch diese Soldaten waren verdammt gut geschult. Ihr ganzes Leben drehte sich um das Kämpfen und um uns, den grossen Feind. Ich schlug sofort nach dem zweiten Mann in meiner Reichweite, dieser war jedoch bereits vorbereitet, so dass er meinen ersten Schlag geschickt abblockte und erst mein zweiter Schlag ihm die Rübe wackeln liess. Dann spürte ich wie unzählige Arme und Hände mich festzuhalten begannen. Und die beiden Männer, die ich zu Boden geschlagen hatte, standen bereits wieder auf. 

Gott sei Dank war ich seit der Operation durch das Notfall Team aus der Sombrero-Galaxie voller Energie und in guter Verfassung. Und die Geschicklichkeit, die ich mir in Gwagedd angeeignet hatte, war ebenfalls noch Teil meines Systems. Ich war schneller und kräftiger als die Schwarzen Schlangen, aber sie waren in einer fast unbezwingbaren Überzahl.

Wieso hatte ich nicht daran gedacht, dass die Hangare garantiert von Schwarzen Schlangen bewacht und beobachtet wurden?

Dank meiner Geschwindigkeit konnte ich mich aus den Umklammerungen und Griffen lösen und schaffte es tatsächlich mich zur Halle durchzukämpfen.

Ich flog sofort an die Decke und sah den Holer hinter einem Dwr Mawr-Schalter. Er hatte sich wirklich versteckt. 

Das Wildschwein wurde mir sympathischer.

Doch dann geschah etwas, das ich so nie erwartet hätte. Die Männer von Gregorys Armee standen unten und versuchten mich mit den Dwr Mawr-Verzeichnissen, echt dicken Wälzern, zu bombardieren. Sie warfen die dicken Bücher nach mir, welche recht wuchtig nach oben zu fliegen kamen. Auszuweichen war kein Problem, aber ich sah mit besorgtem Auge, dass nun eine der Schwarzen Schlangen mit Waffen angerannt kam. Der Mann hatte sie beim Eingang geholt, wo sie ihre Sachen gelassen hatten.

Das war ein Problem, aber meine Probleme holten eben erst aus. Eine Schwarze Schlange stand sich hintersinnend am Rand der Gruppe und hielt etwas in den Händen, und zwar den Becher mit dem Elwuyn, den ich bei der Mauer hingestellt hatte. Wie glücklich mich das machte! Wenn er richtig überlegen würde, und eins und eins zusammen zählen würde, dann würde er bald mit mir rumfliegen und wir würden zusammen in den Lüften kämpfen. Meine Vorfreude war grenzenlos.

Dann setzte er an. Jetzt gab es nur noch eins.

Ich schoss von der Decke dem Boden zu und steuerte den Gang an, der mich wieder zur Flugrampe bringen würde. Ich flog an dem bescheuerten Mann vorbei, der das Fliegen lernen wollte, und schlug ihm den Becher aus der Hand. Dummerweise kam ich aber zu spät. Mindestens die Hälfte des Elwuyn hatte er sich schon zu Leibe geführt. Er hob ab. Aber das musste mir jetzt egal sein. Ich düste in wahnwitzigem Tempo den Gang hinab, drückte auf den Knopf, der das Dach öffnete, und sprach gleichzeitig über meine Leber zu Vera Mrat.

„James Hauptzentrale an Vera. Brauche den Holer für die Rückreise nicht. Notfallmeldung an die Achubiad: Die Schwarzen Schlangen wissen jetzt vom Elwuyn bei den Flugrampen in den Hangaren. Unbedingt alle Elwuyn-Behälter entfernen! Ich treffe Manush und die anderen bei Jason vor der Wohnung. James Hauptzentrale aus.“

Dann nahm ich den Behälter mit dem Elwuyn. Ich hörte, wie die Schwarzen Schlangen durch den Gang gerannt kamen. Schon wieder. Das Dach über mir war jetzt einen Meter weit offen und glitt gemächlich auseinander. Genau in dem Moment, als ich durch den Spalt im Dach glitt, hörte ich die ersten Schüsse. Doch sie waren zu spät. Ich war weg und mit mir der ganze Behälter mit dem Elwuyn.

Aus meiner Leber kam eine Bestätigung.

„Achubiad sind informiert. Holer ist wieder bei uns. Nachricht an Manush wurde an ihres Hauptzentrale weitergeleitet. Vera Hauptzentrale auch aus.“

Mehr konnte ich nicht tun.

Ich blickte um mich. Die Orientierung in einer Stadt, die man nicht wirklich kennt, richtet sich nach dem Offensichtlichen. Links war die Küste, rechts in der Distanz hörte irgendwann die Stadt auf und der grüne Wald nahm seinen Anfang. Der Hangar hier, oder besser die Flugrampe, kam aus einer Fabrikhalle mit einem Flachdach. Ich schwebte über einem industriellen Teil der Stadt, was nicht schlecht war, weil die Leute hier sicher besseres zu tun hatten, als mit ihren Blicken den Himmel abzusuchen. Bevor die eine Schwarze Schlange das Navigieren lernte und mich verfolgen würde, flog ich zum Rand des Industriequartiers und landete. Mit dem halben Becher Elwuyn, den der Mann getrunken hatte, würde er eine gute halbe Stunde schwerelos sein. Zum Glück hatte ich es geschafft den Rest des Getränks sicher zu stellen. 

Mit dem Behälter unter dem Arm machte ich mich auf die Suche nach einem Taxi. Jason Albrights Adresse hatte ich mir gemerkt. Solche Dinge begann man automatisch zu tun, wenn man es immer mit einer unbekannten Zukunft zu tun hatte, in der man sich verirren konnte und plötzlich alleine war.

Bevor ich jedoch das Taxi bestieg, wechselte ich mein malaysisches Geld, das ich noch übrig hatte, in indonesisches Geld.  

Eine Stunde später war ich - nach viel Stau - vor Jasons Haus. Es war noch niemand dort, also wartete ich.

Wie oft kann man an einem Tag dem Tod entfliehen? Hatte ich mehr Glück als Verstand? Wahrscheinlich war das eine richtige Einschätzung meiner Situation. Ich würde unbedingt lernen müssen, mein Leben ein bisschen weniger gefährlich zu gestalten. Nahm ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Nicolas David Carter
Cover: Liam Carter
Lektorat: Magdalena Carter
Tag der Veröffentlichung: 29.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5186-1

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