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Einführung

Einführung

 

 

Wiederum übergebe ich der Öffentlichkeit eine Fortsetzung meines Berichts. Obwohl immer noch ein Erstklässler und noch nicht allzu lange mit Gemeinschafts-Dingen vertraut, wurde ich immer tiefer in den Kampf zwischen Gut und Böse hinein gezogen. 

Natürlich nannte man den Kampf in der Gemeinschaft nicht so, sondern betrachtete ihn als eine Folge des Erkenntniskampfs, den jeder Mensch in sich selbst gegen die Kräfte der Illusion, die Lledrith, führen musste. Aber letztendlich war er genau das: der Kampf zwischen dem Hoffnungsvollen und dem Abtötenden, zwischen Licht und Dunkel, zwischen Hilfe und Trostlosigkeit.

 

Meine Ausbildung zum Arzt schien oberflächlich an Wichtigkeit zu verlieren, während meine Rolle als Co-Retter der Menschheit sich in den Vordergrund drängte, aber der Schein trügte. 

Alles, was ich und meine Mitstudenten durchmachten, diente in irgend einer Form dem Grundeln, dieser mysteriösen Tätigkeit, der alle Gemeinschafter so viel Bedeutung zusprachen und die in der Ausbildung so hoch gehandelt wurde. Das Grundeln war etwas, das ich damals noch nicht wirklich verstehen konnte. Einerseits, weil wenig Direktes darüber gesagt worden war, andererseits, weil es tatsächlich eine komplexe Angelegenheit ist. Doch das Grundeln war ein wichtiger Teil der Ausbildung, und wo ich die Kämpfe und Schlachten nur als unsere Antwort auf den Angriff des Bösen verstand, waren sie doch nichts anderes als intensives Grundel-Training.

 

Ich hoffe, es wird mir gelingen, dies in meinem Bericht deutlich zu machen.

 

Aberystwyth, im Dezember

James Tannot

 

Interludium

 

Interludium

 

An die Redaktion der London Times

 

 

Fehlende Begrüssung. Sie wissen ja wieso.

 

Ich bin irritiert. Bis jetzt war er die Zuverlässigkeit in Person; rettete mich immer, wenn ich der Rettung bedurfte; heilte mich oder Matthew, wenn wir der Heilung bedurften;  versprach mir neue Horizonte für mich zu eröffnen, wenn ich der Langeweile des Alltags die Stirn nicht mehr bieten mochte. Ein totaler Segen, der Schweizer.

 

Doch heute erschien er nicht. Ich wartete mit dem Grossen und mit Jacqueline an dem vereinbarten Ort, doch Heiri tauchte nicht auf. Wir warteten geschlagene drei Stunden, aber keine Spur von dem Mann.

 

Das ist mir sehr fremd, deshalb bin ich irritiert.

 

Ich wollte Sie einfach auf dem Laufenden halten. Aber mir ist nicht gross nach Schreiben. Ich hoffe einfach, dass ihm nichts zugestossen ist. Das wäre ein tragischer Verlust für mich, den Grossen und die Neue. Und für die Welt.

 

 

Tamara Rosenstein, PhD

Reading, UK

 

½ Der Tod schlägt zu

 

½ 

 

Der Tod schlägt zu

 

Oder: Der Feind im Inneren ist auch ein Feind

 

Johnson war zurück. Die Nachricht hatte den Ostkomplex wie ein Tornado durchfegt. Er war ein Vorbild für viele Anhänger der Sache gewesen, und wenn er abgesprungen wäre, dann hätte er vielleicht doch den einen oder anderen nach sich gezogen. Mittletan war also froh Johnson zurück zu haben, wenn ihm auf der anderen Seite die Sache auch suspekt war. Um sicher zu gehen, dass Johnson noch immer für dieselben Ziele einstand wie er, gab er Fabio den Auftrag Johnson während der nächsten Tage zu überwachen. Lieber misstrauisch und sicher, als blauäugig und halbtot, sagte er sich. 

Doch Johnson war nur ein Nebenthema. Das Hauptthema war eindeutig der nächste, grosse Schachzug, der anstand. Die Schwarzen Schlangen waren ein mächtiger Verbündeter. Mittletan musste sich wohl oder übel eingestehen, dass er nicht nur einen Trittbrettfahrer an Bord gelassen hatte, sondern einen Co-Piloten, einen potentiellen Gegner, der ihm seine Position streitig machen konnte. Es ging also darum Klarheit zu schaffen. Er musste seinem Möchtegern-Partner klarmachen, dass seine Truppen mindestens genauso gut ausgebildet waren, wie die seinen, damit er nicht auf falsche Gedanken kam. Und das entsprach auch fast der Wahrheit. Vielleicht waren Mittletans Truppen nicht ganz so gut ausgerüstet und ausgebildet, wie die Schwarzen Schlangen, aber dafür wussten seine Leute für was sie kämpften und waren nicht nur Söldner. Gregorys Männer waren engstirnige käufliche Waffen, die überall dort bereit waren ihr Blut zu vergiessen, wo der Preis stimmte. Zumindest sah Mittletan die Schwarzen Schlangen so.  

Er musste sich heute dem Mann gegenüber positionieren, vielleicht gerade wegen des grossen Schachzugs, der anstand. Gregory hatte mittlerweile sein eigenes Büro im Komplex. Das stand jedem Strategen zu, hatte Mittletan beschlossen, weil es dem Fussvolk der Sache klarmachte, dass sie sich unterzuordnen hatten.

Mittletan ging nachdenklich zu Gregorys Büro, wo die Besprechung des nächsten Schachzugs stattfand. Er musste heute einen Trumpf spielen, damit dieser ihn weiterhin als Boss anerkannte. Doch je mehr er überlegte, desto mehr realisierte er, dass er keinen Trumpf hatte. Auf jeden Fall keinen anderen Trumpf als die Tatsache, dass er der Mittelsmann zu Tchar war. Und das wusste Gregory bereits, würde ihn also nicht weiter beeindrucken. Trotzdem, Gregory wurde immer frecher und arroganter, das spürte Mittletan eindeutig, und deshalb musste er jetzt mit aller Kraft auffahren, die ihm zur Verfügung stand, wenn es schon kein Argument gab, das ihn in Schach zu halten versprach. 

Vor der Tür zu Gregorys Büro blieb er noch einmal stehen. Er würde bluffen müssen, wollte er seine Autorität nicht einbüssen. Mittletan atmete hörbar tief ein. Dann trat er ein ohne anzuklopfen.

„Gregory! Sind Sie bereit für die Planung meiner Offensive gegen die Gemeinschaft?“, fragte er laut, kaum war er drinnen.

Doch nachdem er das Zimmer betreten hatte, riss ihn jemand von hinten zu Boden und die Tür wurde zugeknallt. Mittletan war kurz orientierungslos. Dann blickte er hoch. Auf dem Pult sass Gregory mit einem arroganten Lächeln. Links und rechts neben dem Pult standen Schwarze Schlangen. Beide Männer hatten eine Knarre in der Hand, die auf ihn gerichtet waren.

„Was soll das?“, fragte Mittletan aufmüpfig, obwohl er bereits spürte, wie der Mut ihn verlies.

„Wir wollen heute einige Dinge klar stellen.“, sagte Gregory kühl und langsam.

Mittletan zwang sich dazu aufzustehen, aber kaum hatte er sich erhoben, wurde er wiederum von hinten auf den Boden gezerrt.

„Was soll das?“, fragte er noch einmal, doch jetzt tönte die Frage bereits eingeschüchtert.

Gregory liess sich Zeit. Er betrachtete Mittletan von seinem Thron herab.

„Sie sind doch nichts als ein kleiner Geschäftsmann, der ein tolles Geschäft wittert, Mister Mittletan! Sie haben weder die Kraft, noch die Ausdauer und den Mut die Sache für Tchar richtig durchzuführen! Sie sind ein verängstigter kleiner Pudel, der sich als Wolf verkleidet hat. Ich habe Sie bereits bei unserem ersten Treffen durchschaut!“

Mittletan fühlte sich gedemütigt. So laut wie er konnte schrie er nach seinen Wachen.

„Fabio! Johnson!“

Doch die Schwarzen Schlangen lächelten nur über seinen Versuch sich aus der Misere zu befreien.

„Ihre Wachen hören Sie nicht, Mister Mittletan! Die sind alle in der Mensa versammelt und warten auf Ihre Präsentation.“

„Was für eine Präsentation?“

„Sie werden in knapp fünf Minuten öffentlich bekannt geben, dass Sie die Führung an mich abtreten!“

Mittletan glaubte sich zu verhören. Er schnaubte verächtlich.

„Nur über meine Leiche!“

Gregory setzte eine mitleidsvolle Visage auf. 

„Wie Sie meinen! Peter, blas ihm den Kopf weg!“

Mittletans Blut gefror ihm in den Adern. Das würden sie nie wagen! Wer würde mit Tchar verhandeln, wenn nicht er? 

„Ja, Sir!“

Der Mann rechts von Gregory machte einen Schritt vorwärts, lud seinen Revolver durch, und trat an Mittletan heran.

„Das würden Sie nie und nimmer wagen!“, hauchte Mittletan ungläubig und verzweifelt. Er klammerte sich an den Gedanken.

Mittletan hörte weder den Schuss, der ihm durch die rechte Schläfe ins Gehirn drang, noch kriegte er mit, wie die Schweinerei nachher weggewischt wurde. Er hatte einfach einen falschen Schachzug gemacht.

Mittletan war Vergangenheit. Für immer.

 

Gregory wandte sich anschliessend an die Anhänger der Sache. Grosskotzig behauptete er, dass Mittletan ihn befördert habe, und selbst nach China gereist sei, um die Sache dort aufzuziehen. Später würde er die Leute dann über den tragischen Unfall von Mittletans Privatjet informieren. Niemand ahnte etwas. Dann leitete Gregory die nächste Phase im Projekt ein. Er verteilte den Schwarzen Schlangen und seinen neuen Truppen die Adressen der identifizierten Gemeinschaftsmitglieder und hiess sie die Leute auszulöschen. Er machte sich nicht die Mühe, den Begriff auslöschen näher zu definieren; mochte sich jeder selbst ausdenken, was es hiess.

„Und wenn ihr zuhause niemanden antrefft, dann will ich, dass ihr die Buden auf den Kopf stellt! Ich will wissen, wo sich diese Gemeinschafter aufhalten. Es gibt immer eine Spur, die nicht verwischt wurde. Mister Tchar wird euch für eure Genauigkeit dankbar sein.“

Es schien, dass die Leute auf einen neuen Führer gewartet hatten, denn kurz darauf war die Mensa leer. Alle hatten sich an die Arbeit gemacht. Gregory instruierte die Truppen in den anderen Komplexen in gleicher Weise. Der Gemeinschaft blühte ein sang- und klangloses Ende.

Und was Tchar anging, so musste er jetzt mit ihm, Gregory, verhandeln, ob ihm das passte oder nicht. So jedenfalls sah der Führer der Schwarzen Schlangen die Sache.

Eine Stunde später verscharrten zwei Schwarze Schlangen Mittletans Überreste in einem nahen Wäldchen, während auf der ganzen Welt Schwarze Schlangen im Verbund mit den Anhängern der Sache die Häuser und Wohnungen von Gemeinschaftern auf den Kopf stellten. Nirgends war irgendjemand anzutreffen, aber die Soldaten schöpften bald einen Verdacht, den sie sofort an Gregory weiterleiteten.

 

Die Wohnungen sind leer, müssen von einer Sekunde auf die andere verlassen worden sein. Es riecht nach Flucht. Wie wir aber feststellen, befinden sich in fast allen Wohnungen und Häusern dieser Gemeinschafter Ansichtskarten von Istanbul. Das riecht verdächtig. Die Stadt muss eine besondere Rolle in der Gemeinschaft spielen. Wir warten auf neue Befehle. Oberleiter 27.

 

So lautete ein zusammenfassendes Email, das Gregory noch am selben Abend erhielt. Die Antwort war schnell an alle Oberleiter und alle Strategen der Sache versandt:

 

Suche auf Istanbul fokussieren. Ich erwarte Resultate! Mister Tchar will das Projekt in die nächste Phase überleiten. Gregory

 

P.S. Für jeden toten Gemeinschafter winkt ein Bonus.

 

1 Kampf und Untergang in Istanbul

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Kampf und Untergang in Istanbul

 

„Wir denken und kommunizieren in Worten, doch der grösste Teil der Schöpfung verwendet eine breitere 

Sprache: wir nennen sie Erlebnisse. Jedes Erlebnis ist eine Kommunikation. Und erst wenn du das anerkennst, 

kannst du damit beginnen, Gespräche zu führen.“ 

 

Callineb Elwedig, Adnod 300

 

 

Am frühen Morgen wachte ich in einem ADVF-Sessel auf. Ich musste vor Erschöpfung eingeschlafen sein, während ich in den biographischen Daten Mittletans umher gesurft war, um Small Owl und Vero zu helfen. Vielleicht war ich auch eingeschlafen, weil sein Leben so trostlos und langweilig war. Wahrlich kein James Bond Streifen.

Ich blickte um mich und stellte erleichtert fest, dass ich nicht der Einzige war, der vom Schlaf übermannt worden war. Neben mir schlief Manush. Sie sah in dem riesigen Sessel aus wie ein kleines Mädchen. Den Kopf auf der Lehne, verdeckten ihre Haare ihr Gesicht, und die angewinkelten Beine, die sie zum Bauch hochgezogen hatte, umfasste sie mit ihrem rechten Arm. Die wenigen Sekunden, die ich sie so daliegen sah, machten mir klar, dass ich in den kommenden Tagen nicht nur für die Gemeinschaft und die Welt kämpfen würde, sondern auch für eine Zukunft mit Manush, einem Wesen, das direkt aus meinen schönsten Träumen entsprungen schien.

In den anderen ADVF-Sesseln schliefen oder forschten Lara, Leonardo, Vero und Eileen.

Small Owl stand etwas abseits vor den Fenstern mit der imposanten Aussicht auf die Schweizer Berge. Doch als ich zu ihm rüberging, stellte ich fest, dass auch er schlief. Oder war er vielleicht an einem seiner berühmten Ahnentreffen? Jedenfalls waren seine Augen geschlossen und er war unansprechbar. Lediglich Gareth fehlte.

Ich blickte auf meine Uhr. Es war sieben Uhr dreissig. Eindeutig zu früh, um die anderen zu wecken. Es lag ein langer Tag vor uns, der Ergebnisse bringen musste. Leise ging ich in eine entfernte Ecke des grossen ADVF-Raumes, wo ich mein Horn aus meiner hinteren Hosentasche kramte. Die hintere Hosentasche einer Jeans war wie geschaffen für ein Horn von Cyfimiads Grösse. Ich zitierte meinen Zwerg herbei. 

Cyfimiad sass auf einem Sofa in seiner Stube und schmuste mit seiner Katze.

„Guten Morgen!“, sagte er.

„Cyfimiad, ein Z-Mail an Gareth, bitte: Wo bist du, alter Pirat?“, flüsterte ich.

Wenig später kam die Antwort.

„Bin in Paris in einem Café gegenüber dem Gare de l’Est. Kommst du auch? Die Croissants sind genial.“

Der Junge war von allen guten Geistern verlassen. Wie konnte er sich bloss so weit weg begeben? Oder hatte er vielleicht einen Achubiad dabei? In einem Anflug von ko-operativer Verrücktheit warf ich auch meine guten Geister über Bord. Nur eine halbe Stunde, redete ich mir ein. Dann ging ich zur nächsten Dwr Mawr-Stelle. 

Natürlich wusste ich, dass es unvernünftig war. Klar, wusste ich, dass ich den Schwarzen Schlangen alleine nicht gewachsen war. Aber ein gemütlicher Kaffee in Paris, noch dazu mit meinem besten Freund, dafür nahm man einiges in Kauf. Und vielleicht hatte Gareth ja wirklich einen Achubiad mitgenommen. 

Die Dwr Mawr-Station im Zentrum war verlassen. Typischerweise kontrollierte niemand, dass das Zentrum nicht verlassen wurde. Einmal mehr das Leitbild der Gemeinschaft in Action: Möge jeder für sich selbst verantwortlich sein.

Aus der Schublade des Check-In-Schalters nahm ich den Wälzer mit allen Antauch-Stationen hervor. Die Seiten liess ich unter meinem Daumen vorbei rieseln, bis ich beim Buchstaben P angekommen war, schliesslich musste ich wissen, ob der Gare de l’Est eine Dwr Mawr-Station hatte.

Paris hatte siebenundneunzig Dwr Mawr-Adressen. Der Gare de l’Est seiner zwei: Nord und Süd. Ich huschte also in die Garderobe, zog mich um, steckte meine Kleider in einen Transportsack und pirschte in den Tauchraum.

Fünf Minuten später hatte ich Gareth bereits gefunden. 

Er hatte sich jedoch nicht die Mühe gemacht, sich um adäquate Kleidung zu bemühen. Er sass in seinem grünen Umhang an einem Bistro-Tisch, hatte die Füsse nonchalant auf den Stuhl gegenüber gelegt und hielt eine dicke Zigarre in der linken Hand, während er mit der rechten die Espresso-Tasse zum Mund führte und daran nippte.

„Ein Pirat mehr!“, begrüsste er mich.

„Junge, bis du übergeschnappt? Erkennst du nicht die brenzlige Weltlage, in der sich dein erlauchter Arsch befindet?“

„Lass mich! Ich bin am Feiern. Setz dich zu mir und kauf dir eine Zigarre, dann wollen wir festen, dass die Wände wackeln!“

Ich setzte mich rechts neben den Piraten. Bei dem Kellner, der sich mir vorsichtig näherte, entschuldigte ich mich für Gareths Benehmen und Aussehen, und bestellte mir zwei Croissants und einen Milchkaffee.

„Was gibt es zu feiern? Die Welt gondelt in eine Katastrophe und du zelebrierst hier dein Privatfest?“

„Ich habe die ganze Nacht durch geforscht! Und dann...“, er schaute auf seine Uhr „... vor genau einer Dreiviertelstunde wurde ich fündig!“

„Was hast du gefunden?“

„Den Moment des Panzers!“

„Bitte?“

„Ich habe den genauen Moment in Fabios Leben gefunden, wo er sich einen Seelenpanzer zugelegt hat!“

Ich verstand natürlich sofort auf was Gareth hinauswollte. Kurzerhand erhob ich mich und ging zu der Bar hinüber, wo ich mir ebenfalls eine Zigarre erstand. Der Kellner gab mir Feuer. Paffend setzte ich mich wieder neben Gareth.

„Ich bin voller Ohren!“

„Fabio ist ein verkanntes Genie. Er hat sein Leben lang photographiert, und dann plötzlich damit aufgehört, um sich zwei Tage später Mittletans Sache anzuschliessen. Verdächtig, nicht? Also habe ich nachgeforscht: Tatsache ist, Fabio hat sein bestes Photo, auf welches er immens stolz war, an einen internationalen Fotowettbewerb eingeschickt. Doch das Photo wurde von der Jury total missverstanden und von einem Kritiker hirnlos verrissen. Et voilà, Fabios ganzes Selbstwertgefühl kollabierte. Du musst wissen, sein Vater hielt das Photographieren immer für Mädchensache. Er hätte seinen Sohn viel lieber in einem Boxring zu Boden gehen sehen, und gab ihm das andauernd zu spüren. Fabio kämpfte aber trotzdem für sein Talent und seine Leidenschaft. Jahrein, jahraus wehrte er sich gegen seinen Vater und sah sich diesen einen wichtigen Wettbewerb gewinnen. Doch dann die Vernichtung. Verstehst du? Eine fragile, gepeinigte Künstlerseele wird von der Welt nicht verstanden, und um den Schmerz bewältigen zu können, legt sich Fabio einen Panzer zu. Dann trifft er Mittletan und schwups ... weg sind die Ideale: ersetzt durch Lügen.“

Der Kellner brachte mir meinen Milchkaffee und zwei Croissants.

„Der war aber ein fragiler Künstler, dein Fabio! Ich meine, man kracht doch nicht gleich zusammen, wenn jemand nicht schlau genug ist, wahre Grösse zu erkennen und einen deshalb in die Eier tritt!“

„Fabios Eier waren überfordert. Er hat sich die Sache halt zu Herzen genommen, aber wichtig ist, dass ich jetzt weiss, warum er zu Mittletan stiess.“

„Du hast recht.“, sagte ich.

Wir stiessen mit unseren Kaffeetassen an.

„Jetzt muss ich dem Mann nur noch einen Brief schreiben, sein Werk würdigen, ihn in den Himmel loben und überflüssig ist der Seelenpanzer!“

„Du bist ein Genie!“, übertrieb ich.

„Und das Gute daran ist: ich muss nicht einmal lügen. Seine Photos sind wirklich gut, soweit ich das beurteilen kann.“

Gareth griff unter den Tisch und holte einen Transportsack hervor. Seine Hand verschwand in dem dunkelgrünen Stoff und kam mit Block und Bleistift wieder hervor.

„Eigentlich bin ich hierher gekommen, um den Brief an Fabio zu schreiben. Hilfst du mir?“

Wir schoben Kaffeetassen, Aschenbecher samt Zigarren und Croissants an den Rand des Tischchens und starrten auf das Papier vor uns, während wir nach einer eleganten Eröffnung für den Brief suchten.

Das Resultat, welches drei Espressi später auf dem Tisch lag, war beachtlich. Der Brief musste eine Künstlerseele einfach in Flammen aufgehen lassen. Wenn Fabios Ideale durch diesen Brief nicht wieder Feuer fingen, dann war seine Seele durch die vernichtende Kritik des Journalisten gestorben. Dann würde nichts mehr zu machen sein, darüber waren wir uns einig.

Einen neuen Triumph vor den Augen, bezahlten wir und machten uns um neun Uhr französische Zeit auf nach Istanbul.

Der Eingang der Dwr Mawr-Station am Gare de l’Est war gut getarnt. Er befand sich in einer alten Lok, die auf einem Abstellgleis auf ihre Verschrottung wartete. 

Guter Dinge verstaute Gareth Papier, Bleistift und Restgeld, und ich meine Jeans und Hemd in die Transporthüllen. Dann hiess es Luft holen und los tauchen.

Ich weiss nicht, wieso ich es sofort spürte, als wir in Istanbul auftauchten. Eigentlich gab es nichts, das darauf schliessen liess. Vielleicht waren es die Früchte der Schulung in der Gemeinschaft, vielleicht eine Art siebter Sinn, oder schlicht und einfach die Tatsache, dass es nicht schwer zu erraten war, nach allem, was bereits vorgefallen war.

Gareth tauchte hinter mir auf. Er wollte mir gerade etwas sagen, aber ich hielt ihm meine Hand auf den Mund. Etwas war faul hier.

Gareth begriff sofort, dass ich nicht spasste. 

Es war nichts zu hören, dennoch standen mir meine Nackenhaare zu Berge. Vorsichtig schlichen wir aus dem Wasser zu der Garderobentür. Meine Muskeln waren plötzlich wie unter Strom, meine Sinne geschärft. Langsam öffnete ich die Tür. Verhaltene Stimmen drangen zu uns. Sehen konnte man nichts.

Eigentlich konnte es nicht sein, dass sich jemand in der Dwr Mawr-Station aufhielt. Alle Gemeinschafter waren im Zentrum, und zudem würden Gemeinschafter nicht flüstern, wieso auch?

Ich zog die Türe sanft wieder zu.

„Schwarze Schlangen?“, fragte Gareth. Er war bleich geworden.

„Ich vermute es.“

„Lass uns eine andere Station in Istanbul antauchen!“

Wir machten kehrt, doch in der nächsten Station erwartete uns dieselbe Situation. Ebenso in den vier weiteren, die wir antauchten. Überall dasselbe. Und die fünfte Station hätten wir besser nie angetaucht. Kaum streckte ich meinen Kopf aus dem Wasser, wusste ich es. Drei Schwarze Schlangen standen so nah am Wasser, dass ich nicht mehr zurück tauchen konnte, weil sie mir sofort den Weg abschnitten, indem sie in den Wassergang sprangen. Gareth kam einen Bruchteil einer Sekunde danach an die Oberfläche. Ein Mann, der in seinem langen Mantel ins Wasser gesprungen war, war halb auf Gareths Rücken gelandet, was diesen dazu brachte sofort nach Luft zu japsen und wie wild um sich zu schlagen. Im Nu hatte er die drei Männer am Hals, während von draussen vier weitere in den Tauchraum herein rannten. Bevor sich die Neuen auf mich stürzten, half ich Gareth, der noch kaum Tair Fraich-Unterricht gehabt hatte, aus. Doch Sekunden später waren wir umzingelt. Es hatte keinen Zweck sich zu wehren und die Kerle wütend zu machen. Es waren zu viele. Besser sich erstmal ergeben und überleben, als einen aussichtslosen Kampf zu führen und zu sterben, dachte ich. Demonstrativ streckte ich meine Arme in die Höhe.

„Wir geben auf! Tut uns nichts!“, sagte ich.

Wir wurden grob aus dem Wasser geschubst. Dann auf den Boden gezwungen. Einer der Kerle machte sich Platz und kam auf uns zu.

„Gehört ihr zur Gemeinschaft?“, fragte er. Ein Texaner, wusste ich sofort. Wir nickten. Dann holte der Texaner aus und schlug erst mich und dann Gareth ins Gesicht. Ich kippte zur Seite und blieb benommen liegen. Aus dem Augenwinkel sah ich verschwommen, wie der Anführer sein Handy hervor nahm.

Ich wusste, dass mir jetzt gleich etwas einfallen musste, sonst war dies hier das Aus. Verkrampft dachte ich mit brummendem Schädel nach; ein klares Denken war fast unmöglich. Trotzdem zählte jede Sekunde.

„Hier Oberleiter 16. Ich habe zwei Gemeinschafter. Ist Gregory da?“

Dann kam mir ein Gedanke, der vielleicht die Rettung sein konnte.

„Ja, ich warte.“ Der Oberleiter ging auf und ab.

Unter dem Schutz meiner verschränkten Arme machte ich das Zeichen, welches ich mit meinem Siaraduon vereinbart hatte. Es materialisierte sich im Winkel meiner Schulter und meines Brustkastens, so dass es von niemandem gesehen werden konnte.

Ich flüsterte so leise ich konnte.

„Harald, du musst Liam und Ahmed verständigen! Es geht um unser Leben. Renn, lauf was du kannst!“

Es nickte mir ernst zu und sauste an den erstaunten Schwarzen Schlangen vorbei ins Wasser. Als Wesen aus dem Zwischenreich zwischen Menschen und Zwergen konnte es nicht so wie Cyfimiad Distanzen überbrücken. Es war an normale Gemeinschafts-Transportmittel gebunden.

Einer der schwarzen Schlangen versuchte es zu fangen, kam aber zu spät.

„Gregory, hier Oberleiter 16. Wir haben zwei junge Männer dieser Gemeinschaft aufgegriffen. Willst du ...“

Er wurde scheinbar unterbrochen.

„... sofort töten? Geht in Ordnung!“ 

Der Mann, der etwa in unserem Alter war, also die fünfundzwanzig auch noch nicht überschritten hatte, beendete das Gespräch. Dann griff er in seinen Mantel. Kaltblütig, als handle es sich um nichts, lud er die Waffe, die er hervorholte, durch. Das Klicken der Mechanik hallte an den Wänden in dem engen Raum wider.

„Geht zur Seite!“, rief er seinen Männern zu.

Bar eines eigenen Willens traten die Männer zur Seite. Ich sah wie der Oberleiter die Waffe kühl berechnend auf meinen Kopf richtete. Dann machte etwas in meinem Gehirn klick. Ich nahm die letzten Bewegungen in Zeitlupe wahr, als klammere sich mein Geist an die letzten bewussten Eindrücke, die meine Sinne noch übermitteln konnten. Der Atem des Mannes war oberflächlich, seine linke Hand wanderte zum Lauf der Waffe, um das Gewicht zu stützen. Dann verlagerte er ein letztes Mal sein Gewicht. Sein Körper machte sich auf den Rückstoss der Waffe gefasst, und ich wusste instinktiv, dass dieser Mann nicht das erste Mal aus nächster Nähe jemanden erschoss. Der Film meiner Wahrnehmungen wurde noch langsamer. Ich sah entsetzt zu, wie sich der Zeigefinger am Lauf der Waffe zu krümmen begann. Wieso? Nur, weil ich mich wieder einmal nicht an die Regeln der Logik hatte halten können? Wieso musste ich Gareth in Paris besuchen, obwohl der ganze gesunde Menschenverstand dagegen rebellierte? Der Finger krümmte sich weiter und ich sah wie der Metallstift der Mechanik nach hinten gedrückt wurde. Einen Moment lang waren ich und der Finger des Oberleiters ein Wesen. Wir verschmolzen in der Notwendigkeit des Moments. In demselben Moment wusste ich, dass ich einen Traum gelebt hatte. Ich hatte etwas erreicht, was vielen Menschen versagt blieb: ich hatte einen Sinn in meinem Leben gefunden, ich hatte eine Familie mich liebender Menschen gehabt, ich hatte mein perfektes Gegenstück in Frauengestalt gefunden. Was wollte ich mehr? Wieso wollte ich länger leben, da ich doch Dinge erreicht hatte, die anderen Menschen nie vergönnt sind? Der Zeigefinger traf jetzt auf mehr Widerstand. Noch zwei Millimeter, dann würde die Welt sich ohne mich weiterdrehen. Ein Schrei in mir war der Ausdruck meines Lebenswillens, der sich nicht damit einverstanden erklären konnte, dass es schon vorbei sein sollte. Noch ein Millimeter.

Würde Manush mich vergessen? Wie ging ein Begräbnis in der Gemeinschaft vonstatten? Was würde meine Mutter tun, nachdem ihr einziger Sohn gestorben war? Würde meine Grossmutter mich auf der anderen Seite abholen? Wenigstens würde ich nicht alleine sein, da drüben.

Der Zeigefinger des Oberleiters drückte den Stift das letzte Stück weiter. Dann hörte ich den Anfang einer kleinen Explosion in dem Metallteil. Ohne dass ich mich wegdrehen konnte, oder dass mich jemand vor dem Ding in Schutz nahm, raste die Kugel im Schneckentempo auf mich zu. Das war’s also, sagte ich im Stillen. Schlecht war’s nicht gewesen, das Leben.

Doch dann war es plötzlich vorbei mit der Ruhe und der Langsamkeit. Einer elektrischen Entladung gleich flogen zwei Gestalten aus dem Wasser empor. Die eine stürzte sich auf den Oberleiter, während die andere mich in allerletztem Sekundenbruchteil zur Seite stiess. Die Kugel sauste an mir vorbei und bohrte sich in die Wand hinter mir.

Ich sah, wie ein kleiner goldener Krug durch den Raum flitzte. Sekunden später war es ganz still. Sieben Männer lagen am Boden und hielten sich die Köpfe. Es wurde in verschiedenen Tonlagen gewimmert.

Vor mir stand Liam, hinter Liam war Andrita.

„Lieber knapp, als zu spät!“, sagte er.

„Steht auf, wir müssen gehen! In der Stadt wimmelt es von Schwarzen Schlangen. Wir müssen unbedingt den wandernden Eingang finden. Er müsste in zehn Minuten drei Strassen von hier auftauchen. Geht es, ihr zwei?“, fragte er.

Während ich nickte, tauchten sechs weitere Gestalten aus dem Wasser auf: unsere Kollegen. Manush lief zu mir herüber und fiel mir schluchzend um den Hals. Ich hielt sie so fest, wie noch nie. Ich würde mein Leben nie mehr auf’s Spiel setzen. Ich schwor bei allen guten Geistern, dass ich vernünftig werden wollte. Neben uns küssten Gareth und Eileen sich, als hätten sie sich zehn Jahre lang nicht mehr gesehen.

Leonardo, Lara, Vero und Small Owl standen betupft daneben und klatschten erleichtert in die Hände. Doch Gareth und ich wussten, dass der Applaus nicht uns galt.

„Ich muss weiter! Der nächste Einsatz wartet. Andrita wird euch zum wandernden Eingang begleiten.“ 

Liam nickte uns kurz und konzentriert zu, dann war er weg. Genau so schnell, wie er gekommen war. Ein Klischee, wenn man von den Achubiad spricht, aber Tatsache.

„Wir sind noch nicht aus der Gefahrenzone!“

Harald sass auf Andritas Schulter und half ihr dabei uns auf das Offensichtliche aufmerksam zu machen.

„Wir müssen gehen! Folgt mir!“

Sie ging voraus. Als sie an mir vorbei ging, hüpfte Harald von ihrer Schulter auf die meine. Dann flüsterte das Siaraduon mir folgendes ins Ohr, das ich nie mehr vergessen werde:

„Gut gemacht, Chef?“

 

Kurz darauf waren wir in den Strassen Istanbuls. So früh morgens war in dem Quartier nicht viel los. Andrita schien genau zu wissen, wo wir hin mussten, sie führte uns sicher, ohne zu zögern. Wenig später blieb sie vor einer Metzgerei stehen.

Hier musste also der wandernde Eingang in etwa fünf Minuten auftauchen. Doch es sollte noch viel geschehen in diesen fünf Minuten. Vieles, das mich, - uns alle - die nächste Zeit schwer belasten würde.

Small Owl entdeckte sie als erster. Es war, als käme die Nacht auf uns zu gerannt. Die ganze Breite der Strasse wurde von der Meute eingenommen. Nichts als schwarze Mäntel, so weit das Auge blickte.

Wie eine dunkle Wand schob sich die Masse auf uns zu. Der wandernde Eingang würde niemals vor den Männern bei uns sein. Plötzlich ging es um neun Leben, die in Gefahr schwebten – und das alles wegen Gareth und mir und unseren verrückten Ideen.

Andrita klopfte ihr Siaraduon herbei.

„Wir sind auf uns alleine gestellt. Alle Achubiad sind bereits im Einsatz! Wenn wir es schaffen, sie zwei Minuten zurück zu halten, dann könnten wir es schaffen. Der Eingang wird dort drüben bei dem Verkehrsschild auftauchen. Ich werde als Letzte hindurch gehen! Viel Glück, meine Freunde!“ Andrita zeigte auf ein Stoppschild, welches gute zehn Meter hinter uns stand. Dann mussten wir uns bereit machen. Die Männer überbrückten die letzten fünf Meter, die sie noch von uns trennten. Small Owl, Leonardo und Andrita waren zuvorderst. Dann ging es los.

Ich weiss nicht, wie viele Fauststösse ich in diesen drei Minuten verteilte, aber je öfter ich zuschlug, desto müder wurde ich und desto mehr erkannte ich die unbesiegbare Überzahl des Gegners. Und kurz darauf konnte ich meine Arme kaum noch hoch heben. Wir hielten uns trotzdem wacker. Andrita und Leonardo kämpften mit je acht Mann  gleichzeitig, während wir anderen uns mit je drei begnügten.

Small Owl hatte die Kraft seiner Ahnen auf seiner Seite, was ihm ein gesundes Selbstbewusstsein schenkte. Doch mit jedem Mann, den wir zu Boden schlugen, kamen zwei mehr auf uns zu. Es war aussichtslos. Meter um Meter mussten wir uns zurückziehen. Und dann kam der fatale Moment. 

Lara kämpfte gegen zwei Männer gleichzeitig. Sie blockte gerade einen Schlag gegen ihren Kopf ab, als ein dritter Mann sie von hinten umklammerte und ihren Kopf in die Scheibe des Metzgerladens stiess. Unsere Blicke kreuzten sich kurz. Dann zerbarst die Scheibe in tausend Stücke und Lara blieb in einer sich langsam ausbreitenden Blutlache liegen.

Leonardo schrie auf wie ein verletzter Löwe. Er versuchte sich zu seiner Frau durchzukämpfen, doch jetzt waren so viele Schwarze Schlangen dort, dass nur noch der endgültige Rückzug übrig blieb. Es war als kämpfte er gegen ein Meer von aggressiven Insekten an, die ihn Fuss um Fuss zurück drängten. 

Der goldene Eingang begann vor dem Stoppschild zu schimmern. Es war jetzt oder nie. Small Owl zerrte Leonardo, der wild fuchtelnd um sich schlug, an seinem Umhang hinter sich her. Die beiden gingen zuerst durch das Portal. Leonardo zog bis zum letzten Moment in Richtung seiner am Boden liegenden Frau und der Schwarzen Schlangen. Wir anderen folgten und Andrita hielt die Stellung bis zum letzten Moment, bevor sich der Eingang seiner Route gemäss weiter verschob. 

Kurz wurde alles um mich herum durcheinander gewirbelt, während der wandernde Eingang uns ins Zentrum beförderte. Links wurde zu rechts, oben zu unten. Einen Augenblick später standen wir in der Empfangshalle.

Die Schwarzen Schlangen und ihre Brutalität waren plötzlich weit weg. Die Ruhe der Halle stand im krassen Gegensatz zum aggressiven Lärm der Schlägerei vorher. Was hier einzig von der Existenz der Schwarzen Schlangen zeugte, waren unsere fest pochenden Herzen, unsere Atemlosigkeit und Laras Absenz. Wir waren soeben aus einem Tornado gespuckt worden, der Lara für sich behalten hatte. Ich griff instinktiv nach meinem Horn. Cyfimiad würde uns sicher sagen können, wie es ihr ging, wie ernst ihre Verletzungen waren; zudem würde er Ahmed und Liam verständigen können. Wenn jemand Lara aus den Händen dieser Spinner befreien konnte, dann die beiden. Cyfimiad erschien sofort, ohne Spezialeffekte. Es war unübersehbar, dass nun auch in der Zwergenwelt einiges drunter und drüber ging. Scheinbar verstanden jetzt auch die Hornzwerge, wie ernst die Situation hier unten in der Menschenwelt war.

Es gab keine Einleitung, Cyfimiad kam sofort zur Sache.

„Ich warte auf einen Bericht, der jeden Moment eintreffen sollte.“, sagte er.

„Einen Bericht über Lara?“

Er nickte, während er um sich blickte. Er wartete offensichtlich darauf, dass jemand ihm den Bericht bringen würde. Die anderen gruppierten sich um mich und starrten in die goldene Kugel Cyfimiads. Leonardo zuvorderst. Dann erkannte ich an Cyfimiads Blick, dass der Bote sich näherte. „Einen Moment, bin gleich zurück!“, sagte dieser und ging aus der Kugel. 

Leonardo kaute nervös an seinen Fingernägeln; er trat vom einen Fuss auf den anderen. Small Owl massierte ihm von hinten die verspannten Schultern; eine kollegiale Geste der Unterstützung. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Cyfimiad wieder zurückkam. Als er eine halbe Minute später wieder in die Kugel trat, verriet bereits seine Körpersprache, dass er schlechte Nachrichten hatte. Cyfimiad schaute uns traurig an, schluckte leer und holte Luft.

„Lara ist tot. Es tut mir Leid!“

Leonardo fiel auf seine Knie. Seine Hände vergruben sich verkrampft in seinen Haaren. Mit seinen Ellbogen stütze er sich auf den Oberschenkeln auf, während er leise und verzweifelt zu weinen anfing.

Cyfimiads Kugel verschwand ins Nichts. Ich senkte die Hand, die mein Horn hochgehoben hatte, während mir die Tränen in die Augen stiegen.

Konnte das sein? Dass ein Leben so schnell vorüber war? Ohne Vorwarnung, ohne Vorbereitung?

Ich setzte mich neben Leonardo, legte meinen Arm um ihn und zog seinen Kopf auf meine Schulter. Warme Tränen liefen ihm in Bächen über die Wangen und dann auf meine Hände, die ihn festhielten. Dann versteifte sich sein ganzer Körper, als wehre er sich gegen das Leben selbst. Seine Lebenskräfte begannen sich vom einen Moment auf den anderen aus ihm zurück zu ziehen. Leonardo brach zusammen und wurde bewusstlos. Die Ohnmacht war das einzige Mittel, das sein Körper kannte, um mit diesem Verlust umzugehen. Die Zeit musste als Heilmittel dienen, wo jede andere Arznei ihren Dienst versagte. 

Was passiert war, drang nicht ganz an uns heran. Wir waren von einem Seelennebel umgeben, der uns vor zu viel Schmerz auf einmal schützte. Unsere alte Wirklichkeit, in der Lara ein lebendiges Wesen gewesen war, wollte nicht sterben und stand wie ein Wächter vor der neuen Wirklichkeit, in der sie nicht mehr unter uns weilte.

 Zwei Gemeinschafter eilten mit einer Bahre heran. Leonardo wurde sanft auf die Bahre gehievt. Seine schlaffen Arme hingen beidseits von der Bahre hinab, während er wegtransportiert wurde. Er wurde in ein Ruhezimmer gebracht, wo er mit Bachblüten und osteopathischen Techniken behandelt wurde, die den Seelenschmerz linderten.

Ich nahm die Welt wie aus Distanz wahr. Leer kratzte ich mich am Kopf. Das war eine Geste, die das alles perfekt zusammenfasste: totales Unverständnis. War ich nicht vor einer halben Stunde in einem Café am Gare de l’Est gewesen? Hatte die Welt nicht ein wenig lichtvoller ausgesehen, nachdem wir den Brief an Fabio geschrieben hatten? Was nützte die Strategie jetzt?

Obwohl die Halle im Gegensatz zu den Szenen vor der Metzgerei momentan ruhig war, herrschte nach wie vor Notfall-Stimmung im Zentrum. Ein Achubiad, der mit einer besonderen Technik von der Halle aus starten musste, bat uns zur Seite zu gehen, damit er mehr Platz hatte.

Manush umfasste mich von hinten, legte ihren Kopf an meinen Rücken. Trostlosigkeit.

Dann erreichte uns die nächste Schreckensbotschaft.

Über eine Lautsprecheranlage wurde plötzlich eine Durchsage gemacht.

 

„Alle Gemeinschafter, ausser Pflegepersonal und Achubiad, werden gebeten sich sofort nach Gwagedd zurückzuziehen! Sofort, bitte. Unser Gemeinschafts-Zentrum wird angegriffen. Ich wiederhole: das Zentrum wird angegriffen. Die verbleibenden Achubiad treffen sich in der grossen Halle, um sich mit den Rückkehrenden aus Gwagedd zu vereinen. Studenten der ersten drei Jahre werden gebeten, sich ins zweite Untergeschoss zu begeben. Studenten der Jahre vier bis neun begeben sich nach oben auf die Sonnenterrasse.“

 

Die Meldung wiederholte sich drei Mal.

Wie im Traum folgte ich den anderen ins zweite Untergeschoss. Unterwegs stiessen Sali und Fenella zu uns. Sie waren genauso bleich und abwesend wie wir, was auch immer ihnen widerfahren war. Colin stand unten an der Treppe und wies die Studenten in verschiedene Zimmer. Jede Klasse schien ein eigenes Zimmer zu erhalten.

Das Zimmer war leer. Wir setzten uns an die Wände.

„Wo ist Gwagedd?“, fragte Vero. Aber sie verlangte nicht wirklich nach einer Antwort. Alle dachten an Lara, niemand war wirklich bei der Sache. Niemanden kümmerte es, was Gwagedd war und wo es lag.

Dann ging die Türe auf. Ein totenbleicher Leonardo kam in Begleitung Nareks ins Zimmer. Narek hiess ihn sich neben Small Owl setzen, was Leonardo langsam und kraftlos tat. Der Stolz in seinen Augen war erloschen. 

Narek ging wieder hinaus.

 

2 Einmal Gwagedd, bitte.

2

 

Einmal Gwagedd, bitte.

 

 

„Es gibt so viel mehr. Immer.“

 

Callineb Elwedig, Adnod 302

 

 

Wir warteten in dem uns zugeteilten Zimmer. Niemand sprach. Alle waren mit sich selbst beschäftigt. Gareth ging es wahrscheinlich wie mir. In meiner Verzweiflung kreisten Fragen konstant ihre Runden um mich. Selbstvorwürfe wurden von meiner Vernunft unterbrochen, nur um zu bemerken, dass nichts mehr Sinn machte. Wir hatten versagt. Die Schwarzen Schlangen waren zu mächtig gewesen, die Überzahl des Feindes zu gross. Wie bei einem Blitzkrieg hatten sie uns überrascht und besiegt, bevor wir richtig realisierten, dass der totale Krieg herrschte. 

Noch einmal sah ich den Moment, von dem ich so sehr wünschte, ich könnte ihn ungeschehen machen, in meinem Geiste vor mir. Lara hatte es geahnt; ich hatte es in ihren Augen gesehen, als blicke sie in eine Gewissheit. Vielleicht wissen wir alle, wann wir sterben; sie jedenfalls hatte es gewusst, darüber war ich mir sicher.

Leonardo schluchzte leise vor sich hin. Ein gebrochener Mann, ein machtloser Krieger. Gegen die Härte des Schicksals gab es keine wirksame Technik. Man konnte das Unverständliche nur zu akzeptieren versuchen, Frieden damit schliessen. Einen anderen Ausweg aus dem Leid würde es für Leonardo, würde es für uns alle nicht geben. Doch diese Akzeptanz würde nur mit der Zeit zu einem Heilmittel reifen. 

Small Owl sass neben Leonardo; er hielt dem Tair Fraich-Meister die Hand, mehr konnte man nicht tun. 

Verzweiflung. Und auch Ernüchterung. 

Vielleicht Enttäuschung, dass die Gemeinschaft nicht so allmächtig war, wie wir sie uns vorgestellt hatten? Es war ein bisschen von allem. Die Minuten verstrichen wie Stunden. Die Stille wurde nur von dem leisen Wimmern Leonardos unterbrochen.

Wenn ich nur ein wenig schneller gewesen wäre. Wenn Lara nur ein wenig mehr trainiert hätte. Wenn es nur die Schwarzen Schlangen nicht gäbe. Und überhaupt: wieso liess Gott so etwas zu? Die Fragen in mir fanden kein Ende.

Dann kam Narek zurück. Er öffnete die Tür weniger schwungvoll als sonst und blickte uns ernst an.

„Wir gehen nach Gwagedd! Macht euch auf eine lange Reise gefasst, wir brechen sofort auf!“, sagte er.

„Wohin gehen wir?“, fragte Manush, und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel aus den Augen.

„Nach Gwagedd! Ich habe keine Zeit euch mehr darüber zu erzählen. Sagen wir einfach, dass Gwagedd momentan unser einziger Ausweg ist, um die Welt vor einem tiefen Fall in eine regelrechte Katastrophe zu retten.“

Mir war es egal, wohin wir gingen. Alles war mir recht, wenn es uns nur die Chance gab, die Welt zu retten und Lara zu rächen. Also erhob ich mich, um Narek zu signalisieren, dass ich mit nach Gwagedd ging, wo auch immer das war.

„Steht bitte alle auf, und schliesst eure Augen. Wir müssen aufbrechen! Sind wir einmal dort haben wir alle Zeit dieser Welt.“, sagte Narek noch einmal.

„Augen schliessen?“, wiederholte ich verunsichert.

Die anderen standen langsam auf. Die Müdigkeit und der Schock sass uns in den Knochen. Es war keine Langsamkeit, die Widerwillen ausdrücken wollte.

„Nach Gwagedd geht man besser mit geschlossenen Augen, quasi blind, vor allem wenn man noch im ersten Jahr ist, und noch nie dort war.“

Was auch immer das wieder sollte. Aber niemand hatte die Kraft Narek weitere Fragen zu stellen. Manush schloss die Augen als Erste, ich meine als Letzter. Doch nichts geschah. Als Student mit einem halben Jahr Gemeinschaftserfahrung ist man auf fast alles gefasst, und wenn dann einmal gar nichts geschieht, so ist das fast unerwarteter, als irgendetwas anderes.

„Um nach Gwagedd zu gehen, muss man still werden. Lasst die Stille der Welt in euch hinein. Schweigt und wartet. Dann werden die Tore sich öffnen, dafür werde ich sorgen. Seid still und verbannt jede Ungeduld aus eurem Dasein. Überlasst euch nur dem Moment. Übergebt euch der Einsamkeit.“

Narek sprach die kurzen Sätze, als wolle er uns hypnotisieren. Dann wurde alles ruhiger und langsamer.

Auf den Gängen draussen war die Hektik plötzlich weiter weg. Aber noch immer geschah nichts. Nach etwa fünf Minuten begann ich mich etwas zu sorgen. In der Dunkelheit meines eigenen Kopfes gefangen, fragte ich mich, ob die Anderen vielleicht ohne mich nach Gwagedd gegangen waren. Doch ich ging nicht weiter auf die Sorgen ein. Ich musste die Stille in mir aufsuchen und die kam nicht, wenn ich mir einfältige Sorgen machte. Nach weiteren fünf Minuten war es wirklich still in mir. Eine Stille wie Balsam. 

Und dann gab es einen Moment, indem ich wusste, dass es passiert war. Wir waren immer noch im Zentrum, aber etwas hatte sich verändert. Die Stimmen auf den Gängen draussen waren plötzlich weg und ein riesiger Druck schien uns von der Seele gewichen zu sein.

„Ihr könnt jetzt eure Augen öffnen!“, sagte Narek. 

Es war, als habe die Zeit aufgehört. 

Ich wollte mich zu Manush hin umdrehen, aber irgendwie kam mein Bewegungsimpuls nicht bei meinen Muskeln an. Mein Körper rührte sich nicht der Spur nach. Instinktiv versuchte ich es noch einmal. Ich insistierte, doch mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Eigentlich hätte mich in dem Moment eine Art Panik ergreifen sollen, aber selbst diese angeborene Reaktion wollte nicht mehr funktionieren. Alles war ruhig. Hatte die Gemeinschaft sich selbst in eine Art Winterschlaf gezwungen? War es das, was man unter Gwagedd verstand? Harrten wir nun besserer Zeiten, ohne uns bewegen zu können? Ich bäumte mich noch einmal auf, versuchte mich mit aller Kraft zu drehen. Doch meine Kraft, oder zumindest das, was ich darunter verstand, existierte nicht mehr. Die Panik blieb immer noch aus. Seltsam, dachte ich. Dann zog mich plötzlich jemand von hinten hoch. Ich glitt aus meinem Körper wie ein Schwert aus seiner Scheide. Es fühlte sich frisch und kühl an, als würde ich in laues Wasser gezogen.

Wasser ist der einzige Vergleich, der für dieses Erlebnis taugt. Plötzlich konnte ich mich wieder frei bewegen, ja sogar freier als sonst. Kaum dachte ich an eine Bewegung war sie auch schon ausgeführt. Ähnlich wie beim ersten Fliegen mit Elwuyn. Zudem waren plötzlich alle Sorgen von mir gewichen. Laras Tod war plötzlich weit weg, ja sogar irgendwie unwichtig; alle meine Sorgen waren plötzlich in die Distanz gerutscht und schienen im grossen Zusammenhang keine besonders wichtige Rolle zu spielen. Wir waren losgelöst, von den Ketten und Bindungen an diese Welt befreit. 

Wir hatten aber kaum Zeit uns an dem Zustand zu erfreuen. Narek klatschte in die Hände, um uns zusammen zu trommeln, wie er das im körperlichen Zustand auch zu tun pflegte. Er stand auf einem Tisch in der Mitte des Zimmers. Er war eindeutig zu erkennen, aber sein Körper war licht-durchlässig und sein richtiger Körper stand an der Wand, dort wo er uns vor kurzem noch gepredigt hatte, wir sollen uns keine Sorgen machen.

Auch mein Körper stand, irgendwie verkrampft, fand ich, an dem Ort, wo ich ihn sozusagen stehen gelassen hatte. Narek musste nicht lange in die Hände klatschen, bis er unsere Aufmerksamkeit hatte. Trotzdem fragte ich mich, wie es sein konnte, dass er ohne Körper klatschen konnte, und wie wir ihn ohne richtige Ohren hören konnten. Ich strich mir mit meinen Schimmerhänden über den Kopf und tastete nach meinen Ohren. Sie waren zweifellos vorhanden, doch es fühlte sich anders an, als seien sie magnetisch oder sonstwie elektrisch geladen.

Narek liess zwei, drei Sekunden ins Land ziehen.

„Die Welt steht nun still. Das Gefüge der Zeit ist aufgelöst, und doch läuft sie weiter. Ihr werdet sehen. Folgt mir nach draussen!“

Er hüpfte leichtfüssig vom Tisch. Wir folgten ihm ins Dwr Mawr-Geschoss, von wo aus wir ins Zentrum von Istanbul tauchten. Die Dwr Mawr-Station, bei der wir ankamen, war nahe einer imposanten Moschee. Eine Silhouette wie auf einer Ansichtskarte empfing uns, als wir die Dwr Mawr-Station verliessen. Es gab viel Verkehr, überall waren Autos, Velos, Menschen, Tauben dazwischen, vereinzelt Hunde an der Leine und auf einem Fenstersims sonnte sich eine Katze. Und alle waren wie versteinert. Nichts rührte sich. Kein Geräusch war zu hören.

Es war unfassbar. Die Welt hatte wirklich angehalten.

„Wie ist das möglich?“, fragte Vero verblüfft.

„Es ist nicht möglich!“, antwortete Narek. „Oder sagen wir, es ist nicht allen möglich. Der ganze Sinn des Gwagedd ist der, dass es nur uns passiert. Für alle anderen Menschen dieser Welt wird es nie geschehen. In anderen Worten, was hier geschieht, geschieht nur für uns. Die Schwarzen Schlangen werden einfach feststellen, dass sie uns plötzlich nicht mehr gewachsen sind!“

Er schmunzelte, so wie nur er dies konnte.

„Für uns hingegen liegt dies in einer fernen Zukunft. Ich weiss nicht, wie lange wir in Gwagedd bleiben müssen, um wirklich gut genug vorbereitet zu sein, aber es kann Jahre dauern. Es liegt viel Arbeit vor uns!“

„Ich verstehe nichts mehr. Wieso bin ich nicht mehr traurig? Meine Frau ist soeben gestorben ...“, fragte Leonardo.

„Die Trauer wird dich einholen, glaub mir. Aber momentan ist sie weg. Die ganze Gemeinschaft hat eine parallele Welt betreten, ganz ähnlich dem Prozess, den du und Gareth in Tschrak durchgemacht habt. Wir sind in eine separate Realität geflüchtet, um uns vorbereiten zu können. Wir werden hier üben und trainieren, Pläne schmieden, Strategien entwerfen und grundeln. Sobald wir dann genügend vorbereitet sind, verlassen wir Gwagedd wieder und kehren in unsere alte Welt zurück, wo keine Sekunde verstrichen sein wird. Dort wird alles scheinbar ohne Unterbruch weitergehen. Vergesst nie, dass Zeit kein Faktor ausserhalb eures Erlebens ist. Die Zeit ist in eurem Bewusstsein verankert, sie ist keine physikalische Grösse. Das heisst, in unserer alten Realität, die wir vor wenigen Minuten verlassen haben, wird wirklich keine Sekunde vergangen sein, wenn wir Gwagedd wieder verlassen.“

Ich stieg über einen Hund an der Leine einer alten Frau, um näher zu Narek heranzukommen. 

„Wir haben uns also sozusagen aus der Zeit ausgeklinkt?“

„Genau! Aber wir sind noch nicht in Gwagedd. Dies hier ist ein Zwischenreich, wo wir nicht länger als einige Stunden lang bleiben können. Gwagedd liegt weit weg, und ich schlage vor wir machen uns jetzt gleich auf die Socken, damit uns unsere alte Realität nicht wieder einholt. Sollten wir in vier Stunden nicht in Gwagedd angekommen sein, so würden wir uns wieder in unseren Körpern vorfinden, und unsere Chance, den Verlauf der Geschichte zu ändern, wäre verpasst.“, sagte Narek.

Leonardo, der wieder Farbe im Gesicht hatte, klatschte in die Hände, imitierte offenbar Narek. „Also, auf geht’s! Auf was warten wir noch?“

„Bevor wir gehen, noch eines. Momentan sind eure Sorgen weit weg, aber das wird nicht so bleiben. Wenn wir in Gwagedd angekommen sind, wird euch eure alte Realität wieder einholen. Jetzt ist sie eine blosse Erinnerung, in Gwagedd wird sie wieder voller Leben und Emotionen sein. Die Schmerzen und das Leid werden zurückkommen, macht euch nichts vor. Aber in Gwagedd werdet ihr alle Zeit dieser Welt haben, um diese Wunden heilen zu lassen. Es spielt keine Rolle, ob wir hundert Jahre oder drei Monate in Gwagedd bleiben werden; wenn wir in unsere normale Realität zurückkehren, wird keine Sekunde vergangen sein.“

Dann klatschte er zweimal in die Hände. „Folgt mir!“

War Gwagedd eine türkische Provinz, die an Istanbul grenzte? Scheinbar hatte Narek vor zu Fuss dahin zu gehen, wo auch immer Gwagedd war.

Er manövrierte sich geschickt durch die versteinerten Fussgänger und steuerte auf die grosse Moschee zu, die im Hintergrund den Horizont verschönerte. Nach zehn Minuten waren wir dort angelangt.

Ich hatte unterwegs eine junge Frau umgestossen, die sich an ihr Fahrrad gelehnt hatte. Ziemlich ungeschickt. Gott sein Dank fiel sie nicht auseinander. Gareth, Eileen, Manush und ich brauchten fast drei Minuten, bis wir sie wieder in dieses perfekte Gleichgewicht gebracht hatten, dass sie wirklich stehen blieb und nicht immer wieder umfiel.

Aber noch bunter hatte Small Owl es getrieben. Er war in eine seiner Liebeleien mit Vero verstrickt, als er in einen Stand krachte, wo Karten und religiöse Dokumente für Touristen verkauft wurden: und der Wind war ganz und gar nicht versteinert. Er trug die Blätter mit verspielter Freude davon, so dass Small Owl, Vero, Fenella und Sali es nach einigen Versuchen aufgaben, das Papier einzusammeln.

Narek stemmte sich gegen die schwere Holztür und trat in die Moschee ein. Er hielt uns die Türe auf und hiess uns die Schuhe ausziehen.

In der Mitte der imposanten Moschee war ein Loch aus weissem Licht, gerade breit genug, dass man hineinfallen konnte. Unsere Schuhe in den Händen folgten wir Narek, der Leonardo im Vorbeigehen in den Arm genommen hatte und zur Mitte der Moschee schleppte.

„Das ist der Eingang nach Gwagedd. Ein solcher befindet sich momentan überall, wo Menschen sich regelmässig treffen, um sich mit der göttlichen Lehre auseinander zu setzen. Jede Kirche, jede Moschee, jeder Tempel, ja manch ein Vortragssaal hat im Moment einen Eingang nach Gwagedd. Doch für die normale Welt existiert der Eingang nicht einmal eine hundertstel Sekunde lang; er wartet einzig und alleine auf uns!“

„Und was ist mit den anderen Klassen?“, fragte Manush.

„Die nehmen andere Eingänge. Wir werden sie in Gwagedd aber nicht treffen, und wir werden auch nicht wissen, wie lange sie dort bleiben, und doch werden wir alle gemeinsam zurückkehren. Gwagedd ist riesengross, unendlich gross, um ehrlich zu sein. Seid ihr bereit für die Reise eures Lebens?“

„Ich dachte eigentlich, die hätte schon lange begonnen?“, sagte ich.

„Ja, sie beginnt immer jetzt! Schön, ist es nicht?“

„Wie ist es dort?“, fragte Manush.

„Wait and see!“

Sie verpasste ihm einen töchterlichen Ellbogenstoss.

„Wer will voraus gehen?“, fragte er.

Small Owl meldete sich. „Muss ich einfach rein hüpfen?“

Narek nickte. Diesmal klatschte Small Owl in die Hände; die Geste griff um sich. Dann hüpfte er in das weisse Licht hinein, welches statt eines Bodens in der Mitte der Moschee  leuchtete.

Man muss bedenken, dass wir uns alle in einem Zustand absoluter Furchtlosigkeit befanden: niemand zögerte auch nur im Geringsten, obwohl wir noch überhaupt nichts über Gwagedd wussten.

Ich hüpfte nach Vero als Dritter in die Öffnung, oder besser in das Loch.

Watte. 

Der erste Eindruck nach meinem Sprung ins Leere.

Kurz darauf: 

Stahlwolle.

Rauh und schürfend.   

Und dann: 

Ein Speer aus Eis.

Er bohrte sich mir in die Stirn und vertrieb die Fröhlichkeit meiner Sorglosigkeit konsequent und ohne Gnade. Am Anfang war es, als sei ich von einer liebevollen Kraft umgeben, deshalb der Vergleich mit der Watte. Aber je näher wir der Grenze von Gwagedd kamen, desto mehr holten uns die dramatischen Ereignisse der letzten Stunde wieder ein. Laras Tod rückte plötzlich wieder in den Mittelpunkt. Der Schmerz wuchs ohne Erbarmen: Stahlwolle. Der Speer aus Eis war mit der Landung in Gwagedd gleichzusetzen. Der Schmerz, das Bewusstsein für die Realität war wieder da, unser Schmerz wieder akut.

Trotz meiner Schmerzen erkannte ich beim Öffnen der Augen, die ich bei Gemeinschaftsreisen ins Unbekannte standardmässig geschlossen hielt, sofort, dass Gwagedd eine Form des Paradieses sein musste.

Es war wie eine Faust auf‘s Auge. In uns wütete der Eindruck, der uns nüchtern klarzumachen versuchte, dass wir Lara nie wieder sehen würden: nie wieder würden

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5205-9

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