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Einführung

Einführung

 

 

Im dritten Teil meiner Erzählung, liegt der Fokus auf all den Auseinandersetzungen, die wir Studenten mit den Lledrith und den Anhängern Mittletans hatten. Doch nicht nur wir, sondern auch die Gemeinschaft als Ganzes, musste sich mit den Folgen von Tchars Wirken herum schlagen und es wurde immer klarer, dass der Lawine des Bösen Einhalt geboten werden musste. 

 

Zeitgleich ging die Ausbildung weiter. Wir lernten wundersame Techniken, neue Erkenntnismethoden und sogar ein Königreich kennen, von dessen Existenz wir nichts geahnt hatten.

 

Aber die Gemeinschaft hatte auch sonst noch einiges zu bieten, wovon wir keinesfalls zu träumen gewagt hätten. Nach wie vor, waren wir Erstklässler und regelrechte Anfänger, wenn es um Gemeinschaftsbelange ging.

 

 

Ich hoffe, die Gemeinschaft wird durch meine Erzählung die Anerkennung gewinnen, die sie verdient, wenn sie auch als Institution geheim bleiben muss.

 

 

 

Aberystwyth, Dezember

James Tannot

 

1½ Auftrags-Bericht

 

1½ 

 

Auftrags-Bericht 

 

 

Auftrag No. 1a: Überführung

Mitgliedernummer: 147 / 148

Namen: Curt Bassy, Fabio Gonzali

 

 

Sehr geehrter Mister Mittletan

 

Gerne bestätigen wir Ihnen hiermit die Durchführung des

Auftrages 1a: Überführung. 

 

Wir sind von der Genauigkeit Ihrer Zukunftsprognosen äusserst beeindruckt. Alle Details, die Sie in Ihrem Auftragsformular aufgelistet haben, sind prognosengetreu eingetroffen. Die Arbeiterin Eileen Smith leistete erbosten Widerstand und so war das Mittel, das Sie den Auftrags-Utensilien beigelegt hatten, mehr als sinnvoll.

Eileen Smith befindet sich jetzt im Aufbewahrungslager Nord bei Galway, wie Sie es gewünscht haben.

 

In Erwartung neuer Aufträge, danken wir Ihnen für das Vertrauen, welches Sie uns geschenkt haben.

 

Hochachtungsvoll

 

 

Curt Bassy Fabio Gonzali

 

 

 

 

2 Die ersten Opfer

 

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Die ersten Opfer

 

 

„Man kann die Schönheit nur selbst erleben. Sie ist eine Frage der Entwicklung. Der Mensch bewegt sich von roh zu edel. Doch der Rohe wird die Schönheit erst sehen, wenn er das Rohe in sich ablegt. Deswegen ist Schönheit immer freiwillig, genau so wie Weisheit immer freiwillig ist.“ 

 

Callineb Elwedig, Adnod 175

 

 

Eileen war überglücklich gewesen. Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl am Anfang einer wahren Beziehung zu sein. Irgendwie spürte sie, dass Gareth nicht nur an ihrem Körper und an ihrer Schönheit interessiert war, sondern, dass er sie auch als Mensch schätzte. 

Und dann dieses Wunder. Nie hätte sie im Traum daran gedacht, dass es menschenmöglich wäre, sich aus den Banden der Schwerkraft zu lösen. Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn man einfach davon fliegen könnte. Sie hatte ganze Nachmittage an dem Weiher verbracht, der ihr zum Verhängnis werden sollte. Sie hatte die Tauben beobachtet und hatte mit ihrer Schwester Sheila unendlich viele Spiele über das Fliegen ersonnen. Aber irgendwann war ihre kindliche Hoffnung gestorben und sie fand sich damit ab, dass Menschen keine Tauben oder Adler waren, und daher nicht fliegen konnten. Wie das bei den meisten Menschen eben so läuft.

Umso grösser die Überraschung, als ich plötzlich um sie herumflog, und auf einen Schlag ihre erwachsene, in der Schule und im Leben antrainierte Vernunft, die einem immer sagt, was möglich ist und was nicht, zerschlug, und zur selben Zeit ihre kindlichen Träume und Hoffnungen wieder auferstehen liess.

Eileen war mehr als Feuer und Flamme für den ersten Flugversuch gewesen, den wir ihr versprochen hatten. Und natürlich hätten wir dieses Versprechen auch eingelöst, nur dass da etwas dazwischen kam, was unser Studentenleben gehörig durcheinander wirbeln würde. Etwas, das wir ein Leben lang nie mehr vergessen sollten.

Als sie uns auf dem Weg aus dem Park hinaus kurz verliess, um sich zu erleichtern, war sie guter Dinge und dachte nicht im Entferntesten an etwas Böses.

Sie ging hinter einen Busch und zog ihren Jupe hoch, aber weiter kam sie nicht. Sie hatte nichts gehört; erst im letzten Moment hatte sie einen fremden Atem im Nacken verspürt, nur dann war es bereits zu spät gewesen. Mit brutaler Gewalt wurde ihr ein feuchter Schwamm auf Nase und Mund gepresst, während scheinbar unendlich viele Arme und Hände ihre Hand- und Fussgelenke so hart umfassten, dass sie sich trotz verzweifeltem Widerstand nicht wehren konnte. Sie wollte schreien und holte kurz tief Luft, aber mit der kraftspendenden Atemluft sog sie auch eine ätzend stinkende Flüssigkeit in sich hinein, die ihre Stimmbänder lähmte.

Sie schlug um sich und einmal gelang es ihr sogar einen der Angreifer in die Hand zu beissen. Ohne grosse Wirkung, leider. Nach einigen Sekunden gab sie die zwecklose Gegenwehr auf und liess sich halb davon schleppen, halb tragen. Es waren zwei junge Männer, erkannte sie jetzt. Beide hätten in ihrer Klasse gewesen sein können. Einen kurzen Moment lang sah sie Manush durch die Äste der Bäume drüben in aller Ruhe auf dem Weg stehen und noch einmal versuchte sie lauthals zu schreien. Aber nicht das geringste Geräusch verliess ihre Lippen. Es war als wäre sie in einem schlechten Horrorfilm gelandet, und dann erfasste sie es in voller Klarheit: sie wurde entführt. Erstaunlicherweise machte diese Erkenntnis sie aber eher ruhiger als ängstlicher. Sie ging von einer persönlichen Betroffenheit in eine Art stilles Beobachten über, und es war, als schaute sie sich selbst zu, wie sie über den Rasen gezerrt wurde. In einer bisher für sie unbekannten Weise wurde sie zu einer analysierenden Dokumentatorin, die ihr eigenes Schicksal betrachtete. 

Fabio und Curt schleppten sie zu einem am Seiteneingang des Parks bereitstehenden dunkelgrünen Kastenwagen, und dort wurde sie so unsanft auf die Ladefläche gestossen, dass sie sich den Kopf fest anschlug. Sie wurde bewusstlos.

Eileen kam erst wieder zu sich, als der Wagen bereits unterwegs war und scheinbar gemütlich seinem Ziel zu tuckerte.

Ihr war schlecht und ihr Kopf brummte. Der Wagen schien sich zu drehen und sie fühlte sich orientierungslos. Der Kastenwagen hatte hinten keine Fenster, aber aus der Tatsache, dass er nur geradeaus fuhr, schloss Eileen, dass sie sich auf der Autobahn befanden. Zudem hörte sie das Geräusch von anderen Autos, die den Kastenwagen überholten. Ihre Hände und Füsse waren mit einem Plastikband eng zusammen gebunden und auch auf ihrem Mund klebte ein Stück Plastikband, was ihr das Atmen schwer machte. Normalerweise wäre sie in einer solchen Situation ausgerastet: hätte geschrieen und eine Panikattacke gekriegt, weil sie sich kaum bewegen konnte. Aber all dies blieb aus. Sie war innerlich ruhig, in einer fast etwas beängstigenden Art und Weise sogar kalt gegenüber der ganzen Situation. Als verstehe sie, dass sie ihre Energien schonen musste. 

Die Fahrt dauerte lange. Sie konnte mir später nur ungefähr sagen, wie lange sie unterwegs gewesen waren. Es mussten aber sicher zwei bis drei Stunden gewesen sein, die sie ohne Pause hinten auf der Ladefläche lag. Und da niemand sich nach ihren menschlichen Bedürfnissen erkundigte, machte sie sich nach Stunden des Ausharrens in die Hosen, was die Fahrt nicht unbedingt angenehmer machte, da alles nach Urin stank. Normalerweise hätte sie sich in einer solchen Situation zutiefst geschämt, aber es war ihr jetzt mehr als egal, was die zwei jungen Männer über sie denken würden. 

Schliesslich kam der Wagen zum Stehen und Eileen hörte, wie draussen mehrere Männer und Frauen sich Dinge – scheinbar irgendwelche Passwörter – zuriefen, und dann setzte sich der Wagen für ein paar weitere hundert Meter erneut in Bewegung. Dann war die Reise zu Ende. Sie wurde aber eine weitere Stunde in ihrem Gefängnis gelassen.

Sie schlief noch einmal ein und wurde irgendwann grob von zwei ungepflegten Händen wachgerüttelt. Sie wäre lieber in ihrer Traumwelt geblieben, da sie dort gerade mit Gareth um ihr Haus geflogen war, als in diese Wirklichkeit zurück zu kehren. Aber es blieb ihr nicht viel Zeit sich selbst zu bemitleiden, da sie von einem anderen Mann ruckartig an den Füssen, einer Ware gleich, aus dem Wagen gezogen wurde und auf den staubigen Boden fiel. Diesmal glücklicherweise auf die andere Seite des angeschlagenen Kopfes. Wie von weit weg hörte sie, wie der Mann sie anschrie und sie zum Aufstehen aufforderte.

Ohne seine Hilfe natürlich, wie sie sofort feststellte. Und weil es ihm nicht genug schnell ging, zog er sie an den Haaren hoch. Dieselben Haare, die vor einigen Stunden Gareth zärtlich liebkost hatte.

Zu fünft standen sie um Eileen herum und beobachteten sie wie ein Stück Vieh, das dem Metzger gebracht wird. Es waren drei Männer und zwei Frauen. Aber von den beiden jungen Männern, die sie hierher entführt hatten, war keine Spur mehr zu sehen.

Der Mann, der seine Hand immer noch in ihr rotes Haar gekrallt hatte, war gut einen Kopf grösser als sie und hatte einen wild anmutenden Bart im Gesicht. So konnte sie nicht genau erkennen, was für eine Art Ausdruck in seinem Gesicht lag, als er ihr weiterhin wehtat. Dann liess er sie endlich los. Eine der zwei Frauen packte sie an ihrem Oberarm und zerrte sie einem Gebäude zu, das scheinbar neu errichtet worden war. Es war ein grässlicher, nackter Betonbau und die wenigen Fenster waren alle mit Gittern versehen.

Eileen spürte eine grosse Schwäche in ihren Beinen und hätte sich am liebsten einfach wieder hingelegt. Vielleicht hatte sie sich den Kopf doch fester angeschlagen, als sie es sich eingestehen wollte. Sie musste ihre ganze Willenskraft aufbieten, um mit der Frau Schritt zu halten. Auf keinen Fall wollte sie nochmals an den Haaren gezogen oder geschlagen werden. Die Frau hatte zwar wahrscheinlich ein bisschen ein sanfteres Gemüt als der Bärtige, aber wirklich testen wollte sie diese Annahme nicht.

Am Haupteingang des Betongebäudes angekommen, gab die Frau eine Zahlenkombination neben der Tür ein. Diese sprang mit einem Summton auf.

In dem kalten Gebäude drinnen wartete eine endlos anmutende Anzahl von Gängen und Treppen, die Eileen und ihre Wärterinnen immer tiefer in den Untergrund, in die Eingeweide des Komplexes führten. Die Schritte der drei Frauen hallten von dem nackten Beton wider. Trostlos war das einzige Wort, das dazu passte.

Und was der ganzen Situation noch mehr Trostlosigkeit verlieh, war die Tatsache, dass in dem ganzen unterirdischen Komplex von Gängen, abgehenden Türen und Treppen, nirgends auch nur die Spur einer anderen Menschenseele auszumachen war. Isolationshaft durchfuhr es Eileen, aber sie hatte immer noch diese Distanz in sich; auch dieses Wort machte ihr keine Angst, sondern zog einfach am Horizont ihres Bewusstseins an ihr vorbei. Einige Momente später waren sie am Ziel angekommen. Die Frau vor Eileen zog einen Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche und öffnete eine dunkelgrün angestrichene Metalltür, die noch nach frischer Farbe roch, und den Weg in ein nicht eingerichtetes Zimmerchen freigab. Eileen wurde grob in das Zimmer geschubst und hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Plötzlich war es still. Wieder war sie alleine. Nur dieses Mal wusste sie schon einiges mehr. Gott sei Dank war sie nicht das Opfer zweier Verrückter geworden, die sie stundenlang peinigten und dann umbrachten. Sie schien irgendwie in eine politische  Sache hineingezogen worden sein. Aber wie konnte das sein? Die Teile ihres Gehirns, die vom Schlag auf ihren Kopf nicht beduselt waren, liefen auf Hochtouren. Weder Vater noch Mutter, noch sonst irgendwer in ihrer Familie hatte mit Politik etwas am Hut. War es vielleicht das, die Tatsache, dass sie sich alle nicht gross darum scherten? Sie selbst hatte sich nie aktiv politisch engagiert und war diesbezüglich ein weisses, unbeschriebenes Blatt; bis auf einen Aufsatz in der elften Klasse, wo sie zur IRA Stellung beziehen musste. 

Irgendetwas stimmte hier nicht – abgesehen davon, dass sie entführt worden war. Hatten die zwei jungen Männer vielleicht die Falsche entführt? Eine Möglichkeit. Auf jeden Fall schien alles darauf hinzudeuten, dass sie eine politische Gefangene war. Wie sonst liess sich der sicher nicht billige Bau erklären? Und was sonst hätte die zahlreichen Entführer erklärt?

Eileen setzte sich neben die Tür.

Der Boden war kalt, wenn auch zum Glück trocken. Trotzdem würde es nur Stunden dauern, bis sie mit den ersten Symptomen einer Blasenentzündung zu rechnen hatte. Ausgerechnet.

Als ob sie nicht schon genug Blasenentzündungen gehabt hätte. Seit gut neun Jahren, etwa seit der ersten Regel, hatte sie mindestens einmal pro Jahr eine Blasenentzündung gehabt. Das konnte ja heiter werden.

Es herrschte Grabesstille in ihrer Zelle. Nichts war zu hören, ausser den Geräuschen, die sie mit ihrem Atem, ihren Bewegungen und ihren Seufzern verursachte. Die nächsten Stunden ereignete sich gar nichts.

Eileen fand zwar ab und zu ein wenig Ruhe in einer Art Dämmerschlaf, aber im grossen Ganzen verschlechterten diese Katzenschläfchen ihren Zustand doch eher, als sie halfen. Irgendwann brachte man ihr eine Flasche Limonade und ein Pack geröstete Erdnüsse. Wahrscheinlich aus einem Supermarkt in der Nähe besorgt, als die Entführer realisierten, dass auch Geiseln essen und trinken müssen. Aber Eileen sah nicht einmal, wer die Sachen gebracht hatte, so schnell wurde die Tür wieder verschlossen. Als ob sie eine Aussätzige sei. Eine weitere Stunde später wurde sie grob in einen Toilettenkomplex geführt. Wieder dieses Gefühl giftig zu sein.

Tatsächlich tat es beim Pinkeln auch schon weh; das charakteristische Brennen beim Wasserlassen stellte sich bereits ein.

Einen kurzen Moment lang verfluchte Eileen ihre Empfindlichkeit, aber auf der anderen Seite war ihr schon damals klar, dass sie genau dieser Empfindlichkeit ein Körperbewusstsein verdankte, das sie besser zu ihrem Körper schauen liess.

Ein Funken Wut flammte in ihr auf. Wie konnte sie zu ihrem Körper Sorge tragen, wenn sie nicht einmal eine Decke erhielt, auf die sie sich setzen konnte. Sie öffnete die Tür der Toilette und trat auf die Frau mit dem rotblonden Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, zu.

„Hätten Sie mir vielleicht eine Decke, auf die ich mich setzen könnte? Ich habe eine sehr empfindliche Blase und ich fürchte die letzten Stunden auf dem kalten Betonboden haben ihr schon ziemlich zugesetzt ...“

Die Frau schaute Eileen abschätzig an, packte sie am Oberarm und zog sie, ohne zu antworten, wieder zu ihrer Zelle zurück.

Diesmal setzte sich Eileen aber nicht wieder hin; sie verbrachte die nächste Stunde stehend, ging in ihrer kleinen Zelle auf und ab, und fokussierte innerlich auf Gareth, den einzigen wirklichen Lichtblick, den sie in sich entdecken konnte.

Nach wie vor war es still in ihrer Zelle, eine düstere Absenz jeglichen lebendigen Geräusches. Und je länger Eileen auf irgend eine Veränderung wartete - vielleicht auf das Mittagessen oder auf den nächsten Gang zur Toilette -, desto mehr kroch die Trostlosigkeit der Situation an ihr Innerstes heran. Einem sich in der Kälte langsam bildenden Eiskristall gleich, begann ihre Objektivität, ihr Abstand zur Realität, der ihr bis jetzt von irgendwelchen Endorphinen geschenkt worden war, zu gefrieren und damit brüchig und starr zu werden. Die lichtvolle Distanz ihrem eigenen Schicksal gegenüber, begann Stück für Stück einer leeren Dunkelheit Platz zu machen. Eine ängstliche Verzweiflung machte sich breit. 

Es dauerte eine Ewigkeit bis endlich ein bisschen Bewegung in ihre Welt zurückkehrte. Nur, anstatt der rotblonden Frau kam diesmal der Bärtige, der sie an den Haaren hochgezogen hatte, um sie zur Toilette zu eskortieren.

Der Mann roch nach Alkohol und versperrte ihr die Tür des WCs, als sie sie hinter sich verschliessen wollte. Lüstern stand er in der Tür und beobachtete sie, wie sie ihre Blase entleerte. Eileen wäre am liebsten im Erdboden versunken. Sie fühlte sich erniedrigt und entblösst, ihrer menschlichen Würde beraubt. Sie schloss die Augen, um den sichtlich erregten Ekelprotz nicht länger sehen zu müssen und flüchtete sich in ein Selbstgespräch. Wenigstens behielt das bärtige Ungetüm seine Hände bei sich, dachte sie sich, und zog dann ihr Abendkleid so geschickt wieder über die Knie, dass dem Spanner der ersehnte Anblick verwehrt blieb. Sein fieses Lachen blieb trotzdem in seinem Gesicht.

Wieder in ihrer isolierten Zelle begann sie zu weinen.

Wieso musste so etwas unbedingt ihr passieren? Was hatte sie verbrochen, dass Gott sie so strafte und ihr so etwas zumutete? Sie sehnte sich nach ihren Eltern, nach dem warmen Zuhause und nach Gareth. Ihre Tränen flossen an ihren Wangen herab und als sie die salzige Flüssigkeit in ihrem Mund schmeckte, erinnerte sie sich an das letzte Mal, als sie geweint hatte. Es war etwa ein Jahr her, als ihr Grossvater plötzlich durch einen Herzinfarkt aus dem Leben gerissen wurde. Die Erinnerungen an ihn wärmten sie innerlich ein wenig auf: sie dachte an ihre Kindheit, daran wie sie sich früher mit Gareth in den Pausen gestritten hatte und wie ihr Grossvater sie meistens von der Schule abgeholt hatte. Sie weinte lange und das Heulen tat gut, befreite sie von dem Irrglauben in solch einer Situation stark sein zu müssen. Etwas später brachte die Rotblonde ihr eine Thermosflasche mit Tee, einen Apfel und eine Decke.

Eileen warf der Frau einen dankbaren Blick zu, der aber genauso an der Frau abperlte, wie ein Regentropfen auf einer imprägnierten Zeltplane. Da schien keine menschliche Regung durchzukommen.

 

3 Die Suche nach Eileen

 

3

 

Die Suche nach Eileen

 

 

„Vielleicht müssten wir unser eigenes Leben als ein Experiment betrachten, bei dem wir herausfinden können, wie elastisch wir in unserer Lernmöglichkeiten wirklich sind.“

 

Callineb Elwedig, Adnod 179

 

 

Es war der Tag nach Gareths Date. 

Wir hatten alle drei nicht sonderlich gut geschlafen. Gareth wahrscheinlich gar nicht, so wie er aussah, als er zu uns stiess.  Wie immer, wurde erst nach dem Tair Fraich-Training mit Leonardo gefrühstückt. Leonardo war an jenem Tag gleich auf‘s Ganze gegangen. Schonkost schien er nicht zu kennen.

Er hatte uns in die Grundsätze der fühlenden Prinzipien – wie er sie nannte – eingeführt, und hatte uns in Paaren üben lassen. Als getreuer Wächter der Regeln durchschritt er dann unsere Reihen und korrigierte minutiös alle falschen Winkel. Ich übte mit Vero, Manush mit Lara. Und irgendwie hatte ich den Eindruck, dass Manush verbissener und ernsthafter als sonst trainierte. So als ahnte sie, dass sie diese Fertigkeiten in Zukunft gut gebrauchen können würde.

Nach dem Schwitzen war Duschen angesagt. Danach erwarteten uns die Gaumenfreuden, die El-Bahr in der Zwischenzeit fertig zubereitet hatte: Pochierte Eier an einer Curry-Sauce, Sesam-Fladenbrot mit Za’tar, in Oregano und Zitronensaft eingelegte Oliven und dazu starker Kaffee mit Nelken und Zimt à la Bédouine, wie er sagte. 

Doch trotz der Leckereien: innerlich waren wir bei Eileen. Jeder verarbeitete die Sache auf eigene Weise. Gareth schwieg, Manush erzählte Lara was vorgefallen war, und ich wälzte Theorien darüber. Was war passiert? Wie? Warum? Wieso hatten wir alle drei nichts Auffälliges gehört? Tausend Fragen zogen durch meinen Kopf.

„Schmeckt das Essen nicht? Zuviel Salz im Za’tar?“, wollte El-Bahr besorgt wissen.

„Nein, perfekt wie immer!“

Ich zögerte einen Moment lang.

„Aber Gareths Freundin ist gestern Nacht spurlos verschwunden! Sozusagen vor unseren Augen! Vom einen Moment zum anderen war sie weg! Und ich frage mich, wo sie sein könnte. Wir machen uns Sorgen. Das Essen ist vorzüglich, wie immer, nur meine Genussfähigkeit etwas eingeschränkt, fürchte ich.“

Ich lächelte ihn an, obwohl mir nicht zum Lächeln zumute war. Eines dieser unehrlichen Gesellschaftslächeln, die vor Unechtheit nur so strotzen. Aber El-Bahr verstand. Er verstand nur zu gut, schliesslich war er selbst etliche Male einfach so spurlos verschwunden.

„Sie ist einfach verschwunden?“, fragte er. Gareth wachte aus seinem Tagtraum auf. 

„Weg! Einfach weg, ohne Spuren zu hinterlassen.“

„Wo war das?“, wollte El-Bahr jetzt genauer wissen.

„In Dublin, in einem Park. Niemand hat etwas gemerkt. Sie war einfach weg!“, antwortete Gareth.

Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, dass sich El-Bahrs Miene verdüsterte.

„In Dublin, sagst du ...“, er schien zu überlegen. 

„... und habt ihr schon mit einem Lehrer darüber gesprochen?“

Wir verneinten.

„Es ist nie gut, wenn DHAs einfach so verschwinden. Und noch schlimmer, wenn es DHAs sind, die mit uns im Kontakt waren.“

Er hielt kurz inne und blickte Gareth an.

„Ich werde für heute Nachmittag um drei Uhr eine Zusammenkunft mit den Achubiad organisieren. Ihr seid dann von meinem Unterricht freigestellt. Wer war alles mit dabei, als deine Freundin verschwand? Du und James, sonst noch jemand?“

Gareth zeigte auf Manush.

„Gut, ihr findet euch um drei im Kronleuchtersaal ein.“

Manush und ich nickten. Den Kronleuchtersaal erreichte man durch eine Falltür im Zimmer von Lara und Leonardo. Man ging dann durch einen langen Gang, der mir bestens in Erinnerung war, weil wir dort ein walisisches Lied gesungen hatten.

„Aber bis dann wird die Sache ad-acta gelegt. Ist das klar? Ihr seid jetzt seit drei Monaten in der Gemeinschaft und da darf ich von euch erwarten, dass ihr euch auf den Unterricht konzentriert und euch nicht von den kleinen menschlichen Dramen ablenken lasst. Gareth ausgenommen, weil er noch neu ist. Sara hat heute ein besonders interessantes Thema für euch vorbereitet. Also lernt, fokussiert und seid bei der Sache!“

Wir hatten noch nie mitbekommen, dass El-Bahr auch eine strenge Seite hatte, aber da war sie, unverkennbar. Er hatte einen scharfen Blick in den Augen. Das Thema war beendet.

„Geniesst euer Essen und dann ab die Post. Seid pünktlich bei Sara! Heute ist das besonders wichtig!“

Er erhob sich und ging hinter das Haus in Richtung des Hangars.

Seine Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.

Es gab nichts, das wir für Eileen hätten tun können. Insofern war es vernünftiger, unseren Fokus wieder auf die Ausbildung zu richten, anstatt Trübsal zu blasen.

Ich nahm mir noch ein Fladenbrot mit Za’tar, steckte zwei entkernte Oliven hinterher und begab mich kauend ins Haus, wo ich mich für den Unterricht frisch machte.

Innerlich verabschiedete ich mich von Eileen, bis ich das Thema an der nachmittäglichen Konferenz mit den Achubiad wieder hervor holen würde. Aber trotzdem mir das gut gelang, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil es sich so anfühlte, als liesse ich Gareth damit im Stich. Der Arme konnte das nicht einfach so wegstecken, das war klar. Und doch, El-Bahr hatte Recht; ich musste mich auf die Ausbildung konzentrieren. Alles zu seiner Zeit, sagte ich mir. Die Achubiad würden die Sache schon richten. Ob wohl Liam oder Ahmed persönlich erscheinen würden? Vielleicht würden wir Dimitri wieder sehen?

Im Verlaufe des Vormittags merkte ich dann, dass ich tatsächlich einige Fortschritte in der Lenkung meiner Aufmerksamkeit gemacht hatte. Ich schaffte es, kein einziges Mal länger als schätzungsweise drei Sekunden an Eileen zu denken. So hart das auch klingt, so stolz war ich darauf, was nichts an der Tatsache änderte, dass mein Herz bei Eileen war. 

Der Morgen war spannend, wie El-Bahr es angekündigt hatte. Zu wissen, dass Sara keine Spionin war, und dass ich den Umgang mit dem Skalpell jetzt beherrschte, machte den Morgen sogar zu einem Vergnügen. Ich war viel mehr bei der Sache als früher. Sara machte uns an diesem Morgen mit etwas neuem bekannt.

Als wir ihr Klassenzimmer, das heisst den Teil des pathologischen Instituts, wo sie uns jeweils unterrichtete, traten, wartete sie bereits vom Geist der Medizin ergriffen. Gleich einem Kind, das einem ein Weihnachtsgeschenk macht, aber kaum warten kann, bis es einem verraten darf, was in dem Geschenk drinnen ist, lief sie vor einer Liege auf und ab und lächelte vor sich hin.

Ich staunte immer wieder, wie viel Begeisterung unsere Dozenten für ihr Fach aufbrachten. Da war keinerlei Überdruss zu verspüren, nur weil sie sich schon seit Jahren damit beschäftigten und Neulinge wie uns zu unterrichten hatten.

„Wir beginnen heute mit einem neuen Teil in der Anatomie, einem Teil, der nur Gemeinschaftern beigebracht wird. Diese Erweiterung des klassischen Anatomieunterrichts heisst Hud yr anatomeg. Es wird euch gefallen, aber es bedingt viel Arbeit. Kann jemand von euch die walisischen Begriffe ins Englische übersetzen?“

Fenella streckte auf.

„Magische Anatomie ...“ , sagte sie.

„Genau! Nun, wir haben uns die letzten Monate intensiv mit den verschiedenen Strukturen im menschlichen Körper befasst und sie am toten Körper studiert. Viel interessanter ist es aber, diese Strukturen am lebendigen Leib zu beobachten. Und dafür hat unser ehrenwertes Mitglied Gwyneth Griffiths – sie lebte von 1458-1770 – diesen Zweig der Anatomie entwickelt. Ich möchte nicht allzu viel Worte darüber verlieren, sondern euch gleich vordemonstrieren wie hilfreich diese Methode ist.“

Sara rieb sich die Hände.

„Ich brauche einen Freiwilligen!“

Leonardo trat einen Schritt hervor. Sara hieß ihn sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Während Leonardo sich seiner Kleider entledigte, kam ich nicht umhin ein wenig neidisch zu werden. Durch sein jahrelanges Tair Fraich-Training hatte er den Körper eines Top-Athleten mit Six-Pack und allem drum und dran. Und offensichtlich war er sich seiner Reize bewusst, denn er ließ gekonnt verschiedene Muskelgruppen spielen. Fehlte nur die Sonnenbrille und der Strandmacho wäre perfekt gewesen. Aber sie hatte Stil, die kurze Einlage.

Leonardo musste sich bäuchlings auf die Liege legen.

„Gut, eure volle Aufmerksamkeit, bitte. Was ihr jetzt sehen werdet, ist nicht das Ziel der nächsten paar Wochen, sondern soll nur illustrieren, was nachher, wenn ihr es genug geübt habt, in euch passieren wird. Wir unterscheiden die äussere Magie von der inneren Magie.“

Sara klatschte einmal in die Hände und sagte: „Esgyrn!“

Dann passierte es.

Leonardo verwandelte sich vor unseren Augen in ein Knochengerüst. Und zwar in ein Knochengerüst, das sich bewegte.

Ganz deutlich waren die Bewegungen der Rippen, verursacht von seiner Atmung zu sehen. Auf und ab in gemächlichem Tempo. Ein ehrfurchtsvolles Raunen ging durch die Klasse. 

„Das ist eine Anwendung der äusseren Magie. Wenn ihr es nachher für euch übt, dann wird sich der Körper nur innerhalb eures eigenen Bewusstseins verwandeln; für Aussenstehende wird kein Unterschied zu registrieren sein. Dies ist für die Diagnose-Stellung sehr wichtig, weil anwesende Angehörige sonst einen regelrechten Schock erleiden würden.“

Ich schaute zu Lara hinüber. Sie war kreideweiss und krallte sich an der Liege fest. Sie schien mit einer Ohnmacht zu kämpfen.

Sara bemerkte dies ebenfalls und klatschte erneut in die Hände, worauf Leonardo wieder seine normale Gestalt annahm.

„Ihm ist nichts passiert. Der Patient merkt im Normalfall nichts von der Prozedur. Hast du etwas gefühlt Leonardo?“

Leonardo schaute auf. „Was?“

Laras Gesicht gewann wieder an Farbe.

„Setz dich mal auf und schau deine Hände an.“, sagte Sara.

Als Leonardo sass, klatschte sie wieder in die Hände und sagte: „Esgryn yr llaw!“.

Vor seinen eigenen Augen verwandelten sich Leonardos Hände in Knochenhände. Ich wäre wahrscheinlich sofort in eine Panik geraten, aber Leonardo rief nur überrascht Wow! aus.

Er schien es ganz amüsant zu finden, was sich da vor seinen Augen abspielte. Er formte seine Hand zu einer Faust, oder vielmehr seine Knochen, müsste man sagen, und führte ein paar Tair Fraich-Bewegungen durch.

„Genial, so kann man eine Schulter viel besser ausrenken, weil man schon beim ersten Angriff den idealen Winkel dafür sieht!“, meinte er.

Sara lachte. „Nun, ich muss sagen, ich verwende die Technik eher um Schultern einzurenken ...“

Ich fühlte mich wie in einem Fantasy-Film, wo ein gutes Special Effects-Team an der Arbeit war. Aber das war erst der Anfang der Vorstellung. Als nächstes klatschte Sara in die Hände und rief:  „Cyhyrau!

Ich hatte keine Idee, was das Wort bedeuten könnte, aber einen Moment später verwandelte sich Leonardo in eine Gestalt, die nur aus Muskeln bestand.

Diesmal ging ein lautes Raunen durch die Klasse. Leonardo war ein gutes Beispiel, um uns die menschlichen Muskeln vorzuführen. Er begann zu lachen, erhob sich und ging zu einem Spiegel, der über einem Lavabo installiert war.

„Cool!“, sein Kommentar. Er zeichnete einige Tair Fraich Bewegungen in die Luft. Es sah wunderschön aus, wenn auch sehr befremdend.

Lara, mittlerweile besser an die Vorstellung gewöhnt, betastete ihn vorsichtig.

„Ich spüre keinen Unterschied! Ich spüre seine Haut, wie immer ...“

Wir gingen alle näher zu Leonardo und tasteten seinen Rücken und seine Arme ab. Man spürte absolut keinen Unterschied. Die ganze Sache gaukelte sozusagen nur den Augen etwas vor. Oder vielleicht müsste man besser sagen, dass die Augen die einzigen Sinne waren, die nur einen Teilausschnitt der Realität sahen.

Sara forderte uns auf, uns wieder zu setzen. Sie gab uns noch zwei Vorführungen. Dafür sagte sie Ymennydd, worauf sich der wandelnde Muskelhaufen Leonardo in ein frei in der Luft schwebendes Gehirn verwandelte, und Stumog, worauf das Gehirn verschwand und durch einen Magen weiter unten im Raum ersetzt wurde. Auch dieser schwebte frei. Man sah die Magen-Peristaltik, wie sie wellenförmig durch das Organ lief. 

Danach fing die Arbeit an. Sara erklärte uns, wie wir die Technik zu üben hatten, und liess uns dann alleine. Die Übungen konnte jeder gut für sich selber durchgehen, ja sie war nicht einmal sonderlich schwierig. Zusammengefasst ging es darum, dass wir unser Bewusstsein darum baten uns nur einen Teil der Wirklichkeit darzustellen. Den Namen der Struktur, die wir dargestellt haben wollten, konnten wir auf jede x-beliebige Sprache aussprechen. Sara ermahnte uns aber, dass diese Möglichkeit in dem Moment, wo man des Walisischen wirklich kundig wurde, wieder entfiel. Scheinbar sprach das Bewusstsein danach nur noch eine Sprache. Wie auch immer das zu verstehen war.

Niemand von uns schaffte es an diesem ersten Morgen einen Teilausschnitt präsentiert zu bekommen. Aber es half, dass wir wenigstens wussten, nach was für einer Erfahrung wir suchten, um welche Erfahrung wir unser Bewusstsein baten.

Die Zeit nach dem Unterricht raste nur so dahin, weil Sara es nicht versäumt hatte uns trotz der neuen Herausforderung in ihrem Unterricht doch noch Hausaufgaben aufzugeben. Und wenn wir etwas wirklich verstanden hatten, so war es die Notwendigkeit die Hausaufgaben zu machen. Wollte man all die Fähigkeiten realisieren, die in der Gemeinschaft geschult wurden, so waren Hausaufgaben ein Muss. Im Nu war es drei Uhr nachmittags.

Die Konferenz wartete. 

Wir öffneten die Falltür im Haus der Verheirateten und gingen die Steintreppe hinunter. Wie beim ersten Mal war alles stockdunkel, aber immerhin gab es diesmal keinen Stau auf dem Weg in die Unterwelt.

Gareth war den ganzen Tag über sehr ruhig gewesen und ich war irgendwie froh darüber, dass ich es mir jetzt wieder erlauben konnte, sein Leid zu teilen, indem ich ebenfalls an Eileen dachte. Geteilter Schmerz verbindet und intensiviert jede Freundschaft.

Die Tür des Kronleuchtersaals war verschlossen.

Manush klopfte laut an. Man hörte Schritte, die sich auf der anderen Seite der Tür näherten, dann wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht und vor uns stand Liam. Wir hatten ihn seit unserem ersten Aufenthalt in der Hauptzentrale der Achubiad nicht mehr gesehen.

Wir umarmten uns wie die besten alten Freunde und ich stellte ihm Gareth vor. Die Gemeinschaft schien trotz ihrer Grösse eine kleine Welt zu sein, denn Liam hatte schon viel von Gareth gehört. Wahrscheinlich war es seine Pflicht als Retter über jedes Gemeinschaftsmitglied orientiert zu sein.

Etwa zehn Leute sassen im Kronleuchtersaal um einen Konferenztisch herum. Sie spielten Tischfussball.

Sie hatten einen weissen Ball von der Grösse eines Tischtennis-Balls und versuchten anscheinend Tore zu schiessen. Dafür hatten sie ihre Hörner so auf den Tisch gelegt, dass zwischen Tischoberfläche und Hornwölbung eine Öffnung entstand, die als Tor diente.

Sechs der Leute am Tisch kannten wir.

Ganz rechts aussen sass Narek, der gerade ein Tor einkassiert hatte und neben ihm seine Frau Janine. Zu meiner grossen Überraschung sass neben ihr mein Vater; er hatte das Tor scheinbar geschossen. Auf jeden Fall jubelte er lautstark, während Ahmed meinem Vater gratulierte. Neben Ahmed nahm Liam Platz und neben Liam sass Colin, der Meister des Heiltranks. Und dann war da noch Sara, die aber vom Spiel nicht ganz so gefesselt schien. Die drei anderen kannte ich nicht.

Wir setzten uns unaufgefordert auf die drei unbenutzten Stühle. Janine schoss bei Ahmed ein gewagtes Tor. Gut gezielt landete der Ball in der linken unteren Ecke des Pseudotors.

Gute drei Minuten machten die Dozenten mit ihrem Spiel weiter und ignorierten uns weitgehend. Dann kam das Spiel zu einem Ende. 

Die Konferenz konnte beginnen. Liam leitete sie. Da nur Walisisch gesprochen wurde, riefen wir alle unsere Siaraduon. Die Amtssprache wurde scheinbar sehr ernst genommen, auch wenn alle anwesenden Leute zum Beispiel des Englischen mächtig waren, wurde trotzdem Walisisch gesprochen.

„Wir sind heute zusammengekommen, weil gestern Abend in Dublin Gareths Freundin – Eileen Smith – plötzlich spurlos verschwunden ist. Nun, ich muss niemanden darüber belehren, dass DHAs, die einfach so verschwinden, nachdem sie mit der Gemeinschaft in Kontakt gekommen sind, kein gutes Zeichen sind.“

Er blickte in die Runde.

„Gareth, Manush und James, bitte erzählt uns was genau vorgefallen ist und lasst nichts, sei es auch noch so unbedeutend, aus.“

Alle drehten ihre Köpfe zu uns hin.

Manush hatte wahrscheinlich am meisten Abstand zu der Sache, weil sie Eileen nicht sonderlich gut gekannt hatte. Zudem war sie auf dem Weg geblieben, während wir anderen pinkeln gegangen waren. Wenn also jemand etwas wichtiges gesehen hatte, dann war es ohne Zweifel Manush. Ich zwickte sie unter dem Tisch ganz leicht in den Oberschenkel. Sie kapierte und legte los.

Sie sprach Englisch und ihr Siaraduon übersetzte ins Walisische, was ich eigentlich überflüssig fand, aber vielleicht sprach ja jemand kein Englisch. Wer weiss ...

„Also, wir waren in diesem Park im Zentrum von Dublin – wie heisst er noch mal?“

„St.Stephens Green“, sagte Gareth.

„ ...ja dort, ich war eben erst angekommen und Eileen glaubte uns nicht, dass wir fliegen können. Nun ja, da hat James ihr was vor geflogen und sie war so begeistert, dass sie auch fliegen wollte.“

Ein stolzes Lächeln auf den Gesichtern der Versammelten.

„Und dann sind wir eigentlich schon aufgebrochen, um zu der Dwr Mawr-Station bei James‘ Eltern zu gehen, aber dort sind wir zu viert nie angekommen, weil die anderen drei mal kurz mussten. Eileen ging rechts von mir hinter einen Busch. Und weil Frauen oftmals ein wenig länger brauchen als Männer, vermutete niemand von uns etwas. Erst als sie nach etwa drei Minuten immer noch nicht zurück war, fingen wir an nach ihr zu rufen und sie zu suchen, aber da war sie schon weg. Wir fanden keine Spuren, es war recht dunkel in dem Park. Nirgends gab es ein Lebenszeichen von ihr. Nach etwa einer halben Stunde gaben wir das Suchen auf und kamen ziemlich entmutigt wieder hier nach Beirut zurück. Und heute Morgen hat Samir El-Bahr diese Konferenz einberufen.“

Kurz und bündig, dachte ich. Manush hatte einfach einen Sinn für das Wesentliche.

„Mehr wisst ihr nicht?“, fragte Liam.

Wir verneinten.

„Gut. Ahmed und ich haben bereits etliche Eventualitäten im Vorfeld abgecheckt. Unser erster Verdacht war natürlich, dass Eileen von den Lledrith entführt wurde, so wie du nach dem Besuch von James bei dir in Marseille, Gareth. Aber das war nicht der Fall. Die Lledrith hatten gestern während des ganzen Tages keine auffälligen Aktivitäten in Irland. Es gab lediglich einen kleinen Zwischenfall an der Nordküste, als ein Anwärter versuchte unser Mitglied – Heiri aus Bern – gefangen zu nehmen, um Tchar zu beeindrucken. Aber erstens hatte der Anwärter keine Chance gegen Heiri, und zweitens wussten wir bereits etwa zehn Minuten vor dem Angriff, dass er stattfinden würde. Ahmed war für alle Fälle dort, hinter einem lecken Kahn versteckt. Sonst gab es auf der ganzen Insel keine nennenswerten Lledrith-Aktivitäten.“

Mein Vater hob die Hand.

„Ist das nicht ungewöhnlich? Normalerweise verzeichnen wir am Montag doch viel mehr Aktivitäten, weil die Lledrith sich nach dem langweiligen Wochenende wieder austoben wollen ...“

„Das ist wahr ...“, wendete sich Ahmed meinem Vater zu, „es war natürlich auch das erste, an das wir dachten. Dass vielleicht genau wegen dieser möglichen Entführung die anderen Aktivitäten eingestellt wurden. Aber das macht auch nicht wirklich Sinn, weil die Aktivitäten über die letzten zwei Wochen sowieso immer mehr stagnieren. Es ist, als seien die Lledrith in den Ferien. Wenn ich nicht wüsste, dass sie keine Feste feiern, wäre das meine erste Vermutung.“

„Und zudem haben wir noch etwas anderes in Erfahrung gebracht: In denselben zwei Wochen sind überall in Irland vermehrt Vermisstenanzeigen bei der gewöhnlichen DHA-Polizei eingegangen. Noch nie seit dem zweiten Weltkrieg wurden in Irland zur selben Zeit so viele Menschen vermisst. Das ist sehr eigenartig, aber wir haben keine Erklärung dafür. Einzig auffällig ist, dass diese Tendenz mit dem plötzlichen Aktivitäts-Stopp der Lledrith einhergeht.“, sagte Liam.

Mein Vater hob die Hand.

 „Doch wie wir alle wissen: eine Korrelation impliziert noch keine Kausalität.“ 

Diesmal stupste Gareth mich unter dem Tisch.

„Was bedeutet das?“, flüsterte er mir ins Ohr.

„Das bedeutet, dass nur weil zwei Dinge zeitnah von einander auftreten, noch kein Ursache-Wirkung-Verhältnis davon abgeleitet werden kann.“

Er nickte.

Narek räusperte sich.

„Wir wissen also so gut wie nichts.“ Er drehte sich Gareth zu. „War Eileen früher schon mal mit der Gemeinschaft in Kontakt gekommen? Ich meine durch Manush und James?“

„Nein.“

„War sie mit einer radikalen politischen Bewegung in Kontakt?“

„Ich glaube nicht.“, sagte Gareth.

Liam erhob sich.

„Wir müssen den nächsten Schritt in den Untersuchungen einleiten.“, sagte er.

Die anderen Dozenten nickten ernst und verständig. Wir verstanden nicht.

„Wir werden mit dem Taithwr Mewnol in Eileens Bewusstsein reisen und so herausfinden, wo sie sich gerade befindet. Das schadet niemandem und hat keine Nebenwirkungen, aber aus Gründen des Anstands wenden wir diese Technik wirklich nur in Notfällen an. Ihr habt das schon mal mitgekriegt, hat Robert mir erzählt?“

Ich nickte. „Ja, Manush und ich schon, als Gareth und Leonardo noch in Tschrak gefangen waren. Aber Gareth hat’s noch nie gesehen.“

„Das macht nichts. Gareth wird zu seiner Beruhigung mit mir  in Eileens Reich reisen.“

Gareth blickte jetzt etwas munterer in die Welt; er schien Hoffnung zu schöpfen.

„Wie funktioniert das genau?“, fragte er.

Ahmed stand auf und ging, während er Gareths Frage beantwortete, um den Tisch herum.

„Ganz einfach. Du wirst mir nachher die Hand geben und wir werden zusammen eine Reise in Eileens Bewusstsein unternehmen. Durch den Kontakt unserer Hände wird alles, was ich sehe, automatisch in dein Bewusstsein übertragen. Das heisst, du und ich, wir werden sehen, was Eileen sieht, wir werden hören, was Eileen hört und wir werden fühlen, was Eileen fühlt. Wir werden für eine kurze Zeit zu einer Art von Eileen-Doppelgängern, d.h. wir werden uns auch so verhalten, wie sie es gerade tut.“

Einen Moment lang musste ich an meinen Vater denken und wie er wild um sich gefuchtelt hatte, weil Gareth gerade der Meinung erlegen war, er müsse ein Loch in die Kerkerwand in Tschrak hauen.

Ahmed war ein Mann der Tat. Er wollte nicht lange fackeln und Gareth alles erklären, deshalb ergriff er Gareths Hand und zog ihn vom Tisch fort. Liam brachte ihm unterdessen zwei Stühle. Ahmed rollte die Ärmel seiner Tunika hoch. Zum Vorschein kamen zwei braungebrannte, drahtige Arme. Dann fasste er erneut Gareth an der linken Hand.

Er gab einen komischen Laut von sich. Dann wurden sie beide seltsam still. Sie blieben in einer etwas steifen Art und Weise sitzen und schauten scheinbar in sich hinein.

Dann geschah gar nichts mehr. Sie blieben genau in derselben Haltung sitzen und atmeten ruhig ein und aus. Wo auch immer Eileen war, sie schien bereits in eine Art Lethargie verfallen. Es wirkte trostlos und eine kalte Hand umklammerte mein Herz. Eileen, der Schwarm meiner Jugend, das Herzblatt meiner Kindheit war entführt worden. Jetzt gab es so gut wie keine Zweifel mehr. 

Die trostlose Szene dauerte etwa fünf Minuten. Ahmed schien es genauer wissen zu wollen und wartete scheinbar darauf, dass sich dort noch irgendwas tat. Aber nach den mir endlos vorkommenden fünf Minuten erwachten Ahmed und Gareth wieder zum Leben.

Gareth war jetzt noch bleicher als vor seiner Reise. So hatte ich ihn noch nie gesehen, und wir hatten schon viel zusammen durchgemacht. Weder der letzte Platz beim nationalen Stepptanz-Wettbewerb, noch die Blossstellung durch unseren Mathematiklehrer in der fünften Klasse, wo ihn die ganze Klasse ausgelacht hatte, hatten ihn so sehr seine Gesichtsfarbe verlieren lassen. Ich versuchte ruhig zu bleiben, als ich registrierte, dass ihm Tränen die Wangen herunter kollerten.

„Es sieht nicht gut aus, fürchte ich!“, sagte Ahmed und trug seinen Stuhl zum Tisch zurück.

„Ihre Welt besteht aus einer lähmenden Angst, Wut und einer Fantasiewelt, in die sie sich immer wieder mal flüchtet. Sie befindet sich in einem leeren, kleinen Zimmer und sitzt auf einer Wolldecke.“

Ahmed blickte ernst in die Runde. 

„Sie freut sich nicht an ihrem Leben. Sie findet es trostlos.“

Sara zog eine ihrer Augenbrauen hoch. „Ist es sehr trostlos?“

Gareth stand energiegeladen auf.

„Es ist enorm trostlos! Viel trauriger als ich es in meiner Gefangenschaft hatte! Sie fühlt sich alleine und unverstanden, und irgendetwas macht ihr Angst. Sie hat Angst um ihre Ehre als Frau, das habe ich ganz deutlich gespürt.“ 

Gareth zitterte jetzt vor Anspannung. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ihn mit auf die Bewusstseinsreise zu nehmen. Auf der anderen Seite gab ihm das wenigstens Klarheit, und das war doch immerhin ein kleiner Trost. Nicht zu wissen ist manchmal schmerzvoller, als zu wissen.

Ahmed räusperte sich. „Nun, der Beton des Zimmers weist eine sehr schöne Maserung auf. Es gibt viele Nuancen von verschiedenen Grautönen und das bisschen Licht, das unter der Tür einen Durchgang ins Zimmer findet, wirft wunderschöne Schatten, die einen fast schon goldenen Anklang haben. Und die Ruhe erlaubt es einem in tiefere Schichten des Selbst vorzudringen, aber ich glaube Eileen hat soweit noch nichts davon bemerkt. Sie findet es nur trostlos. Aber dann wäre da auch noch der Platz, den sie hat. Sie könnte dort ideal Leibesübungen machen oder Schauspiel-Einlagen üben. Die Akustik würde sich auch für‘s Singen eignen.“

War ich kurz vorher noch der Überzeugung gewesen, dass manche Situationen eindeutig keine schöne Seite an sich hatten, so war ich jetzt wieder in einem Zwischenreich angekommen, wo alles entweder so oder anders gesehen werden konnte. Ich fragte mich, ob Ahmed, wenn er so entführt worden wäre, wirklich die Graufarben des Betons studiert hätte und Singübungen gemacht hätte. Irgendwie konnte ich mir das gut vorstellen, schliesslich waren die alteingesessenen Gemeinschafter verrückter, als man es ihnen zutraute.

Sara räusperte sich erneut.

„Und weisst du, wo sie sich befindet?“

Ahmed schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Solange sie in diesem Raum ist, kann ich nichts über ihren Aufenthaltsort herausfinden, zumindest nicht mit dem Taithwr Mewnol. Sie weiss es selbst auch nicht.“

Narek stand auf und begann bedächtig um den Tisch herumzugehen. 

„Also, wir wissen jetzt doch schon einiges. Lasst uns zusammenfassen: Eileen wird definitiv seit gestern von unbekannten Tätern an einem uns bis dato noch nicht bekannten Ort festgehalten, d.h. sie wurde tatsächlich entführt. Wir wissen, dass sie keine offensichtlichen Feinde hatte und auch nicht von den Lledrith entführt wurde, da diese seit gut zwei Wochen kaum mehr Präsenz zeigen. Wir vermuten weiter, dass die Lledrith irgendetwas planen, wissen aber nicht was.“

Mein Vater unterbrach Nareks Rede.

„Hat Heiri in der Auseinandersetzung mit dem Anwärter etwas in Erfahrung bringen können?“

„Der junge Lledrith war unvorsichtig genug, um Heiri in seiner eigenen Sprache immer wieder zu beleidigen. Dabei sagte er des öfteren, die neuen Strategien würden uns ein für allemal den Garaus machen. Gott sei Dank spricht Heiri seit drei Jahren auch ein recht gutes Lledrith. So konnte er in Erfahrung bringen, dass Tchar seit einiger Zeit mittels des alten Weges regelmässige Besuche in Irland abhält. Mehr wissen wir nicht, aber es scheint offensichtlich, dass die Lledrith den Krieg intensivieren wollen.“

Gareth, der immer noch am selben Ort stand, wenn auch nicht mehr ganz so zittrig, fuhr sich mit der linken Hand durch die Haare, als wolle er sich etwas beruhigen.

„Und was hat das mit Eileen zu tun? Vermutet ihr, dass sie doch von den Lledrith entführt wurde?“, fragte er. 

Narek fuhr fort.

„Es könnte sein. Aber wir wissen es nicht. Auch wäre es uns nicht ganz klar, wie sie unsere Kristalle, die die Lledrith-Aktivität überwachen, hätten umgehen können. Doch wir dürfen Tchar auf keinen Fall unterschätzen. Er ist fies, intelligent und seit hunderten von Jahren sehr wütend auf uns; er wartet also nur auf eine Möglichkeit uns den Garaus zu machen. Zudem hat er neue Technologien zu seiner Verfügung, wie Liam in seiner letzten Mission heraus gefunden hat.“

Liam nickte bedeutungsvoll.

Dann erschrak ich plötzlich ganz fest. Unter dem Tisch kam vom einen Moment auf den anderen etwas Schwarzes hervor und flog auf Liam zu. 

„Vorsicht!“, schrie ich so laut, dass es mehr nach einem heiseren Bellen, als nach einer Warnung tönte. Das Thema Lledrith hatte wohl mein Alarmsystem hoch gefahren. Ich erhob mich wie eine Granate und nahm die Tair Fraich-Grundstellung ein. Doch einen Moment später erkannte ich Colins Flughund, der bis jetzt unter dem Tisch geschlafen haben musste.

Immerhin heiterte mein Schrei die Runde etwas auf und der Flughund sah mich mit aufgestellten Ohren und grossen Augen aufmerksam und munter an. Liam streichelte ihn hinter den Ohren und berichtete uns von seiner letzten Mission.

„Ich war gestern für ein paar Tage in Tschrak und habe Feldforschungen betrieben ...“

„... du warst gestern ein paar Tage?“, warf Manush ein.

Narek klopfte seiner Tochter auf die Schulter. 

„Fünftes Ausbildungsjahr ...“, sagte er.

Wir nickten verständnisvoll, auch wenn wir uns so ziemlich gar nichts unter gestern ein paar Tage vorstellen konnten.

Liam fuhr fort.

„Das Ziel der Feldforschung war herauszufinden, inwiefern sich der durchschnittliche Lledrith darüber im klaren ist, dass er lediglich eine Illusion ist.“

Wieder unterbrach ihn Manush.

„Moment mal. Du wolltest die Illusion darüber aus spitzeln, inwiefern sie sich darüber im klaren ist, dass sie nur eine Illusion ist?“

„Genau! Paradox, nicht? Auf jeden Fall habe ich mich mit Tchars Stellvertreter getroffen und ihm gesagt ich sei ein Journalist der Lledrith Post, was er mir sofort abkaufte, nachdem ich seiner Sekretärin einen Tritt ans Schienbein verpasst hatte. Und dann fragte ich ihn während der nächsten Tage über all die Details der neuen Entwicklungen aus. Natürlich rückte er nicht mit spezifischen Informationen heraus, aber er war doch dumm genug mir von neuen Haftschlüssel-Techniken und von einer neuen Allianz zu berichten. Leider sagte er nicht mit wem sie eine Allianz eingegangen waren, aber immerhin. Es machte auf jeden Fall viel Spass, wenn mir auch die Sekretärin mit der Zeit leid zu tun begann, weil sie fortan täglich einen Tritt ans Schienbein wollte. Sie sind ein merkwürdiges Volk, die Lledrith.“

„Sind sie jetzt ein Volk oder eine Illusion, diese Lledrith?“, wollte Gareth wissen. Und ich musste zugeben: etwas Klarheit hätte auf keinen Fall geschadet.

„Eine gute Frage!“, lobte Sara ihren neuen Studenten. „Langfristig lohnt es sich gute Fragen zu stellen!“

Mehr an Antwort gab es aber auch nicht. Anders gesagt, die Frage wurde leichtfüssig übergangen.

„Mehr habe ich nicht herausgefunden, aber dieses bisschen ist doch aufschlussreich, nicht wahr?“, sagte Liam.

Man nickte.

„Doch was auch immer die Lledrith im Schilde führen, ist ein Thema für eine Langzeitstudie. Oberste Priorität hat jetzt Eileens Befreiung. Liam, wie lange denkst du braucht ihr, um euch für eine Befreiungsaktion vorzubereiten?“, fragte Narek.

Liam schaute zu Ahmed rüber.

„Heute Abend könnten wir sie befreien.“ 

„Aber wie? Wir wissen doch nicht wo sie fest gehalten wird?“, warf Gareth ein.

„Wir haben unsere Methoden ...“, antwortete Ahmed.

Er dachte kurz nach. „Um sieben soll es los gehen!“

„Fel ’na mae pethau!“, riefen alle wie aus einem Mund. Das schien den Beschluss zu bestätigen. Die englische Übersetzung für dieses Gemeinschaftssprichwort lautet: Es ist, wie es ist. Dies sollte der Tatsache Ausdruck verleihen, dass im Endeffekt alles in den Händen der universalen Intelligenz liegt, und dass man sich als Gemeinschafter diesen weisen Entschlüssen unterordnet, so erklärte es mir Narek einmal. Fel ’na mae pethau, war einer von vielen Aussprüchen, die aus dem Arsenal der Weisheit stammten, das von erfahrenen Gemeinschaftern immer wieder mal zitiert wurde.

„Kann ich irgendwie helfen?“, wollte Gareth wissen.

„Nein, aber ihr könnt die Befreiungsaktion alle drei mitverfolgen. Kommt heute Abend um kurz vor sieben wieder hierher. Ihr seid bis zur Lösung dieses Problems von der Leistungspflicht im Unterricht befreit.“, sagte Narek.

Damit war die Zusammenkunft beendet.

Jeder ging in eine andere Richtung davon. Der Kronleuchtersaal hatte, wie es sich heraus stellte, mehrere Ein- und Ausgänge, wo auch immer die alle hinführten. Gareth, Manush und ich benutzten denselben Weg zurück, den wir gekommen waren.

 

Interludium

 

Interludium

 

 

An die Redaktion der London Times

 

 

Guten Tag

 

 

Ich weiss mich zu beherrschen, deswegen eröffne ich meine Briefe immer noch mit der nötigen Mindesteinheit an Höflichkeit. Ich könnte ja auch nur Tag schreiben, aber Sie sehen, ich schreibe Guten Tag.

 

Wenn Sie meine Briefe nach dieser Zusendung nicht veröffentlichen, sind Sie zweifelsfrei nicht vorhanden. Dann muss ich langsam davon ausgehen, dass das Blatt (das ich übrigens immer noch lese) nur noch von Computern geschrieben wird, die des Lesens nicht mächtig sind.

 

Kommen wir zur Sache.

Man könnte ja davon ausgehen, dass ich genug traumatisiert worden bin und eigentlich eine Pause verdient hätte. Aber nein. Aus einem für mich nicht nachvollziehbaren Grund, werde ich immer noch drangsaliert.

 

Gestern. Matthew und ich waren übers Wochenende in Frankreich und nehmen die Fähre von Calais nach Dover, um wieder ins geliebte Königreich zurück zu kommen. Und wer hat ebenfalls einen Ausflug zu unseren Nachbarn gemacht und ist wie ich auf der Pride of Canterbury, einem Schiff der P&O? 

 

Richtig. Der Kleine und der Mittlere. Nur, dass sie diesmal Verstärkung an ihrer Seite haben. Fünf Halberwachsene tummeln sich um sie herum. Sieben Kerle, alles in allem, verstehen Sie? 

 

Ich gehe mit Matthew an Deck, zwecks frische Luft. Sie folgen mir. Auf Deck angekommen stelle ich mit Bestürzung fest, dass sonst keine Menschenseele das Bedürfnis nach Frischluft hat. Ich versuche zurück ins Schiffsinnere zu flüchten, doch man versperrt mir den Weg.

 

„Du dummes Huhn! Was tust du auf meinem Schiff?“, fragt der Kleine.

Doch ich lasse mich noch nicht klein kriegen.

„Du hast einen Matrosenkurs gemacht?“, sage ich.

„Hör auf mit den Scheiss-Kursen! Ich mach keine Kurse! Die Kurse sollen zu mir kommen, wenn sie etwas lernen wollen!“

Der Mittlere lacht, das Fussvolk stimmt mit ein.

„Weisst du, wieso ich weiss, dass du dumm bist?“, fragt er weiter. 

Ich verneine.

„Weil du so viel Glück hast! Nur die Dummen haben andauernd Glück. Doch diesmal gehst du leer aus, du dämliche Wanze! Siehst du irgendwo deinen Opi, der dir hilft? He? Siehst du ihn? Oder das dumme Weibsstück in ihrem ockerfarbenen Betttuch? He?“

 

Ich blicke hilflos um mich. Matthew beginnt zu weinen.

Der Kleine schlägt mich, doch ich blocke den Schlag mit einer Jiu Jitsu-Technik, was er gar nicht erwartet. Leider schlägt er mich noch einmal und in meinem Kopf hallt es mächtig nach.

Ich will los schreien, jemanden auf meine Situation aufmerksam machen. Doch hinter mir räuspert sich jemand.

 

Redaktion, wenn Sie nicht glauben, was als nächstes kommt, bin ich Ihnen nicht böse. Man muss es selbst gesehen haben, um es zu glauben. (Ich gehe davon aus, dass Sie die CCTV Aufnahmen bei der MET nicht eingesehen haben?) 

 

Wie gesagt. Heiri, hinter mir, räuspert sich und lässt dabei den Kleinen erröten und zugleich erblassen. Das ergibt ein milchiges Rosarot. Kleinlaut sagt er, nein, stammelt er: „Nein.“

Heiri antwortet. „Doch. Der Garten wartet.“

„Nicht schon wieder Unkraut jäten!“

In dem Moment spielt sich einer der Anderen auf. „Was ist Barry, hast du Angst vor diesem Opa?“

„Er ist eine Bestie! Kämpft wie ein Sumo-Ringer und Boxchamp vereint.“, gibt der Mittlere zur Antwort. Doch der Neuling will sich nichts sagen lassen.

„Dieser alte Furzer?“ Er geht auf Heiri zu und will ihn an seinem grünen Gewand packen.

Doch Heiri wamst ihm drei Fäuste auf den Brustkasten, so dass der Neuling kaum noch Luft kriegt.

„Ihr kommt alle in den Garten Unkraut jäten. Euer Anstand lässt sehr zu wünschen übrig!“

 

Jetzt kommt es, Redaktion.

 

Heiri tut einen Schritt rückwärts und spricht zu seiner Trompete. „Gib mir einen Mynedfa in den Garten von Manuela.“, sagt er

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5203-5

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