Cover

Einführung

Einführung

 

Dies Buch ist der zweite Band meiner Abenteuer in der Cymdeithas, einer geheimen Gemeinschaft von Ärzten und Heilern, welche mit ihren ausserordentlichen Fähigkeiten der Menschheit beistehen und deren Feinde in Schach zu halten versuchen. 

 

Ich wurde von Narek, meinem jetzigen Lehrer, in diese unglaublich reiche Welt eingeführt, nachdem ich die Zulassungsprüfung zu meinem Medizinstudium in Marseille verhauen hatte. Ich sage unglaubliche Welt, weil ich nie gedacht oder vermutet hätte, dass es auf unserem Planeten eine geheime Gemeinschaft von Heilern geben könnte, für die Wunder etwas alltägliches sind. Zumindest war es für mich unglaublich herauszufinden, dass Menschen eigentlich fliegen können, dass riesige Distanzen innerhalb von Sekunden überbrückt werden können, dass es Zwerge gibt, und dass es Gegenmächte gibt, die ihre ganz eigenen Ziele verfolgen.

 

Ich fühlte mich wie ein Held, doch ich hatte keine Ahnung, dass mir schwere Zeiten bevorstanden. Dieser zweite Band meines Berichts handelt von den ersten Herausforderungen, denen ich begegnete, von Prüfungen, die ich zu bestehen hatte und von Tragödien, die sich vor meinen Augen abspielten.

 

Wer den ersten Band meines Berichts (Die Tieferen, Präludium) nicht gelesen hat, sollte lieber dort mit dem Lesen anfangen; zu vieles wäre sonst nur schwer verständlich. Der zweite Band geht nahtlos dort weiter, wo der erste Band aufgehört hat und baut auf diesen auf.

 

James Tannot

Aberystywth, im Dezember

 

1 Einmal Wunder, bitte.

 

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Einmal Wunder, bitte.

 

„Das Leben müsste eigentlich jeden Moment gefeiert werden. Wie das zu tun ist, muss natürlich jeder für sich selbst herausfinden, aber es gibt so viel zu bewundern ...“

 

Callineb Elwedig, Adnod 84

 

 

Als ich am nächsten Morgen nach meinem Ausflug nach Marseille aufwachte, hatte ich bereits ein Lächeln auf den Lippen. Ich wusste instinktiv, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, Gareth in mein Geheimnis einzuweihen. Von nun an würde ich des öfteren spät nachts nach Marseille reisen, um mit ihm irgendwelche Dinge auszuhecken. Die Möglichkeiten, welche die Gemeinschafts-Einrichtungen uns eröffneten, waren schier endlos. Das Lächeln auf meinen Lippen war nicht zu verbannen.

In den drei Minuten, die ich mir noch gönnte, bevor ich mich zum Training mit Leonardo und meinen Kameraden begab, huschte eine wunderbare Idee vor meinem inneren Auge vorbei. Ich würde Gareth als nächstes auf eine Reise mit dem Dwr Mawr mitnehmen, und zwar nach Island, und dort würden wir dann unseren Flugwettbewerb von gestern wiederholen, diesmal aber in den warmen Quellen landen. Und dann würde ich ihm bei gemütlichem Schwimmen in warmem Wasser mehr von meinem jetzigen Leben erzählen. Natürlich würde ich ihm dann auch Manush vorstellen müssen, aber das konnte momentan noch warten. 

Schliesslich erhob ich mich guter Dinge. Der Morgen begann. 

Die Anderen waren sich auf dem Vorplatz am Aufwärmen. Ich erhielt an diesem Morgen eine neue Übung von Leonardo. Es handelte sich um das Sensibilisieren gewisser Hautareale, so dass ich im Ernstfall nur nach Gefühl kämpfen konnte, ohne die Augen gebrauchen zu müssen. Ich machte die Übung mit Vero zusammen, aber sie war unkonzentriert und irgendwie abwesend, was mir aber nichts ausmachte, da ich aufgrund meines Ausflugs selbst recht müde war.

Manush und Lara mussten die Einbein-Meditation machen, während Leonardo und Small Owl die Verknüpfung von indianischen Kriegstänzen und Tair Fraich diskutierten.

Nass geschwitzt duschte ich mich danach und zog mich studentengerecht an. Es lag ein weiterer qualvoller Anatomie-Tag vor mir. Ich wusste schon jetzt, dass ich es auch heute nicht schaffen würde, das Skalpell in die Hand zu nehmen. Der bloße Gedanke daran machte mir Angst. Ich war mittlerweile richtig vom Anatomie-Unterricht traumatisiert. Das Wort allein brachte mich schon ins Schwitzen. Auf dem Weg in den Anatomiesaal erzählte ich Manush von meiner Sorge, dass ich nie bewusst einen Menschen verletzen könnte - und von meiner immer größer werdenden Angst vor dem Skalpell. 

Manush teilte mein Leid mit mir, wusste aber auch keinen Rat. Also nahm ich mir zumindest vor, wie ein Held unterzugehen und mir möglichst nichts anmerken zu lassen.

Es kam wie erwartet. Ich verbrachte einen weiteren Morgen mit Zuschauen, beobachtete, wie die anderen in immer tiefer liegende Strukturen des menschlichen Körpers vorstießen. Manush war nun an meinem Platz und arbeitete an der Bauchmuskulatur, bis sie das Omentum majus freigelegt hatte. Wie sich herausstellte, war dies eine Lieblingsstruktur von Sara, denn sie hielt einen einstündigen Vortrag über die verschiedenen Bindegewebe, wobei sie dann einen Exkurs in die Bindegewebs-Massage machte. Irgendwie brachte sie dann die Bindegewebe noch mit dem Planeten Merkur und Tair Fraich in Verbindung, aber niemand von uns konnte ihr folgen. Nicht einmal Leonardo verstand, was das Bindegewebe mit seinem geliebten Tair Fraich zu tun haben sollte.

Einen weiteren Tag mit Sara unbeschadet überstanden, freute ich mich umso mehr auf den Nachmittag mit Colin, der uns heute das Fliegen ohne Elwuyn beibringen wollte. Wir trafen ihn auf dem Vorplatz, wo er bereits wartete. Er hatte seinen Hund wieder dabei, der wild in den Lüften herum schoss, als jage er ein Insekt. Colin erklärte uns, dass der Flughund über Nacht in die Pubertät eingetreten sei, und dass die Hormone für seinen wilden Flug verantwortlich seien. Der Flughund nahm in seinem übersteigerten Interesse für Insekten sehr wenig Rücksicht auf uns Umherstehende und sauste mit voller Wucht gegen Leonardo. Das war eigentlich gut, denn es zeigte uns, wie weit man die eigenen Reflexe schulen konnte. Leonardo reagierte blitzschnell. Er brachte den Flughund sanft zu Boden ohne ihm weh zu tun. Doch dieser startete gleich wieder, um weitere Insekten zu jagen. 

Colin schlug vor, das Flugtraining hier auf dem Vorplatz abzuhalten, da wir dafür weder besondere Utensilien noch einen besonderen Ort brauchten. Ich wollte besonders gut aufpassen, damit ich es heute Abend Gareth würde beibringen können. Das würde ihn sicher interessieren.

Colin sprach einige einleitende Worte.

„Das Fliegen ohne Elwuyn gehört zu der hohen Kunst der Gemeinschaftsfliegerei. Die Technik, die ich euch heute vermitteln will, wurde im Jahre 1176 von Karl Seehaus, einem österreichischen Gemeinschafter, entwickelt und perfektioniert. Seitdem wurde sie nur geringfügig geändert. Das wirklich Entscheidende an dieser Technik spielt sich in der Vorstellung ab, wobei diese so weit perfektioniert werden muss, dass die Fähigkeit einem in jedem Moment zur Verfügung steht. Studenten, dies zu lernen ist nicht einfach, aber ich werde euch heute alle so weit bringen, dass ihr aus dem Stande starten könnt. Viele Leute brauchen etwas Anlauf für den Startsprung, aber ich halte das für Faulheit und diesen Charakterzug unterstütze ich nicht.“

Colin machte uns zunächst vor, was wir am Abend selbst zu tun im Stand sein sollten. Er hob auf der Stelle, ohne sich vorher irgendwie zu bewegen, ab und landete wieder. Und hob ab und landete. Und hob ab und landete. Es sah so einfach aus.

„Was tue ich?“, fragt er uns.

Gespannte Stille.

„Nun, in dem Moment, wo ich abheben will, mache ich folgende Bewegung, die ihr wahrscheinlich nicht gesehen habt.“ Er zeigte uns seine Hand und kreuzte Daumen und Zeigefinger. Und schon hob er wieder ab und landete erneut.

„Dies ist die Bewegung, die ich mit der Vorstellung der Schwerelosigkeit kodiert habe. Die Bewegung ist willkürlich, es muss einfach immer dieselbe sein. Ihr fragt euch sicher, was das ist, eine Vorstellung zu kodieren? Nun, es geht darum, dass ich eine Tätigkeit mit einer Vorstellung kopple. Jedes Mal wenn ich die Vorstellung klar gefasst habe und mich total schwerelos fühle, mache ich mein Zeichen. So lade ich diese Bewegung also mit der Vorstellung auf und wann immer ich sie ausführe, lebt in mir das Gefühl des Fliegens auf - wenn ich das will. Ich kann die Bewegung auch ausführen, ohne den Effekt auszulösen.“

Er kreuzte wiederum Daumen und Zeigefinger, aber diesmal blieb er am Boden.

„Ich wiederhole noch einmal. Welchen Inhalt hat die Vorstellung? Ganz einfach: Ich stelle mir vor, ich sei von Schwerelosigkeit durchdrungen. Beim Elwuynen wird eurem Geist genau diese Vorstellung, als Folge eines Abkommens mit den Sylphen, geschenkt. Hier bilden wir die Vorstellung nun selbst und laden die Bewegung damit auf, imprägnieren sie sozusagen mit einem starken Gefühl. Ihr habt also bereits die besten Voraussetzungen, um die Vorstellung adäquat erleben zu können, denn ihr seid alle schon mindestens einmal geflogen. In der folgenden Übung werdet ihr euch einfach vorstellen, wie es ist, schwerelos zu sein. Ihr werdet die Erfahrung mittels eurer Erinnerung wachrufen und in dem Moment, in dem sie am stärksten ist, macht ihr die gewählte Bewegung - ihr koppelt bewusst eine Erfahrung mit einer aktiven Bewegung. Schaut, dass die Bewegung, die ihr wählt, nicht zu kompliziert ist, dass sie immer durchführbar ist, auch wenn ihr beispielsweise gefesselt am Boden liegt. Als Gemeinschafter weiss man nie in was für Gefahren man sich begeben muss.“

Danach schickte Colin uns üben.

Wir verteilten uns und stellten uns geschlagene zwei Stunden lang vor, wir würden fliegen, wobei wir immer dann, wenn das Gefühl deutlich war, unsere Bewegung aufluden.

Ich machte die Übung auf meiner Lieblingsmauer und wählte als Bewegung eine leichte Beugung des Mittelfingers.

Ich schwelgte in den Gefühlen des Fliegens so gut mein Konzentrationsvermögen das zuliess. Colin hatte uns versprochen, dass wir den Rest des Nachmittags mit Rundflügen füllen dürften, wenn es uns gelänge, dreimal hintereinander ohne Elwuyn zu starten. Das war für mich genug Motivation, mein Bestes zu geben, denn so konnte ich mich besser auf den Wettkampf gegen Gareth heute Abend vorbereiten.  

Doch das Unternehmen erwies sich als zäher als ich es mir ausgemalt hatte. Interessiert wie weit die anderen waren, ging ich um das Haus herum auf den Vorplatz. Alle übten in tiefer Versenkung. Nur Lara fehlte. Colin deutete nach oben, als er mich kommen sah. Tatsächlich hatte Lara es als Erste geschafft, dreimal zu starten. Sie flog in etwa dreißig Metern Höhe kunstvolle Pirouetten. Sofort ging ich zurück an meinen Platz, setzte mich hin und vertiefte mich erneut in die Vorstellung der Schwerelosigkeit. Die kurze Pause hatte gut getan, und die Tatsche, dass Lara bereits in den Lüften schwebte, war stimulierend, gab dem Unterfangen mehr Realität.

Ich konnte nun das Gefühl derart verdichten, dass ich des öfteren mein Zeichen aufladen konnte. Eine Viertelstunde später, als ich den Mittelfinger gerade wieder in Position brachte, erschrak ich. Ich begann nämlich genau in diesem Moment mit einem Vorwärtssprung zu schweben. Das war’s dann zwar zunächst, aber es war ein Anfang. Wenig später begann ich bei der Positionierung des Fingers wirklich zu schweben.

Glücklich pfeifend schritt ich auf den Vorplatz. Ich hoffte, als zweiter in die Lüfte zu entschweben. Auf dem Platz war aber nur noch Small Owl, die anderen waren alle in der Luft. Sie spielten Fangen und sahen zufrieden aus - wenigstens aus der Distanz.

Nun ja, die Letzten werden die Ersten sein, dachte ich und brachte meinen Finger in Position. Die lange und intensive Vorbereitungszeit hatte sich gelohnt, ich begann unmittelbar darauf zu schweben. Es klappte dreimal hintereinander.

Wenig später kam auch Small Owl zu uns herauf - er hatte wegen Übersetzungs-Schwierigkeiten etwas länger gebraucht. Sein Siaraduon hatte sich verliebt und war deswegen mit Verspätung auf sein Codewort erschienen, deshalb wusste Small Owl lange gar nicht, um was es ging. 

Colin gesellte sich dann auch zu uns. Er wollte uns an dem Nachmittag noch in andere Gemeinschafts-Spezialitäten einführen. 

„Als nächstes wollen wir den Hochgeschwindigkeitsflug besprechen.“, sagte er. 

Narek hatte diesen schon einmal erwähnt, erinnerte ich mich.

„Was ist ein Hochgeschwindigkeitsflug?“, frage Leonardo.

„Nun, es ist eben ein schneller Flug …“, erwiderte Colin. Dann fuhr er fort: „Normalerweise fliegen wir nicht allzu schnell, um andere Flugreisende nicht zu gefährden, aber manchmal müssen wir uns beeilen und es gibt keine Dwr Mawr Station in der Nähe. Dann bedienen wir uns des HO875 Flugs.“

Lara fragte nach der Bedeutung der Abkürzung.

„HO875 bedeutet: Hochgeschwindigkeitsflug auf 875 Metern Höhe.“

Lara nickte.

„Dieser Flug wird - wie der Name ja schon sagt - nur auf Höhe 875 Meter über Meer ausgeführt. Diese Höhe dient ausschließlich dem Schnellverkehr. Sie sollte nie für andere Flüge verwendet werden. Da dieser Flug uns mit circa 4000 km/h transportiert, wird er nur mit Hilfe der Hornzwerge durchgeführt, da sie den Überblick auch bei dieser hohen Geschwindigkeit nicht verlieren. Sie übernehmen das Steuern, wir liefern das Tempo! Ich werde euch den HO875  demonstrieren, damit ihr seht, was für eine wunderbare Angelegenheit das ist. Zudem bin ich der Meinung, dass wir uns eine Süßspeise verdient haben, nach all der geleisteten Arbeit. Deshalb bitte ich euch nun, zu beobachten, wie ich los fliege, um in Amman bei meinem Lieblingsbäcker Baklava zu holen. Ich bin bald zurück! Macht ihr inzwischen bitte einen Kaffee?“

Wir nickten und waren überaus gespannt, wie genau Colin nun los fliegen würde.

Er holte sein Horn unter seinem Hemd hervor. Es war ein goldenes, das die Form einer kleinen Trompete hatte. Dann begab er sich in eine horizontale Lage, in der Luft war das ja kein Problem, und blies in das Mundstück. Der Flughund wedelte beim Erscheinen von Colins Hornzwerg mit seinem Schwanz und sprang vor Freude mehrere Male durch die Lichtgestalt hindurch. Der Hornzwerg hieß Mati, wie wir alle durch die Begrüßung erfuhren. Er war ein ruhiger Zwerg, der anscheinend gerade dabei war, ein Rennauto zu reparieren.

„Mati, ich brauche dich für einen kurzen HO875 nach Amman. Geht das?“

Mati legte den Schraubenzieher beiseite und nickte Colin zu. Dann lief er hinüber zu einem Tisch und nahm eine Kupferkugel in die Hand.

Man muss sich das Ganze so vorstellen: Die Kugel, die jeweils mit goldenem Licht um die Zwerge herum erscheint, bildet einen runden Einblick in ihre Welt. Wenn die Zwerge sich nun in ihrer Welt bewegen, ändert sich der Hintergrund in der Kugel, wobei der Zwerg selbst aber immer in der Mitte bleibt.

Mati ging also mit der Kupferkugel einen Gang entlang und dann in ein Zimmer mit einem Fenster. Wir waren alle etwas vor den Kopf gestossen, als wir sahen, dass die Aussicht aus diesem Zimmer genau unsere Situation darstellte. Wenn man also in der goldenen Kugel aus dem Fenster sah, so sah man uns da im Himmel schweben. Eine äußerst irritierende Wahrnehmung, wie ein Spiegel in einem Spiegel.

Mati blickte aus dem Fenster und nickte Colin ruhig zu.

Colin wiederum nickte uns zu, dann rief er: „Los!“

In diesem Moment raste er in einer Geschwindigkeit davon, die das menschliche Auge nicht nachvollziehen kann und insofern auch nicht zu beschreiben ist. Er verschwand einfach vor unseren Augen. Jetzt verstanden wir auch wie Ahmed, nachdem er Lara gerettet hatte, so schnell davon geflogen war, obwohl ich mich nicht daran erinnerte, dass er seinen Hornzwerg gerufen hatte. 

Was genau die Aufgabe der Hornzwerge bei dem Ganzen war, ließ sich nur erahnen, da wir nichts davon sahen.

Wir landeten, wie abgemacht, um den Kaffee zuzubereiten. Leonardo übernahm dies, da er der Meinung war, nur wahre Italiener könnten wahren Kaffee machen. Ich ließ ihm die Illusion, wahrscheinlich hatte er noch nie irischen Kaffee gekostet.

Manush, Vero und ich setzten uns um die Feuerstelle. Lara holte sich in ihrem Zimmer etwas Wärmeres zum Anziehen.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich es heute schaffe ohne Elwuyn zu starten!“, sagte Vero.

„Geht mir gleich, aber stell dir vor, was das ab jetzt für uns bedeutet! Wir können fliegen wann und wohin wir wollen, brauchen weder einen Hangar noch einen Flight-Attendant. Ist das nicht fantastisch?“

„Gibt es hier etwas, das nicht fantastisch ist?“, antwortete Vero.

„Aber für was gibt es denn die Hangare?“, warf Manush ein. „Es ist doch recht unlogisch, zuerst einen Hangar aufzusuchen, um dann von dort aus zu starten, wenn man doch von irgendwo aus starten könnte. Irgendwie riecht das nach Zeitverschwendung, finde ich ...“

„Irgend einen mysteriösen Grund wird es wohl geben, dass die Hangare nicht abgeschafft werden. Wir werden‘s heraus finden.“, sagte ich.

In dem Moment landete Colin zwischen Vero und mir. Zentimeter genau platzierte er sich aus der Luft genau zwischen uns. Bei sich hatte er eine Schachtel voll von Baklava.

Kurz darauf tranken wir italienischen Kaffee und aßen Baklava aus Jordanien. Auf die Frage, warum die Hangare trotzdem verwendet wurden, antwortete Colin, dass sich die Aufladung der Bewegung abnütze und es einige Meditations-Arbeit brauche, um sie wieder aufzuladen. Deshalb wende man diese Starttechnik nur dann an, wenn kein Hangar in der Nähe sei.

 

2 Eine Reise mit Konsequenzen

 

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Eine Reise mit Konsequenzen

 

 

„In einem gewissen Sinne werden die Lledrith erst dann auf dich aufmerksam, wenn du dein Potential zu entdecken beginnst. Vorher bis du einfach ein guter Energielieferant, doch genau diese Energie sehen sie schwinden, wenn du wach wirst, und dann fängt der Kampf an.“

 

Callineb Elwedig, Adnod 87

 

 

Während unseres Kaffeekränzchens fuhr ein weisser Mercedes viel zu schnell auf unseren Vorplatz. Der Wagen wäre fast in unser Haus gekracht und hätte zweifellos die Steinmauer zum Einsturz gebracht, doch er kam eine Faustbreit vor der Mauer zum stehen. Laute Heavy Metal Musik tönte hinter den Scheiben hervor und wurde dann plötzlich mit dem Motor zusammen abgewürgt. 

Eine schlanke Frau mit leicht rötlichen Haaren stieg zuerst aus dem Wagen aus. Dann öffnete sich die Fahrertür des Wagens, und Narek kam zum Vorschein.

„Gemeinschafter! Darf ich euch Fenella - Black Eye - vorstellen? Sie wird ein Jahr lang in eurer Klasse sein, bis sie die Gepflogenheiten der Cymdeithas kennengelernt hat. Fenella wird in Zukunft für die Ausbildung der Siaraduon verantwortlich sein, weil sie eine Meisterin der Sprachen ist.“

 Fenella grüßte uns und schüttelte allen die Hand. Sie setzten sich zu uns. 

„Was ist ein Siaraduon?“, fragte sie, während Leonardo ihr einen italienischen Kaffee servierte.

„Wait and see ...“, sagte Narek.

Manush horchte auf. „Du spielst dein Spiel auch mit ihr?“, fragte sie keck.

„Welches Spiel?“, antwortete Narek unschuldig.

Fenella verstand nicht, um was es ging, wollte aber nicht unhöflich sein und wechselte das Thema.

Es dauerte nicht lange, bis ich wusste, wieso sie die Siaraduon ausbilden sollte. Sie sprach mit jedem von uns in unserer jeweiligen Muttersprache. Das war ja noch nicht ganz so ungewöhnlich, als sie mit Vero Serbisch sprach, aber als sie sich dann mit Manush auf Armenisch und mit mir auf Irisch unterhielt, fiel es dann schon auf. Mit Small Owl sprach sie so fließend Mangyaro, dass ich meinen Mund fast nicht mehr zu bekam.

Wir unterhielten uns über dies und das. Bald wurde deutlich, dass Fenella nichts über die Gemeinschaft wusste, außer dass sie gewisse Leute in Sprachen ausbilden sollte. Sie wurde von einem Mitglied in der Einsamkeit des schottischen Hochlands erzogen, was ihre Sprachfähigkeiten erklärte, aber dieses Gemeinschaftsmitglied teilte ihr nur das Nötigste über die Gemeinschaft mit, damit sie nicht von ihren Sprachstudien abgelenkt wurde. Es stellt sich heraus, dass Fenella keine Ahnung vom Fliegen oder vom Dwr Mawr hatte, und dass sie tatsächlich nicht wusste, was ein Siaraduon war. Sie war mit einem Flugzeug nach Beirut geflogen. Nun ja, sie hatte etliche Überraschungen vor sich.

Fenella und Vero hatten spontan einen guten Draht zueinander; sie sonderten sich ab und gingen spazieren, nachdem Colin den Unterricht als offiziell beendet erklärte. Vero wollte ihr die Umgebung zeigen. Small Owl schloss sich den beiden an.

„Und wie weit seid ihr mit dem Fliegen heute Nachmittag gekommen?“, fragte Narek Colin.

„Sie haben es alle geschafft! Morgen werden wir den HO875 üben!“

„Wunderbar!“, antwortete dieser, während er ein kleines Medizinal-Fläschchen rhythmisch hin und her schüttelte. 

„Sie haben aber noch nicht alle ein Horn. Lara, Leonardo, Small Owl und Fenella brauchen noch eines. Würdest du heute Abend vielleicht mit ihnen ins Haus der Hörner gehen, damit sie ihre Hörner bekommen? Ich muss solange mit James reden. Und irgendwann sollte auch Fenella noch in den Flug ohne Elwuyn eingeführt werden. Kannst du das auch übernehmen, irgendwann mal in den nächsten Tagen?“

Colin nickte. „Es wird fantastisch sein, wird es nicht?“, sagte er.

 

Narek wollte mit mir sprechen? Hatte er herausbekommen, was ich gestern getan hatte? Ich fühlte mich ganz plötzlich schuldig und wurde still. Wieso war ich denn nicht einfach hier geblieben und hatte mich damit abgefunden ein bisschen einsam zu sein? Manush schien ebenfalls einen gewissen Ernst an Narek wahrzunehmen, auf jeden Fall nahm sie meine Hand und drückte sie ganz fest, als ob sie sagen wollte: Ich stehe zu dir, was auch immer du getan hast.

Was auch immer kommen sollte, ich musste natürlich zu meiner Tat stehen. Aber vielleicht ging es ja auch um etwas ganz anderes, und ich sorgte mich vergeblich. 

Wenig später stand Narek auf. 

„Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.“, sagte er an mich gerichtet.

Ich musste schlucken. Wir begaben uns zum Hangar, von wo aus wir los flogen. Ich merkte später, dass es ein Element der Ruhe in den Alltag brachte, wenn man zum Fliegen einen Hangar aufsuchte. Es vermittelte eine gewisse Bedächtigkeit und nahm einem die Hetze der Idee, dass man immer alles sofort tun sollte.

In etwa zweihundert Metern Höhe flogen wir dem Meer entgegen.

„James, ich weiß, was du gestern Abend getan hast. Zwar gibt es in der Gemeinschaft keine Verbote, ich bin dir also überhaupt nicht böse, jeder kann tun und lassen was er will, aber wir müssen für unsere Handlungen gerade stehen. Was du gestern getan hast, hatte für deinen Freund harte Folgen. Er wurde heute morgen um drei Uhr von einer Kapsel entführt. Dies geschah, weil er nach dem Fliegen eine Aura der Gemeinschaft ausstrahlte, aber keinen Schutz hatte. Du hättest ihn mit Knoblauch-Spray besprühen sollen, dann wäre er wenigstens ein bisschen geschützt gewesen. Aber das wusstest du ja noch nicht, deswegen war er eine leichte Beute für die Lledrith.“

„Gareth ist entführt worden? Von einer dieser schwarzen Kugeln?“

„Ja! Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass er sich bereits in der Burg Tschrak im Zentralverlies befindet. Wahrscheinlich hat er dort gute Gesellschaft, da auch El-Bahr und Janssen dorthin verfrachtet worden sind, aber er muss unter enormen Angstzuständen leiden, weil er so gänzlich unvorbereitet in diese Sache geraten ist.“

Ein Gefühl des Elends überkam mich und mir war zum Weinen zumute. Gareth entführt! Wegen meiner blöden Unbeherrschtheit und Angeberei! Es hatte mir die Sprache verschlagen und das Einzige, was ich tun konnte, war, Narek mit großen Augen anzuschauen und zu warten, was er mir raten würde. Das Atmen fiel mir schwer, als läge eine Zentnerlast auf meiner Brust.

„James, es tut mir Leid, dass ich dir das sagen muss, aber ich dachte, es wäre das Beste, wenn du es gleich erfahren würdest. Ich habe deinen Vater benachrichtigt, er wird sich um Gareths Eltern kümmern, wenn Gareth in Marseille als vermisst gelten wird. Wir haben es vor wenigen Minuten der Polizei gemeldet, als Alibi sozusagen.“

Ich hätte mich am liebsten selbst geohrfeigt.

„Und wie kommt Gareth da wieder raus? Wie kann ich ihm helfen?“

„James, es gibt nichts, was du tun kannst, außer zu warten, bis die Achubiad ihre Befreiungsaktion starten werden.“

„Aber das ist doch erst in ein paar Monaten!“

„Ja, aber es gibt nichts, was wir tun können, glaub mir.“

Ich war verzweifelt, fühlte mich machtlos.

„Die Achubiad werden ihr Bestes geben, so viel kann ich dir garantieren, und El-Bahr und Janssen werden sich um deinen Freund kümmern, da bin ich auch ganz sicher.“

Die ganze Geschichte mit diesen Lledrith wurde plötzlich verdammt ernst. Als das mit El-Bahr passiert war, konnte ich irgendwie noch ganz gut Abstand halten, das Ganze ging mir nicht so nahe, aber nun sah es total anders aus. Diese schwarzen Störenfriede hatten meinen besten Freund entführt und das nur wegen einer blöden Idee von mir.

„Narek, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich fühle mich wie ein riesiger Trottel. Werden sie Gareth dort weh tun, wird er gefoltert werden oder so etwas?“

„Die Lledrith gehen davon aus, dass Gareth ein Gemeinschaftsmitglied ist. Insofern werden sie ihm nichts antun. Sie erachten es als weitaus die größte Qual für Gemeinschaftsmitglieder, wenn sie ihrer Arbeit nicht mehr nachkommen können, wenn sie dazu verurteilt sind, nicht mehr helfen zu können. Er wird also einfach mit den anderen zusammen eingeschlossen sein, natürlich kaum zu essen und zu trinken bekommen, aber zumindest nicht gefoltert werden. Außerdem kann er dort nicht singen, aber das wird für ihn weniger eine Strafe sein als für Samir El Bahr, der für sein Leben gern singt und den Gemeinschaftschor Quallengesänge gegründet hat.“

„Und wie weit sind die Achubiad yr Eryrod mit ihren Vorbereitungen?“

„Es geht kontinuierlich voran. Man rechnet mit einer ersten Befreiungsaktion in drei Monaten.“

„Verdammt!“, rutschte es aus mir heraus. „Und es gibt wirklich nichts, was ich tun könnte, um Gareth zu helfen?“

„Nein, wirklich nicht!“

Wir folgen zwei Runden ohne weiter zu reden. Dann legte Narek seine Hand auf meine Schulter.

 „Ich lasse dich ein bisschen alleine James. Dann kannst du die Nachricht verdauen.“ Er wechselte seinen Tonfall. 

„Und ich koche euch heute Abend ein typisches Gemeinschaftsessen. Wir nennen es Blawd. Du wirst es mögen und es wird dich trösten.“

Ich gab ein frustriertes Okay von mir.

Niedergeschlagen flog ich langsam und deprimiert über dem Gelände auf und ab und machte mir Selbstvorwürfe. Jetzt war mir auch klar, wieso es anfangs überall nach Knoblauch gerochen hatte. Wahrscheinlich hatten irgendwelche Gemeinschaftsmitglieder meinen Weg mit Knoblauch besprüht, so dass mir nichts passieren konnte. Aber das konnte ich ja nicht wissen, oder doch? Mir fiel wieder ein, dass Cyfimiad mich auf seine Weise ja vorgewarnt hatte. Er hatte gesagt, es sei gefährlich. In meinem Kopf fuhr ich Karussell, rund herum.

Der Abend war für mich zu einem Stummfilm in Schwarzweiß geworden. Zum Essen tauchte ich dann wieder auf und verließ meine Einsamkeit im Himmel oben, aber ich fühlte mich wie ein Verlierer vom Fach. Blawd war ein Haferbrei, der mit in Butter gedünsteten Äpfeln serviert wurde und kräftig mit einem Schweizer Käse aus dem Kanton Glarus gewürzt war. Der kleine Schweizerkanton habe wegen dieses Käses einen regen Gemeinschafts-Tourismus, erwähnte Narek.

Nach dem Essen ging ich mit Manush spazieren. Ich  erzählte ihr von meinem Ausflug gestern Abend und von Gareths Entführung. Ich hätte ihr gerne wieder mal etwas Positives berichtet, aber aufscheinend zog ich das Unglück in letzter Zeit förmlich an. Zuerst die andauernde Geschichte mit dem Skalpell und jetzt Gareths Entführung.

Manush hörte mir geduldig zu, als ich sie mit meinen Selbstvorwürfen bombardierte. Danach fühlte ich mich entladen und erleichtert. Trotzdem war ans Schlafen nicht zu denken. Da Manush auch nicht müde war, flogen wir noch nach Beirut, um ein Eis zu essen. Sie wolle mich auf andere Gedanken bringen, sagte sie.

Manush hatte in der Zwischenzeit, als ich mit Narek gesprochen hatte, herausgefunden, wie die Sache mit dem Geld in der Gemeinschaft gehandhabt wurde. Es war in der Gemeinschaft lediglich ein Mittel zum Zweck, nichts anderes. Die meisten betrachteten es einfach als eine lästige Begleiterscheinung des irdischen Lebens. Sie versuchten es jeweils so schnell wie möglich wieder loszuwerden, weil sie der Ansicht waren, es mache einen unfrei. Es gab eine so genannte Geld-Garderobe, die in allen Hangaren gegenüber den Check-In Schaltern war. Dort luden die Gemeinschafter ihr Geld wie eine Sorge ab. Und dort konnte man auch Geld abholen, wenn man welches davon brauchte. Man ging einfach hin und sagte, wie viel man in welcher Währung haben wollte.

Und genau das tat Manush. 

Sie lief zu der Dame, die bei der Geld-Garderobe stand und sagte: „Dau Cant, os gwelwch yn dda!“

Ich war beeindruckt. Als ich sie fragte, woher sie plötzlich die walisischen Zahlen kenne, sagte sie, dass Vero es ihr beigebracht habe. Vero hatte in der Bibliothek an der Uni ein Walisisch-Englisch Wörterbuch gefunden und es sich ausgeliehen, um sich einen ersten Eindruck von der Sprache zu vermitteln. Und anstatt Irisch und Deutsch zu lernen, brachten sich die beiden die walisischen Zahlen bei.

Auf jeden Fall gab uns die Dame zweihundert libanesische Pfund.

Wenig später landeten wir in einer Seitengasse im Zentrum von Beirut und machten uns auf die Suche nach einer Eisdiele. Lustigerweise trafen wir kurz darauf Colin. Arm in Arm mit einer jungen Frau - seiner Frau, wie sich herausstellte. Sie hieß Alice und hatte leicht spanische Züge. Sie waren gerade in einem Konzert gewesen und suchten ein Taxi, das sie nach Hause fahren würde. Ich fragte mich kurz ob Colin einen Doppelgänger hatte, denn er war doch heute Abend mit den Anderen ihre Hörner holen gegangen. Oder war er einfach so verdammt effizient im Handhaben seiner Zeit, dass er das innerhalb kürzester Zeit abgewickelt hatte, so dass er dann ins Konzert hatte gehen können? 

Alice und er winkten uns durch die Hinterscheibe des Taxis zu, als sie davonfuhren.

Manush und ich fanden eine Eisdiele und bestellten Zimt und Pistazie, dazu arabischen Kaffee, obwohl das das Einschlafen nachher nicht einfacher machen würde. Ich rauchte eine Zigarette. Manush versuchte mich zu ignorieren, weil sie mit dem Rauchen aufhören wollte. Um mich abzulenken, waren wir an diesem Abend dann richtig brave Studenten und besprachen den Unterricht von Sara. Zeitweise konnte ich das Leid, das ich Gareth beschert hatte, sogar vergessen, aber es kam trotz einer schönen Nacht mit meiner Liebsten immer wieder hervor. Gareths Schicksal blieb in meinem Hinterkopf.

Wir waren in der Eisdiele bis der Eigentümer schließen wollte, etwa ein Uhr morgens. Danach spazierten wir noch ein bisschen durch die Straßen, zu meiner Freude Hand in Hand. 

In der Nacht wachte ich etliche Male auf und musste an Gareth denken. Und so war ich am nächsten Morgen nicht wirklich ausgeruht. 

 

2½ Tchar greift um sich

 

  

 

Tchar greift um sich

 

Oder: Der Grund wird gelegt

 

 

Nach dem fünften Gathering war es endlich so weit, dass Mittletan eigene Räumlichkeiten mieten konnte. Die Säle der Hotels, die er bis anhin gemietet hatte, platzten aus allen Nähten und viele der Hotels wollten die Gatherings nicht mehr beherbergen, weil man anscheinend zu laut war. Mittletan hatte eine geschlagene Woche gesucht, bis er in einem Vorort von Dublin dann fündig geworden war. Eine alte Lagerhalle, wo einstmals eine Näherei zuhause gewesen war, bot genau die Infrastruktur, die seine Sache brauchte. Mister Tchar Lledrith war so grosszügig, dass Mittletan sich um die Finanzierung keine Sorgen machen brauchte. Wann immer er Kapital benötigte, tauchte Mister Lledrith mit Bargeld auf und Mittletan konnte schalten und walten wie er wollte. Er fühlte sich wie der CEO einer grossen multinationalen Firma, nur dass er keinen Aktionären Rechenschaft schuldig war. Sein privater Geldgeber interessierte sich nicht die Bohne für die Art und Weise wie er das Geld ausgab, noch dafür, in was Mittletan investierte. Mister Lledrith vertraute ihm einfach auf der ganzen Länge. 

Das war etwas, das Guy Mittletan noch nie erlebt hatte. Dieses immense Vertrauen in seine Person rührte ihn zutiefst.

 

An jenem Nachmittag hatte er sich für fünf Uhr mit seinem Idol verabredet. Er wollte ihm die Räume zeigen und kurz mit ihm besprechen, wie die Liegenschaft einzurichten war. Obwohl er über die Pläne für die Sache bestens informiert war, gab es doch Dinge, die nur Tchar Lledrith wusste, und deswegen war es immer eine gute Idee sich mit dem Begründer der Bewegung abzusprechen.

Mittletan wartete vor der dreistufigen Treppe, die zur Tür führte. Wie immer, wenn er Mister Lledrith traf, hatte er keine Ahnung, was für eine Gestalt er erwartete. Dieser Umstand alleine machte ihn schon über alle Masse stolz. Wer konnte schon behaupten, dass er den Begründer Terziär Technologie kannte? Die meisten Leute wussten nicht einmal, dass es so etwas wie die Terziär Technologie überhaupt gab.

Um halb sechs tauchte ein Geschäftsmann in einem teuren schwarzen Anzug auf. 

„Mittletan!“, sagte er, als er zu ihm heran trat und ihm die Hand hin hielt.

„Mister Lledrith?“, fragte Mittletan.

„Wer sonst, mein Freund?“, schleimte Tchar.

Er händigte seinem Agenten einen Aktenkoffer aus.

„Was ist das?“

„Eine Million Pfund, abgezählt. Wir müssen möglichst bald mit dem Enthoffen der Bevölkerung beginnen, und dafür müssen wir den Bau der Gefängnisse voran treiben. Das sollte als Anzahlung dafür genügen.“

Mittletan nahm das Geld entgegen.

„Perfekt. Ich habe das ideal Gelände in der Nähe von Galway gefunden. Liegt etwas abseits der Strassen und ist nur über einen verschlungenen Feldweg zu erreichen. Aber das Beste daran ist, dass das Betonfundament bereits steht; es gab dort Pläne für eine grosse Metzgerei eines führenden Fleischkonzerns, doch dann wurde der Bau wegen eines Einbruchs am Aktienmarkt gestoppt.“

„Gross genug?“, fragte Tchar, dem die Aussicht auf sein persönliches Energie-Kraftwerk den Mund wässrig machte.

„Riesig! Sie werden es mögen. Wir können nachher hinfahren, wenn Sie wollen.“

„Das ist nicht nötig, lieber Mittletan. Ich vertraue Ihnen. Lassen Sie uns die Räumlichkeiten hier anschauen.“

Das war das Stichwort. Mittletan nahm den Schlüssel für die Haupttür aus dem Hosensack und öffnete sie.

Zusammen schlenderten die beiden durch die Räume und Mittletan schilderte kurz, welcher Stratege wo sein Büro beziehen würde.

„Das wäre dann mein Büro hier ...“, sagte Mittletan, als sie im ersten Stock waren und in einem grossen Raum mit Fensterfront standen. „ ... und gleich daneben wäre das von Wyoming, der sich als immer fähiger heraus stellt. Er hat seine dümmlichen Handlanger bereits zu einer kleinen Armee umfunktioniert und er trifft sie täglich, um mit ihnen die Ideen aus unserer Broschüre zu diskutieren.“

„Perfekt!“, sagte Tchar. „Jetzt muss der Raum nur noch eingeweiht werden.“

Mittletan blickte seinen Meister an.

„Eingeweiht?“

„Wir müssen einen Dummen opfern, damit die Räume verstehen, um was es hier gehen wird. Aber das überlasse ich natürlich Ihnen, Mittletan. Stellen Sie einfach sicher, dass das Blut des Dummen in die Farbe für die Wände gemischt wird, bevor diese frisch gemalt werden. Ein wenig Blut reicht. Es ist mir einfach wichtig, dass die Wände einen ganz leichten Rotstich haben. Sie verstehen, mein Freund?“

Mittletan überlegte einen Moment lang. Er realisiert, dass es nicht einfach werden würde, das Blut in die weisse Deckfarbe zu mischen, doch dann gab er sich innerlich einen Ruck. Er hatte den Alten umgebracht. Er hatte die Junge im Lift aufgeschlitzt. Sicher würde es ihm auch gelingen einige Arbeiter zu manipulieren.

Entschlossen nickte er. „Haben Sie einen Wunsch, was den Dummen anbelangt?“

Tchar schüttelte den Kopf.

„Nein, heute nicht. Sie werden schon den Richtigen aussuchen.“

Er klopfte Mittletan anerkennend auf den Rücken.

Mittletan wurde rot. So viel Lob und Anerkennung war er nicht gewohnt, aber es fühlte sich fantastisch an. 

„Perfekt, Mittletan. Alles perfekt! Ich muss weiter zu einer Sitzung in Norwegen. Könnten Sie diesen Körper hier entsorgen, wenn ich gehe?“

„Bitte?“, fragte Mittletan.

„Die Körper, die ich benutze verlieren ihren Wert, wenn ich sie zurücklasse. Sie sind dann wie aufgebraucht, verstehen Sie? Wenn ich mich nach Norwegen aufmache, wird dieser Körper des Geschäftsmanns vor ihren Augen zusammen brechen, ein wenig zucken und dann den Geist aufgeben. Ich wäre froh, Sie würden sich um die Entsorgung kümmern, ja?“

„Ich verstehe. Ja, klar, kein Problem, Mister Tchar!“

Dann brach der Körper des Geschäftsmannes in sich zusammen und blieb wild zuckend am Boden liegen. 

 

3 Fenella vs. Siaraduon

 

3

 

Fenella vs. Siaraduon

 

 

„Erinnerungen sind Felder mit denen wir uns verbinden. Und weil diese Verbindungen unendlich ausgebaut werden können, gibt es keine Grenzen des Lernens. Lernen ist ja vorwiegend erinnern. Deswegen müssen wir unsere Beziehung zu den Feldern pflegen, weil uns das das Lernen so viel einfacher macht. Und was gibt es schöneres als Lernen?“

 

Callineb Elwedig, Adnod 89

 

 

Mich rief ein neuer Tag voller Lernmöglichkeiten. Ich braute mir in der kleinen Küche einen starken Kaffee und begab mich auf den Vorplatz.

Das Tair Fraich Training, das wegen der Zusammenarbeit von Leonardo und Small Owl nun auch indianische Kriegstänze beinhaltete, war anstrengend wie immer. Wir mussten zunächst unsere Ein-Bein-Meditation machen und lernten dann eine Abwehr gegen Schwinger-Angriffe, die wir exzessiv üben mussten bis es auf unseren Unterarmen von blauen Flecken nur so wimmelte. Fenella musste bei diesem Teil der Ausbildung nicht mitmachen und trank seelenruhig einen Kaffee, während wir schwitzten und uns ab und zu auch mal wegen eines Ausrutschers weh taten.

Das Sprachstudium danach war um einiges weniger anstrengend und zeigte nun deutlich Früchte. Mein Arabisch kam langsam in Schwung. Auch Manush machte im Irischen gute Fortschritte. Sie fragte mich auf Irisch, ob sie kurz meinen Bleistift ausleihen dürfe, was mich ziemlich beeindruckte. Der Akzent ließ vielleicht noch etwas zu wünschen übrig, aber auch der war nicht mehr so schlimm, nachdem ich ihr den Satz einige Male vorgesprochen hatte. Fenella half Small Owl bei der englischen Aussprache und gab uns allen Ratschläge, die sich wertvoll erwiesen. Beispielsweise helfe es, sagte sie, den Sprachgeist vor Beginn des Lernens jeweils zu begrüßen und um seine Hilfe zu bitten. Für Small Owl war dies selbstverständlich. Er erzählte uns, wie solche Gebete in seiner Welt zum Alltag gehörten. Ich hatte zunächst etwas Mühe mit einem Geist zu sprechen, den ich weder sah noch hörte, aber man fügt sich ja in so manches.

Während ich den Geist der arabischen Sprache um seine Gunst bat, kam mir eine gute Idee, die bewies, wie ernst ich bei der Sache war.

Vielleicht konnte ich Gareth ja ein wenig gute Energie schicken? Wenn man Sprachgeister um Unterstützung beten konnte, so konnte man ja sicher auch Lebensgeister um Unterstützung bieten?

Der arabische Sprachgeist antwortete nicht, aber ich entschloss mich die Sache auszuprobieren.

Ich erzählte Manush auf Arabisch, mühsam nach Worten ringend, von meiner Idee. Sie fand sie gut. Auf Irisch sagte sie dann sie würde mich in dem Unterfangen tatkräftig unterstützen.

Wir waren wirklich schon recht gut in unseren Sprachen. Vielleicht hatte Narek nicht zu viel versprochen mit seinen sieben Wochen, aber es spielte natürlich auch eine Rolle, dass die Gemeinschaft einen ungeheuer stimulierenden Einfluss auf uns ausübte. Wir machten alle Fortschritte und im Unterricht bei Sara benutze Small Owl erstmals sein Siaraduon nicht, sondern versuchte, sich ohne den kleinen Dolmetscher durchzuschlagen. Das gelang ihm etwa zehn Minuten lang gut, dann wurde es ihm aber zu anstrengend und er pfiff sein Siaraduon herbei. 

Es war das erste Mal, dass Fenella ein Siaraduon zu Gesicht bekam. Sie kriegte ihren Mund kaum mehr zu. Und die Tatsache, dass diese kleinen aufrecht gehenden Leguane so viele Sprachen beherrschten, irritierte sie. 

In der ersten Pause forderte Fenella das Siaraduon zu einem Sprachwettkampf heraus. Sie war eindeutig aus dem Konzept geraten durch die Gegenwart des kleinen Übersetzerchens und wollte sich wohl positionieren.

Die beiden setzten sich einander gegenüber. Die Regeln wurden festgelegt. Jemand musste in einer Sprache eine Frage stellen, die vom Gegenüber dann in der entsprechenden Sprache beantwortet werden musste. Dann umgekehrt, bis eine Partei die Frage nicht beantworten konnte, weil sie die Sprache nicht kannte.  

Niemand von uns hatte Fenella je in Action erlebt, abgesehen davon, dass sie mit uns allen in unseren Muttersprachen kommunizierte. Wir setzten uns in einem Kreis um die beiden. Das Siaraduon war sichtlich angespannt. Es hatte nicht erwartet, von einem Menschen zu einem solchen Duell aufgefordert zu werden.

Fenella begann mit für uns elementaren Sprachen.

 

„De quelle couleur est cette porte là?“

Das Siaraduon antwortete: „La porte est verte!“

Nun war das Siaraduon an der Reihe.

„How many people are there in this room?“

Fenella: „There are eight people here!”

„Come si chiama la ragazza a sinistra di te?”

„Si chiama Veronique.”

„Tko je došao?”

„Nitko je došao!”

 

So ging es weiter, die ganze Pause hindurch. Als Sara wieder zurückkam und mit dem Unterricht weiter machen wollte, gab sie die Idee schnell auf, weil auch für sie der Wettkampf zu spannend war. Sie gesellte sich zu uns. Ich konnte nicht alle Sprachen identifizieren, die die Zwei durchgingen, aber etliche erkannte ich, etliche Vero, etliche Manush. So konnten wir mit Bestimmtheit Georgisch, Kolchisch, Breton, Bulgarisch, Japanisch, Turkmenisch, Xhosa, Portugiesisch, Französisch, Kurdisch, Holländisch, Norwegisch, und Polnisch ausmachen. Die anderen, es waren sicher einhundertfünfzig Sprachen, konnten wir nicht einordnen. Als das Siaraduon dann erste Anzeichen von Erschöpfung zeigte, schien Fenella erst langsam in Fahrt zu kommen. Das zeigte sich daran, dass das Siaraduon langsamer wurde und länger nach neuen Sprachen suchen musste. Schließlich landete Fenella einen Volltreffer, den das Siaraduon nicht abwehren konnte. Sie machte eine Aussage in einer Sprache, worauf das Siaraduon schwieg und überlegte. Nach ein paar langen Sekunden des Schweigens war klar, dass Fenella den Wettkampf gewonnen hatte.

„Mit welcher Sprache hast du das Siaraduon besiegt?“, fragte Vero.

Fenella antwortete voller Stolz.

„Mit Babatana, einer Sprache der Solomon Inseln.“

Das Siaraduon begann zu weinen. Es war in seiner Würde verletzt und heulte wie ein Schlosshund.

Sara wusste die Situation aber zu entschärfen, da sie ahnte, dass das Siaraduon nicht wusste, von wem es soeben bezwungen worden war. Sie stellte Fenella dem Siaraduon als die neue Verantwortliche für die Ausbildung der Siaraduon vor, worauf es glücklich mit dem Schluchzen aufhörte und Fenella in die Arme fiel. Dort seufzte es noch ein paar Minuten lang an ihrer Brust und verabschiedete sich danach wahrnehmbar erleichtert und stolz, dass es in einem Kampf mit solch einer versierten Gegnerin so lange bestanden hatte.

 

Sara schonte uns nach dem Wettkampf. Sie erzählte uns eine Geschichte, anstatt uns weiter sezieren zu lassen.

Sie erzählte uns die Lebensgeschichte von Dr. Andrew Still, dem Begründer der Osteopathie, und konnte uns so gut motivieren. Die Zeit verging während des Zuhörens viel schneller als sonst. Später, während des Essens setzten Manush und ich uns etwas abseits an einen eigenen Tisch um Gareth Energie zu senden. Da die Mensa aber so voll war, gesellten sich zwei gewöhnliche Studenten der Uni zu uns an den Tisch.

Und dummerweise versuchten die zwei auch noch, uns in ein Gespräch zu verwickeln. Ich musste mir Mühe geben nicht aufzufallen, weil ich noch nicht so gut Arabisch sprach. Sie wollten wissen, was wir studierten und in welchem Semester wir seien. Manush antwortete und entschuldigte mich: ich sei heiser und habe eine Halsentzündung.

Als das Gespräch ins Stocken geriet, ergriff Manush dann die Möglichkeit, erhob sich und verabschiedete sich höflich. Ich stand ebenfalls auf und brummte etwas unverständliches.

 

 

 

Danach war Colins Unterricht angesagt. Er wartete auf dem Vorplatz. Aber diesmal war er auf seinen Unterricht vorbereitet.

„Studenten! Wir haben viel zu tun.“

Der kleine Hund musste niesen, er hatte an einer Distel geschnüffelt.

„Eigentlich wollte ich euch heute beibringen wie man einen HO875 durchführt, aber ich vertage das auf später. Stattdessen werden wir weiter an unserem Verständnis der Bach-Blüten arbeiten. Man muss das Leben improvisieren, nicht wahr? Wir reisen wieder nach Wales und beschäftigen uns dort mit drei verschiedenen Pflanzen, und zwar den ersten drei, die Dr. Bach identifiziert hatte: Impatiens, Mimulus und Clematis. Zu Latein: Impatiens glandulifera rosa, Mimulus guttatus, Clematis vitalba. Auf geht’s, Leute!“

Wir nahmen denselben Weg nach Wales wie das letzte Mal und versammelten uns auf einer Wiese nahe eines kleinen Weihers.

Zunächst hiess er uns die Pflanzen finden, nachdem er uns jeweils eine davon gezeigt hatte und erklärt hatte, wo sie am liebsten wuchsen. Das war nicht einfach, zumal keine zu dieser Jahreszeit blühte, was, um sie zu erkennen, mehr Anstrengung und genaueres Hinsehen erforderte. Nachdem wir alle die eine oder andere gefunden hatten, wollte er, dass wir mit den Pflanzengeistern in Kontakt traten.

„Meistens wird den Menschen gesagt, dass es sehr schwierig sei, mit Tieren oder Pflanzen zu sprechen ...“, sagte Colin. „Aber das ist eine Barriere, die unnötig ist. Die Kommunikation wird uns zuteil, wenn Liebe, Großmut und Wachheit in uns anwesend sind. Und das kann immer der Fall sein. Es ist eine Frage der Absicht.“

Was dann folgte, war eine direkte Anweisung, wie wir diese drei Qualitäten in uns wecken konnten. Der Rest war Üben.

Es dauerte nicht ganz so lange, wie ich angenommen hatte. Schon bald begann ich Dinge wahrzunehmen und so etwas wie ein Gespräch mit der Pflanze zu führen. Je intensiver ich mich auf das Gespräch einliess, desto mehr wurde die ganze Welt in eine Farbe getaucht. Wo vorher alles klar konturiert war, sah ich die Umgebung nachher als sei sie weicher und leicht kupfrig. 

Also Colin an mir vorbei ging (er drehte seine Runden und stand uns für Fragen zur Verfügung), hielt ich ihn an.

„Ist es normal, dass die ganze Welt anders auszusehen beginnt, wenn ich das Gespräch intensiviere? Alles sieht so aus als habe es einen kupfernen Glanz ...“, sagte ich.

„Die Beschaffenheit der Welt, in die du bei einer Kommunikation eintrittst, hängt mitunter von deinem Gesprächspartner ab. Wenn du mit einer Pflanzengattung sprichst, die viel Venus-Kräfte in sich hat, wird die Welt leicht kupfern, da hast du recht. Wäre es eine Pflanze, die mehr dem Mars-Prinzip unterstellt ist, so wäre deine Wahrnehmung mehr dem Element Eisen verpflichtet.“

Ich nickte und konzentrierte mich wieder auf mein pflanzliches Gegenüber. 

Wir arbeiteten bis in die Dunkelheit hinein. Es war so faszinierend, mit den Pflanzengeistern zu kommunizieren, dass wir die Zeit ganz vergaßen. 

Colin musste uns regelrecht dazu überreden aufzuhören. Wir flogen zurück zum Hangar und unterwegs flog Manush ganz nah zu mir heran, um mir etwas mitzuteilen.

„Meinst du nicht, dass wir hier Gareth Energie schicken könnten? Vielleicht ist es von hier zum Schloss der Lledrith viel näher?“

Das war eine glänzende Idee, kam sie doch auch meinem Temperament entgegen, da wir so noch etwas länger hier in Wales bleiben konnten und noch nicht in die nächtliche Wärme von Beirut zurück mussten.

„Gute Idee! Lass uns Colin fragen, ob es in Ordnung ist, wenn wir hier bleiben. Ich möchte nicht schon wieder ins Fettnäpfchen treten und etwas falsch machen.“

Wir steigerten unser Tempo, bis wir Colin erreicht hatten.

„Colin, bist du einverstanden, wenn Manush und ich noch ein wenig in Wales bleiben? Wir möchten meinem von den Lledrith gefangenen Freund etwas Energie schicken.“, sagte ich.

„Klar, genießt es!“, antwortete Colin mit einem wissenden Blick im Gesicht. Ich denke, er hatte gemerkt, dass ich in Manush verliebt war. Aber ich hatte ja auch nichts zu verheimlichen.

„Weißt du, wo die Burg der Lledrith ist?“, fragte Manush direkt.

„Sie ist irgendwo in Skandinavien, aber ich weiß auch nichts Genaueres. Die Lledrith interessieren mich nicht sonderlich. Seid aber vorsichtig! Mit diesen Kreaturen lässt sich nicht gut Kirschen essen.“

Wir verabschiedeten uns von den anderen. Dann, bogen wir zum Meer ab.

Da es schon dunkel war, flogen wir nicht allzu hoch.  Wir wollten uns Zeit nehmen, daher flogen wir nicht zu schnell. Auf einem Schild an einer Straße sahen wir, dass es etwas 50 Kilometer bis zum Meer nach Aberystwyth waren.

Nach einer erholsamen Reise kamen wir zum Meer und landeten auf einem Sandstrand unweit von Aberystwyth. Es ging ein kühler Wind. 

Wir setzten uns in den Sand.

„Wie gehen wir vor?“

„Wir schicken ihm Hoffnung und Kraft!“, sagte ich entschlossen. Dann schloss ich meine Augen und mit der Determination eines Schuldigen, der sein Vergehen abzuschwächen versucht, begann ich zu visualisieren, wie Hoffnung und Kraft in Gareths Gefängnis-Zelle zu ziehen begann. Was Manush sich genau vorstellte, weiss ich nicht. Wir meditierten vielleicht fünfzehn Minuten lang. Danach fühlte ich erleichtert.

„Das wär‘s. Ich hoffe es hilft ihm.“, sagte ich.

„Die Absicht zählt, würde Colin doch jetzt sagen ...“, sagte Manush.

Wir beschlossen zur Vollendung des Tages ein Tänzchen mit den Morcyfeillgar abzuhalten. Ich sehnte mich nach ihrer Musik, ihren Rhythmen und ihrer einfachen Lebenslust.

Wir wateten ins Wasser. Laut begann Manush nach unseren Meeresfreunden zu rufen. Aber nichts geschah, keine einzige Morcyfeillgar tauchte auf. Wir riefen mit vereinten Kräften, ohne eine Antwort zu bekommen. Ungefähr eine Viertelstunde verbrachten wir rufend im Wasser, dann wateten wir wieder zurück zum Strand und setzten uns in den Sand. Manush war ratlos. Sie konnte nicht verstehen, wieso die Morcyfeillgar nicht reagierten. Seit ihrer frühen Kindheit spielte sie mit diesen Wesen und noch immer hatte sie zu ihnen Kontakt aufnehmen können. Doch diesmal wollte es einfach nicht funktionieren. 

Ich beschloss Cyfimiad zu rufen.

Der übliche Rauch quoll aus dem Horn, als er in seiner goldenen Kugel auftauchte. Cyfimiad saß auf einem Stuhl und streichelte eine Katze. Eine normale Katze aus unserer Welt, wie auch immer sie in die Zwergenwelt gekommen war. Voller Friede blickte er auf und fragte mich nach meinem Wunsch. Das wirkte fast ein wenig gestellt und kitschig. 

„Wir wollten etwas mit den Morcyfeillgar tanzen, aber wir können nirgends auch nur eine finden.“

Mit seiner heiseren Stimme antwortete er. 

„Das wird euch heute auch nicht gelingen. Die Morcyfeillgar haben heute einen Feiertag, an dem sich alle Stämme weltweit auf dem Boden des alten Atlantis treffen. Außer den Achubiad-Morcyfeillgar arbeiten sie heute nicht. Versucht es morgen noch einmal, dann wird es gelingen. Übrigens soll ich dir von deinem Freund Gareth ausrichten, dass er dir nie verzeihen wird!“

„Hattest du Kontakt mit Gareth?“

„Nein, aber mit El-Bahr.“

„Geht es ihm gut?“

„Den Umständen entsprechend, aber El-Bahr und Gareth haben eine gemeinsame Leidenschaft entdeckt. Sie spielen wie versessen Schach und sind etwa gleich gut. So vertreiben sie sich die Zeit. Zudem geben El-Bahr und Janssen deinem Freund Arabisch-Unterricht.“

„Ich dachte, er habe aufgehört Arabisch zu lernen?“

„In der Gefangenschaft hast du viel Zeit! Gibt es sonst noch etwas, womit ich dir dienen kann?“

„Ja, richte Gareth bitte aus, wie sehr es mir Leid tut, dass das alles geschehen musste. Sag ihm, dass ich in meinen Gedanken bei ihm bin.“

Der Zwerg nickte und verschwand. „Und jetzt?“, fragte ich Manush. Ich schaute sie an. Es war etwa acht Uhr. In der Ferne leuchteten die Lichter von Aberystwyth. So verliebt wie ich war, hatte ich natürlich schon einige Ideen für den weiteren Abend. Aber Manush war heilig für mich. Deshalb machte ich keine allzu voreiligen Vorschläge.

„Ja, was tun wir jetzt?“, fragte Manush und schlug mich dabei leicht auf meine Schulter.

„Lass mich überlegen. Wir könnten uns verloben!“, sagte ich.

Sie nickte. „Okay. Einverstanden. Und jetzt?“, fragte sie keck.

„Jetzt, hm …  könnten wir tun, was Verlobte tun?“ 

„Was tun denn Verlobte?“, neckte sie mich.

„Sie wälzen sich in den Dünen?“, sagte ich vorsichtig.

Manush gab mir einen Kuss auf die Stirn und erhob sich in die Lüfte. Sie hatte das bereits im Griff wie ein Profi.

„Fang mich! Wenn du mich kriegst, wälzen wir uns in den Dünen!“

Wie der Blitz war ich auf den Beinen und beugte meinen Mittelfinger, was mich sofort in die Höhe schweben ließ. Das Zeichen war gut aufgeladen.

Sie war bereits in der Dunkelheit verschwunden. „Fang mich doch!“, sagte sie frech. Ich flog ungefähr in die Richtung, woher ihre Stimme gekommen war. Manush wartete dort absichtlich, damit ich sie sehen würde. Aber als ich nah genug war, sauste sie weg. Ich sofort hinterher. Es war wunderschön, wie die Jagd nach einem goldenen Schatz. Nur, dass dieser Schatz schnell war und das Fliegen beherrschte. Auf und ab jagten wir durch die Lüfte. Ich erkannte bald, dass Manush sehr talentiert war. Vor allem das plötzliche Wenden beherrschte sie gut. Ähnlich einem Hasen, der gejagt wird, vermochte Manush die abruptesten Richtungswechsel ohne jegliche Vorankündigung zu fliegen. Dabei liebte sie es, in den Gegenwind zu fliegen. Ich erwischte sie leider nicht und das Wälzen blieb Fantasie. Nach einer Weile waren wir erschöpft von dem Spiel und mir war recht schwindlig.

Manush landete wieder am Strand und dort legten wir uns hin.

„Hör mir zu, mein Verlobter! Wälzen werden wir uns nicht! Aber küssen möchte ich dich gerne.“

Die Knie wurden mir ganz weich und für einen Moment lang vergaß ich, dass ich ja ein großer, auserwählter Held war. Manush rutschte etwas näher zu mir herüber, ihr Oberkörper kam immer näher an meinen. Mein Herz klopfte wie wild und in meinem Magen herrschte dieses flaue Gefühl fliegender Schmetterlinge. Und dann küsste sie mich! Ganz zärtlich. Und ich erwiderte ihren Kuss.

 

Interludium

 

Interludium

 

 

An die Redaktion der London Times

 

 

Um ehrlich zu sein, hasse ich es ignoriert zu werden.

 

Werte Redaktion (ich ersetze hiermit die Begrüssung Liebe Redaktion durch Werte Redaktion, weil ich Sie nicht mehr als lieb erlebe, da Sie weder meine Briefe beantworten, noch Ihren Job ernst nehmen, indem Sie sie veröffentlichen)

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5204-2

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